Diagnostik - am Leben orientieren!

Autor:in - Karlheinz Jetter
Themenbereiche: Schule
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft, Heft 1/1996; 19. Jahrgang, S. 33 - 42.
Copyright: © Karlheinz Jetter 1996

Diagnostik - am Leben orientieren!

Ist die Wissenschaft vom Menschen ein Karussell - das sich immer schneller dreht und das Wissen und Können der Alten ständig abwirft in seinem fliehenden Flug? Oder sind nur die Menschen als einzelne so vergeßlich und borniert, daß sie so vieles von dem mißachten, das ihnen auf den Weg gegeben ist?

Zeitgemäße Diagnostik wird in der Arbeit mit behinderten Menschen verbreitet als "Förderdiagnostik" bezeichnet. Gleich ob dieser Ausdruck glücklich gewählt oder als zu einengend verstanden werden kann, Insider wissen, was damit gemeint ist. Dieser Begriff hat seine ihm eigene, mittlerweile zwanzigjährige Geschichte und er hat sich eingewurzelt in der Systematik heilpädagogischen Denkens, obwohl er nicht von allen als Fortschritt gewürdigt wurde.

Förderdiagnostik wurde gefordert und entwickelt als eine neue Form der Diagnostik, die einer neuen Art des Denkens in der Pädagogik der Behinderten entsprechen sollte; einem Denken, das behinderte Menschen nicht nur einen Platz in einer spezialisierten Einrichtung zuweisen wollte, sondern mit Nachdruck auf deren allgemeine Erziehungsbedürftigkeit verwies. Die Kritik an der in der Sonderpädagogik gerade etablierten "objektiven" Diagnostik kam aus vielen Richtungen: von denen, die ihrer Spontaneität schon immer mehr getraut hatten als den Testverfahren ebenso wie von Kennern der objektiven Diagnostik, die den "Gütekriterien" des psychometrischen Ansatzes mißtrauten.

Doch die neue Form der Diagnostik hat sich beileibe nicht so verbreiten können, wie das erhofft wurde. Es liegt daher die Frage nahe, warum die Konkretisierung förderdiagnostischer Praxis noch immer so wenig fortgeschritten ist, warum die alltägliche Praxis in so vielen Einrichtungen nach wie vor durch sehr traditionelle Instrumentarien und vor allem Verfahrensweisen bestimmt wird. Es könnte an den einzelnen Fachkräften liegen, die ja immer wieder als recht Unerfahrene in den Bereich der Diagnostik in der Behindertenarbeit eintreten und eben das praktizieren, was sie auf der Hochschule gelernt haben. So mag die Verzahnung zweier träger institutioneller Bedingungen die Erneuerung dieses zentralen Arbeitsfeldes tatsächlich verzögern - aber eben doch nur verzögern.

Wenn aber eine neue Form des Diagnostizierens an so vielen Orten völlig ignoriert oder zurückgewiesen wird, dann müssen wohl doch noch triftigere Gründe hierfür vorliegen.

Ich möchte jetzt nicht darüber spekulieren, welche Gründe dies im einzelnen und in einzelnen Institutionen sein mögen. Denn ich bin überzeugt davon, daß sehr viel allgemeinere Bedingungen dafür verantwortlich sind, daß trotz unzähliger und oft sehr praxisorientierter Vorschläge keine Form alternativer Diagnostik sich wirklich wirkungsvoll durchsetzen konnte. Deshalb geht es mir in meinen Überlegungen einerseits darum, was die klassische Diagnostik so stabil erhält, und ob vielen Überlegungen zu einer alternativen Diagnostik nicht doch noch ein sehr allgemeiner Mangel anhaftet, der ihre Brauchbarkeit einschränkt und in der Waagschale praxisorientierter Argumente immer wieder objektiven Verfahren ein Mehr an Gewicht zukommen läßt.

Erinnern wir uns: Es war Gerhard Kaminski, der als Kognitionspsychologe 1970 einen Meilenstein setzte, als er den diagnostischen Prozeß als eine besondere Form des Problemlösungsprozesses darstellte und im Detail analysierte. Einer der Schwerpunkte seiner Analyse war die Herausarbeitung der Bedeutung des Zusammenhangs zwischen "Datensammlung" und "Datenanalyse" mit dem hypothetischen Ziel eines praktischen (bei ihm schwerpunktmäßig als therapeutisch verstandenen) Eingreifens: Datenerhebung, Datensammlung und Datenanalyse wurden als zielorientierte Tätigkeit eines problembewußten und scharfsinnigen Diagnostikers gefordert.

Aus welchen Gründen auch immer faßte das Konzept Kaminskis in der Sonderpädagogik rascher Fuß als in der Psychologie selber. Doch stieß diese Konzeption im sonderpädagogischen Bereich auch auf eine besondere institutionsbedingte Barriere, die "Überweisungsdiagnostik" nämlich. Ausgehend von Analysen von Kautter & Munz (1974) sowie Munz & Schoor (1975) wurde eine umfassende Bestandsaufnahme der besonderen Art eingeleitet und die Dichotomie der "Überweisungsdiagnostik versus Förderdiagnostik" war entstanden. Was daran anschloß, blieb unüberschaubar, wenn auch viele grundsätzliche konzeptionelle Neu-Überlegungen selbst von jenen geteilt wurden, die sich gegen eine fundamentale Kehrtwendung diagnostischen Vorgehens wandten (z. B. Schlee, 1983; Schröder, 1983). Doch immer wieder gab es umfassendere Bemühungen um Austausch und Auseinandersetzung wie 1981 das Symposium in Heidelberg (s. Kornmann, Meister & Schlee 1981). Mittlerweile sind die grundsätzlichen Annahmen einer neuen Diagnostik eigentlich so selbstverständlich geworden, daß sie hier nicht mehr im einzelnen dargestellt werden sollen.

Kaminski war ebenso ein konzeptionelles Kind seiner wissenschaftsgeschichtlichen Epoche wie wir alle. Die Vorstellung des "problemlösenden Diagnostikers" ging zurück auf die Analysen von Miller, Galanter & Pribram (1960/1973), die Kaminski am Beginn seines Vorworts unvergeßlich zitiert: "Life is complicated". Diese am kybernetischen Modell orientierten Wissenschaftler hatten als bahnbrechende Beobachtungseinheit die TOTE-Einheit eingeführt, ein rekursives Modell zum nicht-linearen Verständnis menschlichen Tuns: "Test - Operate - Test -Exit".

In diesem Modell geht menschliches Tun von der (diagnostischen) Überprüfung einer Situation in bezug auf die Abweichung von einem Soll-Wert (Test) aus. Wird in der Testphase eine Abweichung des Ist-Wertes vom Soll-Wert festgestellt, stellt der Soll-Wert gleichsam das Ziel des eingreifenden Tuns (Operate) dar und zwar solange, bis eine hinreichende Übereinstimmung von Soll-Wert und Ist-Wert zu beobachten ist (dann Exit: Ende des Tuns). Das aufregend Moderne an diesen Überlegungen war das homöostatische Prinzip, das hier zur Erklärung menschlichen Tuns angewendet wurde, das also das lineare Verstärkermodell der angloamerikanischen Psychologie ablösen sollte. Durch dieses Modell war zugleich ein Dilemma der europäischen Denkpsychologie aufgelöst, nämlich die Frage danach, warum ein Mensch überhaupt aktiv wird und nicht in seinem Lehnstuhl verbleibt und über die Welt nur nachdenkt.

Jetzt hatte sich wissenschaftlich wieder durchsetzen können, daß menschliches Erkennen an das menschliche Tun gebunden ist; doch erschien der Mensch im homöostatischen Modell als ein Handelnder nur dann, wenn er ein Problem hat! Bezogen auf den klinisch-diagnostischen Prozeß bedeutete dies die Wiedergewinnung der "Einheit von diagnostischem und therapeutischem Handeln", die in den klinischen Einrichtungen verlorengegangen war und die Kaminski wieder einforderte. Und dies traf ebenso zu auf die Arbeit in den Sonderschulen und anderen Einrichtungen der Behindertenhilfe, in denen die Diagnostik mehr und, mehr sich verselbständigt hatte und zu einem Zweck ihrer selbst geworden war. Doch wie konnte man nun - theoretisch wie praktisch - wirklich ernst machen mit dieser Einheit? Wer bestimmte den "Soll-Zustand" des diagnostisch Erkennenden in der alltäglichen Praxis der Förderung Behinderter?

Vielleicht mag es tatsächlich einige Fachleute gegeben haben, die glaubten, daß sich aus der bloßen diagnostischen Analyse ablesen lasse, "was zu tun ist". Aber eigentlich wissen wir doch alle, daß dies nur dann geschehen kann, wenn man weiß, woran genau es mangelt, von welchem Soll-Wert (Norm?) also jemand abweicht. Was aber, wenn zugleich mit der Kritik an der "objektiven" Diagnostik auch die normative Funktion einer Kultur in Frage gestellt wird?

In einer "bildungszielorientierten Diagnostik" (Jetter, Schmidt & Schönberger, 1983; im Manuskript 1977) wurde diese Grundsatzfrage schon recht differenziert bearbeitet, leider aber nirgendwo wieder richtig aufgegriffen. Förderung - hier schlicht gemeint als umfassender Begriff von Erziehung, Bildung und Therapie - soll einem Menschen helfen, ein Ziel zu erreichen; hierüber kann recht bald Einigung hergestellt werden. - Was aber, wenn dieses Ziel nicht so definiert ("operationalisiert") und veranschaulicht werden kann, daß es immer klar ist, welcher Weg dorthin führt?

Dies ist eine Grundfrage von Pädagogik überhaupt, sie spitzt sich aber zu, wenn Diagnostik sich am Ziel des pädagogischen - ebenso wie des therapeutischen - Handelns orientieren soll. Denn dann soll Diagnostik ja helfen, den richtigen Weg, die richtige Methodik, die richtigen Inhalte und die richtigen Interaktionsformen für ein einzelnes Kind zu finden und dieses nicht nur einem pädagogischen Geschehen zuzuweisen. Kann dies überhaupt möglich sein, solange nicht gesichert ist, welches Ziel dem Kind zugänglich und zumutbar ist? Wenn andererseits erwartet wird, daß sich die Wahl des erreichbaren Ziels selbst aus der Diagnostik ergibt, wäre dies ein unvermittelter Rückfall in eine Zuweisungsdiagnostik.

Es wäre dies der Punkt, an dem man lange über den Primat von Diagnostik oder Didaktik rechten könnte: Was ist das Grundlegendere, das genaue Erkennen der Person des Kindes oder das allgemeine Wissen um das, was Erziehung, Bildung (und Therapie) den Kindern bedeuten sollen? Das Dilemma bleibt: Jedes Kind ist ein besonderes Kind in seiner Einzigartigkeit, Pädagogik aber kann immer nur auf ein Allgemeineres gerichtet sein.

Dies macht die Diagnostik so schwierig, so "complicated" wie das Leben fast.

Bleiben wir nämlich dem Allgemeinen verhaftet, dann müssen wir nolens volens jedes besondere Kind allgemeinen Klassen von Begriffen zuordnen ("kategorisieren"); suchen wir jedoch immer mehr nach den individuellen Besonderheiten eines Kindes, dann laufen wir Gefahr, uns in einer Fülle von Einzelheiten zu verlieren: wir wissen dann zwar viel über die Individualität des Kindes, werden aber immer ratloser, wenn wir einen akzeptablen Weg für das Kind finden wollen. Dieser Widerspruch wird in der Praxis oft unüberbrückbar. Kann eine bessere Diagnostik hier überhaupt weiterhelfen?

Erkennen und Leben

Im wissenschaftlich begründeten diagnostischen Vorgehen ist die Diagnostik ein ganz besonderer Akt. Eine wissenschaftliche Diagnose soll ja mehr sein als die Menschenkenntnis im Lebensalltag der Menschen: "diagi-gnoskein" ist das "Hindurch-Erkennen" durch den oberflächlichen Schein, dem die Menschen bei anderen zu begegnen vermeinen. Diagnostik ist so gesehen immer das Bemühen, hinter die äußere Fassade zu schauen. Dies setzt voraus, daß die Menschen daran ein begründetes Interesse haben, und daß

sie glauben, ohne dieses Durchschauen in ihrem Tun nicht mehr weiterzukommen.

Der Ursprung systematischer Diagnostik ist vergleichbar dem Ursprung philosophischer Reflexion. Es ist der Zweifel am Vertrauten und das Staunen über das Unerwartete. Dies stellt immer einen Bruch dar mit dem Vertrauten und Erwarteten. "Philosophie löst sich von Mythos, Religion und traditioneller, ohne Kritik befolgter Lebensgestaltung, ihre Entstehung ist damit zugleich ein Stück der Loslösung des individuell-persönlichen vom kollektiven Denken und Leben. Philosophie setzt den Philosophen voraus, dessen Persönlichkeit seiner Philosophie das Gepräge gibt" (v.Aster, 1980, XV).

Interesse an der Diagnostik von menschlichen Individuen konnte erst entstehen, als die Menschen begannen, andere als Individuen zu achten - oder aber zu verdammen. Soweit dies historisch nachvollziehbar ist, geschah es immer erst als verspätete Folge der kulturellen Notwendigkeit, in Entscheidungssituationen Menschen der eigenen Kultur auszulesen, oder in der Begegnung mit dem Fremden und dem Andersartigen (s. Gould, 1983). Zunächst behalfen sich die Menschen mit den Mitteln ihrer Tradition, also mit Befragungen von Orakeln, mit der Deutung von körperlichen Stigmen und mit rituellen Prüfungen. Diese Form des Erkennens war ohne Bruch eingebunden in die kollektiven Mythen einer Kulturgemeinschaft. Es galt nicht, Entscheidungen zu treffen in einem rational-begründbaren Sinn, sondern herauszufinden, was bereits entschieden ist: von Geistern, Göttern oder später dem Einen Gott.

Doch wurde mit solchen Vorgehensweisen eine epistemologische Grundlage im Denken der Menschen geschaffen, die sie fortan nach tiefer liegenden Gründen forschen ließ für alles, was ihnen unerklärlich und wundersam schien. Diagnostik wurde ebenso wie die Erkenntnistheorie zur Suche nach der Gewißheit, dem Beständigen im oft unerklärlichen Wandel. Was dem Menschen seine Sinne vermitteln, wurde nun als schnöder Schein begriffen, das Wahre ist ewig und hinter den Dingen. Diese Ontologie prägte die Geschichte philosophischen Denkens ebenso wie die Geburt und Entwicklung der systematischen Menschenkenntnis und der modernen psychometrischen Diagnostik. Das Wahre des einzelnen Menschen ist jetzt seine Person, das Beständige seine Persönlichkeit bzw. seine Identität.

So wie sich die Philosophen immer mehr herausgehalten haben aus dem alltäglichen Leben und Schaffen der übrigen Menschen hat sich auch die Diagnostik immer mehr entfernt von den Widrigkeiten konkreter Daseinsgestaltung. Sie schuf (Ideal-)Typen, Rassen, Figuren und allgemeine Merkmale, denen die Menschen zugeordnet werden konnten - auch wenn deren Leben einen ganz anderen Gang ging, als dies ihre Persönlichkeit erwarten ließ. Wieviele Menschen in der Geschichte wirklich ausgesondert wurden, weil gewisse Merkmale sie diskreditierten - und nicht ihre eigenen Taten -, können wir wahrscheinlich nur ahnen.

Das Ergebnis dieser historischen Entwicklung ist uns allen vertraut: Der moderne Mensch sieht sich im Mittelpunkt seines Lebens, er hat die Freiheit, aus seinen Gaben etwas zu machen. Er ist das handelnde Subjekt, nicht mehr gekettet an einen Stand, sondern verbunden mit anderen Menschen durch die verbindlichen Normen und Werte seiner Kultur und Gesellschaft. Das Leben ist damit quasi das Produkt, das er hervorbringt, das er zu meistern hat. Dies alles kann ihm nur gelingen, wenn er ganz "bei sich" und ganz er selbst ist. - Manche vergaßen, daß "das Leben" auch andere Menschen sind; doch seit Kant wird der Mensch ja daran gemahnt, daß er diese nie nur als Mittel, sondern immer auch als Zweck seines Tuns ...

Was aber, wenn der Mensch sein Leben nicht "bewältigt"? Was geschieht, wenn seine Gaben nicht ausreichen, daß er in Freiheit sein Leben meistern kann.

Dann, zu dieser Einsicht haben wir es in der Sonderpädagogik gebracht, müssen wir ihn so weit fördern, bis er hierzu - wenn auch vielleicht unter besonderen Bedingungen - doch noch imstande ist. Wenn dies gelingt, kann er eingegliedert werden! Nur - wohin? Den Endpunkt dieser Bemühungen bezeichnen wir heute als "soziale Abhängigkeit" - und pflegen damit die Fiktion, die meisten Menschen könnten unabhängig von der Gemeinschaft der Menschen existieren.

Der Mensch scheint uns nicht mehr verwurzelt in seinem Leben, denn dieses wird immer mehr zu einem verschwommenen Hintergrund. Das einzig Beständige ist ja tatsächlich der Einzelne, der sein Leben arrangiert. Wenn das eine Arrangement nicht mehr genehm ist, wird es ausgetauscht: man siedelt an andere Orte, verkehrt mit anderen Menschen und wechselt die Art seiner Tätigkeiten. Hauptsache, man ist bei alledem der Selbe geblieben. Leben ist austauschbar, es könnte auch völlig anders sein.

Solange wir dieses Ideal verherrlichen, dürfen wir nicht hinschauen auf das Leben derjenigen Menschen, die ihm nicht folgen können. Also schauen wir besser auf diese Menschen als Individuen und stellen "diagnostisch" fest, daß sie dem Leben nicht genügen - daß sie des Lebens nicht wert sind, scheuen wir uns (noch?) zu sagen.

Doch: das einzig Wirkliche, das jeder (!) Mensch wirklich hat, ist sein Leben. Das Leben ist konkret und einmalig. Wo ein Mensch kein Leben hat, nicht sein Leben hat, ist er allgemein und flüchtig. Wo sich die Menschen auf ihr Leben verlassen können, entstehen Verbindungen und Verbindlichkeiten. Sagen wir nicht auch im Alltag der Menschen oft, daß man jemandem oder einer Situation "blind vertrauen" könne? Und meinen wir damit nicht, daß hier unsere Sinne nicht der Kontrolle unseres Tuns dienen müssen, sondern eins sind mit der Sinnlichkeit des Miteinander-Seins? Die Lebensprozesse sind die Grundlagen des Werdens und der Erhaltung und nicht das beobachtende Absichern einer vermeintlichen Identität vor dem tätigen Eingreifen. Der Biologe Humberto Maturana sieht dies in der Geschichte der Menschheit als ursprüngliche Form der Kultur: "Menschliche Beziehungen waren nicht Beziehungen der Kontrolle und Beherrschung. Sie waren Beziehungen der Gemeinsamkeit und Zusammenarbeit, nicht in der Verwirklichung eines großen Planes, vielmehr in der Verwirklichung vielfältig verbundenen Lebens, dessen normaler Ausdruck Sinnenhaftigkeit und natürliche Schönheit ist (Maturana, 1994; S. 36).

Die Frage nach dem Primat von Erkennen oder Handeln ist im Leben der Menschen eine völlig unnütze Frage. Handeln ist Erkennen - und Erkennen ist Handeln. Erst in arbeitsteiligen Verhältnissen wird das sinnesabhängige Erkennen abgetrennt vom eingreifenden Handeln und in der Folge davon auch als getrennte Funktionen beim einzelnen Menschen etabliert. Dies ist ein Prozeß der Abstraktion, den die Menschen im Verlaufe ihrer Geschichte schaffen mußten und den die Kinder unserer Kultur immer neu schaffen müssen (Schönberger,1983). Diese Abstraktion aber wird erst notwendig, wenn das Handeln des Menschen zweckgerichtet und individualisiert ist: solange es zyklisch und symbiotisch-kooperativ ist, gibt es weder eine sinnesabhängige Kontrolle der Ausgangssituation noch eine prüfende Kontrolle des Ergebnisses der ausführenden Tätigkeit - das handelnde Subjekt ist sich dort seiner Subjekthaftigkeit nicht bewußt, das Subjekt ist identisch mit seinem Leben. Die oben erwähnte TOTE-Einheit kann daher nicht das allgemein-gültige Grundmodell des menschlichen Tuns sein, sondern sie ist das psychisch-funktionelle Produkt der kulturgebundenen Linearisierung und Instrumentalisierung des menschlichen Handelns, dann von wissenschaftlichen Beobachtern in dieser Form begrifflich rekonstruiert. Mit diesem erkenntnistheoretischen Zugriff auf das handelnde menschliche Subjekt verändert sich natürlich auch die Funktion einer Diagnostik: sie wird als das angenommen, was vor dem pädagogischen oder therapeutischen Eingreifen in das Leben des handelnden Subjekts zu geschehen hat und sie bezieht sich damit notwendigerweise auf dieses Subjekt als Mittelpunkt seines Lebensarrangements.

Diagnostik im Leben eines Kindes

Oft werden Kinder diagnostiziert, weil sie in ihrem Familienleben oder in ihrer Schullaufbahn den Erwartungen nicht entsprechen. In modernen Industriegesellschaften ist es auch "normal", daß die Kinder in regelmäßigen Abständen "durchgecheckt" werden; eine Unterlassung solcher diagnostischer Untersuchungen erscheint als unverantwortlich dem Kind gegenüber, würde man dann doch gegebenenfalls erforderliche Hilfen unterlassen. Diagnostik wird immer mehr zur Wegbegleitung durch die Biographie eines Kindes. In den europäischen Ländern ist diese Begleitkontrolle zwar noch nicht ganz so lückenlos wie in vielen Staaten der USA, doch gibt es auch hier von vielen Seiten die Forderung danach.

Wenn diese vorsorgende Diagnostik vernachlässigt wird, dann handeln Eltern und Pädagogen blind - so wird argumentiert; ein Vorwurf, dem die Pädagogik in den sechziger Jahren allgemein ausgesetzt wurde und dem die Heilpädagogik mit der Intensivierung ihrer präventiven Arbeit begegnete. Hiergegen kann ich nichts grundsätzlich einwenden; doch wenn Prävention praktisch wird als eine Deklassierung bestimmter Kinder, wird der Gedanke der Prävention nicht nur fragwürdig, sondern entwicklungsgefährdend.

Dies ist dann der Fall, wenn diagnostische Praktiken in ihrem Bezug zum Leben eines Kindes ungeklärt sind. Immer wenn Diagnostik - sei es "Feststellungsdiagnostik" oder auch "Förderdiagnostik" - betrieben wird als eine Sonderveranstaltung, in der vom Kind Leistungen gefordert werden (oder auch nur Reaktionen beobachtet werden), deren Sinn es nicht selbst mit seinem Alltagsleben vermitteln kann, ist die Verallgemeinerung diagnostischer Befunde über den Rahmen der diagnostischen Situation hinaus unzulässig.

Testtheoretisch bewanderte Fachleute werden sich nun an die Gütekriterien diagnostischer Verfahren erinnert fühlen, deren Einhaltung solche "Fehler" möglichst gering halten soll. Die Validität eines Verfahrens ist ja geradezu das Maß dafür, wieweit das in einer Situation diagnostisch Erfaßbare mit dem zu diagnostizierenden allgemeinen Merkmal übereinstimmt. Vergessen wir dabei allerdings nicht, daß in der Testtheorie die Gütekriterien ein Maß der Güte eines Verfahrens darstellen und nicht das Maß der Güte einer einzelnen diagnostischen Untersuchung! Bei der Konstruktion objektiver Verfahren wurde die Beständigkeit von Merkmalen der menschlichen Persönlichkeit bereits vorausgesetzt, der Anwender eines Verfahrens meint sich dann verständlicherweise auf die "Güte" des Verfahrens verlassen zu können, sofern er sich an dessen Anweisungen hält.

Ich aber behaupte, daß zeitüberdauernde Persönlichkeitsmerkmale das Ergebnis eines konstruktiven Aktes eines Kindes selbst sind, den es in seiner Biographie zuvor erst geschafft haben muß. Solange ein Kind in seinem Handeln noch unbeständig ist und ungeordnet erscheint, ist die Anwendung eines jeglichen diagnostischen Mittels, mit dem Eigenschaften, Dispositionen, Fähigkeiten, Leistungen, Funktionen oder gar ganze Entwicklungs- und Persönlichkeitsbereiche untersucht werden sollen, eine sinnentleerte Prozedur.

Aus diesem Dilemma gibt es nur dann einen Ausweg, wenn die Diagnostiker über Kenntnisse darüber verfügen, wie die Ordnungsstrukturen im Alltagsleben eines Kindes vermittelt sind mit den allgemeinen Ordnungsstrukturen seiner Kulturgemeinschaft, die ein berechtigtes Interesse daran hat, daß jedes Kind gewisse allgemeine und akademische "Techniken" der Kultur ebenso wie grundlegende moralische Haltungen und soziale Umgangsformen achten und beherrschen lernt. In den diagnostischen Verfahren - seien es Tests, anamnestische Hilfsmittel oder Beobachtungsbögen - werden aber immer schon die allgemeinen und meist abstrakten Kategorien erfaßt, auch wenn die einzelnen Items Konkretheit vorspiegeln. Das Auffädeln von Perlen, das Zuordnen von Bildkarten, das Ausführen eines Arbeitsauftrages oder das Weiterführen eines Analogieschlusses sind nicht konkret, wenn diese Aufgabenstellungen im Leben des Kindes keine Bedeutung erlangt haben, die es in der Untersuchungssituation wiedererkennen kann.

Sinn und Bedeutung allgemeiner Ordnungsstrukturen und Erkenntniskategorien kann ein Kind nur in der Konkretheit des Alltagslebens erfahren. Von dort aus lernt es die Möglichkeiten der Verallgemeinerung von Erkenntnistätigkeiten, die es sich in der beständigen Wiederkehr des Lebensalltags aneignen und sichern konnte (Jetter, 1979; 1984; 1995). Und sofern diese Verallgemeinerung gelingt, erfährt es in der sich ausweitenden Kooperation mit immer mehr und verschiedenartigeren Menschen in immer mehr und verschiedenartigeren Situationen auch, welche Akzentuierungen seines Handelns für das Gelingen seiner Handlungen förderlich und welche erschwerend oder hinderlich sind: es lernt, "von seinen Handlungen zu abstrahieren" (Piaget, 1972/ 1973) und "entdeckt" seine eigenen Funktionen, Dispositionen, Fähigkeiten und Eigenschaften.

Von der Diagnostik zur Förderung?

Sowohl in der historischen als auch in der ontogenetischen Entwicklung menschlicher Erkenntniskategorien und Handlungsdispositionen stellt sich die Abfolge folgendermaßen dar: "Konkretheit des Alltagslebens Verallgemeinerungen vertrauter Tätigkeiten Abstraktionen vom Handeln". Im diagnostischen Prozeß allerdings wird diese Abfolge umgekehrt: Es beginnt die Suche nach vorhandenen (oder gar fehlenden bzw. beeinträchtigten) allgemeinen Dispositionen und Funktionen oder abstrakten Fähigkeiten - und wenn diese diagnostisch ermittelt sind, werden Wege gesucht, wie diese allgemeinen oder abstrakten Strukturen vermittelt, antrainiert oder eben "gefördert" werden können. Dies ist das grundsätzliche Vorgehen jeder Diagnostik und damit auch einer curriculumbezogenen oder strukturorientierten Diagnostik; in manchen Programmen ist dieses Vorgehen durch die "Einheit" von Diagnostik und Förderung bereits in bestechender Form fertig vorgegeben. Wie kann dies funktionieren?

Sobald allgemeine Lösungsmuster in Form von Funktionstrainings, Therapieprogrammen, Übungsabfolgen oder Teil-Curricula und Heuristiken von Materialangeboten systematisch zur Förderung eines Kindes eingesetzt werden, muß eigentlich mitbedacht werden, welche Beziehung das zu fördernde Kind zu der gewählten Form der Förderung anhand seiner bei ihm bereits entwickelten Erkenntniskategorien konstruieren kann. Dies aber können nur solche Diagnostiker bedenken, die ein fundiertes theoretisches Wissen haben über jene strukturellen Bedingungen im Alltagsleben der Menschen, die für die Herausbildung eben jener zu fördernden Teilfunktionen und Einzelmerkmale der menschlichen Persönlichkeit gegeben sein müssen. Wer der theoretischen Vorstellung verhaftet ist, die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit sei ein Nebeneinander der Entwicklung von basal angelegten Teilfunktionen und Einzelmerkmalen, wird zu solchen Überlegungen nicht nur nicht imstande sein, sondern diese in ihrer Notwendigkeit gar nicht erkennen können. Hierin scheint mir ein Grundproblem nicht nur der Diagnostik, sondern der Behindertenpädagogik als ganzer zu liegen.

Grundsätzlich kann es zwar in der Praxis zweierlei Wege geben:entweder hat das diagnostizierte Kind schon ein Konzept seines Selbst konstruiert, in dem es bestimmten Fähigkeiten, Fertigkeiten, Funktionen, Dispositionen und Haltungen einen systematischen Ort zuweisen kann und von denen es überzeugt ist oder überzeugt werden kann, daß sie in seinem weiteren Leben von Bedeutung sein werdenoder es hat seine Identität noch nicht so weit entwickeln und differenzieren können, daß ihm ein kognitiver Zugang zu den vom Diagnostiker rekonstruierten - vorhandenen bzw. defizitären - Merkmalen zugänglich ist.

Doch nur im ersten Fall kann das Kind fähig und in der Regel auch bereit sein, Förderangebote anzunehmen, die vom Förderdiagnostiker vorgegebenen Schritte da mitzumachen, wo sie ihm sinnvoll und erreichbar erscheinen und diesem dort auch korrigierend Hinweise zu geben, wo dies nicht der Fall ist. Das Kind wird als motiviert und kooperativ wahrgenommen und das Förderangebot erscheint als dem Kind angemessen. Hier kann eine an der Struktur eines Entwicklungsbereichs orientierte Förderdiagnostik die Förderung in differenzierter Weise begleiten; sie kann Hinweise dafür geben, welche zusätzlichen Maßnahmen in anderen Bereichen für die Entwicklung günstig sind und welche Zielsetzungen in absehbarer Zeit erreichbar sein können.

Im zweiten Fall aber können die Förderangebote die erwünschte Aufgabe nicht erfüllen: das Kind scheint die Angebote zu verweigern, Lern- und Entwicklungsfortschritte bleiben situationsgebunden und instabil, scheinbare Fortschritte in einem "Entwicklungsbereich" werden durch Probleme in anderen "Bereichen" wieder beeinträchtigt und die Person des Kindes gerät insgesamt in eine immer größere soziale Abhängigkeit, ohne dabei den Normen der Gemeinschaft entsprechen zu können.

Für eine wahrhaft heilpädagogische Diagnostik aber wird der zweite Fall zum Prüfstein! Erst hier zeigt sich die tiefere diagnostische Kompetenz von Fachkräften - nicht in der bloß sachgerechten Anwendung vorgefertigter Verfahren.

Diagnostik des Alltagslebens

Viele behinderte Menschen haben kein Alltagsleben, weil die zyklische Ordnung ihres Tuns beeinträchtigt wird durch Anforderungen und Zwänge, die nicht ihrem Lebensrhythmus entsprechen. Diese Menschen bleiben dadurch desintegriert, sie erscheinen starr und undifferenziert. Solche dysharmonischen Anforderungen können früh in der Biographie eines Kindes beginnen, ja schon früh eskalieren, zum Beispiel unter den institutionellen Erfordernissen mancher Frühgeborenenstationen.

Wenn ein Kind nicht von Beginn seines Lebens an zu seiner Ordnung findet, ist es unflexibel in der Anpassung seiner körperlichen und geistigen Lebensäußerungen. Nur wo es in Übereinstimmung mit dem Rhythmus seiner Lebenswelt die Zirkularität seines eigenen Tuns entfalten kann, gelingt ihm ein Alltag (Jetter, 1995). Dabei darf Alltag nicht als das mißverstanden werden, was die erwachsenen Menschen, die mit einem Kind leben, ihren Alltag nennen, sondern Alltag wird verstanden als die raum-zeitliche Einheit, in der die zirkuläre Tätigkeit eines Kindes die Ordnung seines Lebens bewahren kann; diese Einheit kann naturgegeben nur in dem umfassenderen Rahmen der geordneten Wiederkehr der Handlungen in umfassenderen sozialen Einheiten wie der der Familie garantiert sein.

Der Alltag der Menschen kommt normalerweise ohne besondere Diagnostik aus. Denn im Alltag soll nichts verändert werden, er darf, ja er soll bleiben, was er ist, Alltag eben. Hier dürfen sich die Menschen wirklich "blind" ihrem Trott hingeben. Der Alltag ist die raumzeitliche und emotionale Heimat, von der aus besondere Ereignisse und Entwicklungen geschehen können. In der Wissenschaft vom Menschen wird dem Alltag des Menschen kaum Beachtung geschenkt, ist er doch als solcher uninteressant. Erst im interkulturellen oder historischen Vergleich ist er von größerem Interesse (z. B. Kuczynski, 1980f). In der Entwicklungspsychologie sind die Alltagshandlungen des Kindes nicht der Erwähnung wert, obwohl schon in sehr frühen Untersuchungen von James Baldwin die Zirkularität des kindlichen Tuns erkannt und betont worden war, stammt doch von ihm der bei Piaget so zentrale Begriff der "Zirkulärreaktionen" (s. Piaget, 1969).

Wenn wir die Grundbedingungen der Entwicklung der kindlichen Ordnungssysteme erkennen wollen, müssen wir den Alltag des Kindes untersuchen. Da gilt es zu prüfen, inwieweit dort dem Kind die Möglichkeit gegeben ist, seine Handlungspläne im zirkulären Alltagsgeschehen zu aktualisieren (genauer Jetter,1984). Und dies kann eben nur diagnostisch erkennen, wer über eine hinreichend differenzierte Kenntnis der theoretischen Analysen der Entwicklung der Erkenntnissysteme unserer Kultur und ihres strukturellen Hervorgehens aus den plangeleiteten Handlungen des Säuglings verfügt.

In der alltagsorientierten Diagnostik gilt es, die "konsensuellen Handlungen" (Maturana) von Kind und Erwachsenen herauszuarbeiten, in denen das Kind sich als Kooperationspartner erfährt und sich seiner selbst in der Gemeinschaft von Menschen versichem kann. Dies ist keine bloße Registrierung beobachtbarer Abläufe, sondern hier geht es vor allem um die Qualität dieses Miteinanders. Deshalb können der Diagnostik dieser Vorgänge objektivierte Beobachtungsbögen kaum weiterhelfen. Die Beobachtung ist auf die Struktur der Kooperation mit dem Kind gerichtet und nicht auf die Inhalte der Kooperation. Worauf es in der Beobachtung ankommt, sind die oft sehr feinen Akzentuierungen in der Bewegungskoordination von Erwachsenem und Kind, das "timing" und die Be-Achtung des Tuns des anderen in Haltung und Sinnlichkeit, die Form und Qualität, wie dem Kind die Mitverantwortung für die raum-zeitlichen und sozialen Bedingungen der "sensumotorischen Kooperation" gewährt wird.

In dieser Diagnostik steht also nicht die eigenschaftsbezogene Individualität des Kindes im Vordergrund, denn diese Individualität hat das Kind ja noch gar nicht konstruiert. Deswegen interessieren auch nicht die besonderen "Defizite" eines Kindes; diese Diagnostik ist vielmehr eine "systemische". Beobachtbare Schwierigkeiten, Beeinträchtigungen und Defizite werden als Ausdruck eines nicht konsistenten Lebens aufgefaßt, für dessen Entwicklung die Diagnostik Hinweise geben soll. Jeder Augenblick der Beobachtung stellt einen Abschnitt in der Lebensgeschichte des Kindes dar, der eingewoben ist in die Geschichte des Zusammenlebens mit anderen Menschen. So sind auch die neurophysiologischen Aspekte des kindlichen Handelns sowohl Bedingung als auch Ergebnis seiner Lebensgeschichte. "Die Operationen des Nervensystems eines Lebewesens sind daher notwendig immer eine Funktion seiner Lebensgeschichte. Das Nervensystem verkörpert deshalb in all seinen Operationen die Lebensgeschichte des Individuums, das es integriert" (Maturana, 1994; S. 51).

Das Kind selbst steht hier also im Mittelpunkt des diagnostischen Vorgehens nur insofern als danach gesucht wird, wie ihm seine Lebenswelt eine motorische, kognitive und emotionale Grundlage für die Selbstgestaltung eines Alltags gewährt. Der Primat des diagnostischen Vorgehens liegt also im Leben selbst, sowohl diagnostische Verfahren als auch erzieherische oder therapeutische Eingriffe mit dem Ziel der "Förderung" des Kindes sind zunächst nachrangig; eben weil sie sinnlos sind, solange das Kind noch nicht die biographischen Grundlagen für die Konstituierung bleibender Persönlichkeitsmerkmale schaffen konnte.

Offen bleibt die Frage nach der "Güte" einer solchen Diagnostik. Ist sie nicht schlechterdings subjektiv, ohne verbindliche und von anderen überprüfbare Kriterien? Und wird hier nicht die Tatsache vernachlässigt, daß Entwicklung immer nur geschehen kann, wenn auch Anforderungen an das Kind gestellt werden und es nicht nur in der Gleichförmigkeit seiner Handlungen bestärkt wird? Blenden wir noch einmal zurück: Diagnostik soll Klarheit darüber schaffen, was mit einem Kind zu tun ist. Im Sinne Kobis (1985) heißt dies: "Die Frage lautet also nicht: Wie muß ein Kind beschaffen sein, damit es eine vorgegebene Situation meistert?, sondern: Wie muß eine Situation beschaffen sein, damit sie dieses Kind zu meistern vermag?" (S. 251). Situationen sind immer konkret; sie müssen sich im Leben ereignen. Ob eine Situation geeignet ist, dem Kind dazu zu verhelfen, daß es sie meistert, kann sich nur in der Situation selbst erweisen. Und ob es ihm in seinem Leben weiterhilft, kann nur das Leben des Kindes zeigen. Diagnostische Hinweise für die Gestaltung von solchen Situationen haben immer und ausschließlich den Charakter von Hypothesen. Sie sind verallgemeinerte Ableitungen aus theoretischen Systemen, in denen die Beobachtungskategorien einen systematischen Ort haben. Die Hypothesen können folglich niemals besser sein als die Theorien, von denen sie abgeleitet wurden. Dies aber gilt für alle diagnostischen Vorgehensweisen. Keine von ihnen kann objektiver sein als die Realitätsverankerung der ihr zugrunde liegenden Theorie. Verdinglichte Materialien und Anweisungen spiegeln eine höhere Objektivität allerdings vor. So mag zwar die Durchführung solcher Verfahren standardisierter sein, doch dem praktizierenden Diagnostiker hilft diese Form der Objektivität nur weiter, wenn er die Situationen der objektivierten Beobachtung in Beziehung setzen kann zu Theorien der Entwicklung der Persönlichkeitsmerkmale, die das Verfahren vorgeblich objektiv erfaßt. Bezüglich der Gütekriterien einer theoriegeleiteten alltagsorientierten Diagnostik möchte ich verweisen auf die Darstellung von Schönberger (Jetter, Schmidt, Schönberger, 1983).

Über die wirkliche Güte der Diagnostik entscheidet letztlich aber auschließlich die Entwicklung des Kindes. Nur das Kind kann uns lehren, was wir tun müssen, damit die Bedingungen seiner Entwicklung verbessert werden können. Und wenn die Bedingungen für die Entwicklung eines Kindes günstig sind, wird es sich den Herausforderungen des Alltags und der Bildungsinstitutionen von selber stellen - und sich ebenfalls auch immer neue Herausforderungen schaffen.

Autor:

Karlheinz Jetter

Universität Hannover

Fachbereich Erziehngswissenschaften 1

Institut für Sonderpädagogik - Allgemeine und Integrative Behindertenpädagogik

Bismackstraße 2 D-30173 Hannover

Siehe auch homepage: http://WWW.ERZ.UNI-HANNOVER.DE/~jetter/

Literatur

Aster, E. von: Geschichte der Philosophie. Stuttgart 1980 (zuerst 1932).

Bundschuh, K.: Dimensionen der Förderdiagnostik. München 1985.

Gould, S. J.: Der falsch vermessene Mensch. Basel 1983.

Jetter, K.: Veränderte Aneignung der Wirklichkeit. In: Jetter, K. & Schönberger, E: Verhaltensstörung als Handlungsveränderung. Bern 1979.

Jetter, K.: Leben und Arbeiten mit behinderten und gefährdeten Säuglingen und Kleinkindern. Stadthagen 1984.

Jetter, K.: Förderdiagnostik als kooperative Rekonstruktion bedeutsamer Handlungserfahrungen. VHN, 54 (1985) 3, S. 280-294.

Jetter, K.: Verstehende Diagnostik. In: Geistige Behinderung. 4/1994, S. 297-307.

Jetter, K.: Familienalltag und Frühförderung. In: ARGE Frühförderung: Das entwicklungsbeeinträchtigte Kind in der Familie. Symposiumsbericht. Wien 1995.

Jetter, K., Schmidt, D. & Schönberger, E: Sonderpädagogische Förderdiagnostik. In: Handbuch der Sonderpädagogik. Bd 8: Pädagogik der Körperbehinderten. Berlin 1983.

Kaminski, G.: Verhaltenstheorie und Verhaltensmodifikation. Stuttgart 1970.

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Quelle:

Karlheinz Jetter: Diagnostik - am Leben orientieren!

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft, Heft 1/1996; 19. Jahrgang, S. 33 - 42.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 18.05.2005

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