Normalität

Autor:in - Sabine Lingenauber
Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Schlagwörter: Normalisierung
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: In: Lingenauber, Sabine (Hrsg.): Handlexikon der Integrationspädagogik, Band 1, Kindertageseinrichtungen, Bochum/Freiburg 2008, S. 160-168.
Copyright: © Sabine Lingenauber 2008

Inhaltsverzeichnis

Normalität

Eine allgemeingültige Begriffsbestimmung von Normalität existiert nicht. Es gibt nicht die Normalität, sondern unterschiedliche Normalitätsvorstellungen werden durch Diskurse erst hergestellt. Was unter Normalität und Anormalität (in diesem Zusammenhang: Behinderung) verstanden wird, unterliegt also einer fortwährenden Diskussion. Anders ausgedrückt: Die Frage, wer normal und wer behindert ist, wird in verschiedenen Diskursen ständig neu beantwortet (vgl. Kelle/Tervooren 2008). Der sonderpädagogische Diskurs produziert beispielsweise eine Normalitätskategorie, die sich von der des integrationspädagogischen unterscheidet (vgl. Schildmann 2004; von Stechow 2004; Tervooren 2001). Während der sonderpädagogische Diskurs die Polarität von Normalität und Behinderung ständig neu herstellt, wird Behinderung im integrationspädagogischen Diskurs zu einer neuen Normalität.

Seit Rosemary Dybwad im Jahr 1985 als Ehrenpräsidentin des Hamburger Kongresses "Normalisierung - eine Chance für Menschen mit geistiger Behinderung" in Deutschland erstmals ihre These äußerte: Es ist normal, verschieden zu sein[1] (vgl. Kanter 1988, S. 3), haben sich WissenschaftlerInnen diese These in Publikationen zum Thema Integration zu eigen gemacht (vgl. z.B. Feyerer 2000).

Im integrationspädagogischen Diskurs stellt Normalität eine Kategorie dar, die dynamisch und interdependent mit den Kategorien → Behinderung und → Integration vernetzt ist. Die historische Entwicklung dieser Kategorien wurde anhand einer von Jürgen Link (1998a) entwickelten Theorie der Normalität, der so genannten Normalismustheorie, analysiert (vgl. Lingenauber 2003a). Zunächst werden die Grundannahmen dieser diskursanalytischen Theorie und ihre spezifische Terminologie erläutert, und anschließend wird der Fokus auf die integrationspädagogische Normalitätskategorie gelegt. Der integrationspädagogische Diskurs ist erstens ein Spezialdiskurs und zweitens die sprachliche Seite der Integrationspraxis (vgl. a. a. O., S. 25). Normalität wird also sowohl in der Praxis als auch im Diskurs hergestellt. Normalität ist damit keine statische, sondern eine dynamische Kategorie, die im Sinne der Normalismustheorie streng von Normativität unterschieden werden sollte (vgl. a. a. O., S. 26).

Nach Link gibt es keine Normalitäten ohne Subjekte (vgl. Link 1998a, S. 25). Diese Aussage bezieht sich auf die Annahme, dass die Subjekte Normalitäten konstituieren und sie von diesen (konstituierten) Normalitäten wiederum beeinflusst werden. Dabei werden im Sinne der Normalismustheorie bei der Herstellung von Normalitäten unterschiedliche diskursive Strategien benutzt; gedacht sei hier beispielsweise an WissenschaftlerInnen, die sich bewusst mit ihren Normalitätskonzepten in den Diskurs einbringen.

Link unterscheidet vor allem zwei idealtypisierte gegensätzliche Subjektstrategien im Umgang mit Normalität: Die flexibel-normalistische Strategie zielt auf eine "maximale Expandierung und Dynamisierung der Normalitäts-Zone" und die protonormalistische Strategie auf eine "Fixierung und Stabilisierung der Normalitäts-Zone" (a.a.O., S. 78). Diese Normalitäts-Zonen werden nach Link in "Normalfeldern"[2] erzeugt.

Einem Normalfeld liegt die Vorstellung einer gaußschen Normalverteilung zugrunde, mit einer Normalitätsmitte sowie Normalitätsgrenzen. Link geht analog den beiden Diskursstrategien auch von zwei grundsätzlich zu unterscheidenden Normalfeldern aus: dem protonormalistischen und dem flexibel-normalistischen.

Protonormalistisches Normalfeld (Lingenauber 2003b, S. 69)

Er betont, dass zum protonormalistischen Normalfeld eine "fixe und stabile Stigma-Grenze" gehört (vgl. a. a. O., S. 79), und führt aus: "Während die protonormalistischen Normalitätsgrenzen zudem möglichst ‚schmal' (symbolisch wie Mauern) strukturiert sind, gibt es im Flexibilitäts-Normalismus auch ‚breitere' Grenzen (...). Die Stabilisierung fixer Normalitätsgrenzen im Protonormalismus setzt ‚außengelenkte' Subjektivität, ‚Disziplinierung', ‚Dressur' und ‚Repression' voraus. (...) Solche Außenlenkung ist mit dem Flexibilitäts-Normalismus unvereinbar" (Link 1998b, S. 266).

Protonormalismus und flexibler Normalismus unterscheiden sich also nicht nur hinsichtlich der Subjektstrategien, sondern beide setzen auch unterschiedliche Subjektivitäten zur Erzeugung der Normalfelder und ihrer Grenzen voraus. Die flexibel-normalistische Normalitätsgrenze ist anders als die protonormalistische eine "dynamische und in der Zeit variable Grenze" (Link 1998a, S. 79). Link führt über die flexibel-normalistische Strategie weiter aus: "Umgekehrt der protonormalistischen Strategie tendiert sie dazu, die Normalitätsspektren maximal auszudehnen, die Normalitätsgrenzen grundsätzlich flexibel zu halten und möglichst breite Übergangszonen zwischen Normalität und Anormalität vorzusehen. Wenn dem Protonormalismus eine starre, ‚dressierte' und ‚außengelenkte' Subjektivität entspricht, so vertraut der flexible Normalismus umgekehrt der ‚innengelenkten Autonomie' der Subjekte, ihre je individuellen ‚Normalitätsentwürfe' selbst zu entwickeln und zu erproben (...)" (Link 1998c, S. 96).

Flexibel-normalistisches Normalfeld (Lingenauber 2003b, S. 70)

Die individuellen Normalitätsentwürfe im Flexibilitäts-Normalismus haben aber auch ihre Grenzen. Link weist nachdrücklich darauf hin, dass es nicht nur im Protonormalismus, sondern auch im flexiblen Normalismus eine Normalitätsgrenze geben muss (vgl. Link 1998a, S. 340). Er hebt hervor: "Deshalb arbeitet der Flexibilitäts-Normalismus umgekehrt mit möglichst ‚breiten' Übergangszonen und mit Taktiken, die auf die ‚Inklusion' und ‚Integration' möglichst großer Abschnitte der borderlines in die Normalität zielen (...)" (Link 2001, S. 83). In der logischen Umkehrung des Zitats lässt sich formulieren, dass die flexibel-normalistische Strategie nicht auf eine vollständige Integration bzw. → Inklusion zielen kann, da die Normalitätsgrenze und mit ihr die Tatsache der Ausgrenzung erhalten bleiben. Die Übergangszonen zwischen Normalität und Anormalität werden im flexiblen Normalismus zwar verbreitert, lösen jedoch die beiden Pole nicht ganz auf. Link geht in seiner Normalismustheorie davon aus, dass erstens eine Überdehnung des flexiblen Normalismus einen Umschlag in den Protonormalismus zur Folge haben kann. Zweitens erweitern flexibel-normalistische Subjektstrategien zwar die Normalitätsmitte, lösen aber die Normalitätsgrenze nicht auf und kommen damit auch nicht ohne einen harten "Kern von Anormalität" aus (vgl. Link 1998a, S. 141).

Wie lassen sich nun aber Subjektstrategien theoretisch erklären, die darauf abzielen, die Polarität zwischen Normalität und Anormalität gänzlich aufzulösen? Oder anders gefragt: Wie lassen sich Tendenzen im integrationspädagogischen Diskurs erfassen, die auf die Etablierung einer neuen, vollständig individuellen Normalität zielen? Link widmet sich diesem Thema im Zusammenhang mit den kulturrevolutionären Studentengruppen der 1968er-Jahre und spricht von der "radikalen Überdehnung" des flexiblen Normalismus in dieser Zeit (vgl. a. a. O., S. 32 f.). Er schreibt über diese und weitere "transnormalistische Experimente": "Sie bilden ein konkretes Beispiel für ‚positive' Möglichkeiten transnormalistischen Funktionierens, ‚konkrete Utopien' in einem ernstzunehmenden, nicht bloß ironieträchtigen Sinne. (...) Die Zonen möglicher transnormalistischer Exploration lagen und liegen stets uneindeutig und unentschieden in einer Art Schwebezustand an der Grenze des flexiblen Normalismus, in den zurück sie jederzeit ‚gefloatet' werden konnten und können" (a. a. O., S. 33). Das Zitat macht deutlich, dass die transnormalistische Taktik dynamisch neben der flexibel-normalistischen Diskursstrategie von ein und demselben Subjekt eingesetzt werden kann. Transnormalismus stellt gleichzeitig eine Überschreitung des flexiblen Normalismus dar, denn er überwindet die Grenze des Flexibilitäts-Normalismus, indem er die Entgrenzungsstrategie so ausdehnt, dass sich das Normalfeld ganz auflöst. Link befasst sich mit Kurt Goldsteins Theorie "individueller Normalitäten" und betont, dass es sich beim Transnormalismus nicht um ein auf statistische Durchschnitte fußendes Normalitätskonzept handele. Er schreibt über Goldstein: "Er löst damit die Bedeutung des Terms ‚normal' vollständig vom Kriterium des Durchschnitts bzw. der überwiegenden Mehrheit der Fälle. Anders gesagt löst er das Konzept einer organisch-funktionalen Normalität vollständig von der gaußoiden Normalität und der analytisch-homöostatischen Normalität" (a. a. O., S. 131).

Transnormalistisches Normalfeld (Lingenauber 2003b, S. 73)

Auch im integrationspädagogischen Diskurs wird die Kategorie Normalität vom Durchschnittskriterium gelöst. Exemplarisch soll dies an den Normalitätskonzepten von Hans Eberwein und Georg Feuser aus den Jahren von 1990 bis 2000 verdeutlicht werden (vgl. Lingenauber 2003a, S. 179f.). Eberwein und Feuser generieren in dieser Zeit beide ein neues, transnormalistisch grenzenloses Bildungsnormalfeld. In diesem verschmelzen diskursiv das sonderpädagogische, das allgemeinpädagogische und das integrationspädagogische Normalfeld zu einer Einheit. Ihre Konzepte basieren auf dem transnormalistischen Normalitätsmaßstab unbegrenzter, individueller Normalitäten (vgl. ebd.). In ihren Publikationen lassen sich vergleichbare Konkretisierungen zum Verzicht auf die Behinderungskategorie (→ Behinderung) in einem einheitlichen integrativen Bildungssystem ausmachen, z. B. die Loslösung der Ressourcengewährung von Behinderungsklassifikationen und die Einrichtung von LehrerInnenstundenpools. In ihren Normalitätskonzepten der 1990er-Jahre stehen Diskursstrategien im Vordergrund, die darauf gerichtet sind, sämtliche - d. h. generelle, allgemeinpädagogische und sektorielle, sonder- sowie integrationspädagogische - Normalitätsspektren durch eine neue Normalität zu ersetzen und die Behinderungskategorie damit gänzlich aufzulösen (vgl. ebd.).

Eberwein beschreibt in seinem Normalitätskonzept der 1990er-Jahre den Auftrag der Integrationspädagogik einerseits als zeitlich begrenzt und anderseits als zur Systemtranszendenz der bisherigen Bildungsnormalfelder führend. Für seine Diskursstrategie ist damit die Integrationskategorie (→ Integration) von zentraler Bedeutung. Eberweins Ziel ist aber langfristig - ebenso wie das von Feuser - auf die Überwindung von Integration in Praxis und Diskurs gerichtet. Als wesentliche Unterscheidung ist festzuhalten, dass der Selbstbestimmt-Leben-Diskurs der Behindertenbewegung Eberweins Normalitätsbegriff beeinflusst hat, während Feusers Normalitätskonzept sowie sein gattungsspezifischer Normalitätsbegriff auf der Tätigkeitstheorie basiert (vgl. ebd.).

In beiden Werken spielt die Vorstellung von Behinderung als neue Normalität eine Rolle. Feuser bezieht diese Normalitätsvorstellung seit Mitte der 1990er-Jahre auf das Selbstbild der Subjekte. In seinem durch die Kulturhistorische Schule beeinflussten Normalitätsverständnis ist jedes Subjekt ein gattungsspezifisch normales. Damit ist es für den Menschen so normal, behindert zu sein, wie es normal ist, nicht behindert zu sein. Demgegenüber bezieht Eberwein seit den späten 1980er - Jahren die These von Normalität als Verschiedenheit auf die pädagogischen Professionen, indem er die Anerkennung dieser Normalitätsvorstellung von PädagogInnen fordert (vgl. ebd.).

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass im integrationspädagogischen Diskurs eine transnormalistische Normalität produziert wird. Die Herstellung dieser neuen Normalität ist mit den Kategorien Integration und Behinderung dynamisch und interdependent vernetzt.

Sabine Lingenauber



[1] Eine Veröffentlichung von Gunnar und Rosemary Dybwad enthält bereits im März 1977 die These: "It is normal to be different". Sie ist zuerst in der Schweiz erschienen, und zwar in der "International Child Welfare Review" der "International Union for Child Welfare" (vgl. Dybwad/Dybwad 1977; o. J.: S. 65). Ich verdanke diesen Hinweis zur Erstveröffentlichung Alexandra Obolenski.

[2] Zum Begriff des Normalfeldes vgl. auch Link 1998a, S. 320 ff.

Literatur

Dybwad, Gunnar/Dybwad, Rosemary: Severe mental retardation. Case studies. Current problems. In: International Union for Child Welfare (Hrsg.): International Child Welfare Review, o. O. (Schweiz): 1977

Dybwad, Gunnar/Dybwad, Rosemary: Severe mental retardation. Case studies. Current problems. Reprinted from the International Child Welfare Review by the Canadian Association for the mentally retared for the international league of societies for the mentally handicapped. Brüssel: o. J.

Feyerer, Ewald: Eine gemeinsame Schule benötigt eine gemeinsame LehrerInnen(aus)bildung. In: Hans, Maren/Ginnold, Antje (Hrsg.): Integration von Menschen mit Behinderung. Entwicklungen in Europa. Neuwied, Kriftel und Berlin: 2000, S. 248-269

Kanter, Gustav: Editorial. Gemeinsame Unterrichtung. Behinderte und nichtbehinderte Kinder und Jugendliche in einer sich verändernden Welt. In: Geistige Behinderung 27(1988)1, S. 1-3

Kelle, Helga/Tervooren, Anja (Hrsg.): Ganz normale Kinder. Heterogenität und Standardisierung kindlicher Entwicklung. Weinheim und München: 2008

Lingenauber, Sabine: Integration, Normalität und Behinderung. Eine normalismustheoretische Analyse der Werke (1970-2000) von Hans Eberwein und Georg Feuser. Opladen: 2003a

Lingenauber, Sabine: Normalismusforschung: Über die Herstellung einer neuen Normalität im integrationspädagogischen Diskurs. In: Feuser, Georg (Hrsg.): Integration heute. Perspektiven der Weiterentwicklung in Theorie und Praxis. Frankfurt am Main u. a.: 2003b, S. 65-76

Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Opladen und Wiesbaden: (2. Auflage) 1998a

Link, Jürgen: Von der "Macht der Norm" zum "flexiblen Normalismus": Überlegungen nach Foucault. In: Jurt, Josef (Hrsg.): Zeitgenössische französische Denker: eine Bilanz. Freiburg im Breisgau: 1998b, S. 251-268

Link, Jürgen: Die Angst des Kügelchens beim Fall durch die Siebe: Zum Anteil des Normalismus an der Kontingenzbewältigung in der Moderne. In: Binczek, Natalie (Hrsg.): Eigentlich könnte alles auch anders sein. Köln: 1998c, S. 92-105

Link, Jürgen: Aspekte der Normalisierung von Subjekten. Kollektivsymbolik, Kurvenlandschaften, Infografiken. In: Gerhard, Ute/Link, Jürgen/Schulte-Holtey, Ernst (Hrsg.): Infografiken, Medien, Normalisierung. Zur Kartografie politisch-sozialer Landschaften. Heidelberg: 2001, S. 77-92

Schildmann, Ulrike: Normalismusforschung über Behinderung und Geschlecht. Eine empirische Untersuchung der Werke von Barbara Rohr und Annedore Prengel. Opladen: 2004

Stechow, Elisabeth von: Erziehung und Normalität. Eine Geschichte der Ordnung und Normalisierung der Kindheit. Wiesbaden: 2004

Tervooren, Anja: Pädagogik der Differenz oder differenzierte Pädagogik? Die Kategorie Behinderung als integraler Bestandteil von Bildung. In: Fritsche, Bettina/Hartmann, Jutta/Schmidt, Andrea/Tervooren, Anja: Dekonstruktive Pädagogik. Erziehungswissenschaftliche Debatten unter poststrukturalistischen Perspektiven. Opladen: 2001, S. 201-218

Quelle:

Sabine Lingenauber: Normalität

In: Lingenauber, Sabine (Hrsg.): Handlexikon der Integrationspädagogik, Band 1, Kindertageseinrichtungen, Bochum/Freiburg 2008, S. 160-168.

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Stand: 30.03.2009

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