Veränderungen durch Theoriebildung

Themenbereiche: Lebensraum
Textsorte: Buch
Releaseinfo: Entnommen aus: Wolfgang Jantzen - De-Institutionalisierung. Materialien zur Soziologie der Veränderungsprozesse in einer Großeinrichtung der Behindertenhilfe. Vortrag im Rahmen des Expertenhearings "Veränderungsprozesse größerer stationärer Einrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung zu gemeinwesenintegrierten Wohnformen" Vortrag beim Dahlemer Forum in Verbindung mit dem Projekt USTA des Inst. F. Rehabilitationswissenschaften, Abt. Geistigbehindertenpädagogik der Humboldt Universität Berlin am 19.2.98
Copyright: © Wolfgang Jantzen, Kristina Schulz 1999

1. Einleitung

Wenn Freiheit entsteht

in Zukunft

entsteht sie aus dem

was wir haben

Wir haben nicht freie Wahl

wie sie entstehen soll

Aus halber Unfreiheit wächst sie

gefährdet von halbem Wissen

Wer zuerst

auf alles kommen will

der kommt zuletzt

um alles

(Erich Fried, Ges. Werke 1, S. 357)

Wir berichten im folgenden über einen Prozeß der Deinstitutionalisierung in einer Großeinrichtung für geistig behinderte Menschen, der Diakonischen Behindertenhilfe (DBH) in Lilienthal In ihr leben z.Z. 271 BewohnerInnen. Dieser Prozeß erfolgte in Kooperation der Einrichtung mit Wolfgang Jantzen, Professor für Behindertenpädagogik an der Universität Bremen. Die Koautorin des Vortrags, Dipl. Ges.wiss. Kristina Schulz, war als leitende Angestellte der Einrichtung für die Bereiche Fachplanung und Qualitätssicherung die diesbezüglich unmittelbare Kooperationspartnerin. Über wesentliche Aspekte der dort unterdessen entwickelten Reform können Sie sich aus einem gerade erschienenen Aufsatz über "Deinstitutionali-sierung" in der Zeitschrift "Geistige Behinderung" informieren (Jantzen 1997). Dort finden Sie auch weitere Informationen über den Beginn dieser Zusammenarbeit, die zunächst über die Tätigkeit von Wolfgang Jantzen als Vorsitzender des Eltern- und BetreuerInnenbeirats der DBH begann, die er von Dezember 1994 bis November 1996 wahrnahm. Vorweg gegangen war eine gravierende Existenzkrise der Einrichtung. Diese führte zu vehementer Kritik eines Aktionsbündnisses aus dem Bereich der Behindertenhilfe in der Region Bremen und niedersächsisches Umland in Form des "Lilienthaler Memorandums" (Arbeitskreis 1993), das Wolfgang Jantzen für dieses Aktionsbündnis im Frühjahr 1993 der Öffentlichkeit vorstellte.

Durch Leitungswechsel und Umorganisation der Einrichtung als eine von drei gemeinnützigen GmbHs aus dem Bestand des vormaligen evangelischen Hospitals Lilienthal entwickelten sich in der Folgezeit insoweit wieder geordnete Beziehungen zwischen Leitung und Eltern- und BetreuerInnenbeirat, daß Wolfgang Jantzen unter den Aspekten einer nun möglichen Kooperation den Vorsitz übernahm. Im Einvernehmen mit der Leitung besuchte er von Ende Dezember 1994 bis Ende März 1995 alle Wohngruppen, Wohnbereiche und Dienste, sprach mit den jeweiligen KollegInnen über Möglichkeiten einer Veränderung der Praxis in einer Situation, die damals noch weitgehend von Demotivierung, Rückzug, Mißtrauen infolge der krisenhaften Auseinandersetzungen gekennzeichnet war. Seitens der Einrichtung erfolgte eine Auswertung jeder einzelnen Diskussion gemeinsam mit Kristina Schulz und mehrfach rückgekoppelt an die Einrichtungsleitung sowie an zentrale Gremien. Diese Phase wurde abgeschlossen durch zwei Vorträge zum Thema "Reform ist möglich". Das Resultat wurde darüber hinaus verschriftlicht und Eltern und BetreuerInnen ebenso wie den MitarbeiterInnen zur Verfügung gestellt (Jantzen 1995).

Betrachten wir diese erste Phase unter dem Gesichtspunkt von Theoriebildung, so erfolgte diese in zweifacher Weise: Zum einen in einer Institutionskritik von außen und zweitens und danach in einer Erarbeitung innerer Reformvorschläge. Die Kritik von außen durch das Lilienthaler Memorandum sorgte für erhebliches Aufsehen. Seine Ansatzpunkte waren, gipfelnd in dem Vorwurf des "death making" durch entwürdigende soziale Umstände (vgl. Wolfensberger 1991) im wesentlichen drei: (1) Eine Kritik totaler Institutionen verbunden mit der Forderung nach Deinstitutionalisierung, (2) die Forderung nach demokratischer Erneuerung der Einrichtung und (3) die Forderung, von einer lebensgeschichtlichen Orientierung an Bedürfnissen und Möglichkeiten der behinderten BewohnerInnen auszugehen.

Diese Kritik wurde von Teilen der MitarbeiterInnenschaft mit getragen, trotzdem herrschte in der zweiten Phase, also jener der Bestandsaufnahme in Form der Diskussionen mit den MitarbeiterInnen bis zum Abschluß des Papiers "Reform ist möglich" (Jantzen 1995), durchgängig Skepsis vor. Die einen waren entmutigt von den Bedingungen der langen Krise, die anderen beobachteten mit Mißtrauen und Skepsis, daß der Hauptkritiker der Einrichtung nun internen Zugang bekam und die dritten, welche vorher die Kritik von außen mitgetragen hatten, fürchteten sich durch die Zusammenarbeit von Wolfgang Jantzen mit der Leitung im Stich gelassen.

Vom Aspekt der Theoriebildung stand in der zweiten Phase eine Erarbeitung der Problemsicht und der möglichen Reformansätze aus der Perspektive der MitarbeiterInnen im Vordergrund. Das Verfahren der Theoriebildung entsprach hier im wesentlichen dem der Ethnomethodologie, insofern es Problembestände aus der MitarbeiterInnensicht aufdeckte und zum Bewußtsein führte. Andererseits ging es natürlich durch die vorgängige Theorie, die zuvor schon in der äußeren Kritik mit bemüht worden war, über diese Ansätze hinaus. Es war Forschung unter dem Gesichtspunkt der Grundpositionen des Memorandums und natürlich der von Jantzen vertretenen wissenschaftlichen und wissenschaftstheoretischen Position. Zugleich war es politisches Eingreifen, das die Rolle des eigenen Handelns im Verhältnis zur möglichen Reform ständig zu reflektieren hatte. So entstand das Papier "Reform ist möglich" einerseits aus dem genauen, theoriegeleiteten Hinsehen und Hinhören auf die Arbeitssituation der MitarbeiterInnen, andererseits versuchte es bereits Bedingungen der Möglichkeit der Reform zu schaffen, indem in diesem Hinhören jeweils die BewohnerInnenperspektive in den Vordergrund zu stellen versucht wurde. Hinzu kam, daß der politische Spielraum am Anfang außerordentlich eng war, denn auch die Leitung war keineswegs ohne Zweifel ob des Abenteuers, auf das sie sich mit dieser Form von Bestandsaufnahme eingelassen hatte.

2. Formen des "Theorieimports"

Der Erfassung und Formulierung der implizit vorhandenen Reformvorstellungen der MitarbeiterInnen folgte dann ab Sommer 1995 ein "Theorieimport" auf verschiedenen Ebenen, die wir im folgenden darstellen. Den Begriff "Theorieimport" benützten wir hier rein deskriptiv, um Theorieeinflüsse von außen in die Einrichtung zu beschreiben. Soweit wir sehen, erfolgte dieser Import aktiv auf vier Ebenen, ergänzt durch zwei weitere, von denen die sich die eine eher unter der Hand ergab.

1. Fachberatungen

Seit Juni 1996 erfolgten durch Wolfgang Jantzen regelmäßige Fachberatungen auf den Wohngruppen. Kristina Schulz hat als zuständige Referentin an nahezu allen teilgenommen und häufig Protokoll über die Ergebnisse geführt. Fachberatungen bedeutet Rundtischgespräche mit allen Beteiligten (häufig auch unter Hinzuziehung von Eltern oder BetreuerInnen) über die Situation einer BewohnerIn. Die Auswahl der jeweiligen Gruppen erfolgte durch die Einrichtung und in der Regel nach dem "Feuerwehrprinzip", also unter Gesichtspunkten von besonders krisenhaft zugespitzten Situationen. Zunächst setzten die Fachberatungen vorrangig beim sogenannten "harten Kern" an. Dies waren einzelne Gruppen mit als schwer verhaltensgestört geltenden Menschen, insbesondere aber der einrichtungsinterne "harte Kern" des Hauses 16, d.h. ein Komplex von ca. 70 BewohnerInnen in fünf Wohngruppen, die sämtlich als "schwerst mehrfachbehindert" galten. Erst im Laufe der Zeit ergaben sich Fachberatungen für BewohnerInnen, die leicht übersehen wurden. Grundlegend war hierfür der Ansatz einer rehistorisierenden Diagnostik, wie er von Jantzen und Lanwer/Koppelin (1996) auf der Basis des Ansatzes von Jantzens "Allgemeiner Behindertenpädagogik" (1987, 1990) in den Traditionen Lurijas entwickelt worden ist. Die Fachberatungen wurden durch Aktenlektüre vorbereitet und in Form systematischer Bestandsaufnahme des Wissens und der Sicht der Beteiligten auf diesem Hintergrund jeweils eine neue Lesart des Verhaltens der BewohnerInnen als sinnhaft und systemhaft erarbeitet. Schon nach relativ kurzer Zeit wurde erreicht, daß BewohnerInnen an den Fachberatungen über sie regelmäßig selbst teilnehmen konnten. Bei ca. 100 Fachberatungen bei ca. 70 BewohnerInnen nahmen an ca. 85 Beratungen die BewohnerInnen selbst teil. Teilnehmen bedeutet, daß sie dort jeweils emotionale Absicherung und Wertschätzung erfuhren und einbezogen wurden, was nicht immer einfach war. So z.B. wenn ungelöste gruppendynamische Konflikte die Fachberatung unterlagerten oder die Angst der Gruppe bezüglich der Teilnahme einer BewohnerIn sehr groß war. Zunehmend, wenn auch nicht regelmäßig, nahmen an diesen Fachberatungen auch Gäste teil, um sich mit unserer Vorgehensweise vertraut zu machen. In Verbindung mit den Fachberatungen ergab sich in einigen wenigen Fällen eine Bearbeitung der gruppendynamischen Konflikte der MitarbeiterInnen, was aber weitaus wichtiger war, die mehrfache Teilnahme von W. Jantzen an Schichten in einzelnen Gruppen. Die Rehistorisierung der Verhaltensformen einer BewohnerIn als sinnvoll und systemhaft ist das eine, zu sehen, daß sich der Alltag jedoch im Gruppenleben mit vielen festgefahrenen Routinen und Problemen abspielt, ist das andere. Und bezogen auf diese Komplexität müssen Lösungen erarbeitet werden, wenn sie nachhaltig sein sollen. Bei diesen Besuchen wie bei den Fachberatungen ging es in keinem Fall um die Vermittlung von technischem Wissen, sondern um die Erarbeitung eines systematischen Neuverständnisses von Situationen.

2. Rückkoppelung zur Leitungsebene

Eine derartige Rückkoppelung erfolgte laufend unmittelbar zwischen den beiden AutorInnen dieses Vortrags, jedoch darüber hinaus in regelmäßigen Abständen mit der Einrichtungsleitung, sowie manchmal mit dem dort angebundenen "kleinen Arbeitskreis" zur Umstrukturierung[1], zu dem die Wohnbereichsleitungen, Kristina Schulz und teilweise auch der Ärztliche Dienst und die Mitarbeitervertretung gehörten.

Auf der Ebene dieser Beratungen wurden zweimal im Gesamtprozeß entscheidende Weichen gestellt. So zum Beginn der Beratung 1994/95, als dort zunächst noch diskutiert wurde, Gruppen unter dem Gesichtspunkt von Verhaltensauffälligkeiten zu bilden, und ein zweitesmal, als Ende 1996 die Entscheidung zu treffen war, ob das Haus 16 in der bisherigen Form aufgelöst würde.

3. Lehrveranstaltungen

Über insgesamt fünf Semester erfolgte ein Import von universitären Lehrveranstaltungen in die Einrichtung. Dies ist gut zu realisieren, da die Anstalt nur sieben Kilometer von der Universität entfernt liegt. Die Vorlesungen wurden sowohl von StudentInnen der Universität besucht, als auch von MitarbeiterInnen der DBH. Von Anfang an wurde großer Wert darauf gelegt, daß möglichst viele Gruppenleitungen, die Wohnbereichsleitungen, der ärztliche Dienst aber auch KollegInnen aus dem Förderbereich teilnahmen. Zunehmend kamen auch regelmäßig BewohnerInnen oder wurden von MitarbeiterInnen mitgebracht, wenn sonst niemand auf der Gruppe war. Vom Ablauf her erfolgte die Veranstaltung in Form einer eineinhalbstündigen Vorlesung, jeweils unterbrochen durch eine 15-minütige Kaffeepause. Meist wurde mit einer Diskussion von Kleingruppen zu Semesterbeginn ein Grundbestand an Fragen erarbeitet, teilweise wurde im Verlauf der Veranstaltung auf Videomaterial zurückgegriffen, das diskutiert wurde.

Im Nachhinein erwies sich die gewählte Themenabfolge als sehr sinnvoll. Die ersten beiden Semester befaßten sich mit rehistorisierender Diagnostik. Diese Vorgehensweise wurde im zweiten Semester u.a. in Form einer Diskussion von Passagen aus dem Film "Rainman" mit Dustin Hofman, konkretisiert sowie durch Diskussion von Videoaufnahmen aus zwei Gruppen, welche dort auch schon Fachberatungen zugrundegelegen hatten. Im dritten und vierten Semester stand das Problem Sprache und Kommunikation im Vordergrund. Nach einer Einführung in Grundfragen von Sprachphilosophie, -soziologie, -psychologie, Phylogenese und Ontogenese von Sprache und einer Klärung von Grundbegriffen wurden ausführlich Formen schwerer Störungen von Dialog und Kommunikation behandelt, meist rückbezogen auf Erfahrungen aus der Einrichtung und im Falle von Blindheit und geistiger Behinderung auch unter Einbezug von Videoaufnahmen für eine Fachberatung.

Im fünften Semester untersuchte die Vorlesung "Gewaltverhältnisse in der Behindertenpädagogik". Ausgehend von der Logik totaler Institutionen wurden makro- und mikrosoziologische Aspekte von Gewalt herausgearbeitet und zugleich der Gegenpol eines demokratischen Handelns, orientiert an den Problemen der Schaffung von sozialem Sinn und gesellschaftlicher Selbstregierung, herausgearbeitet. Die Vorlesungen selbst nahmen bald einen wichtigen Ort für die Kultur der Einrichtung ein: hier ergaben sich vielfältige Kontaktmöglichkeiten sowohl in den Pausen als auch später, vermittelt über die gemeinsam gehörten Inhalte.

Ergänzt wurden die Vorlesungen durch zweimal durchgeführte Blockveranstaltungen zur "Neuro-psychologie der geistigen Behinderung". An diesen Veranstaltungen über je zweieinhalb Tage nahmen jeweils ca. 25 MitarbeiterInnen teil. Zusätzlich wurden insgesamt viermal Impulsreferate eingesetzt, um die Diskussion von MitarbeiterInnen zu bestimmten Fragen der Reform mit zusätzlichen Anregungen zu versehen. Dies geschah im Zusammenhang der notwendigen Umstrukturierung des Verhältnisses von Wohngruppen und Förderbereich, die bis dahin weitgehend getrennt gearbeitet hatten, durch zwei Referate zum Thema "Entwicklung durch Arbeit". Für die GruppenleiterInnen erfolgte ein Impulsreferat zum Thema "Strukturelle Gewalt". Ein Ergebnis der Diskussion zu dieser Thematik ist das im Anhang zu dem Beitrag über "Deinstitutionalisierung" veröffentlichte Papier "Was wir nicht mehr wollen: Gewalt auf allen Ebenen" (Jantzen 1997, S. 374). Und schließlich erfolgte für die leitenden MitarbeiterInnen unter Einbezug des ärztlichen Dienstes ein ausführliches Impulsreferat mit Diskussion zur Thematik "Interdisziplinarität".

Dieser Theorieimport durch W. Jantzen wurde systematisch ergänzt durch andere Angebote, jeweils durch Kristina Schulz organisiert und eingeworben. Dabei wurde bereits sehr früh darauf geachtet, daß die Angebote miteinander kompatibel waren, nicht in theoretische und praktische Widersprüche führten. So fanden unter anderem verschiedene Vorträge zum Thema "Autismus", "Autoaggressivität" und "Aggressivität" statt, eine Lehrveranstaltung zu rechtlichen Aspekten in Kooperation mit einem über die Universität eingeworbenen Lehrauftrag und schließlich Kurse für MitarbeiterInnen zur Bewältigung von schwierigen und eskalierenden Situationen in Gruppen.

4. Mitarbeit von Studierenden

In unserer bisherigen Zusammenarbeit ergab sich eine Mitarbeit von Studierenden des Studiengangs Behindertenpädagogik der Universität Bremen auf sehr verschiedenen Ebenen.

a) Praxis im Grundstudium. Die Studienordnung schrieb bisher vier Wochen und schreibt in Zukunft zwei Monate Praxis im Grundstudium vor. Einige StudentInnen absolvierten diese Praxis in über eine längere Zeit gestreckter Form durch regelmäßige Assistenz in einer Wohngruppe.

b) Praktikum im Hauptstudium. Das Hauptstudium sieht ein halbjähriges Praktikum vor. Bisher haben insgesamt fünf StudentInnen des Studiengangs während der von uns hier dargestellten Kooperation ihr Hauptpraktikum in der Einrichtung absolviert.

c) Diagnostisches Gutachten. Studierende müssen als Zulassungsbedingung zur Diplomprüfung ein qualifiziertes diagnostisches Gutachten nachweisen. Der Besuch der Lehrveranstaltungen zu Diagnostik als Rehistorisierung sowie zu Sprach- und Kommunikationstörungen war für einige von ihnen der Anlaß, ihr diagnostisches Gutachten im Rahmen der Einrichtung zu erarbeiten.

d) Einzelassistenz. Mehrfach entwickelten wir für besondere Problemlagen Unterstützung durch Einzelassistenz. Diese wurde durch Studierende im Hauptstudium oder nach Abschluß des Diploms realisiert. Die bisher längste Einzelassistenz von unterdessen über zweieinhalb Jahren erfolgte bei einer Frau, wo sich als Kern schwerer Verhaltensstörungen und der sogenannten geistigen Behinderung die Erfahrung früher sexueller Gewalt herausgestellt hatte (vgl. Meyer 1997, Jantzen 1997, S. 367 f.). Andere Formen von Assistenz bezogen sich auf schwere Kommunikationstörungen und/oder schwere Verhaltensstörungen.

5. HEP-Schule

Aus der Notwendigkeit der Qualifizierung der MitarbeiterInnen für die angestrebte Reform entwickelte sich das Vorhaben einer HeilerziehungspflegerInnen-Schule, die in Kooperation mit der Schwestergesellschaft "Diakonische Altenhilfe" unterdessen seit einem halben Jahr arbeitet. An ihr lehren mit Frau Anne Stein und Herrn Lanwer-Koppelin zwei ehemalige AbsolventInnen des Studiengangs Diplom-Behindertenpädagogik in den Fächern Soziologie der Behinderung, Psychologie der Behinderung und Behindertenpädagogik. Die Studierenden dieser Fachschule nahmen übrigens bereits an der oben erwähnten Vorlesung "Gewaltverhältnisse in der Behindertenpädagogik" teil.

6. Sonstige Kontakte zur Universität

Weitere Kontakte bestanden in doppelter Hinsicht. Zum einen arbeiten Studierende des Studiengangs Behindertenpädagogik z.T. als WochenendhelferInnen oder z.T. auf festen Stellen in der Einrichtung. Zum Teil studieren andere MitarbeiterInnen der Einrichtungen im Studiengang Psychologie an der Universität und suchten nunmehr auch Kooperation zum Studiengang Behindertenpädagogik. Und schließlich entstand durch die Kooperation für einige MitarbeiterInnen das Motiv, noch ein Studium der Behindertenpädagogik zu absolvieren.

Wir wollen nun in den folgenden Teilen unserer Ausführungen die bisher dargestellten Erfahrungen unter dem Aspekt der Bedeutung von Theoriebildung für Veränderungen in Großeinrichtungen analysieren, wobei diese Analyse selbst wiederum reflexiv als Prozeß der Theoriebildung anzulegen ist. Wir hatten eingangs die drei Aspekte der Deinstitutionalisierung, der inneren Demokratisierung und der Bewohnerorientierung als theoretische Leitideen benannt und greifen diese nun erneut auf.



[1] Aufgrund der im Rahmen der Behebung der Krise mit dem Sozialministerium abgeschlossenen Sondervereinbarung, die bis Ende 1998 gilt, stand zunächst die räumliche Umstrukturierung (Sanierung der Wohngebäude, neue Gruppengrößen, Umzug fast aller BewohnerInnen) im Vordergrund.

3. Theoriebildung im Prozeß von sozialer Rekonstruktion und demokratischer Kultur

Die symbolische Arbeit besteht darin, Form zu geben

und zugleich die Formen zu wahren"

(Bourdieu 1998, S. 168)

Mit der Ethnomethodologie teilen wir die Ansicht, daß Gesellschaft das Ergebnis menschlicher Tätigkeit ist (Fengler und Fengler 1994, S. 84). Sie ist aber nicht nur Konstruktion von Wirklichkeit, sondern Verwendung von Mitteln der Konstruktion unter historisch vorgefundenen Umständen (vgl. Bourdieu 1998, S. 116). Insofern ist ihre ausschließende Gegenüberstellung zu jener Auffassung, daß Gesellschaft "objektive Wirklichkeit" sei, falsch. Denn das, was uns die Konstruktionsmittel liefert, ist die objektive gesellschaftliche Wirklichkeit, die jene für uns geschaffen haben, die vor uns Gesellschaft produziert haben. Insofern müssen wir über die gemeinschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit mittels Theoriebildung hinaus den historisch-gesellschaftlichen Standort vor Augen haben, an dem unsere Wirklichkeit sich ereignet, also jenes Theorie-Praxis-Verhältnis, in welchem wir wirksam werden wollen. Dabei zeigt sich als erstes die Notwendigkeit, ein verdinglichtes Theorie-Praxis-Verständnis zu überwinden, das selbst Bestandteil der von uns vorgefundenen historischen Wirklichkeit ist.

Schlagen wir zum Begriff "Praxis" in einem philosophischen Wörterbuch nach (Schmidt 1973), so zeigt es sich sofort, daß Alltagsbegriff und philosophischer Begriff weit auseinanderfallen. Umgangssprachlich ist Praxis entweder eine auf den individuellen Lebenserwerb gerichtete Tätigkeit oder ein Brauch oder aber ein in Handlungen umgesetztes gegenständliches Wissen. Behindertenpädagogische Praxis finden wir im Alltagsverständnis im überschneidenden Feld dieser drei Bedeutungen markiert; ihr Anspruch an Theorie ist vor allem der Anspruch nach in Handlungen umsetzbarem gegenständlichen Wissen. Der insofern stattfindenden Objektivierung des Wissens entspricht nach Seiten des Handlungsadressaten dessen Objektstatus: zugeschrieben als Ausdruck bloßer Natur, als Krankheit, als schicksalhafte Wesensveränderung oder auch unter Bedingungen der Institution als Bosheit, Devianz u.a.m. (vgl. Goffman 1972, Fengler und Fengler 1994).

Philosophisch betrachtet umfaßt der Begriff weit mehr. Probleme der Beziehungen zwischen Theorie und Praxis sind solche des Verhältnisses zwischen abstrakter Wissenschaft und konkreter, sozialhistorischer Wirklichkeit (Trosel, 1990, S. 385). In der griechischen Philosophie ist Theorie die Wendung des Geistes zu den Ideen, Praxis die Spannung zwischen Politik und Ethik in den Handlungen des Staatsbürgers und - als gesellschaftliche Beziehung - die Anerkennung des Gleichen unter Gleichen. In der Philosophie der Aufklärung wird Praxis als die immanente Wahrheit des gesellschaftlichen Lebens betrachtet, Prüfstein der Wahrheit. Sie hat im über Hegel hinausgehenden Marxschen Sinn "die innere Bestimmung, ihren menschlichen Entstehungsgrund in einer radikalen, zur Meisterung der Bedingungen, Geschichte zu machen, fähigen Demokratie zu verwirklichen (ebd. S. 589). Die gegenständliche Natur der wahrgenommenen Dinge ist also durch die gesellschaftliche Gesamtpraxis vermittelt, so Alfred Schmidt (1973, S. 1128). Folglich ist die Realität immer relational (Bourdieu 1998). Dies bedeutet jedoch, daß die Theorie diesem komplexen Gefüge, innerhalb dessen auch der eigene Standort relational ist, Rechnung zu tragen hat und sich nicht substantialisierend ereignen darf. Sie darf nicht Wesenseigenschaften in vorgefundene Dinge einschreiben, wie z.B. in die biologische oder psychologische Natur im Falle von Behinderung. Derartige Sichtweisen, die auch jene des "common sense" sind, liegen dicht beim Rassismus, so Bourdieu (ebd. S. 16), zumindest sind sie jedoch antihumanistische, insofern sie der Realität des Menschen als einem durch sozialhistorische und gesellschaftliche Vermittlung existierenden Lebewesen nicht Rechnung tragen.

Die somit zu stellenden Anforderungen an ein emanzipatives, nicht reduktionistisches Theorie-Praxis-Verhältnis bringt ein Gedanke von Gramsci zum Ausdruck (Gramsci 1993, S. 1036 = H. 8, § 169), den wir zum Ausgangspunkt einer ersten Auswertung der dargestellten Empirie benutzten wollen.

Dieser Gedanke besteht aus fünf Sätzen:

(1) "Der durchschnittliche Arbeiter wirkt praktisch, hat aber kein klares theoretisches Bewußtsein dieses seines die Welt "Bearbeiten-Erkennens"; im Gegenteil, sein theoretisches Bewußtsein kann historisch im Gegensatz zu seinem Wirken stehen".

Auf unser Problem angewendet ist die Tätigkeit von MitarbeiterInnen einer totalen Institution humanitärer (d.h. wohltätiger) Prägung in doppelter Weise von diesem Gegensatz geprägt, denn sie gehören sowohl einem bürokratisch-institutionellen Feld als einem pädagogischen Feld an. Zum einen verlangt das theoretische Bewußtsein eine die BewohnerInnen anerkennende pädagogische Arbeit im institutionellen Alltag, der jedoch praktisch auf jeden Fall bewältigt werden muß. Zum anderen verlangt das theoretische Bewußtsein institutionelle und ökonomische Arbeit auf Grund der überkommenen Ideologie der unbeeinflußbaren psychischen und biologischen Natur der InsassInnen, obwohl die Alltagserfahrung um die Wichtigkeit wechselseitiger Anerkennung weiß und sie praktiziert. Dieser Widerspruch drückt sich aus in der paternalistischen Haltung des Unterdrückens bei gleichzeitiger Wohltätergesinnung, eine Haltung, die auf der Seite der InsassInnen eine die Unterdrücker anerkennende, wenn nicht sogar liebende Anpassung in den Unterdrückungsrahmen verlangt (vgl. Jackman 1996, Jantzen 1998a).

Um diesen Widerspruch aufzulösen, bedarf es einer relationalen, nicht substantiellen Theorie über die "Natur" der Internierten, d.h. ihre humane Anerkennung als meinesgleichen. Dieser Prozeß hat eine praktische und eine theoretische Seite. Praktisch wurde er mit der Teilnahme der Internierten an den Beratungen über sie in Gang gesetzt. Sie wurden wesentlicher Bezugspunkt der Theoriebildung, denn jede Neuinterpretation hatte nicht nur den MitarbeiterInnen schlüssig zu erscheinen, sondern mußte sich auch im Verhalten der BewohnerInnen während der Fachberatungen so spiegeln, daß die theoretische Deutung durch die praktische Handlung der BewohnerInnen verifiziert werden konnte.

Wir überschreiben diesen Aspekt des Theorie-Praxis-Verhältnisses mit dem Vygotskijs Schrift (1985) "Die Krise der Psychologie in ihrer historischen Bedeutung" vorangestellten Zitat aus dem Matthäus-Evangelium "Der Stein, den die Bauleute verworfen hatten, ist zum Eckstein geworden". Die aus Gesellschaft ausgegrenzte, jedoch sozial vermittelte Natur sogenannter schwerstmehrfachbehinderter Menschen wird zum Eckstein einer jeden Theorie von Vernunft und Personalität als soziales Verhältnis und nicht als in den Individuen substantialisierte Eigenschaft. Diese theoretische Aufhellung leisteten parallel zur Entwicklung der Fachberatungen die Lehrveranstaltungen. Sie zeigten, aus welchen zwingenden theoretischen Gründen ein sinnhafter und systemhafter Aufbau menschlichen Bewußtseins unter allen Lebensumständen vorausgesetzt werden muß, und wie offene und vor allem auch strukturelle Gewalt jene Symptome entstehen läßt, die allzu leichtfertig dem Defekt zugeschrieben werden. Insofern ist es konsequent, wenn die unterdessen entwickelten Leitsätze der Einrichtung statt von "schwerstbehin-derten" von "schwersthospitalisierten" Menschen sprechen (vgl. Jantzen 1997, S. 373).

(2) Gramsci fährt fort: "Das heißt, er (der Arbeiter; d.Verf.) wird zwei theoretische Bewußtseine haben, ein implizites in seinem Wirken, das ihn auch wirklich mit alle seinen Mitarbeitern bei der praktischen Umsetzung der Welt verbindet, und ein "explizites", oberflächliches, das er von seiner Vergangenheit erarbeitet hat".

Hiermit rückt aber über die Beziehung zum Arbeitsgegenstand hinaus etwas neues in den Mittelpunkt des wirklichen Bewußtseins: Es ist dies die unzweideutig aufrecht erhaltene wechselseitige Anerkennungsbeziehung der MitarbeiterInnen untereinander. Spätestens seit der Studie der Fenglers (1994) wissen wir, das jede Veränderung des Alltags in der Anstalt an der Klippe der nicht gewährleisteten Loyalität gegenüber den im praktischen Bewußtsein ihrer Arbeit verbundenen KollegInnen scheitern muß. Die Gewährleistung dieser Loyalität durch den eingreifenden Theoretiker schuf folglich die Bedingung der Möglichkeit der Verbindung von Theorie und Praxis. Erstens geschah dies dadurch, daß im ersten und meistens umfangreicheren Teil jeder Fachberatung die Erfahrungen und Berichte der MitarbeiterInnen im Vordergrund standen und die Aufgabe des Fachberaters im genauen Zuhören bestand. Zum zweiten konnte eine derartige Beratung nur in einem immer wieder zu schaffenden wechselseitigen Klima von Wertschätzung wirkungsvoll sein, obwohl sie Konflikte um den Grundkonsens, daß die Bedürfnisse der BewohnerInnen im Mittelpunkt zu stehen haben, sehen, aushalten und als solche annehmen mußte. Zum dritten waren es vor allem aber auch die Schichten in den Gruppen, die als symbolische Akte die Loyalität gegenüber den KollegInnen zum Ausdruck brachten. Prinzip war nicht nur teilnehmende, sondern eingreifende Beobachtung auf der Basis der Absicherung des normalen Gruppenalltags. Der Beobachter faßte mit an beim Waschen und Füttern. Er wischte Tische ab. Er bereitete Essen zu und säuberte selbstverständlich das eingekotete Zimmer eines Heimbewohners wie diesen selbst. Es sind vor allem jene symbolischen Akte des Austauschs, die dem immer noch als solchen wahrgenommenen Theoretiker zugleich symbolisches Kapital auf der MitarbeiterInnenebene schaffen, manchmal sogar direkt ausgedrückt wie in der Bemerkung "Du kannst morgen bei uns anfangen".

Drücken wir es mit den Erfahrungen der Fenglers aus: Keine Theorie wird unter den Bedingungen totaler Institutionen praktisch wirksam werden, wenn sie nicht die Loyalitätsmaxime beachtet. Deren Kern besteht - über eine bloß formale, institutionelle Anerkennung hinaus - darin, im Umgang mit den MitarbeiterInnen jenes egalitäre und brüderliche Element zu praktizieren, daß jene selbst zum Bezugspunkt ihrer Arbeit mit den BewohnerInnen machen sollten. Dies ist natürlich etwas völlig anders als Verbrüderung und setzt asymmetrische Nähe und Distanz voraus.

Gramscis beide folgenden Sätze lauten nun: (3) "Die praktisch-theoretische Position muß in einem solchen Fall "politisch" werden, das heißt zu einer Frage der "Hegemonie". Und: (4) "Das Bewußtsein, Teil einer hegemonialen Kraft zu sein (also das politische Bewußtsein) ist die erste Phase eines wahren und progressiven Selbstbewußtseins, nämlich der Vereinigung von Praxis und Theorie".

Praxis und Theorie konnten bisher nicht zusammenkommen, weil sie zum einen praktisch-theoretisch (implizit) und ideologisch-historisch (explizit) getrennt waren. Zum anderen waren sie gleichzeitig zwei unterschiedlichen sozialen Feldern, dem pädagogischen und dem institutionellen Feld zugehörig. Sie unterlagen damit auch dahinter liegenden Auseinandersetzungen um ein "Feld der Macht", um die Begrifflichkeit von Bourdieu (1998, Bourdieu und Wacquant 1996) zu bemühen. Felder der Macht entstehen dort, wo unterschiedliche Kapitalformen konfligieren. Unter diesen versteht Bourdieu unterschiedliche gesellschaftliche Vermögen, welche zu Macht und Anerkennung führen. In unserem Falle konfligieren das bürokratisch-staatliche Kapital, verbunden mit einem institutionellen Versorgungsauftrag, und zum anderen das kulturelle Kapital sowohl in einer pädagogischen als auch in einer kirchlich-diakonischen Ausprägung.

Einer solch widersprüchlichen Lage entsprach die vorherrschende verdinglichte Sicht der behinderten Menschen. Kann an Stelle dieser Verdinglichung durch das Zusammenfallen von Theorie und Praxis deren Lage neu dechiffriert werden, so entsteht für die MitarbeiterInnen ein moralischer Widerspruch zwischen Sein und Sollen. Er kann dann aufgelöst werden, wenn auf der egalitären Ebene des praktischen Bewußtseins jene loyale Unterstützung organisiert wird, die auf der ideologisch-institutionellen verloren geht. In diesem Sinne spricht Sartre in einem Gespräch mit Basaglia (1980, S. 40) davon, daß die Praxis der Angelpunkt ist. "Sie ist die offene Flanke der Ideologie".

Beleuchten wir dies an einem Beispiel. Innerhalb des Hauses 16 galt die Gruppe 16 A als "har-ter Kern vom harten Kern". Nach mehreren Fachberatungen arbeitete W. Jantzen hier von 6.00 - 14.00 Uhr in einer Vormittagsschicht mit. Innerhalb dieser Schicht übernahm er u.a. das Ankleiden und das Füttern von BewohnerInnen, wie es gerade anfiel. U.a. war es hierbei möglich, einen hoch affektiv besetzten "Horrorvorgang" des Hineinstopfens von Essen sehr schnell zu lösen. Den KollegInnen selbst konnte die theoretische Kompetenz vermittelt werden, ein spezifisches Praxisproblem zu lösen. Praktisch sah dies so aus: Thomas ist tetraplegisch, der Essensvorgang ist eine Qual für alle Beteiligten. Er spuckt, verschluckt sich, überstreckt sich. Der Handlungsvorschlag, der praktisch demonstriert und theoretisch analysiert wurde, ist folgender: Betrachte das Überstrecken als einzige Kompetenz von Thomas, sich gegen fehlende Orientierung und mögliches Verschlucken zu wehren. Arbeite dialogisch mit ihm. Fühle seinen Nacken mit der linken Hand und wenn er überstreckt, füttere nicht. Sobald er sich löst, unterstütze ihn vorsichtig mit dieser Hand und orientiere ihn ebenso durch Sprache wie durch Berührung der Lippen mit dem Löffel. Der so analysierte Essvorgang hatte sich vorweg ohne Schwierigkeiten mit Thomas erarbeiten lassen. Manchmal ist es bei einem derartigen Vorgang darüber hinaus noch nötig, die Mund-Innenseite mit dem Finger zu stimulieren, um die fehlende Propriozeption im Mund zu ersetzen. Mit diesen Informationen praktisch und theoretisch versehen ist eine MitarbeiterIn in der Regel in der Lage, einen bisher hoch streßhaften Essvorgang relativ schnell zu normalisieren.

In diesem Vorgehen wurden Einheit von Theorie und Praxis so demonstriert, wie Gramsci dies an anderer Stelle verlangt. Er fordert, "eine Theorie zu konstruieren, die - mit den entscheidenden Elementen der Praxis selbst zusammenfallend und mit ihnen identisch werdend - den Geschichtsprozeß beschleunigt, indem sie die Praxis in allen ihren Elementen homogener, kohärenter und wirksamer macht, also in höchstem Maße potenziert" (zit. nach Trosel 1990, S. 591). Dies neue Vorgehen führte nun zu dem moralischen Widerspruch, in der Regel entgegen dieser Einsicht gehandelt zu haben. Dieser Widerspruch sowie gleichzeitig der wertschätzende und loyale Umgang mit den KollegInnen waren der Hintergrund, daß dem Beobachter in der Auswertung der Schicht die Frage gestellt wurde, was ihn am meisten gestört hätte. Und dies war, daß in der Vormittagssituation zehn schwerstbehinderte Menschen im Rollstuhl oder auf einer Liege liegend im Flur abgestellt waren, wie Müllsäcke. Dieser Widerspruch wurde erörtert, ohne ihn lösen zu können. Bei dem nächstfolgenden Beratungstermin für eine Bewohnerin, der sich bald danach ergab, war dann die 16 A die erste Gruppe, welche den Widerspruch zwischen Möglichkeiten und Ansprüchen ihrer Arbeit als unerträglich erklärte und verlangte, daß die Gruppe in dieser Form aufgelöst wurde.

Dies ist jenes hegemoniale oder politische Moment, das nach Gramsci aus dem Zusammentreffen von Bildung einerseits (Bildung bedeutet nicht Ansammlung von enzyklopädischem Wissen, sondern den Weg der Wissenschaft nachzuvollziehen) und von moralischer Berührung andererseits entsteht. Im Prozeß der Katharsis, also der Läuterung, ein Begriff der dem Kunsterleben nachempfunden ist, wird sowohl die schreckliche Wahrheit anerkannt als auch durch den kathartischen Akt die Befreiung aus ihr vorgenommen: Was auch immer passiert, ich werde anders handeln.

Dieses aber ist nach Gramsci ein hegemonialer Akt in welchem die Kräfte für Humanismus, Sozialismus und Demokratie sich gegenüber jenen des Kapitals und der Ökonomie organisieren und zugleich ihre traditionelle Gebundenheit überwinden. Sie werden nunmehr zur organischen Intellektuellen, also politisch in einem Prozeß für Humanismus und Demokratie. Der Begriff der Hegemonie bezeichnet dabei einen inhaltlichen und moralischen Anspruch der Vorherrschaft, welcher erst durch die Distanz zur bisherigen Praxis und die moralische Läuterung erreicht werden kann, so Gramsci (vgl. zu Gramsci auch Kebir 1980, 1991).

Wir können nunmehr das Gramsci-Zitat abschließen:

(5) "Auch die Einheit von Theorie und Praxis ist nichts mechanisch-faktisch Gegebenes, sondern ein geschichtliches Werden, das seine elementare und ursprüngliche Phase im Gefühl von "Unterscheidung", von "Abstand", von "Unabhängigkeit" hat".

Diese Unabhängigkeit macht jedoch das Leben nicht einfacher. Sie ist zunächst die Unabhängigkeit von wenigen, für die es schwer ist, ihre theoretische Phantasie in Einheit mit emanzipatorischer Praxis gegen die Normativität des Faktischen zu behaupten. Zumal ein Rückzug nunmehr endgültig versperrt ist. Es ist nicht mehr möglich, sagen zu können, zum Wohl des behinderten Menschen zu handeln, ohne dessen sozial wahrnehmbare und theoretisch überprüfbare Bestätigung zu erhalten. Und auch wenn ich es noch so gut ausgedacht habe, wird er oder sie die Adäquatheit meiner Handlungen in praktischer und theoretischer Hinsicht zu bestätigen haben.

Entscheidend ist es, den Horizont dieser neuen Sichtweise annehmen zu können, welcher die Asymmetrie und Offenheit der Begegnung in den Mittelpunkt stellt. Alles, was ich tue, um einen behinderten Menschen wieder in den sozialen Status seiner Vernunft zu setzen, kann sich gegen mich kehren. Und ich kann auch zu dumm, zu unfähig sein, die Situation kann so fürchterlich verfahren sein, daß ich nichts ändern kann. Den neuen theoretischen und einer humanen Praxis angemessenen und damit politischen Standpunkt anzunehmen, bedeutet aber nichts anderes, als mit dieser Angst leben zu müssen. Wer BewohnerInnen zu Fachberatungen regelmäßig mit an den Tisch nimmt, kann sich nie völlig den sozialen Zuschreibungen und Horrorgemälden entziehen, welche er vorher in den Akten gelesen hat oder von den MitarbeiterInnen gehört hat. Er kann lediglich seine eigene Angst, das Problem nicht lösen zu können, identifizieren und wissen, daß er sie hat. Angst kann zwar geteilt werden, aber letztliche Instanz für meine Anerkennung wird nunmehr der behinderte Mensch selber. "Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden" und die Angst zum ständigen Horizont meiner (politischen, d.h. auf die mögliche Praxis eines humanen Gemeinwesens bezogenen) Theorie. Es bleibt jedoch, die eigene Angst als Perspektive der eigenen Humanität anzunehmen, mit ihr so umzugehen, wie es uns Erich Fried (Ges. Werke 1, S. 294) vorschlägt:

Gut dich so nahe zu wissen

du liegst mir am Herzen

ich habe dich wieder

verläßlicher als mein Haus

zeig mir den Weg

fürchte dich nicht vor mir

wo du am größten wirst,

dorthin geh ich dir nach

Veränderung durch Theoriebildung hat damit sehr differenzierte und verschiedene Aspekte. Sie zwingt zu einer Bestimmung der Theorie von der Praxis her, wir erinnern uns, als relationale, gesellschaftlich vermittelte Praxis. An dieser Theoriebildung in gemeinsamer Praxis sind PraktikerInnen und TheoretikerInnen in gleicher Weise beteiligt. Das Wissen, das hier entsteht, schlägt um in eine hegemoniale Position im Sinne Gramscis. Zygmunt Bauman (1995) würde hier von einer Rückgewinnung moralischer Verantwortung aus einer bisherigen Situation von moralischer Insuffizienz oder technisch-formaler Verantwortung sprechen. Theoriebildung in diesem Sinne ist die Herausbildung politischer Theorie. Vermittelt über diesen Begriff von Theorie und Praxis entsteht zugleich ein Rücklauf in Wissenschaft, welcher bisher ungeklärte Momente im Prozeß der Vermittlung zu klären hat. So tauchte in einer Fachberatung anhand der Bewegungsstereotypien einer Bewohnerin die Möglichkeit einer Diagnose "Rett-Syndrom" auf. Die Herausverlagerung der Frage nach den Lebensbedingungen mit Rett-Syndrom in eine universitäre Veranstaltung schuf systematisches Wissen, unterdessen in einem Aufsatz "Vom Nutzen der Syndromanalyse am Beispiel des Rett Syndroms" schriftlich fixiert (Jantzen 1998 b), der wiederum den MitarbeiterInnen der entsprechenden Gruppe sowie der Einrichtung insgesamt zur Verfügung gestellt wurde.

Es geht jedoch nicht nur um Theorie-bildung in diesem Sinne als Schaffung von wissenschaftlicher Theorie oder um Theoriebildung im Sinne der Herausbildung eines hegemonialen Bewußtseins der PraktikerInnen als Schaffung von politischer Theorie, sondern auch um Theorie-Bildung. Es geht um Bildung im Sinne eines mit Gramsci bereits spezifizierten humanen Bildungsbegriffs, den wir als Entwicklung der Tätigkeit auf höheres Niveau und auf höherem Niveau kennzeichnen können (vgl. Stegemann 1983). Ein derartiger Bildungsprozeß bezieht sich nicht nur auf die BewohnerInnen, deren Entwicklung zum Bezugspunkt unserer theoretischen und praktischen Arbeit gemacht wird, sondern auch auf alle anderen am Prozeß Beteiligten. Theoriebildung in einem sozialen und demokratischen Prozeß bedeutet, kluge und humane Umwelten für alle Beteiligten zu schaffen, und damit selbst auch Gegenstand des Prozesses zu sein, welchen wir in Bewegung bringen.

Nach dieser ausführlichen Erörterung des Theorie-Praxis-Verhältnisses kommen wir im abschließenden Teil unserer Ausführungen nochmals auf die Einrichtung als Ganzes zurück, um diese, zum Gegenstand der Theorie zu machen und damit den gesellschaftlichen Rahmen, in welchem wir eine Veränderung einer Großeinrichtung durch Theoriebildung versuchen.

4. Soziale Felder und symbolisches Kapital: Zur Soziologie der Veränderung einer Großeinrichtung

Vergangenes historisch zu artikulieren heißt nicht, es erkennen »wie es denn eigentlich gewesen ist«. Es heißt, sich einer Erinnerung zu bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt. ... Nur dem Geschichtsschreiber wohnt die Gabe bei, im Vergangenen die Funktion der Hoffnung anzufachen, der davon durchdrungen ist: auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.

(Walter Benjamin, 1965, S. 80 f.)

Großeinrichtungenverändern sich nicht durch Theoriebildung, wenn seitens der Leitung nicht ein Wille zur politischen Veränderung vorhanden ist. Großeinrichtungen und ihre Leitungen selbst befinden sich jedoch in sozialen Feldern, welche zu reflektieren sind, um die Bedingungen und Möglichkeiten von Änderungen abzuschätzen und durch Theoriebildung zu unterstützen. Wir bedienen uns, wie Sie sehen, mit dem Begriff des "sozialen Feldes" der relationalen Soziologie von Pierre Bourdieu (1987, 1998, Bourdieu und Wacquant 1996).

Die Diakonische Behindertenhilfe (DBH) ist eine von drei Teilgesellschaften unter der Trägerschaft des Evangelischen Hospitals Lilienthal e.V. Geleitet wird sie von einem pädagogischen Geschäftsführungsbereich dem zugeordnet ein ökonomischer Geschäftsführungsbereich ist. Bereits hier zeigt sich die Überschneidung gesellschaftlicher Felder, (1) eines praktisch sozialpädagogischen und (2) eines ökonomischen Feldes. Als Einrichtung ist sie Mitglied im Verband evangelischer Einrichtungen für Menschen mit geistiger und seelischer Behinderung e.V., einem Fachverband des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche Deutschlands, also eines der großen Wohlfahrtsverbände, die nach dem Subsidiaritätsprinzip und in verschiedenen Formen quasistatlicher Koordination flächendeckende sozialpolitische Aufgaben wahrnehmen (Bauer 1978). Dieser Bereich ist als Feld öffentlicher Wohltätigkeit Bestandteil (3) eines staatsbürokratischen Feldes, im Bereich der Diakonie selbst jedoch überlagert durch (4) ein kirchliches Feld.

Kirchliche Unternehmen werden, so Bourdieu (1998, S. 186), im wesentlichen nach den Prinzipien geführt, "die der Analyse der vorkapitalistischen Ökonomie zu entnehmen sind". Sie besitzen eine ökonomische Wahrheit und eine religiöse Wahrheit, welche die erstere verneint (S.188). In ihnen "gestalten sich Produktionsverhältnisse nach dem Modell der Familienbeziehungen: Werden andere Menschen als Brüder behandelt, ist die ökonomische Dimension der Beziehung ausgeklammert" (S. 191). Gegenüber dem bürokratischen Feld der Organisation sozialer Wohltätigkeit hatten sie den Vorteil, daß dieses seine Akteure niemals zu einem "ebenso rückhaltlos aufopfernden Handeln zu bewegen (vermochte), wie es die Familie (oder selbst die Kirche) vermag" (195).

Durch Überlagerung dieses Feldes mit anderen kam es historisch betrachtet zu Verschiebungen im symbolischen Kapital: Die Diakonie verlor an Kredit. Die Auseinandersetzungen anfangs der 90er Jahre und das Lilienthaler Memorandum spiegeln diesen Prozeß wieder. Wie die Kirche insgesamt auf dem Wege ist, so Bourdieu (ebd. S.199), zu einer "Kirche ohne Gläubige" zu werden, so ist die Diakonie auf dem Wege zu einem Ort, an welchem niemand mehr an den diakonischen Auftrag glaubt. Diesen Verfallsprozeß von symbolischem Kapital spiegeln die Auseinandersetzungen wider. Insofern bildet er eine der Voraussetzungen von Veränderungen durch Theoriebildung.

Symbolisches Kapital kann sich auf völlig unterschiedliche andere Kapitalformen beziehen. Achtung und Ehre können im symbolischem Austausch dem ebenso zugesprochen werden, der angemessen nach ökonomischen Prinzipien handelt, wie jenem, der brüderlich nach den Gesetzen der Bergpredigt handelt, was eine spezifische Ausprägung kulturell-religiösen Kapitals ist. Handelt er bezogen auf ein anderes Feld, z.B. (5) das wissenschaftliche, jedoch gegen die dort anzusetzenden Kriterien, so verbraucht er dort sein symbolisches Kapital. Nun hatte die Einrichtung in den späten 70er und den 80er Jahren sehr häufig gegen Einsichten im wissenschaftlichen, insbesondere im sozialpsychiatrischen und behindertenpädagogischen Feld gehandelt, was in Anbetracht der Nähe zu Bremen und der Auflösung von Kloster Blanckenburg nur zu offensichtlich war. Diesen Konflikt hatte sie durchgestanden, nicht aber jenen, wo sie ökonomisch an Kredit verlor. In einem Feld der Macht zwischen kulturell-religiösen Kapital und zwischen ökonomischem Kapital, insbesondere auf dem Hintergrund des staatsbürokratischen Feldes, geriet sie nunmehr in eine Krise, innerhalb derer auch (6) das politische Feld in Form von gewerkschaftlichen, parteipolitischen, zivilgesellchaftlichen Positionen usw. ins Spiel kam. Dies schuf die Bedingungen der Möglichkeit über das Lilienthaler Memorandum sozialpsychiatrische, wissenschaftliche und kulturelle Kapitalformen in einem nun gegenüber früher geöffnetem Feld der Macht zu artikulieren. Eine solche Position hat sich unterdessen erheblich verbessert, u.a. auch durch die Auswirkungen der sozialökonomischen und politischen Transformation Deutschlands.

Diese zeigt sich zum einen in den Änderungen des BSHG, insbesondere in § 93, die im Gesamtkontext der "Verschlankung des Sozialstaates" ab 1999 einerseits den freien Markt einführen, anderseits die Finanzierung an nachweisbare Qualitätskriterien im Einzelfall binden. Die Diakonische Behindertenhilfe befand sich hier nach der finanziellen und organisatorischen Sicherung ihrer Weiterexistenz in einer besonderen Situation. Eine Sondervereinbarung schuf erst die Bedingungen der baulichen und institutionellen Reform, unter deren Voraussetzung Landeskirche und Landesregierung die entsprechende Finanzierung bereitgestellt hatten. Die DBH mußte also in einer Phase, wo ihre Weiterexistenz durch die Sondervereinbarung in Form erhöhter Pflegesätze nur bis Ende 1998 finanziell abgesichert war, bereits sehr früh diesen neuen Anforderungen ein verstärktes Interesse widmen. Dies zeigt sich durch die sehr frühe Besetzung einer entsprechenden Stabsstelle durch Kristina Schulz. Gleichzeitig war die DBH darauf angewiesen, gerade nach dem durch das Lilienthaler Memorandum in der Öffentlichkeit am deutlichsten artikulierten Konflikt, sich der Mitwirkung von Eltern und BetreuerInnen zu versichern, zumal das neue Betreuungsrecht, insbesondere über die Einführung von Berufsbetreuung ein sehr viel höheres Maß öffentlicher Kontrolle und damit interner Demokratisierung, schon vorher das Feld der Macht verändert hatte.

Zum zweiten ergaben sich Veränderungen im politischen Feld durch die Auswirkungen des im Grundgesetz gesicherten Diskriminierungsverbots von behinderten Menschen (Art. 3.3.2) und der folgenden Rechtsprechung des B.Verf.G. im Sinne der Bindung von Qualitätsnachweisen an den Stand der fachwissenschaftlichen Erkenntnisse. Hinzu kam, daß diese Änderungen selber in einem politischen Feld stattfanden, das in Anbetracht der Verschlankung des Sozialstaates, der Debatte um "neue Euthanasie" u.a.m. Verbände und Personen enger in gemeinsame Verantwortung zusammenrücken ließen, als dies je vorher der Fall gewesen ist.

Theoriebildung, welche zur Veränderungen von Großeinrichtungen beizutragen beabsichtigt, hat diesen Kontext zu reflektieren. Sie hat der Einrichtungen im inneren und im äußeren Kontext zur Wiedergewinnung symbolischen Kapitals zu verhelfen.

Hierfür bestand gerade in einer diakonischen Einrichtung, die gezwungen war, sich in modernere ökonomische, staatsbürokratische, politische, kulturelle und wissenschaftliche Formen zu transformieren eine hervorragende Voraussetzung, sofern es in diesem Feld der Macht gelang, spezifische Kapitalformen kohärent zu verbinden, damit erneut symbolisches Kapital entstehen konnte. Dabei war ohne Zweifel eine Neubestimmung des diakonischen Auftrags von erstrangiger Bedeutung.

Bei den beiden hier kooperierenden Personen bestanden hierfür hervorragende Voraussetzungen. Wolfgang Jantzen kommt mütterlichseits aus einer dem religiösen Feld sehr eng verhafteten Familie. Seine Wendung zum Atheismus und ein verstärktes Interesse nach einer atheistischen Antwort auf die Notwendigkeit von in der Religion zu recht gestellten Fragen bildeten den Hintergrund einer humanistischen Suchhaltung, gerade in diesem Feld Gemeinsamkeiten zu finden. Dies hatte in Anbetracht einer außerhalb der Diakonie in der EKD recht deutlich verankerten "Kirche von unten" einen ausgeprägten sozialen Hintergrund. Und Kristina Schulz, groß geworden als Tochter eines Diakons im Kontext von Bethel, verband in gleicher Weise sozialwissenschaftliche Kritik an herrschenden Verhältnissen mit der Suche nach lebbaren Prinzipien eines humanen Miteinanders.

So darf es nicht wundern, wenn im Beratungsprozeß der Einrichtung sehr früh auf die Notwendigkeit einer Neufassung des diakonischen Auftrags verwiesen wurde. Die Aufdeckung des Inhalts des christlichen Begriffs Buße als μετανοετε, "Ändert Euch!"[2], war Hintergrund einer Diskussion um die Anerkennung der Gewalt, die den BewohnerInnen dieser Einrichtung in ihrer Lebensgeschichte zugefügt wurde. So heißt es im 2. Entwurf der Leitsätze der DBH: "Unser Reformvorhaben kann nur gelingen, wenn wir zunächst - im Hinblick auf die Vergangenheit - eingestehen, mit unseren institutionellen Strukturen zur Reglementierung menschlicher Lebenswünsche, -bedürf-nisse und -gewohnheiten beigetragen zu haben" (vgl. Jantzen 1997, S. 373). Vergleichbar ist in dem Aufsatz von W. Jantzen zu "Deinstitutionalisierung", gehalten als Vortrag bei der Mitgliederversammlung der Arbeitsgemeinschaft Evangelischer Behindertenhilfe in Bayern im April 1997 und dort gemeinsam mit Kristina Schulz in der Diskussion erläutert, von der notwendigen Beendigung des Kriegs als Gesellschaftszustand die Rede, um Verhältnisse wechselseitiger humaner Anerkennung im Prozeß der Deinstitutionalisierung aufbauen zu können.

Dieser Weg der Rückgewinnung symbolischen Kapitals in der Öffentlichkeit ist jedoch ein Weg, der aufgrund der sozialhistorischen Überschneidung der verschiedenen Felder im Inneren keineswegs zusammen oder für alle gleichzeitig gegangen werden kann. Dazu sind die Kränkungen aus der Geschichte heraus und ihre Fortexistenz als Erzählungen nur allzu präsent. Wohl aber ist es möglich durch höchst unterschiedliche Elemente der Theoriebildung, die jeweils humanes Handeln und humane Anerkennung in den Mittelpunkt zu stellen, wechselseitig neue Formen symbolischen Kapitals aufzubauen. Derartige Ansätze liegen in einem Prozeß der weitgehenden Umgestaltung nach innen bereits vor. In den Mittelpunkt des Denkens wurde die Reduzierung von Gewaltverhältnissen gestellt. In organisatorischer Hinsicht sind die Auflösung des Hauses 16 zu nennen, die Umgestaltung der Beziehungen zwischen Förder- und Wohnbereich sowie die Abschaffung der Wohnbereichsleitungen zugunsten der Stärkung der 22 Gruppenleitungen.

Daß dieser Prozeß höchst fragil und gefährdet ist, zeigt sich immer wieder im dem Hineinstrahlen jener Kämpfe im Feld der Macht, welche im gegenwärtigen Stadium der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nur allzu offensichtlich sind. Der drohende Abbau des Sozialstaates bei gleichzeitig geringer Kompetenz in den traditionellen pädagogischen Berufen, politisch zu denken, ist nur eine der vielen Überschneidungslinien in unseren Versuchen der Neuorganisation von symbolischenKapital auf der Basis der Kohärenz von einerseits wissenschaftlichem, pädagogisch-praktischem und religiösem Kapital als Teilen von kulturellen Kapital und andererseits der Herausbildung eines mit diesen Organisationsprozessen kohärenten politischen Kapitals (vgl. auch Jantzen 1998 c).

Obwohl wir nicht wissen, ob wir Erfolg haben werden, spricht für unsere Vorgehensweise doch die Einsicht, daß es keine Gesellschaft gibt, "die dem keine Ehre erweist, der ihr Ehre erweist, indem er sich weigert, dem Gesetz des egoistischen Interesses zu folgen" (Bourdieu 1998, S. 168).

Wenn in diesen Zeiten gilt, was Erich Fried (Ges. Werke 1, S. 338;) in seinem Gedicht "Anwort" festhält:

Zu den Steinen

hat einer gesagt

seid menschlich

Die Steine haben gesagt:

wir sind noch nicht

hart genug

wenn dies also gilt, so spielen wir den versteinerten Verhältnissen ihre eigene Melodie vor. Wir erinnern an das, was keiner wissen soll und keiner sehen darf, indem wir exemplarisch den versteckten Grund ihrer Herrschaft offenbaren: daß Gewalt jene Verhältnisse - hier die von schwerer Behinderung- schafft, die nur also leichtfertig der Natur zugeschrieben werden.



[2]

: seinen Sinn ändern, bereuen, Buße tun

Literaturverzeichnis

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Bestelladresse des Readers:

Prof. Dr. W. Jantzen

Universität Bremen, Fachbereich 12,

Studiengang Behindertenpädagogik

Postfach 330440

D-28334 Bremen

Email: Basaglia@aol.com

Quelle:

Wolfgang Jantzen, Kristina Schulz: Veränderungen durch Theoriebildung

Entnommen aus: Wolfgang Jantzen - De-Institutionalisierung. Materialien zur Soziologie der Veränderungsprozesse in einer Großeinrichtung der Behindertenhilfe.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 28.03.2006

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