Auf dem Weg zu einer inklusiven Hochschule

Themenbereiche: Recht
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: Zeitschrift für Inklusion, Ausgabe 01-02/2014 Zeitschrift für Inklusion (01-02/2014)
Copyright: © Christiane Schindler 2014

Abstract:

Der Beitrag skizziert zunächst die rechtliche Situation für inklusive Bildung im Hochschulbereich. Er benennt die aktuellen Herausforderungen, die sich aus der konkreten Gestaltung des Bachelor-Master-Studiensystems und der Stärkung des Selbstauswahlrechts der Hochschulen für Studierende mit Behinderungen und chronischen Krankheiten ergeben und betrachtet, inwiefern die strukturellen Voraussetzungen für eine chancengleiche Teilhabe der Studierenden mit Beeinträchtigungen an der Hochschule gegeben sind und wie sie wahrgenommen werden.

1. Einleitung

Die UN-Behindertenrechtskonvention hat in Deutschland eine breite öffentliche Debatte um die Bildungssituation von Menschen mit Behinderungen ausgelöst. Diese Debatte fokussiert unter dem Stichwort „Inklusion“ stark auf den Bereich der Schulbildung. Die Hochschulen sind in der Regel nur soweit im Blick, als an ihnen Lehrerinnen und Lehrer für eine inklusive Schulbildung ausgebildet werden und insofern darüber diskutiert wird, wie Inklusion in den pädagogischen Studiengängen gelehrt und gelernt werden kann. So wichtig diese Diskussion um die inklusive Gestaltung von Curricula auch ist: Sie blendet aus, dass Hochschulen vor allem ein Ausbildungsort für junge Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen sind. Nach der 20. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks sind 7% der Studierenden durch eine Behinderung oder chronische Krankheit im Studium beeinträchtigt (Deutsches Studentenwerk 2013a). Es stellt sich die Frage: Wie inklusiv ist das deutsche Hochschulsystem? Haben junge Menschen mit Beeinträchtigungen ohne Diskriminierung und gleichberechtigt Zugang zu allgemeiner Hochschulbildung, wie es die UN-Behindertenrechtskonvention fordert? Unstrittig ist: Die Grundvoraussetzung für eine inklusive Bildung ist im Hochschulbereich wesentlich günstiger als im Schulbereich. Hier gab und gibt es keine separierenden Einrichtungen: Hochschulbildung ist grundsätzlich ein gemeinsamer Prozess für Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen. Gleichwohl gibt es auch hier vielfältige Barrieren, auf die junge Menschen mit Beeinträchtigungen beim Zugang zum Studium und im Studienalltag noch immer treffen.

2. Studierende mit Beeinträchtigungen: vielfältig und nicht sichtbar

Noch dominiert vielfach das Bild vom Rollstuhlfahrer die Sicht auf Behinderung an den Hochschulen. Wie wenig zutreffend dieses Bild ist, belegen die Daten der Online-Befragung „beeinträchtigt studieren“ des Deutschen Studentenwerks. Sie zeigen sehr deutlich, wie vielfältig die Gruppe der Studierenden mit Beeinträchtigungen ist: Nur 12 Prozent der Studierenden mit Beeinträchtigungen fühlen sich aufgrund einer Bewegungs-, Seh- oder Hörbeeinträchtigung im Studium eingeschränkt. Die weitaus größte Zahl dieser Studierenden studiert mit einer psychischen Beeinträchtigung (45 Prozent) oder mit einer chronisch-somatischen Erkrankung (20 Prozent). 6 Prozent der Studierenden mit Beeinträchtigungen weisen eine Teilleistungsstörung auf, wie z.B. Legasthenie. Bei den wenigsten dieser Studierenden ist die Beeinträchtigung unmittelbar wahrnehmbar. Knapp zwei Drittel der Beeinträchtigungen bleiben unbemerkt, wenn die Studierenden nicht selbst darauf hinweisen. Dabei wirken sich nicht-wahrnehmbare Beeinträchtigungen wie chronische Krankheiten oder Teilleistungsstörungen nicht weniger studienerschwerend aus als Bewegungs- oder Sinnesbeeinträchtigungen (vgl. Deutsches Studentenwerk 2012, vgl. Meyer auf der Heyde 2013). Die beeinträchtigungsbedingten Anforderungen an Studium, Hochschule und Studentenwerk können sehr unterschiedlich ausfallen und hängen stark von der Art der Beeinträchtigung ab. Bauliche Barrieren sind nur ein Thema unter vielen. Kommunikative, organisatorische, didaktische und strukturelle Barrieren können sich ebenfalls individuell stark studienerschwerend auswirken. Angesichts der vielfältigen Anforderungen an die Barrierefreiheit im Hochschulbereich sollten beeinträchtigungsbedingte Belange von Studierenden im Sinne eines Disability Mainstreamings bei allen Prozessen und Entscheidungen in den Hochschulen von vornherein mit einbezogen werden.

3. Empfehlungen und rechtliche Regelungen als Impuls und verbindlicher Rahmen für mehr Inklusion in Hochschulen

Bereits das Hochschulrahmengesetz von 1976 verpflichtete die Hochschulen, die besonderen Bedürfnisse behinderter Studierender zu berücksichtigen. Weitere wichtige Wegmarken für die Hochschulen im Bereich Studium und Behinderung waren die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz und der Hochschulrektorenkonferenz von 1982 bzw. 1986 (vgl. Kultusministerkonferenz 1982, vgl. Hochschulrektorenkonferenz 1986). Infolge des Behindertengleichstellungsgesetzes von 2002 wurde das Hochschulrahmengesetz novelliert. Die Hochschulen erhielten den Auftrag dafür zu sorgen, dass „behinderte Studierende in ihrem Studium nicht benachteiligt werden und die Angebote der Hochschulen möglichst ohne fremde Hilfe in Anspruch nehmen können“ (vgl. Hochschulrahmengesetz 2002). Ebenso wurde ein Anspruch auf modifizierte Studien- und Prüfungsbedingungen im Hochschulrahmengesetz verankert (ebenda). Diese Regelungen wurden oft formulierungsgleich in die Hochschulgesetze der Länder übernommen, wodurch die Teilhaberechte Studierender mit Beeinträchtigungen besser abgesichert wurden. Ebenso sieht der Kriterienkatalog zur (System-)Akkreditierung von Studiengängen seit 2008 vor, dass bei der Organisation der Studiengänge und bei Prüfungen die Belange der Studierenden mit Beeinträchtigungen berücksichtigt werden (vgl. Akkreditierungsrat 2013). Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) hat dem Bemühen um mehr Chancengleichheit im Hochschulbereich noch einmal einen deutlichen Schub verliehen. Der Bund und die Mehrzahl der Länder haben sich in Aktionsplänen zur Umsetzung der UN-BRK zu konkreten Maßnahmen verpflichtet, um vorhandene Barrieren im Hochschulbereich abzubauen und mehr Teilhabe zu ermöglichen (vgl. Deutsches Studentenwerk 2013b). Auch erste Hochschulen erarbeiten Aktionspläne zur Umsetzung der UN-BRK. Hochschulverträge oder Ziel- und Leistungsvereinbarungen verpflichten die Hochschulen mit Bezug auf die UN-BRK zunehmend dazu, ihr Engagement für eine inklusive Hochschule zu verstärken (vgl. SBJW 2014). Mit der UN-BRK hat das Thema „Inklusive Bildung“ auch bei den Hochschulen selbst mehr Aufmerksamkeit erhalten. So haben die Mitglieder der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) 2009 die wegweisende Empfehlung zum Studium mit Behinderung „Eine Hochschule für Alle“ angenommen. Diese präzisiert den Auftrag an die Hochschulen, chancengleiche Teilhabe für Studierende mit Beeinträchtigungen zu gewährleisten und benennt die Verantwortung der Hochschulleitungen für diesen Prozess (vgl. Hochschulrektorenkonferenz 2009). Die HRK hat die Umsetzung der Empfehlung 2013 evaluiert (vgl. Hochschulrektorenkonferenz 2013) und damit noch einmal den großen Handlungsbedarf in den Hochschulen sichtbar gemacht. Zu den dringenden Aufgaben gehört aber auch, die hochschulrechtlichen Regelungen der Länder an die Erfordernisse des geänderten Bachelor-Master-Studiensystems und die weitreichenden Anforderungen der UN-BRK anzupassen (vgl. Tolmein 2013).

4. Bologna-Reform birgt neue Barrieren für Studierende mit Beeinträchtigungen

Viele Hochschulen und Studentenwerke haben in den zurückliegenden Jahren in barrierefreie Strukturen investiert und behinderungsspezifische Beratungs- und Unterstützungsangebote aufgebaut. Dadurch haben sich die Studienbedingungen für Studierende mit Beeinträchtigungen verbessert. Dies, so die Bundesarbeitsgemeinschaft Behinderung und Studium „trifft insbesondere für jene mit seit langem als `Behinderung` anerkannten Beeinträchtigungen zu“ (vgl. BAG 2011). Dies seien Studierende mit Beeinträchtigungen des Bewegungs-, Hör- oder Sehvermögens. Von vollständiger Chancengleichheit könne jedoch auch bezogen auf diese Gruppe keine Rede sein, so die Bundesarbeitsgemeinschaft.

Mit der europäischen Studienreform und der damit verbundenen Einführung des zweistufigen Bachelor-Master-Studiensystems sowie der Stärkung des Selbstauswahlrechts der Hochschulen bei der Zulassung sind für Studieninteressierte sowie für Studierende mit Beeinträchtigungen zu den vielfach noch existierenden alten eine Reihe neuer Barrieren hinzugekommen (vgl. Bündnis barrierefreies Studium 2010). Zum einen haben die Hochschulen im Rahmen ihrer erweiterten Rechte bei der Auswahl der Studierenden ergänzend zur Abiturnote weitere Auswahlkriterien, vielfältige Auswahlverfahren und besondere Zugangsvoraussetzungen eingeführt, ohne dass die Belange behinderter oder chronisch kranker Studienbewerber/innen durch die Gestaltung barrierefreier Zulassungsverfahren und die Verankerung angemessener individueller Nachteilsausgleiche ausreichend berücksichtigt werden. Dies kann zu mittelbaren Benachteiligungen für Studienbewerber/innen mit Behinderungen führen. Zum anderen ist die Einführung der gestuften Studiengänge mit gravierenden Veränderungen in den Studienabläufen verbunden. Die Studienordnungen enthalten verbindliche zeitliche und formale Vorgaben, die die Studierenden häufig nicht erfüllen können, weil sie mehr Zeit für die Organisation ihres Studiums und ihres Alltags (z.B. Therapien) benötigen. Nicht selten stehen sie zudem vor der Aufgabe, zusätzlich zu den an alle gestellten Anforderungen und zusätzlich zu der Belastung, die eine Behinderung oder chronische Krankheit individuell oft mit sich bringt, noch die strukturellen Defizite im Hochschulbereich (z.B. fehlender Zugang zu Gebäuden oder Informationen, unzureichende Beratungs- und Unterstützungsangebote, fehlende Sensibilisierung der Lehrenden und unzureichende Ressourcen für eine barrierefreie Hochschullehre) zu kompensieren. Dementsprechend geben zwei Drittel der Studierenden mit Beeinträchtigungen an, Schwierigkeiten mit der hohen Prüfungsdichte, der starren Abfolge von Modulen oder den Anwesenheitspflichten zu haben (vgl. Deutsches Studentenwerk 2012b). Unter den Bedingungen der stark verdichteten Studienabläufe sind mehr Studierende mit Beeinträchtigungen auf Nachteilsausgleiche angewiesen, mit denen die Studien- und Prüfungsvorgaben bedarfsgerecht angepasst werden können. Die Verabredung adäquater Nachteilsausgleiche ist jedoch vielfach mühsam, zeitaufwendig und manchmal nur unzureichend möglich. Lehrenden und Prüfenden fehlen häufig die Kenntnis und die Erfahrungen in der Umsetzung von Nachteilsausgleichen. Hochschulen beklagen zunehmend den hohen studienorganisatorischen Aufwand (z.B. Bedarf an zusätzlichen Räumen und Personal für Prüfungsaufsichten) bei begrenzten Ressourcen. In den vergangenen Jahren haben die Studierenden immer wieder gegen die Umsetzung der Bologna-Reform in Deutschland, gegen die damit einhergehende große Regelungsdichte, die verschulten Studiengängen und hohen Prüfungsbelastungen protestiert. Dadurch wurden Veränderungsprozesse angestoßen, die verstärkt die Studierbarkeit der Studiengänge in den Blick nehmen. Die Diskussion um die Flexibilisierung und Individualisierung des Studiums, der Lernprozesse und Prüfungsformate ist ein Ausdruck dieses Umdenkungsprozesses, der auch für Studierende mit Beeinträchtigungen größere und dringend benötigte Gestaltungsspielräume bei der Organisation des Studiums eröffnen muss.

5. Beratung und Nachteilsausgleiche sind wirksam, aber zu wenig genutzt

Das Recht auf Nachteilausgleich ist in den Hochschulgesetzen der Länder verankert. Wie die Datenerhebung „beeinträchtigt studieren“ zeigt, sind Nachteilsausgleiche ein wirksames Instrument, um beeinträchtigungsbedingte Schwierigkeiten mit zeitlichen oder formalen Vorgaben in Studium und Prüfungen auszugleichen. Je nach individuellem Bedarf kann es sich hierbei zum Beispiel um eine Zeitverlängerung bei Prüfungen, um Aufhebung der Anwesenheitspflicht oder aber auch um die Erstellung eines individuellen Studienplanes handeln. Viele Studierende kennen jedoch dieses Instrument zur Sicherung ihrer Chancengleichheit nicht und wissen nicht, dass sie einen Rechtsanspruch auf Nachteilausgleiche in Studium und Prüfungen haben. Viel zu wenig bekannt sind auch die behinderungsspezifischen Beratungsangebote der Hochschulen und Studentenwerke. Und selbst wenn die Studierenden die Angebote an Beratung und Nachteilsausgleichen kennen, dann nutzen sie sie häufig nicht. Viele wollen sich nicht „outen“ in einer Umgebung, in der Leistungsfähigkeit und Elitedenken eine besondere Rolle spielen. Andere haben Hemmungen, sich an Prüfungsämter und Lehrende zu wenden. Insbesondere Studierende mit psychischen Beeinträchtigungen begründen den Verzicht auf Beratung und Nachteilsausgleiche mit der Angst vor Stigmatisierung und Diskriminierung (vgl. Deutsches Studentenwerk 2012). Der fehlende Ausgleich beeinträchtigungsbedingter Schwierigkeiten hat Folgen: Studierende mit Beeinträchtigungen bleiben länger an der Hochschule als der Durchschnitt der Studierenden. Deutlich mehr Studierende mit studienerschwerenden Beeinträchtigungen unterbrechen ihr Studium und wechseln ihren Studiengang beziehungsweise die Hochschule als Studierende ohne diese Beeinträchtigungen (vgl. Deutsches Studentenwerk 2013a). Neben einer umfassenden Verankerung des Rechts auf Nachteilausgleich in den Studien- und Prüfungsordnungen der Hochschulen müssen die Regelungen und die Verfahren ihrer Umsetzung so transparent und verbindlich gestaltet und zielgruppenorientiert kommuniziert werden, dass Studierende, Lehrende und Prüfende das Instrument selbstverständlich und umfassend nutzen können.

6. Beauftragte für Studierende mit Behinderungen und chronischen Krankheiten: vielfältige Aufgaben und begrenzte Ressourcen

In fast allen Hochschulen gibt es Beauftragte für Studierende mit Behinderungen und chronischen Krankheiten. Sie erfüllen in den Hochschulen eine wichtige Aufgabe: Sie unterstützen einerseits einzelne Studierende darin, erfolgreich zu studieren und bringen andererseits strukturelle Veränderungen in der Hochschule voran, hin zu einer inklusiven Hochschule. Entsprechend misst die Empfehlung der Hochschulrektorenkonferenz zum Studium mit Behinderungen „Eine Hochschule für Alle“ den Beauftragten eine wichtige Mittlerfunktion zwischen den Studierenden und den Hochschulleitungen bei und fordert die volle Unterstützung der Rektorate und Präsidien für ihre Arbeit (vgl. Hochschulrektorenkonferenz 2009). Die Informations- und Beratungsstelle Studium und Behinderung (IBS) des Deutschen Studentenwerks führte 2013 eine Befragung unter den Beauftragten für Studierende mit Behinderungen und chronischen Krankheiten durch. Die Antworten der 161 Beauftragten auf die Befragung geben einen guten Überblick darüber, wie vielfältig die Angebote der Beauftragten zur Unterstützung der Studierenden wie der Lehrenden sind. Sie zeigen aber auch, dass bisher nur ein Drittel der Beauftragten in die Überarbeitung rechtlicher Regelungen oder in die Verfahren zur (Re-)Akkreditierung von Studiengängen und damit aktiv in die Gestaltung barrierefreier Strukturen in den Hochschulen eingebunden sind. Insbesondere die Beauftragten an großen Hochschulen gaben an, dass der Arbeitsaufwand in den letzten drei Jahren erheblich gestiegen und ihre Ressourcenausstattung unzureichend ist (vgl. IBS 2013). Damit Beauftragte den vielfältigen Anforderungen an ihr Amt gerecht werden können, muss dieses in allen Bundesländern gesetzlich verankert und die Arbeit professionalisiert werden. Nur mit genügend zeitlichen, personellen und finanziellen Ressourcen sowie den nötigen Mitwirkungsrechten können sich die Beauftragten rechtzeitig und kontinuierlich in die Hochschulprozesse einbringen und bei der Gestaltung chancengerechter Studienbedingungen mitwirken.

7. Leerstelle barrierefreie Hochschullehre

Die gleichberechtigte Teilhabe der Studierenden mit Behinderungen und chronischen Krankheiten an der Hochschulbildung wird auch deshalb erschwert, weil Lehrende und Prüfende oft nur unzureichend Kenntnis von einer barrierefreien Lehre haben. An einigen Hochschulen gibt es Materialien wie z.B. Leitfäden oder Merkblätter für Lehrende, die diese mit den spezifischen Bedarfen Studierender mit Beeinträchtigung vertraut machen, über angemessene Vorkehrungen (z.B. Nachteilsausgleiche) aufklären und für eine barrierefreie Gestaltung von Lehre und Prüfungen sensibilisieren sollen. Zumeist fehlen jedoch vor Ort Angebote für Hochschullehrende, um sich bei Bedarf zur barrierefreien Gestaltung ihres Lehrangebotes informieren und beraten zu lassen. Erst vereinzelt werden an den Hochschulen Sensibilisierungs- und Weiterbildungsveranstaltungen für Lehrende und Prüfende angeboten. Ebenso fehlen notwendige Ressourcen wie z.B. Umsetzungsdienste zur sehgeschädigtengerechten Adaption von Studienmaterialien. In den Ausschreibungen der Länder zu Programmen oder zu Wettbewerben zur Förderung der Lehre sowie in den Aktivitäten der in diesem Bereich engagierten Verbände und Stiftungen – wie z.B. dem Stifterverband für die deutsche Wissenschaft – spielt Behinderung kaum eine Rolle. Dies gilt auch für die Ausschreibung des von Bund und Ländern geförderten Qualitätspakts Lehre und der in diesem Rahmen durchgeführten Projekte (vgl. Schramme 2012). Hochschuldidaktische Forschung beschäftigt sich bisher nicht mit den Fragen einer barrierefreien Hochschullehre (vgl. Lelgemann, Rothenberg, Schindler 2013). Insofern ist es nicht verwunderlich, wenn zwei von drei Studierenden mit Beeinträchtigungen bemängeln, dass die Lehrenden nicht ausreichend auf ihre Belange eingehen (vgl. Deutsches Studentenwerk 2012). Insofern gehört es zu den vordringlichsten Aufgaben, die an den Hochschulen Tätigen für das Thema „beeinträchtigt studieren“ zu sensibilisieren und zu qualifizieren, wie es auch Artikel 8 der UN-BRK fordert.

8. Studienfinanzierung: dringender Handlungsbedarf

Für viele Studierende mit Behinderungen und chronischen Krankheiten sind die beeinträchtigungsbedingt erhöhten Ausgaben zum Lebensunterhalt z.B. für barrierefreien Wohnraum, Hygieneartikel und Medikamente nicht gedeckt. Lücken gibt es auch bei der Finanzierung der studienbedingten Mehraufwendungen, z.B. für technische Hilfen, Schrift- und Gebärdensprachdolmetscher/innen oder personelle Assistenzen. Die Auslandsmobilität der Studierenden wird oft dadurch eingeschränkt, dass Leistungen der Eingliederungshilfe oder der Kranken- und Pflegeversicherung nicht oder nicht ausreichend zur Verfügung stehen. Die fehlende Kompatibilität der sozialrechtlichen Regelungen mit den Anforderungen des Studiensystems führt häufig zu Verzögerungen im Studium, erschwert den Studienerfolg und verhindert im Einzelfall bereits die Aufnahme eines Studiums. Die Bundesregierung hat den diesbezüglichen Handlungsbedarf sowohl im Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-BRK als auch in ihrer Stellungnahme zum Nationalen Bildungsbericht 2012 anerkannt (vgl. NAP 2011, vgl. Bildungsbericht 2012). Bund, Länder und Sozialleistungsträger stehen in der gemeinsamen Pflicht, für eine diskriminierungsfreie Studienfinanzierung zu sorgen.

9. Schlussbemerkungen

Als erste Hochschule hat die Universität Bremen einen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-BRK verabschiedet (vgl. Aktionsplan 2013). Mit diesem Aktionsplan hat sich die Universität ein Instrument gegeben „zur selbstbestimmten und effektiven Konkretisierung bestehender Rechtspflichten, denen die Universität in jedem Fall gerecht werden muss“ und mit dem sie ihre Bemühungen um den Inklusionsprozess auf eine neue Stufe stellen will. Für die Umsetzung des Aktionsplanes ist das Rektorat zuständig. Das Thema „Behinderung“ ist in der Universität Bremen damit in der Chefetage angekommen. Gleichzeitig wurden Verfahren im Aktionsplan festgeschrieben, die eine Beteiligung aller Bereiche und Ebenen der Universität an der Umsetzung des Aktionsplanes ebenso absichern sollen wie die Einbindung der Menschen mit Beeinträchtigungen und deren Interessenvertretungen. Der Schub der UN-Behindertenrechtskonvention wurde an der Universität Bremen dazu genutzt, mittels des Aktionsplanes ein neues gemeinsames Engagement von Hochschulleitung, beeinträchtigten Studierenden und Beschäftigten zu vereinbaren. Dieses wird zugleich als Chance gesehen, „das Profil und das Prestige der Universität Bremen … weiter zu stärken“. Die im Aktionsplan vereinbarten Berichtspflichten sowie die vorgesehene Fortschreibung schaffen den notwendigen Rahmen, damit aus diesem Aktionsplan kein Papiertiger wird. Es bleibt zu hoffen und zu wünschen, dass viele weitere Hochschulen das Potential erkennen, das Aktionspläne als hilfreicher Kompass auf dem Weg zu einer inklusiven Hochschule bergen und das Instrument dazu nutzen, Ziele für mehr Chancengleichheit zu vereinbaren und diese mit konkreten Maßnahmen und Strukturen abzusichern.

10. Literaturverzeichnis

Akkreditierungsrat (2013): Regeln für die Akkreditierung von Studiengängen und für die Systemakkreditierung. Beschluss des Akkreditierungsrates vom 08.12.2009, zuletzt geändert am 20.02.2013. http://www.akkreditierungsrat.de/fileadmin/Seiteninhalte/AR/Beschluesse/AR_Regeln_Studiengaenge_aktuell.pdf

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BAG (2011): Stellungnahme der Bundesarbeitsgemeinschaft Behinderung und Studium e.V. zur öffentlichen Anhörung von Sachverständigen in Berlin 17. Oktober 2011 zum Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention Drucksache 17(11)597, S. 189 ff: http://webarchiv.bundestag.de/cgi/show.php?fileToLoad=3371&id=1223,

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Hochschulrektorenkonferenz (2013): Ergebnisse der Evaluation der Empfehlung der 6. Mitgliederversammlung der HRK am 21. April 2009 zum Studium mit Behinderung/chronischer Krankheit „Eine Hochschule für Alle“. http://www.hrk.de/fileadmin/redaktion/hrk/02-Dokumente/02-03-Studium/02-03-08-Barrierefreies-Studium/Auswertung_Evaluation_Hochschule_fuer_Alle_01.pdf

Kultusministerkonferenz (1982): Empfehlung zur Verbesserung der Ausbildung für Behinderte im Hochschulbereich. http://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/1982/1982_06_25-Behinderte-Hochschulbereich.pdf

Lelgemann, Reinhard / Rothenberg, Birgit / Schindler, Christiane (2013): Inklusive Bildung in Hochschulen und die Professionalisierung der Lehrenden. In: Döbert, Hans / Weishaupt, Horst (Hrsg): Inklusive Bildung professionell gestalten. Situationsanalyse und Handlungsempfehlungen. Waxmann, S. 231- 239

Meyer auf der Heyde, Achim (2013): Anforderungen an eine inklusive Hochschule – Ergebnisse der DSW-Datenerhebung „beeinträchtigt studieren 2011“. In: Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht www.reha-recht.de. http://www.reha-recht.de/fileadmin/download/foren/d/2013/D28-2013_inklusive_Hochschule_beeintr%C3%A4chtigt_studieren.pdf

NAP (2011): Nationaler Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. http://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/a740-nationaler-aktionsplan-barrierefrei.pdf?__blob=publicationFile, S. 49

SBJW (2014): Hochschulverträge und Verträge mit der Charité-Universitätsmedizin Berlin http://www.berlin.de/sen/wissenschaft-und-forschung/rechtsvorschriften/hochschulvertraege/

Schramme, Sabine (2012): Wo bleibt die Behinderung? Hochschuldidaktische Intention, Genderdimension und mögliche Relevanz für Menschen mit Behinderung von Projekten und Arbeitskontexten des Expert/inn/enkreises „Genderkompetenz in Studium und Lehre“. Vortrag auf der Tagung: Gender als Indikator für gute Lehre 2010 an der Universität Duisburg-Essen. http://www.uni-due.de/imperia/md/content/genderportal/schramme-behinderung.pdf

Tolmein, Oliver (2013): Die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und ihre Erfordernisse in Bezug auf die deutsche Hochschul(bau)landschaft. In: Univision 2020. Ein Lehrhaus für Alle – Perspektiven für eine barriere- und diskriminierungsfreie Hochschule. Freiburg: Centaurus Verlag & Media KG, S. 13-21

Quelle

Christiane Schindler: Auf dem Weg zu einer inklusiven Hochschule

Erschienen in: Zeitschrift für Inklusion, Ausgabe 1-2/2014

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 19.02.2018

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