Die UN-Konvention zu den Rechten Behinderter - ein Prüfstein für den zukünftigen Umgang mit Menschen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung

Autor:in - Michael Wunder
Themenbereiche: Recht
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: Zeitschrift für Inklusion, Ausgabe 02/2009 Zeitschrift für Inklusion (02/2009)
Copyright: © Michael Wunder 2009

Die UN-Konvention zu den Rechten Behinderter - ein Prüfstein für den zukünftigen Umgang mit Menschen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung

Im Dezember 2006 hat die UN Generalversammlung nach langer Vorarbeit die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung [1] verabschiedet. 2008 hat der Deutsche Bundestag diese Konvention ohne Vorbehalt ratifiziert. Damit gehen die Regelungen der Konvention in nationales Recht über, bzw. müssen deutsche Gesetze der Konvention angepasst werden. Die Konvention stellt eine große Herausforderung dar, wenn man die gesellschaftliche Praxis im Umgang mit Menschen mit Behinderung mit den Normen und konkreten festgeschriebenen Rechten der Konvention vergleicht.  Was sind die Grundprinzipien der Konvention? Wo bestehen die größten Dissonanzen zwischen  Konvention und Realität? Was muss getan werden, damit die Konvention nicht zum bloßen Papier verkommt?

Die UN - Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungmarkiert den endgültigen Wechsel vom medizinischen Modell der Behinderung zu einem sozialen Modell der Behinderung. Sie stellt den betroffenen Menschen mit seinen Willen und seinen Wünschen in den Mittelpunkt und macht sein Wohl zum Maßstab aller Unterstützung für ein selbstbestimmtes Leben unter Berücksichtigung der individuellen Fähigkeiten und Eigenschaften des Einzelnen.

Die Konvention fordert grundsätzlich die Abkehr vom stellvertretenden Handeln (substituted decision, substituted activity) zu einer Unterstützung bei der Ausübung der eigenen Rechts- und Handlungsfähigkeit (supported decision, supported activity) und benennt im allgemeinen Teil der Konzeption die essentiellen und Sinn gebenden 8 Prinzipien

  • Respekt vor der Würde und individuellen Autonomie, einschließlich der Freiheit, selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen

  • Nicht-Diskriminierung

  • Inklusion im Sinne eines vorbehaltlosen Eingeschlossensein in die Gesellschaft  und Partizipation im Sinne einer effektiven Teilhabe an der Gesellschaft

  • Achtung vor der Differenz und Akzeptanz von Menschen mit Behinderungen als Teil der menschlichen Verschiedenheit und Humanität

  • Chancengleichheit

  • Barrierefreiheit

  • Gleichheit zwischen Männern und Frauen

  • Respekt vor den sich entwickelnden Fähigkeiten von Kindern mit Behinderungen und Achtung ihres Recht auf Wahrung ihrer Identität

Ein Grundgedanke der Konvention ist, wie es in Artikel 1 heißt, "den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderung zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und durch Achtung der Ihnen innewohnenden Würde zu fördern." Die Konvention folgt damit dem Rechtsgedanken, der auch den Konventionen zu den Frauenrechten und den Kinderrechten zugrunde liegt. Diese enthalten keine Sonderrechte für diese Gruppen. Insofern ist auch die Behindertenrechtskonvention keine Konvention der Sonderrechte für Menschen mit Behinderung. Sie konkretisiert und präzisiert vielmehr den allgemeinen Menschenrechtsschutz für die Gruppe der Menschen mit Behinderung, weil diese in besonderer Weise Schwierigkeiten beim Zugang zu diesen Grundrechten haben und Gefährdungen ausgesetzt sind.

Rechtsphilosophisch ist dabei hervorzuheben, dass die Konvention eine enge Verquickung von Freiheitsrechten und Sozialrechten vornimmt. Sie zieht damit die Lehren aus den reinen Proklamationen der Freiheitsrechte, durch die allein Menschen, die in marginalisierten Positionen und schwach, abhängig oder weit weg von den gesellschaftlichen Ressourcen sind, ihren Anspruch auf Menschenwürde nicht verwirklichen zu können.

Die Konvention folgt dem Gedanken, dass Menschenwürdeerst wirksam wird, wenndie individualethisch begründeten Freiheitsrechte ("autonomy-rights") auf Selbstbestimmung, auf Persönlichkeitsentfaltung, auf Individualität, auf Meinungsfreiheit und auf Schutz vor Diskriminierung und vor Eingriffen des Staates verbunden werden mit sozialethisch begründeten Schutzrechten ("care-rights") auf Sicherung der leiblichen und sozialen Bedingungen eines Lebens mitten in der Gesellschaft, auf angemessene Behandlung von Krankheit und angemessenen Umgang bei Hilfebedürftigkeit.

Erst eine durch Sozialrechte abgesicherte materielle Grundlage für ein selbstbestimmtes und unabhängiges Leben ist die Voraussetzung dafür, damit Freiheitsrechte überhaupt wirksam werden können.

Ein zweiter Grundgedanke der Konvention ist, der Behinderungsdefinition der WHO von 2001 folgend, dass Menschen mit körperlichen, seelischen, geistigen und Sinnesschädigungen von verschiedenen gesellschaftlich bedingten Faktoren daran gehindert werden können, gleichberechtigt mit Anderen, uneingeschränkt und selbstwirksam an der Gesellschaft teilzuhaben. Auf der Basis dieses Grundgedankens formuliert die Konvention die Aufgabe der staatlichen Gesetzgebung, diesen einschränkenden Faktoren in der Gesellschaft entgegenzuwirken.

Folgende Artikel sind besonders hervorzuheben:

Artikel V, Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung

Dieser Artikel fordert die nationale Gesetzgebung auf, Menschen mit Behinderung vor Diskriminierung zu schützen und die Gleichbehandlung, beispielsweise im Arbeitsleben, zwingend vorzuschreiben.

Artikel VIII, Bewusstseinsbildung:

Die Staaten werden aufgefordert, Maßnahmen zur Bekämpfung von Vorurteilen, Stereotypien und schädlichen Praktiken gegenüber Menschen mit Behinderung zu ergreifen, insbesondere Kampagnen zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit und zur respektvollen Einstellung gegenüber Menschen mit Behinderung.

Artikel IX, Barrierefreiheit:

Hierunter fasst die Konvention alle Maßnahmen zum gleichberechtigten Zugang zur physischen Umgebung (Transportmittel, Gebäude usw.) und zur virtuellen Umgebung (Informationssysteme, Kommunikation usw.) auf.

Artikel XII, gleichberechtigte Anerkennung als rechtsfähige Person

Die Konvention erkennt Menschen mit Behinderung als gleichberechtigte Rechtsubjekte mit voller Rechts- und Handlungsfähigkeit wie alle anderen Menschen auch (im englischen Original: legal capacity) an.  Welche Auswirkungen ´dies auf die deutsche Gesetzgebung und Rechtspraxis bezüglich der Aberkennung der Geschäftsfähigkeit und der Praxis des Einwilligungsvorbehalts im Betreuungsrecht hat, wird weiter unten ausgeführt.

Artikel XIII, gleichberechtigter Zugang zur Justiz

Hierunter wird insbesondere die Zugänglichkeit zur Justiz auch für schwer behinderte Menschen verstanden, die durch die Bereitstellung entsprechender Assistenz (Verfahrenspfleger) zu gewährleisten ist.

Artikel XIV, Freiheit von Folter, erniedrigender Behandlung oder Strafe

Hierunter fasst die Konvention nicht nur den gesetzlich festzuschreibenden Ausschluss wissenschaftlich medizinischer Versuche ohne Zustimmung (fremdnützige Forschung), sondern auch den Ausschluss der zwangsweisen Unterbringung, wenn diese mit dem Vorliegen einer Behinderung oder psychischen Erkrankung begründet wird. Auch hierzu gehen ähnlich wie bei Artikel XII die Meinungen über die Vereinbarkeit mit der deutschen Gesetzgebung und Rechtspraxis auseinander, worauf ebenfalls weiter unten genauer Bezug genommen wird.

Artikel XIX, unabhängige Lebensführung und Teilhabe an der Gesellschaft

Hierunter fasst die Konvention u.a. die freie Wahl des Wohnsitzes, die freie Wahl der jeweiligen Wohnform, aber auch die freie Wahl der Unterstützungsleistungen und den ungehinderten Zugang zu gemeindenahen Unterstützungsdiensten und kommunalen Dienstleistungen.

Artikel XX, persönliche Mobilität

Hierunter versteht die Konvention die Bereitstellung voller Mobilität zu erschwinglichen Preisen für alle Menschen mit Behinderung, die Ermöglichung ihrer Teilnahme am öffentlichen Verkehr, statt die Einrichtung von Sonderbeförderungsmitteln, wie Behindertentaxis. Die nationalen Regierungen werden aufgefordert, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.

Artikel XXII, Achtung der Privatsphäre

Hier zählt die Konvention alle geltenden Grundrechte auf Privatleben, auf Wahrung des Briefgeheimnisses, auf Wahrung der Vertraulichkeit von Personendaten, insbesondere gesundheits- und rehabilitionsbezogenen Informationen.

Artikel XXIII, Achtung vor Heim und Familie

In diesem Artikel werden Menschen mit Behinderungen als gleichberechtigte Bürger bezüglich Familienplanung und Realisierung eines Kinderwunsches anerkannt. Der Artikel schließt eindeutig restriktive Gesetzgebungen oder einschränkende Rechtspraxis zur Partnerschaftsgründung und zur Eheschließung von Menschen mit Behinderung aus. Auch Maßnahmen zur Einschränkung der Fruchtbarkeit ohne persönliche Zustimmung und der Realisierung des Kinderwunsches für Paare mit Behinderung (z.B. durch Sterilisation) werden ausgeschlossen.

Artikel XXIV, Bildung

Die Konvention fordert die nationalen Staaten auf, den gleichberechtigten Zugang aller Schüler und Schülerinnen zu integrativen Schulen des Grundschulniveaus und der Sekundarstufe zu realisieren. Spezifische Fördermaßnahmen im Rahmen von Integrationsschulen sind damit nicht ausgeschlossen, wohl aber eigenständige Institutionen zur schulischen Bildung (Sonderschulen), die sich nur auf Menschen mit Behinderung beziehen.

Artikel XXV, Gesundheit

Auch hier betont die Konvention den Gleichbehandlungsaspekt und fordert die Staaten auf, den gleichberechtigten Zugang zu allen gesundheitlichen Dienstleistungen zu gewährleisten und Diskriminierungen in der Kranken- und Lebensversicherung auszuschließen.

Artikel XXVII, Arbeit und Beschäftigung

Die Konvention geht hier von den gleichen Rechten auf Arbeit für Menschen mit Behinderung wie für Menschen ohne Behinderung aus. Besonders betont wird das Recht, den eigenen Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen und einen Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt zu erhalten, der zugänglich ist und den Anforderungen an die jeweilige Person entspricht.

Artikel XXVIII, angemessener Lebensstandard und sozialer Schutz

Die Konvention fordert die nationalen Staaten auf, das Recht auf angemessene soziale Sicherung für Menschen mit Behinderung zu gewährleisten, ausreichender Ernährung, Bekleidung und Wohnung. Behinderung und Armut, was in vielen, insbesondere osteuropäischen Ländern eine unauflösliche Einheit bildet, soll damit verhindert werden.

Artikel XXIX, Teilnahme am politischen und öffentlichen Leben

Die Konvention fordert hier u.a. das politische Wahlrecht aller Menschen mit Behinderung.

Artikel XXX, Teilhabe am kulturellen Leben, sowie an Erholung, Freizeit und Sport

Die Konvention fordert die Zugänglichkeit aller kulturellen und sportlichen Veranstaltungen und Aktivitäten für Menschen mit Behinderung ein und fordert die Staaten auf, dies zu gewährleisten.

Besondere Herausforderungen der Konvention: für die Fragen der Geschäftsfähigkeit und der Zwangsmaßnahmen [2]

In Artikel 12 der Konvention wird den Menschen mit Behinderung ohne Einschränkung die volle Rechtsfähigkeit und volle Handlungsfähigkeit zuerkannt. Handlungsfähigkeit bedeutet nach herrschender Meinung Geschäftsfähigkeit, Deliktsfähigkeit und Verantwortlichkeit für die Verletzung von Verbindlichkeiten.

In der Denkschrift der Bundesregierung, die dem Ratifizierungsgesetz als Erläuterung angehängt wurde, aber nicht Teil des Gesetzes ist, heißt es, dass die Rechtsfähigkeit und Handlungsfähigkeit für Menschen mit und ohne Behinderung prinzipiell gelte, dass es aber Menschen gebe, die "wegen fehlender Willens- und Einsichtsfähigkeit in ihrer Handlungsfähigkeit beschränkt" seien. Verwiesen wird damit auf die bisherige Rechtslage zur Geschäftsfähigkeit (§104, ff BGB[3]), die die Antizipationsfähigkeit der Folgenabschätzung des eigene Handelns voraussetzt.

Die Vereinbarkeit dieser Bedingung mit der Konvention muss allerdings bezweifelt werden. Vielmehr kann die Anordnung stellvertretender Interessenvertretung mit der Konvention nur begründet werden

  • wenn der Betroffene seinen Willen nicht bilden und / oder kundtun kann (z.B. Wachkoma) oder

  • wenn das Unterlassen der Anordnung der stellvertretenden Interessenvertretung eine konkrete Menschenrechtsverletzung bewirken würde, die an anderer Stelle der Konvention geschützt ist (Schutz der Unversehrtheit der Person).

Daraus ergeben sich Konsequenzen zum einen für die Bestimmung des Wohls und zum anderen für die Praxis und die Zulässigkeit des Einwilligungsvorbehalts.

Als Konsequenzen für § 1901 BGB ergeben sich:

  • Die Bestimmung des Wohls muss noch eindeutiger als bisher an die Verwirklichung der Selbstbestimmung gebunden werden, wobei es nicht nur um die Beachtung des natürlichen Willens, sondern stets auch um die Anbahnung einer Willensbildung gehen sollte. Die Diskussion würde damit Teile der Reformdiskussion Anfang der 90er Jahre wieder aufnehmen.

  • Die ersetzende Wohl-Bestimmung sollte nur dann ermöglicht werden, wenn eine Unterlassung der stellvertretenden Interessenvertretung eine konkrete Menschenrechtsverletzung bewirken würde, die an anderer Stelle der Konvention geschützt ist.

Als Konsequenzen für § 1903 BGB ergeben sich: 

  • Die Rechtspraxis sollte kritisch überprüft werden. Einwilligungsvorbehalte werden regional sehr unterschiedlich und vermutlich viel zu häufig angeordnet.

  • Die restriktiven Vorschriften zur Notwendigkeit einer gerichtlichen Anordnung und zur Feststellung, auf was sich Einwilligungsvorbehalte nicht beziehen dürfen (§ 1903, Abs. 2), sollten beibehalten werden.

  • Der Gesetzgeber sollte bestehende Widerrufsrechte bei so genannten Haustür- und Internetgeschäften zu einem grundsätzliches Widerrufsrecht weiterentwickeln, das jedem Menschen eingeräumt werden kann, wenn das Geschäft zu einer erheblichen Gefahr für die Person oder das Vermögen des Betroffenen führt. Damit würde die Notwendigkeit eines Großteils der Einwilligungsvorbehalte wegfallen können.

Als Konsequenz für das Betreuungsrecht insgesamt wäre eine Änderung des Grundverständnisses der gesetzlichen Betreuung von einer Rechtsvertretung (die nur noch in begründeten Ausnahmefällen möglich sein sollte) zu einer Rechtsunterstützung wünschenswert, was sich auch in der Gesetzgebung niederschlagen sollte.

Die zentrale Aussage von Artikel 14 ist, dass das Vorliegen einer Behinderung in keinem Fall eine Freiheitsentziehung rechtfertige.

In der Denkschrift der Bundesregierung heißt es dazu, "ein Freiheitsentzug (ist) allein aufgrund des Vorliegens einer Behinderung in keinem Fall gerechtfertigt." Die UN-Konvention lässt aber eine Behinderung weder als Mitbedingung noch als Teilbegründung einer freiheitsentziehenden Maßnahme zu. Vielmehr verlangt die Konvention ein finales Denken, also den Bezug auf das tatsächliche und nachweisliche Verhalten und seine Konsequenzen im individuellen Fall, statt einem kausalen Denken, bei dem die Gefährdung als Folge einer Erkrankung oder Behinderung gesehen und bewertet wird.

Als Konsequenzen für die Zwangsunterbringung lassen sich formulieren: Die Psych-KG's[4] der Länder und das Betreuungsrecht § 1906, BGB, Abs. 1, Satz 1 stehen dann im Einklang mit der UN-Konvention, sofern hier eine Unterbringung ausschließlich final mit der tatsächlichen (nicht gemutmaßten) Selbst- oder Fremdgefährdung begründet wird, also konsequentialistisch statt kausal. Dies und die darauf aufbauende Rechtspraxis wären aber genauer zu untersuchen.

Unterbringungsbegründungen, wie eine Selbstgefährdung, die anders nicht abgewendet werden kann, oder der Verlust der Eigensorge, wären mit der UN-Konvention vereinbar. Gründe wie ausgeprägter Rückzug, Verfolgungszustände oder Gefahr der Chronifizierung (bei Ersterkrankung) wären unvereinbar. Inwieweit eine solche Bewertung wünschenswerte Praxisänderungen zur Folge haben würde, ist sicherlich fraglich.

Die Zwangsbehandlung der Anlasserkrankung (wie in den meisten Psych-KGs vorgesehen) und die Unterbringung zur Heilbehandlung (§1906 BGB, 1,2), die beide eindeutig mit einem für nicht authentisch gehaltenen oder krankhaft beeinflussten und deshalb nicht ernsthaft zu beachtenden Willen begründet werden, sind sicherlich mit der Konvention nicht vereinbar.

Die Konvention verwirft eindeutig die paternalistische Position, dass Menschen zu ihrem eigenen Vorteil auch gegen ihren Willen behandelt werden müssen. Von der Konvention wird vielmehr die Autonomieposition nahegelegt. Diese könnte lauten: Menschen dürfen nur freiwillig behandelt werden, weil auch nur dann eine Behandlung tatsächlich wirksam  ist. Verweigern sie eine Behandlung, auch wenn der Grund dafür in einer Beeinflussung aufgrund psychischer Beeinträchtigung liegt, dürfen sie dennoch nicht zwangsweise behandelt werden. Die Rechtserheblichkeit des Willens darf nicht auf Grund einer behinderungsbedingten oder krankheitsbedingten Beeinflussung des Willens in Frage gestellt werden.

Diese griffige und sicherlich mit der Haltung vieler psychiatriekritischer Kräfte übereinstimmende Position ist aber schwierig durchzuhalten und führt zu erheblichen Widersprüchen, wenn man beispielsweise auf das Gebiet Suizid und freier Wille schaut.

Hier kann es als Konsens gelten, dass Suizidhandlungen, die frei verantwortlich (d.h. ohne fremde Beeinflussung, ohne psychische Beeinträchtigung und für Dritte nachvollziehbar) durchgeführt worden sind, die nachträgliche Rettungspflicht der Personen in Garantenstellung und die Hilfeverpflichtung anderer Personen einschränken. Der Wille des Betroffenen wird hier somit eindeutig vor dem Hintergrund gesund - krank bewertet.

Auch umgekehrt kann als Konsens gelten, dass für Personen, die unter dem krankhaften Einfluss einer Depression eine Suizidhandlung begangen haben, diese Ausnahme nicht gilt und auf jeden Fall die Lebensrettungspflicht der Garanten und die Hilfeverpflichtung anderer Personen besteht.

Im Falle der Suizidprophylaxe, bzw. der Lebensrettungsverpflichtung kommt es also nicht auf die finalen Folgen der Handlung an, sondern auf die jeweiligen kausalen Motive und Hintergründe des Willens und die Bewertung seiner Freiverantwortlichkeit bzw. krankhaften Beeinflussung.

Schlussfolgerungen:

Die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung stellt ein enorm großes Potential für anstehende Veränderungs- und Innovationsprozesse im Bereich des Umgangs mit Menschen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung in der Gesellschaft dar. Eine Reihe wichtiger Schlussfolgerungen und ein ganzes Programm von Aktivitäten lässt sich daraus ableiten, denkt man nur an die Artikel zum Recht auf den Besuch eine Regelschule, zur freien Wahl der Wohnort oder des Rechts auf Arbeit auf dem Ersten Arbeitsmarkt.

Für den neuralgischen Bereich der Zwangsmaßnahmen ergeben sich nach bisheriger Einschätzung mindestens folgende drei Gesichtspunkte:

1. Es muss alles getan werden, um die Notwendigkeit von Zwangsmaßnahmen einzuschränken und zu verhindern

Dazu gehören Maßnahmen wie

  • die Reorganisation sozialpsychiatrischer Netzwerkarbeit in den Regionen, wo diese durch Sparmaßnahmen und Administration in den letzten Jahren abgebaut wurden,

  • der breite Einsatz von Behandlungsvereinbarungen, wie sie von Psychiatriebetroffenen vertreten werden,

  • Programme zur Reduzierung von Fixierungen,

  • die Prüfung, ob das österreichischen Modells der Bewohnervertretung auf Deutschland übertragbar ist

2. Das Betreuungsrecht sollte weiterentwickelt werden

Dabei sollte das Prinzip der Vertretung (substitute) durch das Prinzip der Unterstützung (support) ersetzt werden. Das advokatorische Selbstverständnis (Vertretung im Auftrag) sollte zu einem Assistenzverständnis weiterentwickelt werden. Es sollte geprüft werden, ob in diesem Zusammenhang die Zwangsmaßahmen gem. § 1906 BGB aus Betreuungsgesetz herausgenommen werden sollten (dafür könnte sprechen, die Betreuer von hoheitlichen Aufgaben zu entbinden, dagegen, dass Betreuer auch in einer Assistenzfunktion in Zukunft immer mit diesem Bereich zu tun haben werden, insbesondere wenn es um das Rückgängigmachen von Zwangsmaßnahmen geht).

3. Die Psych-KGs der Länder sollten geändert werden

Dabei sollte das Finalprinzip (Begründung durch das individuelle und tatsächliche Verhalten) Vorrang vor dem Kausalprinzip (Begründung der Zwangsmaßnahme durch die psychische Erkrankung) erhalten. Zwangsunterbringungen dürfen nicht mit einer Behinderung oder psychischer Erkrankung begründet werden, sondern nur mit einer konkreten Menschenrechtsverletzung. Zwangsbehandlungen müssen auf Ausnahmefälle eingeschränkt werden und höchsten juristischen Hürden unterliegen.

Gerade der letzte Punkt zeigt, dass die Diskussion nicht am Ende ist, vielmehr durch die UN-Konvention ein Prozess des Hinterfragens und neuen Nachdenkens angestoßen wird. Auch in diesem Sinne ist die Konvention von höchster Bedeutung.

Quelle:

Michael Wunder: Die UN-Konvention zu den Rechten Behinderter - ein Prüfstein für den zukünftigen Umgang mit Menschen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung

Erschienen in: Zeitschrift für Inklusion, Ausgabe 02/2009

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 12.07.2010



[1] Vgl. Bundestagdrucksache 16 - 10808

[2] Die folgenden Ausführungen stützen sich auf einen Vortrag auf der Tagung "Rechte haben - Rechte verwirklichen" am 15./16.5.2009 in Köln; die juristischen Bewertungen sind zusammen mit John Gelübcke, Vormundschaftrichter in Hamburg, entwickelt, dem ich an dieser Stelle danke.

[3] BGB, Abkürzung für Bürgerliches Gesetzbuch (der Bundesrepublik Deutschland)

[4] Psych-KG's, Psychisch Kranken Gesetze, werden in Deutschland von den Bundesländern erlassen, unterscheiden sich deshalb leicht, regeln unter anderem Zwangseinweisungen

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