Liebe und Sexualität

Themenbereiche: Sexualität
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: psychosozial; 22. Jahrgang - Nr. 77 - 1999 - Heft III
Copyright: © psychosozial verlag, 1999

Liebe und Sexualität

Inhaltsverzeichnis

Menschen mit geistiger Behinderung entwickeln von Kind an eine normale Sexualität. Dennoch war dies lange Jahre ein Tabuthema im Leben eines geistig behinderten Menschen. Es hieß, sie hätten keinen Sex, sie bräuchten das nicht, seien sexuell übergriffig und müßten somit eingesperrt werden.

Auf Grund der Erfahrung in den Einrichtungen während der letzten 20 Jahre wurde die sexuelle Partnerschaft geistig behinderter Menschen ein Thema - dank einiger Experten in Israel (Felix und Laveck 1973) und Deutschland (Walter 1986) durchaus ein ernstzunehmendes Thema. Eltern, Lehrer, Betreuer und Erzieher beobachten bei Jungen und Mädchen den Wunsch nach Nähe, nach Zärtlichkeit und Anerkennung. Die Kommunikation verläuft allerdings eher nonverbal, die Körpersprache hat einen hohen Stellenwert. Jungen und Mädchen küssen und umarmen sich, sie verstecken sich in den Betten, nicht wenige wurden unbekleidet an den unterschiedlichsten Orten "entdeckt".

Mitarbeiter, insbesondere die in den Einrichtungen, waren verunsichert, und es kamen immer wieder die Fragen auf: Wie sollen wir reagieren? Gibt es hier Verbote? Wer trägt hier die Verantwortung?

In Israel haben in den 70er Jahren Experten (Felix 1973, Johnson 1977 und Kamel 1977) in Zusammenarbeit mit dem Sozialministerium in Jerusalem eine Arbeitsgruppe zum Thema "Sexualität und Partnerschaft geistig behinderter Menschen" eingerichtet. Es sollte ein Arbeitspapier für die Ausbildung der Betreuer und Erzieher in den staatlichen Instituten erstellt werden.

Wichtige Grundlage war die Anerkennung des Rechts auf eine sexuelle Beziehung zwischen dem geistig behinderten Mann und der geistig behinderten Frau.

Gleichermaßen wurde festgestellt, daß der geistig behinderte Mensch ein Recht auf eine Sexualerziehung hat. Eine Sexualerziehung im Kindesalter hatte oft nicht stattgefunden. Der eine oder andere kennt den männlichen und weiblichen Körper aus Zeitschriften, Pornoheften oder Filmen. Kognitiv kann er oft nicht begreifen, was mit ihm "passiert", wenn er sich verliebt. Er fühlt sich hingezogen zu seinem Gegenüber und möchte seine Gefühle ausdrücken.

Ziel der Arbeitsgruppe war es, ein Fortbildungsprogramm für die Mitarbeiter zu entwickeln, die dann die Sexualerziehung in den Einrichtungen übernehmen sollten.

Diese Mitarbeiter wurden sorgfältig ausgewählt. Offenheit, ein positives persönliches Verhältnis zur Sexualität, die Fähigkeit zur Selbstreflexion und der Wunsch und Wille, die Sexualerziehung geistig behinderter Menschen ernst zu nehmen, waren die Voraussetzungen für die Teilnahme an der Ausbildung. Sexualität als eine Form des menschlichen Daseins und als ein wichtiges Thema anzuerkennen, wurde erwartet. Die zentralen Fragen der Arbeitsgruppen waren:

Gibt es einen Unterschied zwischen meinem Sexualverhalten, den Normen der Gesellschaft und dem Verhalten von Menschen mit geistiger Behinderung? Wie kann der Betreuer die Wünsche und Gefühle des behinderten Menschen erfahren? Wie lerne ich seine Sprache kennen, und wie kann ich eine Überforderung vermeiden?

Das Ausbildungsprogramm hat folgende Bausteine (Kurzfassung):

  1. Die Erklärung der männlichen und weiblichen Körperteile in angemessener Sprache.

  2. Was ist der Unterschied zwischen dem männlichen und weiblichen Körper? Was ist männlich, was ist weiblich?

  3. Wie erkläre ich den Hormonhaushalt und die Menstruation?

  4. Was ist Onanieren? Dabei ist die positive Darstellung von besonderer Wichtigkeit, ebenso der Ort.

  5. Wo und wie erleben Männer und Frauen Sexualität im Privatleben?

  6. Wie gehe ich mit Verhütungsmitteln um?

  7. Was bedeutet es, eine Familie zu gründen? Was bedeutet Elternschaft?

  8. Wie kommunizieren Mann und Frau? Wie lerne ich, die Gefühle des anderen zu verstehen? Liebe, Respekt und Verantwortlichkeit untereinander sind die Werte einer gemeinsamen Beziehung.

  9. Wie gehen wir mit Mißverständnissen um? Wie lerne ich, zuzuhören und Konflikte auszutragen?

Nach einer Zeit der Umsetzung des Programms in den Einrichtungen werden die Erfahrungen diskutiert. Die Erzieher, die die Ausbildung durchlaufen und diese in der Einrichtung umgesetzt haben, berichten immer wieder von Schwierigkeiten und der Notwendigkeit einer fachlichen Begleitung in Form der Supervision.

Das kindliche Verhalten der Menschen mit einer Behinderung ließ z. B. die Mitarbeiter immer wieder daran zweifeln, ob die Sexualerziehung auch verstanden wird. Wird der Mensch mit geistiger Behinderung die Stufen des Zusammenlebens jemals erfahren? Können Mitarbeiter wechselnde Sexualkontakte "dulden"? Kann es zu festen Beziehungen, wenn möglich für das ganze Leben, kommen? Was ist zu tun, wenn Kinder zur Welt kommen? Wer begleitet die Familie? Wie stehe ich zur Homosexualität? (Auch dieses Thema taucht natürlich auf!)

Es stellte sich bald heraus, daß das Ausbildungskonzept zu viele theoretische Bausteine enthielt. Die behinderten Menschen erwarteten eher eine "praktische Begleitung". Die Funktion des männlichen und weiblichen Körpers verstanden sie schnell: "Das wissen wir doch schon lang". Das schöne Gefühl, die Zärtlichkeit, das waren ihre Sehnsüchte. So wurden auch die holländischen Programme der Sexualerziehung diskutiert, aber eben nur diskutiert, weil die Mitarbeiter sich überfordert sahen, sie umzusetzen. Aber auch von seiten der Politiker waren diese Ansätze für staatliche Einrichtungen nicht akzeptabel. Es gab nur die Möglichkeit, daß die Paare, die zusammenleben wollten, die Einrichtung verließen, um im Betreuten Wohnen zusammenleben zu können.

Natürlich war mit dieser Entscheidung das Problem nicht gelöst.

Die Bewohner durchliefen zwar weiterhin das Ausbildungsprogramm, aber eine Lösung im Sinne der "Normalisierung" konnte nicht verwirklicht werden. Zärtlichkeit und der Austausch der Gefühle waren durchaus erlaubt, Genitalsexualität durfte offiziell jedoch nicht erlaubt werden: "Sie sind doch wie fünf- bis siebenjährige Kinder. Wie können sie ethisch den Wert einer Beziehung erfassen?"

Die gleichen Erfahrungen und Fragen gibt es auch in den Einrichtungen in Deutschland. In einer kürzlich veröffentlichen Untersuchung "Liebe im Heim" skizziert E. Wacker (1999) auf Grund von Umfragen in Einrichtungen in Deutschland die dortige Situation: Oft sind es die Rahmenbedingungen, die eine freie Entfaltung der sexuellen Wünsche behindern.

Dennoch erscheint es uns wichtig, daß es eine Offenheit gibt und wir alle mehr Mut haben, den Wünschen der behinderten Menschen zu folgen. In einigen Einrichtungen erleben wir heute durchaus mehr Offenheit von seiten der Betreuer. So können in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf Menschen mit geistiger Behinderung ein Treuegelöbnis ablegen, um dann als Paar zusammenzuleben. Sie erhalten daraufhin den Schutz und die Akzeptanz, die sie als Paar benötigen (Kiesow 1991).

Die Eltern geistig behinderter Erwachsener äußern sich in Gesprächen zurückhaltend: "Er/Sie ist doch wie ein Kind." Außerdem fällt es vielen Eltern schwer, in aller Offenheit das Problem der Sexualität anzusprechen.

Auch die Eltern haben ein Recht auf Beratung und Information. Wir können nicht erwarten, daß sie ihr persönliches Sexualverhalten offenlegen. Vielmehr müssen wir sie positiv motivieren, ihnen aber auch zuhören können. Es ist nun einmal eine große Sorge, plötzlich Großmutter oder -vater zu werden, insbesondere Eltern geistig behinderter Frauen äußern dies im Zusammenhang mit der Verhütung. Einerseits erwarten sie, daß auch die geistig behinderten Männer Verhütungsmaßnahmen, nicht nur mit dem Kondom, übernehmen, und andererseits wird immer wieder gesagt, daß doch die Sterilisation das Problem am besten lösen würde. So wehren sich auch Eltern gegen eine Aufklärung mit der Begründung, es sei besser, ihre Söhne/Töchter würden erst gar nicht neugierig gemacht.

Nur wenige Eltern können so offen und positiv über die Sexualität ihres behinderten Sohnes sprechen wie die Mutter von Roland:

"Als Mutter eines behinderten und eines nichtbehinderten Sohnes konnte ich erleben, daß die Entwicklung beider Söhne fast gleichförmig verlief. Schmusen und Küssen, Streicheln und mit dem Körper spielen war beiden Kindern gleich wichtig. Viele Jahre der Kindheit verbrachten sie die Nächte am liebsten in meinem Bett, beide suchten die Nähe und Wärme. Mit Beginn der Pubertät verzog sich der nichtbehinderte Sohn ganz von allein in sein Zimmer und verschloß die Tür, während der behinderte Sohn ,diese Kurve' alleine nicht schaffte. Hier war es wichtig, darüber zu sprechen, daß es nun ein Ende haben müßte mit der körperlichen Nähe, dem Bedürfnis, den Busen der Mutter zu streicheln, der Klatsch auf den Po war nicht angemessen. Niemals hat der nichtbehinderte Sohn vom Onanieren erzählt, während der behinderte Sohn voll Stolz von dem ,Ergebnis' berichtet hat: ,Das ist aus meinem Penis herausgekommen. So riecht das.'

Er konnte von dem schönen Gefühl sprechen, und es wurde vereinbart, daß das schöne Gefühl erlaubt ist, aber nur im eigenen Zimmer und hinter verschlossener Tür.

Daß man den schönen Frauen im Schwimmbad nicht auf den Po klatscht, hat der Bruder klargestellt, das hatte eine wesentlich intensivere Wirkung, als wenn ich es verboten hätte. Das gesellschaftliche Verhalten hat der behinderte Sohn ohne ,Erziehungsprogramm' der Eltern von seinem Bruder erlernt. Diese Erfahrung untermauert z. B. den Einsatz für die Integration behinderter Kinder und Jugendlicher. In einer Integrationsklasse wird ein behinderter Schüler nicht auf die Idee kommen, öffentlich zu onanieren. Dennoch wird der behinderte Sohn einer schönen Frau immer deutlicher ,schöne Augen' machen als der nichtbehinderte Sohn, er wird sich aber nicht unangemessen verhalten.

Als Mutter beider Söhne habe ich schon frühzeitig - damals diskutierte man das neue Betreuungsgesetz - für mich geklärt, daß beide Söhne unter dem gleichen Grundgesetz stehen, beide haben das Recht auf freie Entscheidungen, freie Entfaltung, beide haben das Recht, Liebe und Sexualität zu erleben, beide haben das Recht, Kinder zu bekommen. Das habe ich mehrfach auch öffentlich vertreten und dafür sowohl Anerkennung als auch Ablehnung, insbesondere von Eltern behinderter Söhne und Töchter, erfahren.

Wenn ich an die Zukunft meines behinderten Sohnes denke, so wünsche ich ihm eine feste Beziehung mit einer behinderten Frau, eine kleine Wohnung und verständnisvolle Begleiter. Er ist in der Lage, viel Liebe und Wärme zu geben, er ist aber auch darauf angewiesen, diese zu bekommen; wechselnde Betreuer können eine derartige verläßliche Beziehung nicht ersetzen.

Die Frage anderer Eltern, ob ich nicht besorgt sei, daß z. B. ein Kind zur Welt kommen könne, womöglich noch ein behindertes Kind, kann mich nicht beunruhigen. Vielleicht wäre es sogar einfacher, wenn das Kind behindert wäre. Ich erinnere mich an den Bericht einer hör- und sprachbehinderten Frau, die sich nichts sehnlicher wünschte, als ein Kind zu bekommen, das auch hör- und sprachbehindert ist. Es wurde - zum Glück - mit dieser Behinderung geboren."

Und dennoch, und hier spricht wieder der Psychologe, können wir nicht erwarten, daß ein Mensch mit geistiger Behinderung in der Lage ist, alleine ein Kind zu erziehen. Er wird zwar meistens in der Lage sein, den emotionalen Bereich abzudecken, aber die Erziehungsarbeit wird er nicht leisten können. Wir haben jedoch in Deutschland die Möglichkeit, über die Familien- und Erziehungshilfe diesen Familien zu helfen. Es gibt im übrigen genügend Familien, die diese Hilfe in Anspruch nehmen (müssen). Bei der Diskussion dieser Problematik stellen wir immer wieder fest, daß es in Deutschland und auch in Israel noch nicht akzeptiert wird, daß geistig behinderte Menschen Kinder bekommen, obwohl es die Hilfsangebote gibt! Bei dieser Frage scheiden sich die Geister. Von einer Gleichstellung ist der geistig behinderte Mensch noch weit entfernt, und es stellt sich die Frage, ob er sie je erlangen wird.

Was aber denkt der Mensch mit einer geistigen Behinderung über dieses Thema? Roland1 hat sich mit uns darüber unterhalten. Roland ist ein 23jähriger junger Mann mit einem Down-Syndrom. Als er geboren wurde, war die Prognose der Ärzte sehr negativ: "Er ist ein Vollidiot, ein schwerer Fall, er wird sich nicht alleine versorgen können, er wird immer Hilfe brauchen, am besten geben Sie ihn in ein Heim." Die Eltern sind diesem Rat nicht gefolgt, sondern haben beschlossen, ihn anzunehmen ihm die gleichen Chancen wie seinem ein Jahr älteren Bruder zu geben. Beide Söhne wurden gleich behandelt und mußten lernen, sich gegeneinander durchzusetzen.

Heute lebt Roland mit seinem nichtbehinderten Bruder bei seinen Eltern. Er lebt seit drei Jahren in der Einliegerwohnung und "braucht" das selbständige Leben. Seine Wohnung hat ein Wohnschlafzimmer, eine kleine Küche und eine Dusche mit Toilette. Seine Hobby ist es, Geschichten auf dem Computer zu schreiben, er liebt das Vorabendprogramm auf Pro 7 sowie die Filme mit Leonardo di Caprio. "Romeo und Julia" liest und schreibt er immer wieder. Ab und an lädt er seine Eltern zum Frühstück ein. Am Wochenende besucht ihn seine Freundin Dagmar,2 die ihm beim Aufräumen helfen muß; diese Rollenverteilung ist für ihn selbstverständlich. Am Tage arbeitet er unter dem Dach einer Werkstatt für Behinderte im Hauswirtschaftsbereich eines Altenheimes. Seine Zukunft hat er klar vor Augen: Dagmar soll demnächst bei ihm einziehen.

Im Gespräch mit Herrn Dr. Kandel, das wörtlich protokolliert wurde, erzählt er von seinen Gedanken und Plänen:

K: Roland, was verstehst Du von Sexualität?

R: Sexualität ist Vertrauen und Zuneigung. In Liebesfilmen sieht man, wie man mit Sex umgeht, vorsichtig, nicht gleich übertreiben, nicht gleich Sex haben. Ich bin ein geduldiger Mensch, der warten kann. Man muß erst denken und den Verstand nutzen, dann klappt alles wie am Schnürchen.

K: Was findest Du wichtig dabei?

R: Wenn Dagmar an mich glaubt.

K: Wie macht ihr Sex?

R: Wir ziehen uns nackig aus und gehen ins Bett und pressen Körper auf Körper.

K: Was passiert dann?

R: Dann wird erst geküßt, dann wandert der Penis in ihr Loch rein.

K: Wird der vorher steif?

R: Der wird immer steif. Manchmal liegt Dagmar auch auf mir drauf und versucht, den Penis in die Scheide zu führen.

K: Klappt das auch immer?

R: Erst einmal muß man am ganzen Körper und den Busen streicheln, das habe ich abgeguckt von Leonardo di Caprio in dem Film ‚Romeo und Julia' und in‚Titanic'. Streicheln ist ganz wichtig. Wenn ich Dagmar unten streichele, kriegt sie schöne Gefühle.

K: Kriegst Du auch schöne Gefühle?

R: Ja, natürlich, danach kommt die Flüssigkeit raus.

K: Kommt die in die Scheide?

R: Nein, wir wollen doch nicht vulgär sein, da können Bakterien drin sein, davon kann Dagmar krank werden.

K: Du weißt, daß in der Flüssigkeit die Samen sind?

R: Natürlich weiß ich das, aber wir wollen nicht gleich ein Kind haben, wir wollen noch warten. Aber wenn der Penis steif ist und Flüssigkeit kommt, dann habe ich sehr gute Gefühle. So etwas mache ich nur aus Liebe und Lust.

K: Machst Du Dir das Gefühl auch manchmal alleine?

R: Ja natürlich, an der Arbeitsstelle oder zu Hause. Im Gedächtnis habe ich dann Dagmar, dann muß ich nur den Penis reiben, bis er steif wird und die Samen rauskommen. Die kommen dann in die Hände, damit die Hose nicht dreckig wird. Danach wasche ich mir die Hände.

K: Machst Du das oft an der Arbeitsstelle?

R: Nur wenn ich Lust habe. Manchmal habe ich zuviel zu tun.

K: Und zu Hause?

R: Zu Hause mache ich das auf dem Klo, sonst mache ich doch das Bett voll, das ist nicht gut.

K: Hast Du das auch mit Deiner anderen Freundin gemacht?

R: Ja schon, das habe ich aber schon vergessen.

K: Könntest Du das auch mit anderen Frauen machen?

R: Ich könnte jede hübsche Frau vernaschen, aber das macht man nicht.

K: Und wie ist das mit dem Küssen?

R: Leidenschaftlich, aus lauter Liebe küsse ich zart und romantisch wie im Film.

K: Wie ist das, wenn ihr zusammen wohnen würdet?

R: Ganz einfach, ich habe viel Erfahrung, wie man mit Mädchen umgeht, nicht so hektisch. Ich will auf sie aufpassen, ich will ihr ihre Pillen geben, und ich will sie auch duschen und helfen beim Waschen. Das habe ich an der Arbeitsstelle abgeguckt, wie man hilft beim Waschen. Erst kommt das Gesicht dran, der Bauch und der Busen, unter den Achseln und dann untenrum bis zu den Füßen.

K: Meinst Du, Dagmar kann das nicht alleine?

R: Man muß auf sie aufpassen.

K: Habt ihr schon einmal zusammen geduscht?

R: Nein, noch nie, aber wir wollen das.

K: Wollt ihr auch Kinder haben?

R: Na klar! Ich wäre ein stolzer Vater, genau wie meine Eltern auf mich stolz sind.

K: Weißt Du denn, was Erziehung bedeutet?

R: Ich kann meinem Sohn alles mögliche beibringen, z. B. wie man sich als erwachsener Mensch fühlt. Ich werde ihm erzählen, was ich gemacht habe, als ich klein war. Ich werde mit dem kleinen Racker duschen gehen.

K: Meinst Du, das Kind kann gleich duschen gehen?

R: Das Kind muß doch öfter gewaschen werden. Ich kaufe eine kleine Badewanne und wasche das Baby drin. Spielzeug habe ich noch genug. Ich bringe ihm bei, wie man etwas lernen kann. Wenn er älter wird, bringe ich ihm das Schaukeln bei, wie man Walkman hört, wie man das Gruseln lernt.

K: Was meinst Du damit?

R: Abends im Dunkeln gehe ich raus, setze mich auf die Schaukel, höre Gruselgeschichten, z. B. von Vampiren, und grusele mich.

K: Zum Kindererziehen gehört noch mehr.

R: Natürlich, z. B. Pflege.

K: Was heißt das?

R: Wir werden dem Baby die Flasche geben, es bekommt Muttermilch aus den Busen, daran kann es nuckeln, und legt sich dann zur Ruhe.

K: Und wenn das Kind nicht schlafen kann?

R: Dann singe ich ein Liedchen, oder ich nehme das Baby auf den Arm und wiege es hin und her, dann schläft es sofort ein, oder ich gucke ihm tief in die Augen.

K: Was meinst Du damit?

R: Das machen doch alle Eltern. Sie gucken dem Kind in die Augen und zeigen dem kleinen Racker, daß man ihn richtig lieb hat.

K: Wie ist das mit den Windeln?

R: Da habe ich keine Probleme, das kann doch jeder.

K: Und wenn das Kind weint?

R: Das heißt auf Deutsch, daß es Hunger hat. Dann kaufen wir Babynahrung. Man muß nur aufpassen, daß das Kind einem nicht ins Gesicht spuckt - so wie ich das gemacht habe. Damit will das Kind Aufsehen erregen - wenn es spuckt - das ist doch der Sinn der Sache.

K: Und wenn das Kind krank ist?

R: Dann gehen wir zum Doktor, zu Frau P.

K: Und wenn das Kind alle drei Stunden Medizin braucht, Du hast doch Probleme mit der Uhrzeit.

R: Dafür ist dann Dagmar zuständig, sie kann doch die Uhr.

K: Warum hast Du nie die Uhrzeit gelernt?

R: Das weiß ich auch nicht, ich lebe eben zeitlos.

K: Was verstehst Du unter Erziehung?

R: Da kann ich Dir viel erzählen. Vorsichtig sein, wenn etwas heiß ist, nicht an die Blumenvasen gehen.

K: Und wenn das Kind nicht hört?

R: Dann gibt es etwas auf den Po.

K: Du willst das Kind schlagen?

R: Nein, nur vorwarnen, vielleicht gibt es eine kleine Strafe, vielleicht einen Zimmerarrest.

K: Wie lange?

R: Vielleicht eine Woche.

K: Ist das nicht zu lang?

R: Vielleicht ja, aber eigentlich soll man sich ja am gleichen Tag wieder vertragen.

K: Was ist denn für ein Kind wichtig?

R: Liebe, das muß man zeigen.

K: Wie kann man das?

R: "He, sei nicht so frech, laß' das. Du bist doch mein Sohn. Wir mögen Dich."

K: Wenn das Kind in die Hosen macht?

R: Da sagt man: "Das finde ich nicht so gut!" und wechselt die Hose.

K: Wenn das Kind in den Kindergarten geht?

R: Dann sage ich ihm, er soll uns keine Schande machen.

K: Was verstehst Du darunter?

R: Keine Kloppereien im Kindergarten, nicht den Kindern in den Haaren ziehen.

K: Und was ist mit der Schule?

R: Dann sage ich: "So, mein Sohn, nun gehst Du in die Schule, damit du Lesen, Schreiben und Rechnen lernst. So wie ich das gemacht habe."

K: Und wenn Dein Sohn die Uhrzeit lernt, die Du nicht gelernt hast?

R: Dann staune ich und sage: "He, Du bist ja noch schlauer als ich, ich bin stolz auf Dich."

K: Hast Du keine Sorge, daß Dein Sohn dich auslacht, weil Du die Uhrzeit nicht gelernt hast?

R: Darauf passe ich schon auf und sagte "Bitte nicht lachen." Der Sohn wird das akzeptieren. Ich bin stolz auf ihn.

K: Meint ihr, ihr braucht noch Berater?

R: Berater finde ich gut, vielleicht meine Mutter oder andere. Hauptsache wir bekommen gute Tips auch von unseren Freunden.

K: Wie könnt ihr euch ernähren? Von dem Lohn der Werkstatt für Behinderte (WfB) kannst Du keine Familie ernähren.

R: Wenn ich heirate, ist die WfB-Arbeit vorbei, dann werde ich Geschäftsmann. Dagmar macht dann Probewohnen, dann lernt sie auch das, was ich gelernt habe: Aufräumen, Staubsaugen, Klo säubern usw.

K: Und wenn es Streit gibt?

R: Dann sage ich: "Bitte nicht streiten." Ich ziehe mich zurück. Streitigkeiten liegen mir nicht im Blut.

K: Wenn Dir jemand begegnet und sieht Dich mit dem Kind und sagt: "Der ist doch behindert. Wie kann er ein Kind haben?"

R: Dann werde ich sagen: "Kannst Du das noch einmal sagen? Ich habe nicht gut hingehört."

K: Und dann?

R: "Das ist ganz normal, genau so normal, wie Du ein Arschloch bist!"

K: Bist Du dann verletzt?

R: So leicht kann mich keiner verletzen!

Dieses Gespräch macht deutlich, daß Roland, der junge Mann mit dem Down-Syndrom, "praktisch" und "emotional" durchaus aufgeklärt ist und vernünftige Beziehungsstrukturen kennt. Es wird deutlich, daß er, sollte er Vater werden, Hilfe bei der Erziehung der Kinder braucht. Die Vorurteile, die eingangs beschrieben wurden, gilt es abzubauen.

Literatur

de la Cruz, F., Laveck, G. D. (ed.) (1973): Human Sexuality and the Mentally Retarded. New York (Brunne/Mazel).

Hoyler-Herrmann, A., Walter, J. (Hg.) (1987): Sexualpädagogische Arbeitshilfen für geistig behinderte Erwachsene, 2. Auflage. Heidelberg (Schindele) S. 7-160.

Karmol, L. J. (1977): Sex Education No! Sex Information Yes! In: Contemporary Issues in Special Education. New York (McGraw-Hill Book Company).

Johnson, W. (1997): Sex Education and the Mentally Retarded. In: Contemporary Issues in Special Education. New York (McGraw-Hill Book Company).

Kiesow, D., Müller-Erichsen, M. (1991): Hoffnungen und Ängste - die Sexualität unserer geistig behinderten Kinder bzw. der Frauen und Männer in unseren Heimen. In: Mohr, J., Schubert, Ch. (Hg.): Partnerschaft und Sexualität bei geistiger Behinderung. Berlin, Heidelberg, New York (Springer) S. 16-25

Kontaktinformation

Wacker, E. (1999): Liebe im Heim? In: Geistige Behinderung 3, S. 238-250.

Zeitschrift "psychosozial" im Psychosozial Verlag

22. Jahrgang - Nr. 77 - 1999 - Heft III

Schwerpunktthema: Liebe und Sexualität bei geistiger Behinderung

Herausgegeben von Christa Reuther Dommer

© alle Rechte beim Psychosozial Verlag

email: psychosozial-verlag@t-online.de

Quelle:

Itzhak Kandel, Maren Müller-Erichsen: Liebe und Sexualität

Erschienen in: psychosozial; 22. Jahrgang - Nr. 77 - 1999 - Heft III

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Stand: 01.03.2005

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