Selbstvertretung

Für sich selbst sprechen

Themenbereiche: Selbstbestimmt Leben
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: "Self-Advocacy: Speaking for Yourself" Der Text ist erschienen bei National Resource Center on Supported Living and Choise, Syracuse University, 805 South Crouse Avenue, Syracuse, NY 13244-2280, http://soeweb.syr.edu/thechp/saspeak.htm ; Der Text wurde - mit freundlicher Genehmigung von Rachael Zubai-Ruggieri - übersetzt von Ulrike Gritsch im Auftrag von SLI und WIBS, Anton Eder Straße 15, 6020 Innsbruck, wibs@selbstbestimmt-leben.at
Copyright: © Michael Kennedy, Patricia Killius 2004

Selbstvertretung - Für sich selbst sprechen

Als SelbstvertretungskoordinatorInnen am Zentrum für Human Policy sprechen wir mit Professionellen, Eltern und der allgemeinen Öffentlichkeit darüber, dass behinderte Personen Menschenrechte haben. Wir wollen, dass diese Leute wissen, dass wir Entscheidungen treffen können und für uns selbst sprechen können.

Wir unterrichten auch Menschen mit Entwicklungsbehinderung und geistiger Behinderung darüber, dass sie das Recht haben selbst zu bestimmen und so unabhängig wie möglich zu leben. Wir beide haben jahrelang in Institutionen gelebt. Also wissen wir, wie das für andere ist.

Eine Möglichkeit, wie wir das machen, ist Selbstvertretungsgruppen zu unterstützen. In diesen Gruppen lernen Menschen für sich selbst zu sprechen. Menschen mit allen Arten von Behinderungen nehmen an diesen Gruppen teil. Einige von ihnen leben immer noch in Institutionen. Die meisten aber leben in Wohngruppen, unterstützten Wohnungen, mit Familien oder sogar alleine.

Im Juli 1985 organisierten wir die erste Selbstvertretungskonferenz für Menschen mit Entwicklungsbehinderungen im Staat New York. Der Sinn war, Menschen mit Entwicklungsbehinderungen die Chance zu geben, für sich selbst, über ihre Rechte und über die Dinge, die sie ändern wollen, zu sprechen. Wir wollten auch, dass die Professionellen sehen, dass wir eine eigene Stimme haben. Wir wollen dieselben Rechte, wie jeder andere auch. Nicht mehr und nicht weniger.

Definition

Selbstvertretung heißt, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten für ihre Rechte sprechen. Für Leute, die nicht sprechen können, kann das heißen, dass jemand anderer sie darin unterstützt, was sie sagen wollen. Menschen mit Lernschwierigkeiten sollten das Recht haben, für sich selbst zu sprechen und andere Menschen über ihre Rechte zu unterrichten. Wir werden nicht immer jemanden haben, der sich um uns kümmert.

Die Leute müssen hören, was wir wollen, auch wenn sie es nicht wissen wollen. Für sich selbst zu sprechen, kann auch heißen, ein Risiko einzugehen. Manchmal hat man Angst, dass BetreuerInnen nein sagen könnten.

Einige Menschen können nicht für sich selbst sprechen

Einige Menschen können nicht leicht mit anderen Menschen sprechen oder kommunizieren. Andere Menschen können sehr schüchtern sein oder sich nicht wohl fühlen, wenn sie sprechen. Das soll nicht heißen, dass sie nicht am täglichen Leben teilnehmen können. Jemand mit einer schweren Behinderung kann trotzdem ein gutes Leben in der Gemeinde leben, auch wenn er sich nicht gut ausdrücken oder klar sagen kann, was er will. Diese Leute brauchen einen Freund, der für sie sprechen kann.

Der beste Sprecher für jemanden, der selbst nicht sprechen kann, ist wahrscheinlich eine andere Person mit Behinderung, die sprechen kann. Vielleicht ein Freund. Eine behinderte Person weiß, woher die andere behinderte Person kommt. Sie haben ähnliche Erfahrungen. Professionelle können wohl sagen, dass sie verstehen, aber in Wirklichkeit haben sie nie gelebt wie wir. Sie haben nicht dieselben Erfahrungen.

Mike: Ted und ich waren vor vielen Jahren zusammen in derselben Institution. Als wir uns kürzlich wieder trafen, konnte ich ihn immer noch verstehen. Und das, obwohl er eine wirklich schwierige Sprache verwendet und es für andere Menschen sehr schwierig ist, ihn zu verstehen.

Pat: Sogar für eine Person, die gar nicht für sich selbst sprechen kann, ist ein anderer Mensch mit Behinderung ein guter Sprecher. Gerade weil der weiß, wie es ist, in einer Institution zu leben.

Selbstvertretung heißt, Wahlmöglichkeiten zu haben

Wenn du in einer Institution lebst, hast du nicht die Freiheit aus zu wählen. Dir wird gesagt, was du tun musst. Z. B: wann du schläfst, wann du isst und wann du dich für die Arbeit fertig machen musst.

Du hast keine Möglichkeit irgendwohin zu gehen, außer die gesamte Gruppe, das gesamte Wohnhaus geht mit. Du kannst nicht alleine ausgehen.

Mike: Nun kann ich Dinge mit anderen Menschen oder alleine tun, wenn es das ist, was ich will. Ich habe wenigstens die Wahl.

Selbstvertretung bzw. für sich selbst zu sprechen, ist ein wichtiger Bestandteil, wenn man irgendwo integriert lebt. Menschen mit Behinderung, die integriert leben, sollten das Recht haben, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Genau wie jeder andere auch.

Beispiel: Sie sollten wählen können, wer für sie arbeitet.

In unserer Wohngemeinschaft wird die Leiterin mit der Person, die für uns arbeiten will, sprechen. Dann wird sie diese ins Apartment mitbringen und wir werden mit der Person sprechen. Wir stellen Fragen, wie: "Haben Sie jemals schon mit Menschen mit Behinderung gearbeitet?" "Was tun Sie gern in ihrer Freizeit?" Wir fragen das, damit wir erfahren, was diese Person gerne tut und ob wir dieselben Vorlieben haben. Wir fragen auch nach, wie diese Person darüber denkt, jemanden von einem Stuhl zum anderen zu helfen. Das fragen wir, damit wir erfahren, wie die Person darüber denkt, mit uns zusammen zu sein.

Nachdem unsere Fragen beantwortet sind, kann die Person uns fragen. Wir geben Antworten darüber, wo wir arbeiten und was wir tun.

Am folgenden Tag setzen wir uns mit der Leiterin zusammen und sprechen über die Person.

Sie nimmt unsere Ideen mit zur Sitzung des Trägervereins und dort werden unsere Vorschläge meistens angenommen.

Die Wahlmöglichkeiten, die du haben solltest, sind

  • deine eigenen Freunde selbst auszusuchen,

  • die Möglichkeit, dass Freunde dich besuchen können,

  • die Möglichkeit, in die Kirche zu gehen, wenn du das willst,

  • darüber zu entscheiden, ob du einen richtigen Job oder einen geschützten Arbeitsplatz oder eine Arbeit in der Beschäftigungstherapie haben willst,

  • und ganz viele andere Möglichkeiten.

Manchmal brauchen Menschen mit Lernschwierigkeiten Hilfe dabei, ihre Wahl zu treffen. Oder auch dabei, ihre Möglichkeiten kennen zu lernen. Eltern, Angestellte und Freunde können beim Auswählen helfen, indem sie aufmerksam sind.

Selbstvertretung bedeutet, etwas über Dienstleistungen zu sagen zu haben

Menschen mit Lernschwierigkeiten können und sollen Einfluss auf die Dienstleistungen haben, indem sie bei Sitzungen und Versammlungen teilnehmen. Es ist wichtig, unsere Ideen mitzuteilen, weil wir einige der Dienstleistungen nutzen. Viele von uns nehmen unser ganzes Leben lang Dienstleistungen in Anspruch. Wir wissen, dass manche Dienstleister gut sind, weil sie versuchen, unsere individuellen Bedürfnisse zu treffen. Wir bemerken auch, wenn einige Dienstleistungen schlecht sind, weil sie die Menschen nicht in die Gemeinschaft integrieren und weil sie uns keine Angebote zur Verfügung stellen, die uns helfen, unabhängiger zu werden. Wir können den Agenturen erzählen, welche Dinge wir brauchen, damit wir in der Gemeinschaft leben und wachsen können. Aber es genügt nicht, in einer Sitzung nur eine KundIn zu haben. Wenn an jeder Sitzung mehrere KundenInnen mit verschiedenen Behinderungen und verschiedenen Erfahrungen teilnehmen, werden die Anbieter mehr über unsere Bedürfnisse erfahren.

Zu Beginn, als wir unsere Selbstvertretungsjobs bekamen, fragten uns viele Agenturen, ob wir zu ihren Sitzungen kämen. Es schien so, als wären sie sich nicht bewusst darüber gewesen, dass es noch andere Menschen mit Behinderung gab, die auch in ihren Sitzungen sprechen konnten.

Pat: Es sollten nicht immer dieselben zwei KundInnen bei den Sitzungen sein, denn die anderen TeilnehmerInnen der Sitzung ermüdet es, immer diesen beiden zuzuhören. Es gibt noch andere KundInnen, die viel aus der Erfahrung einer Sitzung lernen und auch etwas zur Sitzung beitragen können.

Behinderte Menschen brauchen möglicherweise verschiedenste Formen von Unterstützung, damit sie an Sitzungen teilnehmen können. Z. B. könnten wir Hilfe brauchen, damit wir zum Treffen kommen können oder bei persönlichen Bedürfnissen, wie schreiben, lesen, sprechen für jemanden, der nicht sprechen kann, oder beim Übersetzen für jemanden, der nicht hören kann. Es ist wichtig, diese Unterstützung zu haben, damit wir teilnehmen können. Ohne diese Unterstützung haben wir nur eine Alibi Funktion.

Über Selbstvertretung lernen

Alle behinderten Menschen haben das Recht, für sich selbst sprechen zu dürfen. Das ist wichtig, denn es wird einen Tag geben, an dem unsere Eltern nicht mehr für uns sprechen können. Behinderte Menschen können sich gegenseitig beibringen, wie man für sich spricht. Rollenspiele für verschiedene Probleme und Situationen sind eine gute Art über Selbstbestimmung zu lernen.

Wir sind stärker, wenn wir eine Gruppe bilden. Einer allein wird schnell überhört oder übersehen. Wenn es eine Gruppe von Menschen gibt, die dasselbe wollen, ist die Chance größer, dass andere Menschen uns zuhören.

Das ist genau das, was wir in Syracuse taten. Wir machten uns eine Liste mit Freunden und anderen Menschen, die wir kannten. Wir erzählten ihnen über Selbstvertretung und fragten sie, ob sie mitmachen wollten. So hat es begonnen.

Wir überlegten uns einige Anliegen und sprachen über sie bei jedem Treffen. Wir sprachen z.B. über Transportprobleme und Schule.

Um uns selbst etwas über unsere Rechte beizubringen, benutzten wir ein Werkzeug, das "Rights Now" heißt. Es besteht aus Kassetten, Bildern und einer Dia Show über unterschiedliche Menschen, wie sie Selbstvertretung erlernen. Z. B: Wie findet man sinnvolle Arbeit anstelle von Beschäftigungstherapie? Wie findet man Zeit, um mit Freunden alleine zu sein? Oder: Wie erarbeitet man Kompromisse mit Menschen, mit denen man zusammenlebt?

"Rights Now" kann man nicht mehr kaufen. Aber es könnte sein, dass einige Selbstvertretungsagenturen es noch haben.

Wege, eine Gruppe zu starten

Wir haben unsere Gruppe über das "College for Living" gestartet, aber nicht jeder muss das auf dieselbe Art tun. Es gibt viele Möglichkeiten, eine Gruppe zu starten.

Zuerst muss man einen guten Platz finden, wo man sich treffen kann. Dieser sollte für jeden leicht zu erreichen sein.

Dann muss man eine Liste mit Menschen machen, die an der Gruppe teilnehmen wollen. Es ist okay, wenn man klein beginnt.

Man muss andere Personen über das Treffen informieren, entweder indem man sie anruft oder indem man ihnen am Arbeitsplatz - oder wo man wohnt - Bescheid sagt.

Man muss gemeinsam ein Datum und eine Zeit, die für jeden passt, finden. Wenn Ihr das erste Treffen macht, müsst ihr sicher sein, dass sich jeder gut fühlt. Ihr müsst darauf achten, dass sich die Menschen vorstellen und vielleicht sagen, warum sie etwas über Selbstvertretung lernen wollen.

Vielleicht müsst ihr zuerst etwas über Selbstvertretung erklären. Wenn ihr euch entscheidet, das "Rights Now"-Material zu verwenden, könnt ihr über die Kassetten und Bilder etwas erzählen. Oder ihr könntet einen Film zeigen, wie den "People First"-Film. Oder eine Dia Show, wie z. B. "Unsere Stimme ist neu". Nach dem Film könnt ihr über einige Anliegen sprechen, wie z. B.: für sich selbst zu sprechen; jemanden zu suchen, der für einen spricht, wenn man selbst nicht gut sprechen kann oder wie es sich anfühlt, als "geistig behindert" bezeichnet und abgestempelt zu werden.

Wir und die Menschen in unserer Gruppe denken, dass es gut ist, eine Gruppe zu bilden, weil:

  1. Es gibt nicht immer Menschen, die Entscheidungen für dich treffen. Du musst lernen, deine eigenen Entscheidungen zu treffen.

  2. Man kann von den anderen lernen. Jeder hat unterschiedliche Interessen.

  3. Man kann gemeinsam neue Möglichkeiten für Menschen mit Behinderung erarbeiten.

  4. Du kannst über deine Rechte als BürgerIn lernen.

  5. Du kannst anderen Menschen helfen, die nicht sprechen können.

  6. Du kannst Spaß daran haben, andere Menschen zu treffen.

Indem man für sich selbst spricht, sehen andere Menschen, z. B. BetreuerInnen, BeamtInnen oder die Öffentlichkeit, dass du eine Person gerade so wie sie bist und nicht eine Behinderung. Selbstvertretung ist ein Teil des Lebens in der Gemeinschaft. Ohne sie könnten wir genauso gut in die Institutionen zurückgeschoben werden.

Quelle:

Michael Kennedy, Patricia Killius: Selbstvertretung - Für sich selbst sprechen.

Aus dem Englischen: "Self-Advocacy: Speaking for Yourself" Der Text ist erschienen bei National Resource Center on Supported Living and Choise, Syracuse University, 805 South Crouse Avenue, Syracuse, NY 13244-2280, http://soeweb.syr.edu/thechp/saspeak.htm

Der Text wurde - mit freundlicher Genehmigung von Rachael Zubai-Ruggieri - übersetzt von Ulrike Gritsch im Auftrag von SLI und WIBS, Anton Eder Straße 15, 6020 Innsbruck, wibs@selbstbestimmt-leben.at

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 16.06.2010

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