Zugang zu Kunst und künstlerischer Bildung für Menschen mit Assistenzbedarf

– Das europäische Projekt ART FOR ALL

Themenbereiche: Kultur
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: Zeitschrift für Inklusion, Ausgabe 04/2014 Zeitschrift für Inklusion (04/2014)
Copyright: © Frederik Poppe, Saskia Schuppener 2014

Abstract:

In den letzten Jahren gibt es verstärkt Initiativen zum Abbau von Teilhabebarrieren im Bereich von Kunst & Kultur für Menschen mit Beeinträchtigungen. Das europäische Projekt „ART FOR ALL“ möchte hier einen kleinen Beitrag leisten, der das Ziel hat, Zugangswege zur Kunst und Möglichkeiten der künstlerischen Aus-, Fort- und Weiterbildung für Menschen mit so genannter geistiger Behinderung im europäischen Vergleich zu ermitteln und zu verbessern.

1. Einleitung

Der Teilhabe von Menschen mit Behinderungserfahrungen an Kunst & Kultur sowie den künstlerischen Mitteilungen von Menschen mit Assistenzbedarf kommt in den letzten Jahren zunehmend mehr Bedeutung zu. Kunst fungiert mittlerweile als ein Medium der „Entgrenzung“ (vgl. Schuppener 2008) und kann eine Brückenfunktion wahrnehmen zwischen den Erlebniswelten von Menschen mit sehr unterschiedlichen Biografien und Lebenserfahrungen.

Beachtenswerte Entwicklungen sind seit einigen Jahren im Kontext der bildenden Kunst zu beobachten: Die Biennale Venedig legte 2013 einen Schwerpunkt auf den Bereich Outsider Art – ein in der Kunstwissenschaft nicht unumstrittener Begriff. Dieses Ereignis markiert einen Meilenstein in der Anerkennung von künstlerischem Gestalten und künstlerischen Produkten, deren Produzent*innen keinen akademischen Hintergrund haben. Insbesondere die Kunst von Menschen, die einen Assistenzbedarf aufgrund einer kognitiven Behinderung haben, erlangte erst nach dem zweiten Weltkrieg vereinzelt Anerkennung durch Kunstwissenschaftler*innen und Kunsthistoriker*innen. Die von dieser besonderen Ausdrucksform ausgehende Faszination führte in der Nachkriegszeit dazu, dass einige Künstler*innen mit psychischen Erkrankungen bekannt wurden, die fortan unter dem Begriff „Art Brut“ oder später auch „Outsider Art“ gehandelt wurden. Arbeits- und Ausstellungsmöglichkeiten für Künstler*innen mit kognitiver Behinderung waren hingegen nicht vorhanden, bis 1966 von Anne Dore Spellenberg die kreative Werkstatt in Stetten gegründet wurde. Diese galt als Pionierinstitution und war Vorbild für viele Ateliers im deutschsprachigen Raum mit vergleichbaren Angeboten, die in den letzten Jahrzehnten eingerichtet wurden (vgl. Poppe 2012; Poppe 2013). Die darin entstehenden Kunstwerke sind heute auf dem Kunstmarkt und im Kunstbetrieb präsent: Ausstellungen ziehen die Aufmerksamkeit von Sammler*innen, Galerien und Messen auf sich, Kunstwissenschaftler*innen publizieren über Künstler*innen und Werke.

In diesem Beitrag soll der Blick auf die Frage nach mehr Teilhabe von Menschen mit Behinderungserfahrungen an Kunst & Kultur gelegt werden. Vor dem Hintergrund eines europäischen Projektes werden wir aufzeigen, welche Zugangswege zur Kunst für Menschen mit zugewiesener geistiger Behinderung aktuell vorhanden sind und welche Möglichkeiten der künstlerischen Aus-, Fort- und Weiterbildung es für Menschen mit Assistenzbedarf gibt. Im Fokus stehen dabei insbesondere die Aktivitäten der Universität Leipzig, dem deutschen Partner des EU Projekts.

2. Das Projekt ART FOR ALL

Der Artikel 30 (1-3) der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) stellt eine wichtige Grundlage für die Identifikation und den Abbau von kulturellen Teilhabebarrieren dar:

Artikel 30 — Teilhabe am kulturellen Leben sowie an Erholung, Freizeit und Sport

(1) Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen, gleichberechtigt mit anderen am kulturellen Leben teilzunehmen, und treffen alle geeigneten Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen

Zugang zu kulturellem Material in zugänglichen Formaten haben;

Zugang zu Fernsehprogrammen, Filmen, Theater­vorstellungen und anderen kulturellen Aktivitäten in zugänglichen Formaten haben;

Zugang zu Orten kultureller Darbietungen oder Dienstleistungen, wie Theatern, Museen, Kinos, Bibliotheken und Tourismusdiensten, sowie, so weit wie möglich, zu Denkmälern und Stätten von nationaler kultureller Bedeutung haben.

(2) Die Vertragsstaaten treffen geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit zu geben, ihr kreatives, künstlerisches und intellektuelles Potenzial zu entfalten und zu nutzen, nicht nur für sich selbst, sondern auch zur Bereicherung der Gesellschaft.

(3) Die Vertragsstaaten unternehmen alle geeigneten Schritte im Einklang mit dem Völkerrecht, um sicherzustellen, dass Gesetze zum Schutz von Rechten des geistigen Eigentums keine ungerechtfertigte oder diskriminierende Barriere für den Zugang von Menschen mit Behinderungen zu kulturellem Material darstellen.

Im Fokus dieses Artikels stehen die Teilnahme am kulturellen Leben sowie die Entfaltung des individuellen künstlerischen Potenzials. In Europa ist der Zugang von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen oder psychischen Krankheiten zu künstlerischer Bildung und zum allgemeinen Kunstbetrieb jedoch noch nicht flächendeckend in ausreichendem Maße gewährt. Zudem besteht ein Mangel an methodologischen Werkzeugen und spezifischen Schulungen für Kunstbegleiter*innen. Um einen Beitrag zur Verbesserung zu schaffen, wurde das europäische Projekt ART FOR ALL (www.art-for-all.eu) ins Leben gerufen.

2.1 Inhalt & Ziele

Inhalt des Projekts ART FOR ALL ist weniger die Beforschung der außergewöhnlichen künstlerischen Talente von Menschen mit so genannter geistiger Behinderung, als vielmehr die Ermittlung, inwiefern der Zugang zu Kunst und Kultur für alle verbessert werden kann. Es zielt darauf ab, Menschen mit Beeinträchtigungen die Möglichkeit zu geben, sich über Kunst zu informieren, sich im Rahmen von Schulungen künstlerische Fähigkeiten anzueignen, Kunstwerke zu schaffen und dem allgemeinen Kunstbetrieb zugänglich zu machen sowie an allen Aspekten der Kunst- und Kulturwelt teilzuhaben.

Um dies zu erreichen, gibt das Projekt folgende allgemeine Ziele vor:

  • Schaffung einer gemeinsamen europäischen Kultur und gemeinsamer Werte im Hinblick auf den Zugang zu Kunst und künstlerischer Bildung für Menschen mit Beeinträchtigungen

  • Entwicklung maßgeschneiderter Programme für Menschen mit kognitiver Behinderung durch Anbieter*innen von Erwachsenenbildung

  • Berücksichtigung der Anforderungen von Menschen mit kognitiver Behinderung und/oder psychischen Krankheiten im Rahmen der Programme, die von Entscheidungsträgern auf dem Gebiet der künstlerischen Bildung für Erwachsene implementiert werden.

  • Identifizierung von Barrieren im Zugang zu Kunst & Kultur und Entwicklung von Maßnahmen, die dabei helfen, diese Barrieren abzubauen.

Zielgruppen des Projekts sind:

  • Erwachsene mit kognitiven und/oder psychischen Beeinträchtigungen in der Rolle von Produzent*innen

  • Erwachsene mit kognitiven und/oder psychischen Beeinträchtigungen in der Rolle von Rezipient*innen

  • Kunstbegleiter*innen (Künstler*innen, Therapeut*innen, Lehrkräfte, Schulungsleiter*innen, Assistent*innen, usw.)

Kultur- und Kunstorganisationen, Anbieter*innen von Erwachsenenbildung im künstlerischen Bereich, Anbieter*innen von Dienstleistungen für Menschen mit kognitiven und/oder psychischen Beeinträchtigungen, Entscheidungsträger*innen im Kunst- und Kulturbereich sowie im Bereich der Integration von Menschen mit kognitiven und/oder psychischen Beeinträchtigungen.

2.2 Allgemeine Informationen zum Projekt

Das Projekt wurde vom 1.1.2013 – 31.12.2014 im Rahmen des Grundtvig Programms der EU (life long learning) finanziert und vom Centre de la Gabrielle MFPass – Frankreich (www.centredelagabrielle.fr) koordiniert.

Die weiteren Projektpartner*innen sind:

Alle Partner*innen haben auf nationaler Ebene Fragebogen-Studien durchgeführt, um Informationen von Künstler*innen mit Beeinträchtigungen und Expert*innen im Bereich der künstlerischen Vermittlung zu erheben. Die Daten sind nicht repräsentativ, konnten aber einige zentrale Aussagen im Hinblick auf die weitere Projektplanung liefern. Eine vergleichende Datenauswertung der europäischen Studie wird zurzeit vom Österreichischen Projektpartner vorgenommen und in Kürze auf der Webseite des Projekts veröffentlicht (vgl. www.art-for-all.eu).

Jeweils zwei nationale Seminare wurden in den jeweiligen Ländern organisiert und durchgeführt. Teilnehmende der Seminare waren wichtige Akteur*innen im Bereich der kulturellen Bildung, Anbieter*innen von Dienstleistungen für Menschen mit kognitiven und/oder psychischen Beeinträchtigungen sowie Organisationen, die Kunstwerke dieser Künstler*innen bewerben oder verbreiten.

Im Rahmen der Seminare konnten Herausforderungen und Potenziale aufgezeigt, sinnvolle Verfahrensweisen für den Zugang kognitiv und/oder psychisch beeinträchtigter Menschen zu Kunst ausgewählt und sieben nationale Leitfäden bewährter Verfahren erarbeitet werden. Diese Leitfäden basieren auf einer gemeinsamen Vorlage, und ihr Ziel besteht im Entwurf eines vorliegenden europäischen Leitfadens (siehe 4.3).

Zudem wurden die großen Potenziale im Bereich der Aus-, Fort- und Weiterbildung für Künstler*innen mit Assistenzbedarf diskutiert, um ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten durch geeignete Angebote zu erweitern.

3. Mapping

Kläger beobachtete bei der Entstehung von Institutionen, die mit Künstler*innen mit Assistenzbedarf arbeiteten, folgendes Phänomen: Oft waren innerhalb von WfbM (Werkstätten für behinderte Menschen) zunächst künstlerische Ateliers vorhanden, in denen Mitarbeiter*innen von Industriezulieferungsabteilungen einer kreativen Beschäftigung als Freizeitausgleich nachgingen. Einige Mitarbeiter*innen nutzten die Angebote verstärkt und zogen die künstlerische Beschäftigung ihren Hauptaufgaben vor. In einigen WfbM entstanden auf diese Weise künstlerische Abteilungen, die gleichberechtigt zu anderen Bereichen auftraten und in denen die Künstler*innen hauptamtlich, ganztägig und nachhaltig kreativen Projekten nachgingen (Kläger 1999; vgl. Poppe 2013).

Noch bis in die 1990er Jahre waren diese Pionierinstitutionen nicht besonders gut vernetzt. Kontakte zu anderen Organisationen im europäischen Ausland bestanden nur vereinzelt. Dies änderte sich durch das Engagement von überregionalen Netzwerken (z.B. EUCREA; vgl. www.eucrea.de), die durch Tagungen und Veranstaltungen die Akteur*innen zusammen brachten. Um einen Beitrag zur besseren Vernetzung zu leisten, wurden im ART FOR ALL Projekt auf europäischer Ebene über 250 Datensätze von Institutionen in sieben Ländern erhoben und mit Hilfe einer Mapping-Software mit Geocodes versehen. Dadurch konnte eine interaktive Landkarte erstellt werden, die einen Überblick über die verschiedenen Akteur*innen, Einrichtungen, Organisationen und Vereine gibt, die in folgenden künstlerischen Arbeitsbereichen aktiv sind:

  • Art-educational organization (Kunstpädagogische Institutionen)

  • Art-galleries (Galerien)

  • Educational organization (Fort- und Weiterbildungsorganisationen)

  • Place of cultural interest (Kunst- und Kulturorte)

  • Production (Künstlerische Produktion, Werkstätten und Ateliers)

  • Public authority for art and culture (Kulturämter und -behörden)

  • Services provider (Dienstleistungsanbieter)

  • Trainers - supporters (Ausbildung und Unterstützung)

Die Datensätze wurden von der Universität Paris-Est Marne la Vallée koordiniert. Die Ergebnisse können unter folgender URL abgerufen werden:

http://www.art-for-all.eu/en/about/european-mapping

4. „Gute Praxis“ in Deutschland & Europa

Im Laufe des Projekts identifizierten die Projektpartner*innen im jeweiligen nationalen Kontext Institutionen oder Initiativen, die als innovativ und wegweisend in Bezug auf Kunst im Kontext des Personenkreises von Menschen mit kognitiver Behinderung gelten. Exemplarisch seien hier zwei Beispiele „Guter Praxis“ in Deutschland vorgestellt, die einerseits die Rolle der Kunstproduktion und andererseits die der Kunstrezeption repräsentieren.

4.1 Atelier Goldstein

Das Atelier Goldstein wurde 2001 als ein freies Atelier in der Trägerschaft der Lebenshilfe Frankfurt am Main e.V. gegründet. Sechzehn Künstler*innen aus den Bereichen Malerei, Plastik, Grafik und Neue Medien haben seitdem einen Atelierplatz und bekommen individuelle Unterstützung bei der Hervorbringung und der Vermittlung ihrer Werke an Museen, Galerien und Ausstellungshallen im In- und Ausland von einem siebenköpfigen „Team von Kunstbetreuern auf Honorarbasis“ (Strecker 2014, 40). Nach zehnjähriger Tätigkeit als Freizeiteinrichtung konnte das Atelier Goldstein 2010 ein selbst entwickeltes Konzept zur Anwendung des Persönlichen Budget für Künstler*innen umsetzen: Seit 2011 arbeiten 14 Künstler*innen als Budgetnehmer*innen im Atelier Goldstein und erkaufen sich dabei nach Bedarf Leistungen, wie z.B. ihren Atelierplatz, Materialien und individuelle Künstler*innenbetreuung aus dem Angebot des Ateliers. Art und Umfang der Leistungen werden dabei individuell ermittelt und fließen entsprechend in die Budgetzielvereinbarungen ein. Das Konzept des Ateliers Goldstein basiert bisher auf dem Budget zur Teilhabe an der Gesellschaft. Alle Künstler*innen arbeiten in einem Teilzeitmodell in einer WfbM und insgesamt 16 Stunden an zwei Tagen pro Woche im Atelier Goldstein. Das Persönliche Budget wird dabei erstmalig innerhalb einer kleinen spezialisierten Institution angewendet.

Seit November 2011 ist auch die berufliche Qualifizierung budgetierbar. Zuständiger Kostenträger ist die Agentur für Arbeit; ein Werkstattverbund ist für eine berufliche Qualifizierung nicht notwendig (vgl. Schmitt 2014, Strecker 2014). Im Zuge dieser Neuerung legte das Atelier Goldstein ein Konzept zur Anwendung des Persönlichen Budgets für Künstler*innen zur beruflichen Bildung bei der Agentur für Arbeit vor. Darauf aufbauend wurden individuelle Eingliederungs- und Bildungspläne, zugeschnitten auf das künstlerische Potenzial der jeweiligen Bewerber*innen, erarbeitet. Seit 2011 können Künstler*innen mit Behinderung im Atelier Goldstein im Rahmen des Persönlichen Budgets eine 27-monatige künstlerische Grundausbildung absolvieren. Die Grundausbildung läuft über den Bereich der beruflichen Qualifizierung und ist nicht als Ausbildung anerkannt, weshalb bisher nach Beendigung der Grundausbildung auch keine Abschlüsse vergeben werden dürfen. Voraussetzung für die Arbeit im Atelier Goldstein ist eine künstlerische Begabung sowie der Wille und die Ausdauer eigenständig als Künstler*in auf hohem Niveau zu arbeiten. Die berufsvorbereitende Bildung fokussiert dabei eine Ausbildung hinsichtlich künstlerischer Themen, Techniken und Medien in Praxis und Theorie. Während der Ausbildung werden alle Künstler*innen mit Behinderung individuell von professionellen assistierenden Bezugspersonen mit künstlerischer Ausbildung begleitet. Ziele sind die Entwicklung und Festigung der eigenen künstlerischen Handschrift, die Spezifizierung in Techniken und Medien sowie die Erarbeitung von eigenen Themengebieten – also eigenständige Werke zu entwickeln (vgl. Schmitt 2014).

Neben der künstlerischen Bildung geht es im Atelier Goldstein darum, ein Bewusstsein sowie eine Eigenständigkeit im öffentlichen Auftritt als Künstler*in zu erlangen und damit auf den weiteren beruflichen Weg als Künstler*in auf dem ersten Arbeitsmarkt vorzubereiten.

Die Perspektiven der Künstler*innen mit Behinderung nach der Ausbildung sind individuell sehr unterschiedlich. Das Atelier Goldstein vertritt die Künstler*innen auch als Agentur, erarbeitet mit ihnen angepasste Konzepte und betreibt eine eigene Galerie in Frankfurt/Main (vgl. Strecker 2014). Dies kann, je nach Eignung und Neigung der Übergang zum Dasein als freie/r Künstler*in, aber auch zu einem Studium an einer Kunsthochschule oder zu einer anderweitigen Berufsausbildung im kreativen Bereich führen. Auf diesem Weg finden die Künstler*innen auch Unterstützung z.B. bei der Erstellung einer Bewerbungsmappe mit künstlerischen Arbeiten. Voraussichtlich in diesem Jahr wird erstmals ein Künstler des Ateliers Goldstein als Gasthörer an einer Kunstakademie eingeschrieben sein (vgl. Schmitt 2014).

4.2 Kulturloge Berlin

„Nur acht Prozent der Deutschen besucht regelmäßig Kulturveranstaltungen, die Hälfte interessiert sich gelegentlich hierfür, 42 Prozent wollen oder können sich Live-Kultur nicht leisten. Die letztgenannte Gruppe der Menschen mit geringem Einkommen haben sich die Kulturlogen als Zielgruppe vorgenommen.“ (Krauskopf 2012)

Bei den meisten Kulturveranstaltungen wie z.B. im Kino, bei Konzerten oder im Theater bleiben häufig Plätze unbesetzt. Diese Tatsache führte Christine Krauskopf vor fünf Jahren in Marburg zu der Idee, die freien Kontingente an Menschen mit finanziellen Engpässen kostenfrei zu vermitteln und ihnen somit die Möglichkeit auf kulturelle Teilhabe zu bieten. Dieses Konzept weckte bundesweit großes Interesse. Mittlerweile zählt der Bundesverband Deutsche Kulturloge e.V. über 30 Kulturlogen, die sich für das Menschenrecht auf Kultur einsetzen und damit einen wichtigen Beitrag für ein gesellschaftliches Miteinander leisten.

Im Folgenden soll der Fokus auf die Kulturloge Berlin gerichtet werden. Die Kulturloge Berlin ist ein gemeinnütziger Verein, der die Teilhabe an kulturellen Veranstaltungen und im Zuge dessen auch die soziale Inklusion fördert. Das Ziel des Vereins lautet: „Kultur für alle“. Auch dieser Verein hat sich zur Aufgabe gemacht, unbesetzte Kulturplätze an Menschen zu vergeben, die aufgrund ihrer geringfügigen finanziellen Mittel oder anderweitigen Gründen, wie z.B. einer Behinderung, gar nicht oder nur selten solche Veranstaltungen besuchen können. Die Kulturloge Berlin konnte im Jahr 2012 bemerkenswerte 23.000 freie Kulturplätze vermitteln und den zu dieser Zeit 6.000 registrierten Gästen die Möglichkeit geben, am kulturellen und gesellschaftlichen Leben zu partizipieren und sich durch die direkte Ansprache eingeladen und erwünscht zu fühlen (vgl. www.kulturloge-berlin.de).

Gäste der Kulturloge können alle Menschen werden, denen nur ein geringes Einkommen zur Verfügung steht. Auf der Internetplattform der Kulturloge Berlin werden die genauen Angaben zu den Einkommensgrenzen genannt. Die Kulturloge Berlin kooperiert mit vielen sozialen und kulturellen Einrichtungen. Interessierte haben die Möglichkeit, sich bei diesen Einrichtungen anzumelden und somit Gast der Kulturloge zu werden. Bei der Anmeldung können persönliche kulturelle Vorlieben genannt werden. Ehrenamtliche Mitarbeiter*innen informieren die registrierten Gäste dann in einem Telefongespräch über passende Angebote und laden sie persönlich zu Veranstaltungen ein. Außerdem wird den Gästen zusätzlich eine zweite kostenlose Eintrittskarte zur Verfügung gestellt. So können sie mit einer Person ihrer Wahl ihre Erlebnisse teilen. Dem Verein ist es wichtig, Stigmatisierungen zu verhindern und den Gästen das Gefühl der Zugehörigkeit zu vermitteln. Aus diesem Grund muss die Begleitperson nicht über ein geringes Einkommen verfügen (vgl. Kremer 2014).

Besonders für Menschen mit Behinderungserfahrungen gibt es eine Vielzahl an Hindernissen, wenn es darum geht am Kulturleben teilzunehmen. Oftmals sind die Ankündigungen, Veranstaltungen oder die Veranstaltungsorte nicht barrierefrei und somit für Menschen im Rollstuhl, Menschen mit Sehbehinderung, Schwerhörige usw. nicht zugänglich. Zu dieser Form der Diskriminierung kommen auch noch Erschwernisse durch Ablehnung und Ausgrenzung hinzu. Die Kulturloge Berlin hat sich dem Problem der kulturellen Inklusion angenommen und kooperiert unter anderen mit vielen Einrichtungen der Behindertenhilfe. Das Projekt wird gut angenommen und Menschen mit zugewiesenen Behinderungen registrieren sich vor allem aus dem Wunsch heraus, ihre Freizeit in Begleitung von anderen Menschen interessanter gestalten zu wollen. Sie sind aber nicht nur begeisterte Besucher*innen unterschiedlichster Veranstaltungsspektren, sondern auch wertvolle Kritiker*innen, welche die Kulturloge und auch Veranstalter*innen auf vorhandene Barrieren und Missstände aufmerksam machen und Änderungsvorschläge einbringen (vgl. Seifert 2014). Die Kulturloge Berlin ebnet somit den Weg, um die kulturelle Inklusion Schritt für Schritt voran zu bringen. Dabei macht sie „kein Programm für Menschen mit Behinderung, sondern bezieht den Personenkreis selbstverständlich in die Vermittlung von Kulturplätzen an Menschen mit geringem Einkommen ein.“ (Seifert 2014, 180)

4.3 Europäischer „Guide of Good Practice

Jeweils drei Beispiele Guter Praxis der jeweiligen Länderpartner*innen wurden ausgewählt und in verkürzter Form zu einem europäischen Leitfaden zusammengeführt. Der europäische Leitfaden gewährt Einblicke in die unterschiedliche Praxis der Projekt-Partnerländer in Bezug auf Produktion und Rezeption von Künstler*innen mit Assistenzbedarf sowie auf die kulturelle Teilhabe von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung. Die Ansätze sind innovativ und sollen inspirierend bei der Erstellung neuer Konzepte oder bei strukturellen Veränderungen wirken.

Der europäische „Guide of Good Practice“ enthält zudem Informationen zur rechtlichen Lage in Bezug auf die Herbeiführung eines gleichberechtigten Zugangs zu künstlerischer Bildung, zu Kunstmarkt und Kultur in den jeweiligen Ländern mit Bezug auf Artikel 30 (1-3) der UN-BRK.

Die Autor*innen der einzelnen Leitfadenteile stellen erkannte Potenziale dar, benennen aber auch Herausforderungen und Probleme in diesem Prozess. Beispiele Guter Praxis sind für die jeweiligen Länder nicht repräsentativ, dienen jedoch zur Orientierung bei der Umsetzung des Artikels 30 und als praxisnahe Argumente in der aktuellen Inklusionsdebatte.

Einige konkrete Empfehlungen werden dabei genannt, die Ergebnisse können unter folgender URL abgerufen werden: http://www.art-for-all.eu/en/national-guides-good-practices

5. Internationale Wanderausstellung „Face to Face

Im Rahmen des ART FOR ALL Projekts wurde eine internationale Wanderausstellung in den sieben Ländern der Projektpartner*innen gezeigt. Auf einen „Call for Art“ hin wurden in Deutschland 47 Werke von Künstler*innen mit Assistenzbedarf eingereicht, aus denen eine Jury zehn Bilder auswählte, die zum Thema der Ausstellung „Face to Face“ passten und den ästhetischen Vorstellungen der Auswählenden entsprachen. Diese engere Auswahl erreichte die kuratierende Institution Ég’Art in Paris zusammen mit den Vorauswahlen aus allen anderen Ländern. Die Kuratorin stellte daraus eine Auswahl von 14 Exponaten zusammen, die fortan in sieben verschiedenen europäischen Städten gezeigt wurden. Dabei hatten die jeweiligen Projektpartner*innen die Möglichkeit, ihren Teil der Wanderausstellung durch weitere Werke zu erweitern bzw. durch Begleitprogramm zu ergänzen.

Plakat der Wanderausstellung "Face to
                  Face"
 an der Universität Leipzig.

In Leipzig wurde von uns als deutschem Projektpartner ein eigenständiges integratives Ausstellungskonzept entwickelt. In einem ganzheitlichen Ansatz wurde der Fokus neben einer erweiterten Werkauswahl auf Zusatzangebote und Begleitprogramm gelegt, das vor allem in zahlreichen Sonderveranstaltungen auf eine heterogene Besuchergruppe abzielte.

Das Ziel der Leipziger Ausstellung Face to Face – Menschenbilder im Dialog“ bestand darin, zeitgenössische Kunstwerke von Künstler*innen mit und ohne Behinderungserfahrungen gemeinsam und gleichberechtigt nebeneinanderstehend zu präsentieren und damit auch auf Seiten der Rezipient*innen einen Begegnungsraum zwischen Menschen mit sehr unterschiedlichen Erfahrungshintergründen zu schaffen. Es wurden künstlerische Dialoge (z.B. in multipler Autor*innenschaft) im Sinne eines integrativen Grundgedankens ausgestellt und man fand zeitgenössische Positionen aus den Bereichen Malerei, Grafik, Skulptur/Objekte, Installation und Medienkunst (Portraits, Selbstportraits, Spiegelbilder und Menschenbilder).

Wichtig erschien uns für diese Ausstellung, explizit nicht offensichtlich auf Etikettierungen, Diagnosen und Bildungshintergründe der Künstler*innen zu verweisen, sondern den Werken zunächst eine eigene Wirkung zu überlassen. Auch heute noch lässt sich beobachten, dass „ein auf Hierarchien basierender Sonderstatus“ (Luz 2012, 442) der Werke von Künstler*innen mit Assistenzbedarf besteht. Dieser intendierte ursprünglich teilweise eine Aufwertung von Künstler*in und Werk, verhinderte jedoch längerfristig eine gleichberechtigte Rezeption der Exponate (vgl. Luz 2012). Unter dem Leitgedanken der Inklusion konzipierten wir als Institut für Förderpädagogik der Universität Leipzig gemeinsam mit der Kustodie der Universität Leipzig daher diese gemeinsame Ausstellung von Künstler*innen mit und ohne akademischen Background, bei der ein biografisch orientierter Bezug für die Ausstellungsbesucher*innen weitgehend verborgen blieb. Es gab zwar Informationen über das Projekt und seine Zielsetzungen, die Exponate wurden jedoch nur mit Urheber*in, Werktitel und Entstehungsdatum beschildert.

Ein Begleitprogramm zur Ausstellung bot ein umfangreiches museumspädagogisches Angebot mit integrativen Projekten für Schulen und Vereine für ein gemeinsames Arbeiten in den Bereichen Malerei, plastisches Gestalten und Collage sowie verschiedene Aktionen und Sonderführungen:

Das kunstpädagogische Begleitprogramm war explizit barrierefrei konzipiert und umfasste folgende Aktionen:

Ver | lock | ung | nähen

Jeder für sich oder doch von Angesicht zu Angesicht miteinander vernähen, was zusammengehört und der Verlockung verschiedener Stoffe nicht wiederstehen.

Portraits treffen Collagen

Die Absicht eines Portraits ist es, neben der Darstellung körperlicher Ähnlichkeit auch das Wesen der portraitierten Person zum Ausdruck zu bringen. Aber was tun, wenn einem nur Leim und verschiedene Materialien bleiben?

Portraits in Ton – plastisches Gestalten

Individuelle Charakterköpfe entstehen und erobern den Raum.

Körperbilder – so bin ich!

Ein Körperbild wird zur Grundlage für ein Selbstbildnis. Durch innere Bilder, Vorstellungen, Bewegungen, Tasten, Berühren und das Erleben, entstehen weitere Bilder, welche das Körperbild gestalten.

Malerei von Angesicht zu Angesicht

Malerei ist das Festhalten von Gedanken des Malers. Verorten wir unsere Gedanken zum Thema „Menschenbilder im Dialog“ und geben ihnen einen Ursprung

Um | selbst | gestalt | ung

Gestalten nach dem Prinzip „Sehende Hand und tastendes Auge”. Die Idee ist, dass das Sinnesorgan Tasten sensibilisiert wird und statt des Sehens die Führung über den Stift übernimmt. Die Teilnehmer*innen arbeiten mit geschlossenen Augen und sehen nicht, wie sie sich zeichnen.

Zwei junge Frauen nähen mit geschlossenen Augen.

Ver | lock | ung | nähen; Foto: Stephan Sacher

Eine Gruppe von Menschen sitzt am Tisch und malt.

Malerei von Angesicht zu Angesicht; Foto: Stephan Sacher

Darüber hinaus gab es zudem noch besondere Angebote und Aktionen zur Museumsnacht und zur Langen Nacht der Wissenschaften:

Zur Museumsnacht lud die Künstlerin Gee Vero (www.bareface.jimdo.com) ein, sich an ihrem Kunstprojekt „The Art of Inclusion“ zu beteiligen und Portraits zu ergänzen und damit ein gemeinsames Kunstwerk zu schaffen.

Kunstwerk - Darstellung eines Gesichts. Abstrakte
Kunst.

Gee Vero zusammen mit Silvio Neuendorf, Mischtechnik, 2012

Zwei junge Frauen sitzen an einem Tisch und zeichnen.

Schüler*innen beim künstlerischen Dialog; Foto: Stephan Sacher

Und zur Langen Nacht der Wissenschaften konnte man in einen Erfahrungsaustausch der „anderen Art“ eintauchen: Es gab die Möglichkeit, die Ausstellung im Rollstuhl, mit einer starken Sehbeeinträchtigung oder in einem Alterssimulationsanzug (z.B. Körpergefühl von Achtzigjährigen, Parkinsonsimulation) zu erleben und somit in die Rolle einer/eines Kunstrezipient*in oder einer/eines Kreativschaffenden mit Behinderungserfahrung zu schlüpfen.

Zwei Personen, welche die Körpererfahrung erleben,
befinden sich in der Ausstellung.

Eine Ausstellung mal anders erleben...; Foto: Stephan Sacher

Eine Frau, welche eine Körpererfahrung erlebt,
zeichnet an einer Leinwand.

Künstlerisch aktiv sein unter veränderten Bedingungen...; Foto: Stephan Sacher

Selbstverständlich gab es integrative und barrierefreie Führungen durch die Ausstellung:

Eine Gruppe von Menschen mit und ohne Behinderung ist
bei einer Führung.

Führung durch die Ausstellung „Face to Face – Menschbilder im Dialog ; Foto: Stephan Sacher

Sowohl Ausstellung als auch Sonderveranstaltungen waren gut besucht; begleitend erschien ein Katalog mit Werkabbildungen aller teilnehmenden Künstler*innen und verschiedenen Textbeiträgen.

6. Seminare in Deutschland & Summer Schools in Europa

Während der Projektlaufzeit fanden in jedem Partnerland zwei so genannte „nationale Seminare“ in Form von Fachtagen statt. In Deutschland wurde der erste Fachtag in Kooperation mit der European Outsider Art Association in den Räumen der Prinzhorn-Sammlung in Heidelberg durchgeführt. Die Veranstaltung mit dem Titel „Ethische Fragen um Outsider Art“ im Mai 2013 widmete sich unter anderem ethischen Fragen im Kontext der künstlerischen Produktion und Rezeption bei Exponaten von Künstler*innen mit Assistenzbedarf, die in einem Diskussionspapier zusammengefasst wurden (vgl. Röske 2013).

Ethische Fragen waren auch das Leitthema der ersten Summer School in Rom/Italien, bei der die Ergebnisse der jeweiligen Partnerländer-Seminare vorgestellt und diskutiert wurden. Inzwischen ist im Rahmen des Projekts ein Statut zu ethischen Fragen entstanden (vgl. http://www.art-for-all.eu/en/european-ethical-charter/). Die Summer School wurde durch einen Atelierbesuch und die Eröffnung der Wanderausstellung „Face to Face“ abgerundet.

Der zweite Fachtag in Deutschland fand im Juni 2014 unter dem Thema „Innovative Aus- und Weiterbildungskonzepte für Künstler*innen mit Assistenzbedarf“ an der Universität Leipzig statt. Dabei wurden einerseits Beispiele Guter Praxis aus dem Bereich künstlerischer Bildung gesammelt, die in den „Guide of Good Practice“ aufgenommen werden sollten; zudem wurden Positionen in Bezug auf die künstlerische Aus- und Fortbildung von Künstler*innen mit Assistenzbedarf diskutiert. Hieraus entstand ein reger Austausch zum gegenwärtigen Stand der künstlerischen Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten für Künstler*innen mit kognitiven Beeinträchtigungen in Deutschland, welcher in einem Positionspapier zusammengefasst wurde und dazu beitragen soll, dass der Informations- und Diskussionsstand über Chancen und Barrieren der Teilhabe für Künstler*innen im Bereich der Bildung konstruktiv wachsen soll. Die Ergebnisse der sieben „national seminars“ wurden wiederum während der zweiten Summer School in Tallinn/Estland vorgestellt und diskutiert. Insbesondere das Thema „Gute Praxis“ genoss einen hohen Stellenwert. Der zweite Teil der Summer School fand an der Westküste Estlands statt und beinhaltete die Durchführung von künstlerischen Workshops für insgesamt 150 Teilnehmende mit Assistenzbedarf. Die dabei verwendeten Methoden in den Bereichen Malerei, Performance, Trickfilm, u.v.m. wurden im Anschluss evaluiert und in ihrer Konzeption verfeinert. Die Ergebnisse wurden zu einem Papier zusammengefasst, das auf der Projektseite bereit steht (vgl. http://www.art-for-all.eu/de/innovative-methoden-der-kunstvermittlung/).

7. Fazit & Ausblick

Die internationale Zusammenarbeit im ART FOR ALL Projekt hat zum Einen noch viele existente Teilhabebarrieren im Bereich des Zugangs zur Kunst für Menschen in benachteiligten Lebenssituationen gezeigt – besonders im Bereich der künstlerischen Aus- und Weiterbildung für Menschen mit Beeinträchtigungen –, aber zum Anderen wurden hierdurch auch viele innovative Strukturen und Aktivitäten in den unterschiedlichen europäischen Ländern offenkundig, die erlebbar gemacht haben, wie konstruktiv sich die Zugangswege zur Kunst und die Unterstützung von Künstler*innen mit Assistenzbedarf sukzessive weiterentwickeln. Es fand ein Austausch über viele mutmachende Initiativen statt und es wurde durch die skizzierten Projektaktivitäten sehr deutlich spürbar, dass über Kunst ein Dialog und Austausch möglich ist, der sehr barrierefrei und auch basal sein kann.

Dialoge, die über das Medium Kunst erfolgen, haben das Potenzial, bei allen Kommunikationspartner*innen Wirkungen zu hinterlassen: bei den Kunstschaffenden und bei den Kunstrezipierenden. Diese Wirkung ist nicht gebunden an sprachliche oder andere Voraussetzungen, sondern es können in der und durch die Kunst ganz neue Kommunikationsformen und auch neue Kommunikationsanlässe geschaffen werden. Kunst kann somit für alle Beteiligten eine neue Form der Annäherung verkörpern. Durch Kunst & Kultur existieren Begegnungsräume, die nicht in erster Linie nach den Hintergründen der Kulturschaffenden und -konsumierenden fragen, sondern stattdessen zu Zusammenkünften über ein Interesse oder eine Leidenschaft an einem Thema/Inhalt führen. Durch diese Formen der Begegnung und des Austausches entstehen u.U. auch neue „Bilder im Kopf“ und es werden bisherige Einstellungen hinterfragt und evtl. auch verworfen. Dadurch kann auch für Menschen in marginalen Lebenssituationen ein Mehr an gesellschaftlicher Teilhabe entstehen. Menschen mit unterschiedlichsten Voraussetzungen wird die Möglichkeit des Aufeinandertreffens in einem Kontext gegeben, der nicht die Behinderung oder die damit verbundenen biografischen Besonderheiten in den Vordergrund stellt, sondern vielmehr die individuellen, kreativen Stärken und/oder Interessen. Das ermöglicht einen gleichwertigen Dialog zwischen Menschen mit und ohne Behinderungserfahrungen. Und genau diese Form des Dialogs muss als Basis für ein inklusives gesellschaftliches Miteinander gesehen werden (vgl. Schuppener 2008).

Menschen mit Assistenzbedarf können durch Kunst einen gesellschaftlich-kulturellen Beitrag leisten und damit auch einen aktiven, produktiven und konstruktiven Part übernehmen und sich nicht primär oder ausschließlich als Empfänger*innen von Assistenz erleben. Das gilt zum Einen für Menschen mit Beeinträchtigungen, die als Künstler*innen tätig sind, aber auch für Menschen mit Unterstützungsbedarf, die Kunst- und Kulturrezipient*innen sind und über ihre Präsenz und ihr Feedback ebenfalls einen aktiven Part zur Barrierefreiheit in unserer Gesellschaft beitragen.

Diese beiden Perspektiven hat das ART FOR ALL Projekt versucht, nachhaltig zu betonen und zu analysieren. Mit den online-präsentierten Ergebnissen soll ein Beitrag zu einer besseren Vernetzung und zu einem Abbau von Teilhabebarrieren im Bereich der Kunst geleistet werden. Es sollen „Brücken gebaut werden“ über Länder- und Sprachgrenzen hinweg und es geht um eine gemeinsame Analyse der Zugangschancen und -schwierigkeiten zu Kunst & Kultur für Menschen mit Behinderungserfahrungen.

Der Künstler Georg Paulmichl – welcher das Etikett einer so genannten geistigen Behinderung trägt – hat den Satz geprägt: „Unzählige Lebensarten reihen sich untereinander“. Dieses Zitat steht beispielhaft für eine anzustrebende optimale Entgrenzung durch Kunst, da hier eine Sozialform beschrieben wird, die Verschiedenheit zulässt und Raum für Begegnungen schafft.

Es bleibt zu hoffen, dass auch aktuell noch bestehende Barrieren im Zugang zu Kunst & Kultur künftig immer überwindbarer werden und Kunst dazu beitragen kann, dass sich unsere Gesellschaft in einer akzeptierten, anerkannten und als Bereicherung erlebten Vielfalt, ihrer dadurch entstehenden Kreativität und in ihrem hieraus resultierenden Innovationsgehalt Schritt für Schritt weiterentwickelt.

8. Literatur

Art for All. http://www.art-for-all.eu

Art for All – Ethical Charter: http://www.art-for-all.eu/en/european-ethical-charter/

Art for All – Guide of Good Practice Europa: http://www.art-for-all.eu/en/national-guides-good-practices

Art for All – Mapping: http://www.art-for-all.eu/en/about/european-mapping

Art for All – Methods of Art Mediation: http://www.art-for-all.eu/de/innovative-methoden-der-kunstvermittlung/

Atelier Goldstein: http://www.atelier-goldstein.de/

EUCREA. http://www.eucrea.de

Kläger, M. (1999). Kunst und Künstler aus Werkstätten: Status, Eigenarten, Pflege. Hohengehren: Schneider.

Krauskopf, C. (2012). Kulturvermittlung zwischen Idealismus und Ideologie. Herborn, 29.10.2012 URL: http://www.kulturlogen-deutschland.de/idealismus-und-ideologie/

Kremer, M. (2014). Projektbeschreibung Kulturloge Berlin. Berlin, 05.06.2014 URL: http://www.kulturloge-berlin.de/eigene-veranstaltungen.phtml

Luz, V. (2012). Wenn Kunst behindert wird – zur Rezeption von Werken geistig behinderter KünstlerInnen und Künstler in der Bundesrepublik Deutschland. Bielefeld: transcript.

Kulturloge: www.kulturloge.de

Poppe, F. (2013). Der König der Couchflaschen. In: AWO Dortmund. Kunst verrückt - Abschlusspräsentation des Projektes „Dortmunder Modell Kunst“. Bönen: Kettler.

Poppe, F. (2012). Künstler mit Assistenzbedarf – eine Interaktionsstudie. Frankfurt am Main: Peter Lang.

Röske, T. (2013). Tagungsmappe „Ethische Fragen um Outsider Art“ URL: http://prinzhorn.ukl-hd.de/fileadmin/images/Tagungen/Internationale_Fachtagung_Ethische_Fragen_zu_Outsider_Art.pdf

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Quelle

Frederik Poppe, Saskia Schuppener: Zugang zu Kunst und künstlerischer Bildung für Menschen mit Assistenzbedarf.

Erschienen in: Zeitschrift für Inklusion, Ausgabe 04/2014

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 22.02.2018

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