Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt im Kontext von frühkindlicher Inklusionspädagogik

Themenbereiche: Psychosoziale Arbeit
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: Zeitschrift für Inklusion, Ausgabe 03/2014 Zeitschrift für Inklusion (03/2014)
Copyright: © Nordt, Kugler 2014

Abstract

Am 14. Oktober 2013 veranstalteten das Sozialpädagogische Fortbildungsinstitut Berlin-Brandenburg (SFBB) und die Bildungsinitiative QUEERFORMAT den Fachtag „Vielfalt fördern von klein auf - Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt als Themen frühkindlicher Inklusionspädagogik“ in den Räumen des SFBB im Jagdschloss Glienicke in Berlin. Etwa 70 Kita-Fachkräfte und Kita-Leitungen fanden sich ein, um sich über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt als Themen frühkindlicher Inklusionspädagogik zu informieren, den kollegialen Austausch zu suchen und neue Impulse für die Praxis zu erhalten. Den inhaltlichen Einstieg ins Thema Inklusionspädagogik bildete der hier abgedruckte Vortrag von Stephanie Nordt und Thomas Kugler, Bildungsreferent_innen der Bildungsinitiative QUEERFORMAT. Sie machen in ihrem Beitrag deutlich, welche Bedeutung die Themen sexuelle und geschlechtliche Vielfalt schon für die frühkindliche Bildung haben und wie wichtig ein umfassender inklusiver Umgang mit sozialer Vielfalt in der pädagogischen Praxis der Kitas ist. Die Dokumentation des Fachtags finden Sie hier:http://www.queerformat.de/fileadmin/user_upload/news/Fachtagsdoku_WEB.pdf.

1. Zum Verständnis von Inklusion und Inklusionspädagogik

Seit Deutschland 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert und sich damit verpflichtet hat, die Forderung nach inklusiver Bildung umzusetzen, bewegt die Inklusionsdebatte auch die fachliche Diskussion im Bereich der frühkindlichen Bildung. Petra Wagner, Leiterin der Fachstelle KINDERWELTEN, weist darauf hin, dass Inklusion auf die Teilhabe aller abzielt und dafür in der pädagogischen Arbeit Teilhabebarrieren, die Bildungsprozesse von Kindern behindern, beseitigt werden müssen. (Sulzer, Wagner 2011) Dies bezieht sich zum einen auf den Zugang zu Bildungseinrichtungen, zum anderen aber auch auf das Nutzen der Lernangebote. Der Index für Inklusion für den Bereich der Kindertageseinrichtungen bringt es auf die griffige Formel: „Bei Inklusion geht es darum, alle Barrieren für Spiel, Lernen und Partizipation für alle Kinder auf ein Minimum zu reduzieren.“ (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, 2006)

Häufig wird Inklusion (wörtlich übersetzt Einschluss) auf den Einschluss von Kindern mit besonderen Bedürfnissen bezogen und damit eine Verbindung zum Thema Behinderung und Beeinträchtigung hergestellt. Tatsächlich kommt dieses ursprüngliche Inklusionsverständnis aus der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung von Menschen mit Behinderung, die mit dem Begriff Inklusion das volle Recht auf individuelle Entwicklung und gesellschaftliche Teilhabe einforderte. So ist der Begriff seit den 1960er Jahren stark mit der Integrationspädagogik und insbesondere mit der Forderung nach gemeinsamem Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung verbunden. „Bildung für alle“ nennt auch die Salamanca-Erklärung der UNESCO-Weltkonferenz (UNESCO, 1994) „Pädagogik der besonderen Bedürfnisse: Zugang und Qualität“ von 1994 als Ziel und verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff Inklusion, den dann auch die 2008 in Kraft getretene UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Vereinte Nationen, 2006) aufnimmt.

Doch weil das Menschenrecht auf Bildung universell gültig ist und sich auf alle Kinder bezieht, hat sich inzwischen das Inklusionsverständnis gewandelt: Wenn wir über die Einlösung des Rechts auf Bildung sprechen, dann hat es keinen Sinn, sich auf ein einziges Merkmal wie Behinderung zu beschränken. Es geht in diesem erweiterten Verständnis von Inklusion um den Einschluss aller Kinder und damit um vielfältige Merkmale sozialer Zugehörigkeit. Annedore Prengel spricht bezogen auf die Inklusionspädagogik vom „Einbeziehen pluraler Dimensionen von Heterogenität“ und nennt Beispiele für weitere wichtige Merkmale, die im Zusammenhang mit Erfahrungen von Einschluss bzw. Ausschluss eine Rolle spielen, etwa Alter / Generation, Schicht / Milieu, Gender, Kultur / Ethnie, Disability / Ability, Sexuelle Orientierung, Region oder Religion.(Prengel 2010) Wenn wir diese vielfältigen Dimensionen von Verschiedenartigkeit betrachten, dann können sie uns dabei helfen, für die pädagogische Praxis immer wieder neu zu fragen: Wer ist ausgeschlossen? Welches Kind kann nicht teilhaben und warum nicht? Wie können wir die jeweiligen Teilhabebarrieren identifizieren und abbauen?

Auch das Berliner Kita-Fördergesetz (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft, 2005) nennt gleich in seinem ersten Paragraphen Vielfaltsdimensionen als Grundlagen der demokratischen Gesellschaft, auf die Kinder schon in der Kita vorbereitet werden sollen. Explizit führt das Gesetz Geschlecht, sexuelle Identität, Behinderung, ethnische, nationale, religiöse und soziale Zugehörigkeit, individuelle Fähigkeiten und Beeinträchtigungen auf, wenn es um ein gleichberechtigtes Zusammenleben geht. Hier haben wir also auch einen gesetzlichen Auftrag, Vielfalt in der Kita zum Thema zu machen. In diesem Sinn fordert das Berliner Bildungsprogramm für die Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern in Tageseinrichtungen bis zu ihrem Schuleintritt (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport) von 2004 dazu auf, Vielfalt in der pädagogischen Arbeit auf der Grundlage gleicher Rechte aktiv zu berücksichtigen und Benachteiligungen abzubauen. In seiner Neufassung, die 2014 erscheinen wird, wird das Berliner Bildungsprogramm auch explizit auf geschlechtliche und sexuelle Vielfalt eingehen.

2. Wo zeigen sich die Vielfaltsdimensionen Geschlecht, Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung in der Kita?

Das Berliner Kita-Fördergesetz nennt neben Geschlecht auch die Kategorie sexuelle Identität, die in der juristischen Fachsprache zusammenfassend für die Themen Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung steht. Auch wenn hier für viele Menschen zunächst kein Zusammenhang mit der frühkindlichen Bildung oder der Alltagswelt in der Kita erkennbar ist, lohnt sich ein genauerer Blick darauf, wie Geschlecht, Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung in Kindertageseinrichtungen in Erscheinung treten.

Eine wachsende Zahl von Kindern kommt nicht aus traditionellen Kleinfamilien, sondern aus vielfältig zusammengesetzten Familienformen. Dazu zählen neben z. B. Patchwork- oder Einelternfamilien auch die sogenannten Regenbogenfamilien, Familienformen also, in denen mindestens ein Elternteil lesbisch, schwul, bisexuell oder transgeschlechtlich lebt. Immer mehr Kolleg_innen berichten von Kindern in ihrer Kita, die zwei Mütter haben oder bei zwei Vätern zu Hause sind.

Geschlechtsvariante Kinder sind Kinder, die sich in Bezug auf ihr biologisches Geschlecht, ihre Geschlechtsidentität oder ihr Rollenverhalten von der Mehrheit der anderen Mädchen und Jungen unterscheiden. Hier geht es also zum einen um intergeschlechtliche und transgeschlechtliche Kinder, zum anderen aber auch um diejenigen, die sich nicht geschlechtsrollenkonform verhalten.

Und schließlich besuchen auch Kinder die Kita, die sich später einmal lesbisch, schwul oder bisexuell identifizieren werden oder für die Verliebtheitsgefühle zu anderen Kindern desselben Geschlechts schon heute in der Kita eine Realität sind.

Wir wollen im Folgenden auf die Themen Regenbogenfamilien, geschlechtsvariante Kinder und gleichgeschlechtliches Empfinden bei Kindern bzw. Jugendlichen näher eingehen. Doch zuvor nehmen wir einen Blick darauf, in welchem gesellschaftlichen Kontext geschlechtliche und sexuelle Vielfalt stehen.

3. Gesellschaftliche Bewertung von Geschlecht, Geschlechtsidentität und sexueller Orientierung

Geschlecht, Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung werden in unserer Gesellschaft auf eine bestimmter Art und Weise wahrgenommen und bewertet, die in der sozialwissenschaftlichen Debatte „heteronormativ“ genannt wird. Der Begriff Heteronormativität steht für die Annahme, es gebe nur zwei Geschlechter und diese zwei Geschlechter seien eindeutig, klar unterscheidbar und unveränderbar. Daher erscheinen in der heteronormativen Geschlechterordnung intergeschlechtliche und transgeschlechtliche Menschen als Problemfälle, denn sie verkörpern Uneindeutigkeit und Veränderbarkeit von Geschlecht. Weiter stehen die beiden Geschlechter in einem hierarchischen Verhältnis zueinander: Männlichkeit wird höher bewertet als Weiblichkeit. Und schließlich sieht die heteronormative Geschlechterordnung Begehren nur zwischen den Geschlechtergruppen, nicht innerhalb von ihnen vor: Heterosexualität gilt als natürlich und normal. Daher erscheint gleichgeschlechtliche Liebe in dieser Sicht als Problemfall. Unsere Wahrnehmung von Geschlecht, Geschlechtsidentität und sexueller Orientierung ist geprägt von der vorherrschenden heteronormativen Sichtweise. Dies müssen wir im Blick behalten, wenn wir uns mit Regenbogenfamilien, geschlechtsvarianten Kindern und gleichgeschlechtlichem Empfinden beschäftigen.

4. Kinder aus Regenbogenfamilien

Regenbogenfamilien werden häufig von ihrer sozialen Umwelt nicht als gleichwertige Familienform akzeptiert und eher mit einer Defizitperspektive betrachtet. Dies äußert sich z.B. in Annahmen wie den Kindern fehle etwas oder sie hätten Schwierigkeiten damit, klare Vorstellungen von Geschlechterrollen zu entwickeln. Solchen Hypothesen liegt ein heteronormatives Verständnis von Familie zugrunde. Die Furcht um das Wohl des Kindes begründet sich maßgeblich aus der Grundannahme, dass Kinder für ihre gesunde Entwicklung eine Mutter und einen Vater brauchen, die zusammenleben. Diese unhinterfragte These disqualifiziert alle Familienmodelle, die dem traditionellen Vater-Mutter-Kind(er)-Konzept nicht entsprechen. Ein gesellschaftliches und pädagogisches Problem ergibt sich dann, wenn die Nicht-Anwesenheit eines Elternteils immer wieder als Defizit vermittelt wird. Dies gilt etwa auch für Kinder, die mit alleinerziehenden Eltern aufwachsen. Regenbogenfamilien sind wiederholt den Vergleichen mit klassischen Familien- und Rollenkonzepten ausgesetzt. Die Kinder kommen regelmäßig in soziale Situationen, in denen sie Auskunft über ihre Familienkonstellation geben sollen oder sich sogar dafür rechtfertigen müssen. Die häufigsten Stigmatisierungs- und Diskriminierungserfahrungen, die Kinder aus Regenbogenfamilien machen, sind Beschimpfungen durch Gleichaltrige, aber auch Androhung von Gewalt, Beschädigung von Eigentum, reale Gewaltanwendung. Eine aktuelle vergleichende Studie (Streib-Brzič, Quadflieg, 2011) belegt, dass Kinder aus Regenbogenfamilien am stärksten darunter leiden, dass ihre Lebenswelt in den pädagogischen Einrichtungen nicht vorkommt. Hier zeigt sich also ein Handlungsbedarf für die Kita, nämlich Kindern ein positives Bild von Familienvielfalt zu vermitteln. Dies ist nicht nur dann sinnvoll, wenn Kinder aus Regenbogenfamilien in der Gruppe sind, sondern für alle Kinder eine Bereicherung, weil sie eine wertschätzende Würdigung aller Familienformen erfahren.

5. Geschlechtsvariante Kinder: Intergeschlechtliche Kinder

Intersexualität bzw. Intergeschlechtlichkeit ist immer noch ein gesellschaftlich tabuisiertes Thema. Diese Tabuisierung haben meist auch Eltern verinnerlicht, die ein intersexuelles Kind bekommen. Deshalb stimmen Eltern auch heutzutage noch kosmetischen Operationen im Säuglings- und Kindesalter zu, die einzig dem Zweck dienen, das uneindeutige biologische Geschlecht des Kind im Sinne einer Zweigeschlechterordnung zu vereindeutigen. In neun von zehn Fällen werden dabei weibliche Körper geformt, da diese Operationen medizinisch einfacher umzusetzen sind. Die geschlechtszuweisenden Operationen erleben Kinder, die diesen Eingriffen ja nicht zugestimmt haben, in der Regel als starke Traumatisierung und lebenslange Belastung. Seit einigen Jahren setzen sich Selbsthilfe- und Selbstvertretungsorganisationen, Menschenrechtsorganisationen und politische Akteur_innen für die Rechte von intersexuellen Menschen ein. So fordert z. B. der Europarat in einer aktuellen Resolution vom Oktober 2013 seine 47 Mitgliedsstaaten auf, „sicherzustellen, dass niemand in der Kindheit unnötiger medizinischer oder chirurgischer Behandlung ausgesetzt wird, die kosmetisch statt gesundheitlich lebenswichtig ist; die körperliche Unversehrtheit, Autonomie und Selbstbestimmung der betroffenen Personen zu garantieren; und Familien mit intergeschlechtlichen Kindern mit angemessener Beratung und Unterstützung zu versorgen.” (Europarat, 2013) Schon jetzt gibt es intergeschlechtliche Kinder in den Kitas, die - wenn wir an die traumatisierenden Operationserfahrungen denken - vor allem einen geschützten Rahmen brauchen. Die aktuelle Veränderung des Personenstandsgesetzes (Gesetz zur Änderung personenstandsrechtlicher Vorschriften, 2013) sieht vor, dass ab November 2013 bei intersexuellen Kindern kein Geschlechtseintrag mehr erfolgt. Künftig werden wir wohl öfter mit aufgeklärten Eltern zu tun haben, die ein Kind „ohne Geschlecht“ in der Kita anmelden und eine Erziehungsumgebung wünschen, die Raum für eine selbstbestimmte Entwicklung von Kindern lässt, die sich gleichzeitig als Mädchen und Jungen oder weder als Jungen noch als Mädchen verstehen.

6. Geschlechtsvariante Kinder: Transidente Kinder

Menschen werden als transident bzw. transgeschlechtlich beschrieben, wenn ihre Geschlechtsidentität – als die innere Gewissheit, weiblich oder männlich zu sein – nicht in Übereinstimmung mit ihrem biologischen Geschlecht ist: Transfrauen sind Frauen mit einer weiblichen Geschlechtsidentität, die mit einem männlichen Körper geboren werden; Transmänner erleben ihren weiblichen Körper als nicht zu ihrer männlichen Geschlechtsidentität stimmig. Transgeschlechtlichkeit tritt nicht erst im Erwachsenenalter auf, sondern bei manchen Menschen schon in ihrer Kindheit. Dann sagen z. B. Kinder, die von allen als Mädchen gesehen werden, sehr deutlich: „Ich bin kein Mädchen, ich bin ein Junge. Ich heiße nicht Marie, ich heiße Marius:“ In einer groß angelegten australischen Studie (Hilier, 2010) sagten 20 % der befragten Jugendlichen, die ihre eigene Geschlechtsidentität hinterfragten, sie hätten „schon immer“ von ihrem diesbezüglichen Anderssein gewusst. Sie hatten also schon in ihrer frühen Kindheit - und damit im Kita-Alter - ein Wissen darum, dass ihr biologisches Geschlecht nicht zu ihrem psychischen Geschlecht passte.

Transidentität bei Kindern löst viele Fragen und oft große Unsicherheit bei Eltern und Erzieher_innen aus, deshalb sind Sachinformationen hier besonders wichtig. Transidentität ist keine Frage der Wahl oder der Erziehung. Weil es sich um einen autonomen innerpsychischen Prozess handelt, kann auch niemand von außen ein Kind transident machen oder ihm dies einreden. Kinder suchen sich also nicht aus, transident zu werden, und Eltern oder Erzieher_innen haben nichts falsch gemacht, wenn ein Kind sich entsprechend äußert. Niemand kann die Geschlechtsidentität eines Kindes ändern, vielmehr wird in der aktuellen Fachliteratur (Brill, Pepper 2011) empfohlen, transidente Kinder in ihrer Geschlechtsidentität ernst zu nehmen, ihre Aussagen zu respektieren und sie in der Auseinandersetzung mit ihren Identitätsfragen zu unterstützen. Anpassungsdruck an vorherrschende Geschlechternormen schadet der Entwicklung transidenter Kinder, eine sensible Begleitung und Schutz vor Anfeindungen sind hilfreich für sie.

7. Geschlechtsvariante Kinder: Kinder, die sich nicht geschlechtsrollenkonform verhalten

Die Welt ist voll von blau und rosa gefärbten vergeschlechtlichten Botschaften. Mädchen und Jungen lernen schon von klein auf, welche Farben, Spielzeuge und Aktivitäten angeblich zu ihrem Geschlecht passen und welche nicht. Kinder, die sich nicht rollenkonform kleiden oder verhalten, werden oft schon sehr früh und zum Teil massiv in ihrem Ausdruck oder Verhalten in Grenzen verwiesen. Solche Einschränkungen wirken sich negativ auf die Persönlichkeitsentwicklung aus. Auf die Gefahren von Heteronormativität für Kinder weist auch die UNESCO in einem Bericht vom Juli 2011(UNESCO, 2011) hin und beklagt, dass "oft schon auf dem Spielplatz der Grundschule Jungen, die von anderen für zu feminin und unmännlich gehalten werden, oder junge Mädchen, die als Tomboys [‚jungenhafte‘ Mädchen] gelten, Hänseleien aushalten müssen und manchmal aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbilds und Verhaltens die ersten Prügel bekommen, weil ihre Erscheinung und ihr Verhalten als Bruch mit der heteronormativen Geschlechtsidentität empfunden werden.“ Für die Kita geht es im Sinn der geschlechtsbewussten Pädagogik darum, Kindern Freiräume zu schaffen und ihre individuellen Interessen und Fähigkeiten jenseits von Geschlechterklischees zu fördern.

8. Kinder, die sich lesbisch, schwul oder bisexuell identifizieren bzw. identifizieren werden

Etwa 10% aller Jugendlichen haben gleichgeschlechtliche Empfindungen. In der schon zuvor zitierten australischen Studie (Hillier, 2010) gaben mehr als 3000 lesbische, schwule und bisexuellen Jugendliche („same sex attracted“) im Alter von 14 bis 21 Jahren Auskunft über das Lebensalter, in dem sie feststellten, dass ihre Empfindungen sich von denen der meisten anderen Menschen in ihrem Umfeld unterscheiden. 10% der Jugendlichen mit gleichgeschlechtlichen Gefühlen geben an, dies „schon immer“ gewusst zu haben. Im Kindergarten haben diese Kinder sicherlich noch keine Worte und Erklärungen für ihre Gefühle, die Gefühle sind aber eine Lebensrealität, an die sie sich später erinnern. Bis zum Alter von 10 Jahren wussten insgesamt schon 26%, bis 13 Jahre insgesamt 60% und bis zum Alter von 15 Jahren bereits 85% der befragten Jugendlichen um ihre gleichgeschlechtlichen Empfindungen. Aus Angst vor Ablehnung und Ausgrenzung geben Kinder und Jugendliche sich in aller Regel nicht als lesbisch, schwul oder bisexuell zu erkennen, sondern verschweigen diesen elementaren Aspekt ihrer Identität. Für Kinder mit gleichgeschlechtlichen Empfindungen ist es wichtig, in der Kita Erfahrungen mit einer positiven Bewertung gleichgeschlechtlicher Liebe und Partnerschaft sammeln zu können, damit der allgegenwärtigen Abwertung, die sich vor allem in Schimpfworten äußert, etwas entgegengesetzt wird.

9. Vielfalt fördern von klein auf

Kinder machen schon früh im Leben Erfahrungen von Einschluss und Ausschluss, sehr häufig im Zusammenhang mit sozialen Gruppenzugehörigkeiten und den eingangs geschilderten Vielfaltsdimensionen. Für Kindertageseinrichtungen braucht es deshalb von Anfang an eine inklusive pädagogische Praxis, die Ausgrenzungen wahrnimmt und ihnen entgegentritt und die gleichzeitig Vielfalt wertschätzt und fördert. Eine wertschätzende und auf Gleichwertigkeit fußende Thematisierung von vielfältigen Familienformen, Lebensweisen, Geschlechterrollen und Identitäten tut allen gut: Durch eine frühe positive Vermittlung von unterschiedlichen Lebenswelten bekommen Kinder von klein auf die Chance, einen sicheren Umgang mit sozialer Vielfalt zu erlernen und damit gut auf das Leben in einer sich immer weiter ausdifferenzierenden Welt vorbereitet zu sein.

10. Literaturverzeichnis

Brill, Stephanie; Pepper, Rachel (2011): Wenn Kinder anders fühlen - Identität im anderen Geschlecht. Ein Ratgeber für Eltern.

Europarat, Parlamentarische Versammlung, Resolution 1952 (2013) „Das Recht der Kinder auf körperliche Unversehrtheit“.

Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (Hrsg. der deutschsprachigen Augabe) (2006): Index für Inklusion (Tageseinrichtungen für Kinder).

Gesetz zur Änderung personenstandsrechtlicher Vorschriften (Personenstandsrechts-Änderungsgesetz – PStRÄndG vom 7. Mai 2013, am 1. November 2013 in Kraft getreten).

Gesetz zur Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und Kindertagespflege (Kindertagesförderungsgesetz für Berlin - KitaFöG vom 23. Juni 2005).

Hillier, L. e. a., Australian Research Centre in Sex, Health and Society, La Trobe University (2010): Writing Themselves In 3. The third national study on sexual health and wellbeing of same sex attracted and gender questioning young people.

Prengel, Annedore (2010): Inklusion in der Frühpädagogik. Bildungstheoretische, empirische und pädagogische Grundlagen. Expertise für die WIFF im Deutschen Jugendinstitut München.

Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport [Berlin] (Hrsg.) (2004): Das Berliner Bildungsprogramm für die Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern in Tageseinrichtungen bis zu ihrem Schuleintritt.

Streib-Brzič,Uli; Quadflieg, Christiane (Hrsg.) (2011): SCHOOL IS OUT?! Vergleichende Studie „Erfahrungen von Kindern aus Regenbogenfamilien in der Schule“ durchgeführt in Deutschland, Schweden und Slowenien. Teilstudie Deutschland. Berlin: Humboldt-Universität zu Berlin.

Sulzer, Annika; Wagner, Petra (2011): Inklusion in Kindertageseinrichtungen – Qualifikationsanforderungen an die Fachkräfte. Expertise für die WIFF im Deutschen Jugendinstitut München.

UNESCO (1994): Die Salamanca Erklärung und der Aktionsrahmen zur Pädagogik für besondere Bedürfnisse (angenommen von der Weltkonferenz "Pädagogik für besondere Bedürfnisse: Zugang und Qualität", Salamanca, Spanien, 7.-10. Juni 1994).

UNESCO concept note, (July 2011), zitiert in: Vereinte Nationen, Generalversammlung, Menschenrechtsrat, 19. Sitzung, Bericht der Hohen Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte: "Discriminatory laws and practices and acts of violence against individuals based on their sexual orientation and gender identity", A/HRC/19/41, 17. Novemver 2011, Punkt 59: International consultation on homophobic bullying and harassment in educational institutions.

Vereinte Nationen (2006): Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (2006 von der UNO-Generalversammlung in New York verabschiedet und 2008 in Kraft getreten).

11. Filmmaterial

Video: mit Filmtitel "Vielfalt fördern- von klein
 auf"
[Anmerkung der bidok-Redaktion: das Video ist verfügbar unter

https://youtu.be/62oxV7UIFVY]

12. Materialien

http://www.queerformat.de/fileadmin/user_upload/news/Begleitmaterial_Kita-Koffer.pdf.

Die Bildungsinitiative Queerformat ist eine gemeinschaftliche Initiative der Berliner Bildungsträger KomBi (Kommunikation und Bildung) und ABqueer (Aufklärung und Beratung zu queeren Lebensweisen). Sie setzt seit 2010 in öffentlichem Auftrag den Berliner „Aktionsplan gegen Homophobie“ in Kinder- und Jugendhilfe sowie Schule um. Mit diesem vom Abgeordnetenhaus beschlossenen Aktionsplan soll Homophobie und Transphobie im Land Berlin aktiv entgegengetreten werden. Der Schwerpunkt des Aktionsplans liegt darauf, Bildung und Aufklärung in Schule und Jugendhilfe zu stärken. Im Bereich Schule ist die Bildungsinitiative von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft beauftragt, im Bereich Kinder- und Jugendhilfe vom Sozialpädagogischen Fortbildungsinstitut Berlin-Brandenburg (SFBB).

Die Bildungsinitiative Queerformat führt Informationsveranstaltungen für Leitungskräfte und Fortbildungen für Schulen, Kindertagesstätten, Jugendämter und Freie Träger der Kinder- und Jugendhilfe durch. Die Bildungsinitiative entwickelt außerdem pädagogische Materialien zu den Themenschwerpunkten geschlechtliche und sexuelle Vielfalt.

Quelle

Stephanie Nordt, Thomas Kugler: Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt im Kontext von frühkindlicher Inklusionspädagogik. Erschienen in: Zeitschrift für Inklusion, Ausgabe 02/2014

Orginalbeitrag Erschienen in: Sozialpädagogisches Fortbildungsinstitut Berlin-Brandenburg und Bildungsinitiative QUEERFORMAT (Hrsg.): Vielfalt fördern von klein auf. Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt als Themen frühkindlicher Inklusionspädagogik, Berlin 2014, S. 12-17. http://www.queerformat.de/fileadmin/user_upload/news/Fachtagsdoku_WEB.pdf.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 09.02.2018

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