Isolation ist nicht Schicksal

Textsorte: Buch
Releaseinfo: Initiativgruppe von Behinderten und Nichtbehinderten,Innsbruck. Peter Gstettner, Elisabeth Hasenauer, Susanne Hubweber, Hans Lassacher, Peter Lercher, Volker Schönwiese erschienen in: Forster, Rudolf / Schönwiese, Volker (Hrsg.): BEHINDERTENALLTAG - wie man behindert wird. Jugend und Volk, Wien 1982, S. 333 - 376
Copyright: © Jugend und Volk 1982

Einleitung: Zum sozialen und begrifflichen Umfeld unseres Berichts

Wir bezeichnen uns als "Initiativgruppe von Behinderten und Nichtbehinderten". Wir sind kein Ableger irgendeiner Organisation, wir sind unabhängig von Vereinen und Parteien. Unser Selbstverständnis haben wir einmal so formuliert:

"Wir verstehen unsere Gruppe als offenen Treffpunkt für Gespräche, gemeinsame Arbeit und Freizeitgestaltung."

Wir sind also eher ein Anti-Verein. Kann ein Bericht über einen Anti-Verein nur ein Anti-Bericht werden? Vielleicht. Auf jeden Fall wollen wir einleitend auf einige Schwierigkeiten hinweisen, die wir bei der Berichterstattung hatten (und immer noch haben), Schwierigkeiten, die letztlich auch dazu führten, daß wir lieber von einem "unvollständigen" Bericht sprechen - und es offen lassen wollen, ob es uns jemals gelingen wird, der Dynamik und Komplexität unserer Initiativgruppe in Wort und Schrift gerecht zu werden.

Material und Methode

Über etwas zu berichten ist vor allem dann schwierig, wenn man auf die üblichen Ordnungsregister verzichten muß, auf die Vereinsstatuten, auf den Schriftführer, auf Protokollanten, Chronisten, Buchhalter, Prüfer, Kontrolleure sowie auf deren jeweiligen Stellvertreter. Die Sache wird auch dadurch nicht leichter, wenn sich schließlich - so wie in unserem Fall - doch eine Menge "Material" angesammelt hat. Da sind in erster Linie unsere Erinnerungen, die zu Papier zu bringen und auszutauschen waren; da gab es Meinungen und Einschätzungen, die einzuholen und abzuwägen waren: "alte" Gruppenmitglieder, "neue", "beständige", "unbeständige", "ehemalige" usw.; von einigen Treffen standen Tonbandaufzeichnungen zur Verfügung; von Treffen, die wir als "wichtig" bezeichneten, gab es meistens keine; ab und zu fand sich ein schriftliches Sitzungsprotokoll;

Notizen zu der einen oder anderen "Tagesordnung" wurden ausgegraben; schließlich konnten wir auch dort anknüpfen, wo wir unsere Zielvorstellungen und Handlungsperspektiven in eine gewisse Form bringen mußten: so etwa beim Abfassen eines Informationsblattes, bei "offiziellen" Anlässen, wie z.B. bei Kontakten, Vorsprachen und Aussendungen, oder wie kürzlich, als wir unsere Gruppe im Rahmen einer Lehrveranstaltung am Psychologischen Institut zur Diskussion stellten; freilich, in dem Ordner, der ständig mit bürokratischer Unauffälligkeit zur Dokumentation mahnte, hatte sich noch mehr angesammelt: Briefe, Zeitungsausschnitte, Informationen über andere Initiativen usw.

Wir erheben nicht den Anspruch, all das ausgewertet zu haben. Unsere Vorgangsweise bei der Abfassung des Berichts war ähnlich unsystematisch wie der Entstehungsprozeß dessen, was uns nun als empirisches "Material", als dokumentierte Gesprächszusammenhänge und protokollierte Aktionen vorliegt; vieles blieb unerwähnt - weil wir es "vergessen" haben oder weil wir es im Augenblick für unwichtig hielten; vieles blieb auf Andeutungen verwiesen - um den Leser nicht noch mehr zu verwirren oder um unsere eigene Begriffslosigkeit zu verbergen; einiges berichten wir chronologisch, einiges heben wir exemplarisch heraus; alles in allem: ein Verfahren, das man methodologisch für "kühn" halten mag.

Unser Darstellungsproblem ist aber kein Problem des "richtigen" methodischen Zugangs bzw. der "exakten" Auswertung. Es geht uns im wesentlichen nicht darum, alle Arbeitsschritte unserer Gruppe zu benennen, eine wissenschaftliche Systematik und einen theoretischen Diskurs darüberzustülpen. Unser Darstellungsproblem ist ein Problem der Möglichkeit oder Unmöglichkeit der "Distanz"; wir meinen hier "solidarische Distanz", Distanz als reflexives Engagement - das heißt: anhalten ohne stehen zu bleiben und gemeinsam beobachten, welche Schritte man gemacht hat; zurückblicken ohne sich umzudrehen.

Solidarität und Angst

Eine Form solidarischer Distanz zu finden, die als Voraussetzung für die Berichterstattung über Initiativen und Prozesse gelten kann, Vorgänge, in die man selbst handelnd verstrickt ist, stellt für uns eine neue Anforderung dar.

Gemeint ist ja nicht jene Distanz, die ein Wissenschaftler üblicherweise unter dem Vorwand einnimmt, seinem Beobachtungsgegenstand - dem Objekt seiner wissenschaftlichen Bemühung-"objektiv" gegenübertreten zu können. Mit dem Herstellen dieser Distanz "reagiert" der Wissenschaftler lediglich auf das Dilemma seiner objektiven Verstrickung mit seinem Beobachtungsgegenstand. Die Tatsache, auf irgendeine Weise stets mit dem verbunden zu sein, über das man neutral und unabhängig forschen möchte, schafft Angst, "Berührungsangst". Sie bleibt unbewußt, wird aber ausagiert: Das sozialwissenschaftliche Instrumentarium kommt zum Einsatz. Dadurch verschwindet zwar weder die Angst noch das Faktum der Verstrickung, die Art und Weise der "Berührung" wird aber verlagert, indem sich Instrumente dazwischen schieben. Das ist vergleichbar mit der Situation, in der ein Mensch mit verbundenen Augen sagt, er will sich nicht mit der Hand die Wand entlang tasten, sondern lieber einen Blindenstock nehmen.

Diese Wissenschaftler-Distanz meinen wir also nicht. Dennoch müssen wir eingestehen, daß auch dieser Bericht nicht gänzlich frei davon ist. Das scheint aber nur nachdrücklich darauf zu verweisen, daß hier ein "strukturelles" Problem vorliegt: Die Distanzierung - vom isolierenden und entmenschlichenden Ausschluß über die Pose der überlegenen Gleichgültigkeit bis hin zur selbstkritischen Reflexion - ist nur zum geringeren Grad eine Sache des persönlichen Vermögens oder Unvermögens. Was hier hereinspielt, ist in erster Linie die Frage, ob und wie im "gesellschaftlichen Alltag" (in der Freundschafts- und Partnerbeziehung, in der Familie, in der Schule, im Betrieb usw.) Strategien der Distanzierung und Ausschließung praktiziert werden. Und unser Alltag ist leider voll davon[1].

Da die Formen des Alltagslebens von entsolidarisierender Konkurrenz, Gleichgültigkeit und aufstiegsorientierter Vereinzelung durchsetzt sind, wäre es durchaus möglich, wenn nicht sogar zu erwarten, daß auch dieser Bericht (entgegen den Absichten der Autoren) stellenweise so aufgefaßt werden kann, als wollten sich die Berichterstatter vom Geschehen und von den Personen des Geschehens distanzieren. Aus diesem Grund versuchen wir unsere Intention nochmals - "positiv" - zu umreißen:

Distanz bei der Berichterstattung soll der Versuch sein, soweit einen kognitiven Abstand zu den eigenen Handlungsimpulsen zu gewinnen, daß wir unsere eigene Verstrickung in den gesellschaftlichen Alltag - zu dem auch unsere Praxis in der "Initiativgruppe" gehört - kontrolliert wahrnehmen und steuern können.

Es muß angemerkt werden, daß diese Distanz kein Privileg von denen ist, die sich als "Wissenschaftler", Forscher, Studenten usw. den "Intellektuellen" zuzählen, und die sich erst durch ihr soziales Engagement an dem beteiligen, was wir "gesellschaftlichen Alltag von Benachteiligten" nennen. Diese Distanz wird getragen, wenngleich nicht in wortreichen Reden vorgebracht, von Angehörigen der Gruppen, die diesen gesellschaftlichen Alltag leben müssen, die von Ungleichheit, Aussonderung, Isolierung und Benachteiligung elementar betroffen sind. Von hier aus werden relevante Fragen gestellt: Fragen, die sich darauf beziehen, ob die Gruppe eigentlich noch immer das tut, was sie anfänglich tun wollte, bzw. ständig vorgibt zu tun; also Fragen, die den Realitätsgehalt unserer Handlungsziele und Aktionen an der harten Wirklichkeit messen.

Der vorliegende Bericht soll nicht zuletzt genau solchen Fragen zum Durchbruch verhelfen. Er soll in unserer Hand, in der Hand unserer Gruppe, ein Instrument sein, das dazu dient, ein gemeinsames Wissen darüber zu entwickeln, welche Lernprozesse möglich waren und welche möglich gewesen wären, wenn ....

Demokratie und Initiativen

Eine weitere Schwierigkeit gilt es noch anzuführen, die im Kern die "politische" Seite der Berichterstattung betrifft. Hier genügt eigentlich ein Blick auf die tagespolitische Szene, um das Unbehagen zu verstehen, das jede Gruppe unweigerlich beschleichen muß, wenn sie sich als "Initiative" außerhalb der etablierten Parteien und Organisationen versteht. Da sich noch vor einigen Jahren die Situation erheblich anders darstellte, soll auf dieses "Unbehagen" kurz eingegangen werden.

Vor etwa 5 Jahren war noch so gut wie jede Initiative, die Bürger ergriffen, um gewisse positive Seiten ihrer Lebenswelt gegen Vermarktung und Vernichtung zu verteidigen, und um verschiedene negative Seiten von sich aus zu verbessern, ein Liebkind aller Politiker. Konnte man doch mit diesen Bürger-Initiativen aller Welt beweisen, daß im Lande unter den Bürgern demokratisches Bewußtsein lebendig war. Die Politiker wußten von solchen Initiativen auf vielfältige Weise zu profitieren, besonders in Wahlzeiten. Außerdem funktionierten die Initiativen für die Politiker als eine Art "Frühwarnsystem", indem sie anzeigten, wo sich im Sozialstaat Unzufriedenheit breit machte, wo sich Planungslücken und Versorgungsdefizite befanden.

Heute sehen sich viele Initiativgruppen in eine Sündenbockrolle gedrängt. An ihnen wird häufig jene ohnmächtige Wut abreagiert, die sich bei Politikern dadurch aufgestaut hat, daß die letzten Jahre ihnen ein Dilemma vor Augen geführt haben: Die meisten Bürgerinitiativen waren weder parteipolitisch auszuschlachten noch durch staatliche Planungsversprechen aufzufangen. Zudem war deutlich geworden, daß Politik - vor allem in wirtschaftlichen Krisenzeiten - gezwungen ist, sich nach dem sogenannten Konjunkturbarometer zu richten, d.h. nach dem Willen der ökonomisch Starken und nicht nach dem Willen der sozial Schwachen und ökonomisch Machtlosen.

Folglich wurden die Initiativen, die ja nicht wie abgefertigte Bittsteller von der Bildfläche verschwanden, zu einer "unangenehmen Begleiterscheinung" wachsenden demokratischen Bewußtseins. Politiker ahnten vielleicht, daß letztlich ihre eigene Macht in Frage gestellt wurde; sie mußten die Initiativen um jeden Preis los werden.

Man begann davon zu sprechen, daß "demokratisch nicht legitimierte Minderheiten" Druck auf die verfassungsmäßigen Rechte des Parlaments ausübten (so ein CDU-Abgeordneter in der Bundesrepublik) und daß Bürgerinitiativen mit Methoden von Terroristen arbeiteten (so der österreichische Bundeskanzler anläßlich des Empfangs einer Delegation von Atomkraftwerksgegnern in Wien).

Im Zuge solcher Diffamierungen wurde den Initiativen die Ausübung gerade jener "strukturellen Gewalt" vorgeworfen, gegen die sie sich zur Wehr zu setzen versuchten. Sie wurden in einem Atemzug mit jenen brutalen Zwangsmethoden genannt, die zur gewaltfreien, demokratischen Interessensartikulation in genauem Gegensatz stehen. Daß diese Verdrehung die Form einer "projektiven Umkehrung" hat und sich gerade gegen Bürgerinitiativen richtet, kann wohl kein Zufall sein: Initiativen von "unten" sind für die Regierungen unangenehm geworden, weil sie zunehmend das "schlechte Gewissen" reaktivieren: Sie zeigen immer wieder, wie brüchig die demokratische (die "basisdemokratische") Legitimation vieler formal-demokratisch gefällter politischer Entscheidungen eigentlich ist, und wie sehr diese Entscheidungen unter dem Diktat der maximalen wirtschaftlichen Verwertbarkeit gefällt werden.

Mit dem Bericht über unsere Initiative soll einmal mehr belegt werden, wie widersinnig und falsch die Unterstellung ist, der mühsame Prozeß der Organisation und der Artikulation von Interessen an der Basis - auch wenn es sich auf den ersten Blick um "Minderheitsinteressen" handelt - sei Keimzelle terroristischer Gewalt oder ließe sich zu einem "brutalen Rammbock gegen die demokratische Ordnung" umfunktionieren[2].

Der vorliegende Bericht schildert unsere Initiative in erster Linie als einen Diskussionsprozeß zwischen "Beteiligten" und "Betroffenen" - und nicht als einen Veränderungsprozeß von sozialen oder materiellen Strukturen; mit anderen Worten: wir versuchen, den "Herstellungsprozeß" von demokratischen Bewußtseins- und Kommunikationsformen zu beschreiben und dabei jene "Barrieren" zu analysieren, die unter dem Druck der gesellschaftlichen Verhältnisse in uns und zwischen uns aufgerichtet worden sind und die uns zu "Behinderten" gemacht haben.

Etikettierung und Gesellschaft

Der Name unserer "Initiativgruppe" weist "Behinderte" und "Nichtbehinderte" getrennt aus. Das soll aber nicht heißen, daß wir glauben, es gäbe Behinderte und Nichtbehinderte unverrückbar - so wie es Tag und Nacht gibt. In diesem Sinn gibt es Behinderte und Nichtbehinderte ebensowenig, wie es Hexen oder Feen gibt.

Wir teilen in diesem Punkt die Auffassung, die sich heute bei Vertretern kritischer Sozialwissenschaft durchzusetzen beginnt (vgl. z.B. JANTZEN 1974, 1977), daß "Behinderung" kein Persönlichkeitsmerkmal ist, das jemandem von Geburt an zukommt, sondern eine Etikette. Eine Etikette wird hergestellt, d.h. Leute einigen sich auf eine Benennung und legen so "aus-gezeichnete" Merkmale oder Verhaltensweisen fest. Die Etikette wird dann an jedem befestigt, der diese Merkmale oder Verhaltensweisen (oder auch nur ähnliche) zeigt.

Herstellung und Festlegung (also die Etikettierungsprozesse) sind weder einsame noch willkürliche Entscheidungen. Die Leute, die an einem Etikettierungsprozeß maßgeblich beteiligt sind (Politiker, Arbeitgeber, Juristen, Psychiater, Psychologen, Lehrer, Ärzte, Pflegepersonal usw.) ziehen sich oft gegenseitig zu Rate und erhöhen so ihre "Definitionsmacht"; abgesehen von dieser gegenseitigen Verstärkung hat meistens jeder für sich schon aufgrund seiner gesellschaftlichen Stellung verhältnismäßig große Macht; man kann auch sagen: Sie verfügen entweder über kulturelles oder wirtschaftliches Kapital - oft auch über beides.

Eine Etikette wird natürlich nicht jedem angeheftet, der irgendwie sonderbar aussieht oder sich eigenartig verhält. Beim Etikettierungsprozeß spielen gewisse Minimalvorstellungen, die sich historisch herausgebildet haben, und die dann in einer Gesellschaft meistens unhinterfragt von der Mehrheit geteilt werden, eine wichtige Rolle.

Heute, bezogen auf unsere Gesellschaft, ist e i n e Minimalvorstellung für das Etikett "behindert" meistens schon hinreichend: die Möglichkeit der sogenannten Eingliederung (oder Nichteingliederung) in das Berufsleben. Dahinter steht die gesellschaftliche Forderung, daß jeder Mensch (sofern er ein bestimmtes Alter erreicht hat) sich selbst erhaltend u n d "wertschaffend" tätig sein soll; wenn das zutrifft, spricht man von einer "vollwertigen Arbeitskraft", oft im gleichen Sinn, wie man jemanden als "vollwertigen Menschen" bezeichnet.

Die "Eingliederung in das Berufsleben" ist heute in solchem Maße erschwert, daß der Etikettierungsprozeß immer größere Kreise zieht. Unter dem Druck der sich verschärfenden Bedingungen, unter denen Arbeitskraft als "vollwertige" zur Anwendung kommt (Konkurrenzkampf, Streß, Spezialisierung usw.), Bedingungen, die aber auch weit in die Schule und Familie rückwirken, werden ständig neue "Behinderungen" produziert und immer mehr Menschen in diesem Sinn etikettiert; gleichzeitig (also z.B. mit zunehmendem Konkurrenzkampf am Arbeitsplatz) verringern sich tendentiell die Eingliederungschancen für die "Behinderten", die sogenannten "Rehabilitationschancen"; denn Zeiten schärfster Konkurrenz sind Zeiten stagnierenden Wirtschaftswachstums und drohender Arbeitslosigkeit. Da werden Investitionen für Behinderte, die zunächst als "unproduktive Nebenkosten" aufscheinen, immer knapper kalkuliert und schließlich nur mehr dort eingesetzt, wo langfristig gesichert ist, daß die Investition "rentabel" ist.

Da, wie wir gesehen haben, die Verleihung des Etiketts "Behinderung" auch eine Machtfrage ist, verwundert es nicht, wenn die Behinderungen nicht gleichmäßig über alle sozialen Schichten hinweg streuen: Gehäuft kommt "Behinderung" dort vor, wo gleichzeitig auf der einen Seite - der wirtschaftspolitischen - Minderqualifikation, Arbeitslosigkeit und Armut zu registrieren und auf der anderen Seite - der kulturpolitischen Ausschließung, Isolation und Resignation zu finden sind (vgl. dazu KLEE 1974, S.59f; JANTZEN 1974, S.100f).

In unserem Bericht verwenden wir das Etikett "behindert" in dem hier angedeuteten Sinn; d.h. wir benutzen - um uns beim Leser verständlich zu machen - das allgemein übliche Etikett, das nach den genannten gesellschaftlichen Minimalvorstellungen vergeben wird; wir tun dies, obwohl wir in der Gruppe von Anfang an den Versuch gemacht haben, "integrativ" zu arbeiten, d.h. die gesellschaftlichen Definitionen und Abgrenzungen zu überschreiten - letztlich in Richtung auf eine Auflösung des Etiketts "nichtbehindert".

Behinderung durch Isolation

Es bedarf noch einer kurzen Erklärung, weshalb der Begriff "Isolation" im Zentrum der Arbeit unserer Gruppe steht.

Schon in der Einladung zum ersten großen gemeinsamen Treffen (zu einem "Fest" am 10.2.1977) wurde die Problematik auf eine Weise angesprochen, die auch für spätere Aktionen bedeutsam geworden ist:

"Wir glauben, daß die Isolation der Behinderten von den Nichtbehinderten nicht die Schuld des Einzelnen ist, sondern einer gemeinsamen gesellschaftlichen Isolation entspricht und auch beide - Nichtbehinderte und Behinderte - betrifft. Diese Isolation voneinander kann nur durch die Betroffenen selbst geändert werden."

Im vorangegangenen Abschnitt haben wir bereits einen Aspekt der gesellschaftlichen Situation benannt, die "Behinderung" produziert, und die alle, die von dieser Etikettierung betroffen sind, als nicht-produktive Mitglieder der Gesellschaft "an den Rand" stellt. Man könnte hier von einer "materialen Isolation" sprechen: Der Behinderte wird in der Regel vom "normalen" Produktionsprozeß abgetrennt; teilweise produziert er unter Sonderbedingungen in "geschützten" Werkstätten; teilweise produziert er unter "arbeitstherapeutischen" Vorzeichen, wobei dann die Produkte den "freien Markt" nie erreichen, sondern bei sogenannten "Wohltätigkeitsveranstaltungen" außerhalb jedes Lohn-Preis-Mechanismus zum Verkauf angeboten werden.

Die materiale Isolation hat zur Folge, daß die tätige ("sinnliche") Auseinandersetzung mit den Dingen und Menschen in der Umwelt nur auf einem eingeschränkten Niveau geschieht: Die Möglichkeiten sich vielfältig und relevant zu "vergegenständlichen" (z.B. viele Gegenstände zu produzieren, viele Beziehungen einzugehen, die für einen selbst und für die Gesellschaft wichtig sind), sind ebenso eingeschränkt wie die Möglichkeiten, sich vielfältige und relevante Fähigkeiten anzueignen (d.h. viele Dinge zu erlernen, die einen selbst immer besser in Stand setzen, produktiv und kontrolliert in die eigene Umwelt einzugreifen).

An den Rand der Gesellschaft gestellt zu werden heißt aber auch, von "sozialer Isolation" betroffen zu sein: Der Behinderte wird in der Regel vom "normalen" zwischenmenschlichen Kontakt ausgeschlossen - nicht durch einen einmaligen Beschluß, sondern durch einen ständigen Prozeß der "Behandlung", Untersuchung, Klassifizierung, Ausgliederung und Einweisung in Sondereinrichtungen. Er wird in eine "Isolationskarriere" gezwungen. Die Isolationskarriere beginnt meistens mit langen Aufenthalten in Kliniken, Sonderstationen und Rehabilitationszentren. Sie setzt sich fort durch reduzierte Kontakte außerhalb der Familie, in der Sonderschule, im Heim, in der geschützten Werkstätte usw. Sie endet dort, wo das beginnt, was FREIRE die "Kultur des Schweigens" nennt. Die Isolierten haben aufgehört zu sprechen, gegen ihre Isolation zu protestieren. Sie haben sich in das "Schicksal" ergeben. Sie sehen sich schließlich selbst so, wie sie von der Umgebung gesehen werden, als "nichtige" Existenzen. Alles, was sie von nun an erfahren (Fremdbestimmung, Ausbeutung, Armut, Unwissenheit, Not) wird immer nur als neue Bestätigung dieser Nichtigkeit aufgefaßt.

Es ist bekannt, daß die psychologische Forschung - vor allem durch Tierversuche und durch die Beobachtung von Heimkindern - die Folgen sozialer Isolation schon lange erfaßt hat: Unterentwicklung, Verhaltensabweichungen, Sprachlosigkeit, Apathie, physischer Verfall und Tod.

Man wird aber kaum sagen können, daß aufgrund dieser Forschungen intensiv an der Aufhebung von isolierenden Maßnahmen gearbeitet worden ist. Dem Problem ist allerdings auch durch gelegentliche Untersuchungen und politische Enqueten ebensowenig beizukommen wie durch konsequentes Kopf-in-den-Sand-stecken. Wir halten es für zielführender, die Arbeit am Phänomen "Isolation" so anzusetzen, wie dies etwa FREIRE in seiner "Pädagogik der Unterdrückten"(1973) vorgeschlagen hat:

Wo Gruppen isoliert sind, da ist immer nach den Verhältnissen zu fragen, die sie isolieren. Und nur über die Veränderung dieser Verhältnisse durch die Isolierten selbst und mit ihnen ist dem Phänomen beizukommen.

Voraussetzungen dafür zu schaffen bedeutet allerdings, einen langen Weg überhaupt beschreiten zu wollen.



[1] DEVEREUX (1967), auf den wir uns in diesem Abschnitt zum Teil stützen, hat gezeigt, daß Ausschlußpraktiken in der Wissenschaft häufig vorkommen. Über solche Praktiken im öffentlichen Leben schreibt er: "Eine noch weit fragwürdigere Technik, die Kluft zwischen einem selbst und seinem (tierischen oder menschlichen) Objekt zu vergrößern war - bis die Naziphysiker in Konzentrationslagern mit Menschen zu experimentieren begannen - im öffentlichen Leben gebräuchlicher als in der Wissenschaft. Dazu findet man am besten Zugang durch eine Analyse der nicht-wissenschaftlichen Manöver, die den Menschen erst dehumanisieren, um Einfühlung in ihn widersinnig erscheinen zu lassen, und ihn dann einem physischen oder psychischen Angriff aussetzten, den sein nichtmenschlicher Status zu rechtfertigen scheint und der ihn dann für immer aus dem Kreis der Menschen ausschließt." (S.181)

[2] Daß ausgerechnet in einer österreichischen Gewerkschaftszeitung Bürgerinitiativen in einer sehr undifferenzierten Weise abgeurteilt werden, ist mehr als bedauerlich. Ausdrücke wie "Gschaftelhuber", "Ehrgeizlinge", "Idealisten", "romantische Naturliebhaber", "radikale Gesellschaftsveränderer" usw. sind analytisch unbrauchbar und disqualifizieren den Autor - und nicht die Initiativen.

Seitdem auch die Frauen auf der Terrorszene aufgetaucht sind, kann man offensichtlich zusätzlich noch seine Geschlechtsrollenstereotype in einem Nebensatz zur Geltung bringen: "Sehr oft trifft man gerade in diesen Aktionsgruppen intelligente und durchsetzungsfähige Frauen, oft mit einer anspruchsvollen Berufsausbildung. Natürlich (!) gehen auch solche Gruppen den jeweils Machthabenden von Zeit zu Zeit auf die Nerven - durch Hartnäckigkeit oder auch durch Gruppenegoismus und Unbelehrbarkeit." (R. GMOSER, in: "Bürgerinitiativen: Besen der Gewalt", in: SOLIDARITÄT, Illustrierte des ÖGB, Dez. 1977, S.18-20).

Erste Ansätze und Versuche: ein akademischer Fehlstart?

Arbeitsschritte im Schonraum des Seminars

Jeder Gruppenbildung gehen Ideen voraus, Gedankengebäude für eine bessere Wirklichkeit. Oft sind es zunächst einzelne Personen, die initiativ werden.

Die Idee, eine "integrierte" Gruppe von Behinderten und Nichtbehinderten ins Leben zu rufen, ging in unserem Fall von einem Psychologiestudenten aus, der sich - selbst körperbehindert - im Rahmen seiner Dissertation mit der Integrationsproblematik intensiv beschäftigt. Wie viele Psychologiestudenten will er sich nicht mit dem Dissertationsprodukt (einem Forschungsbericht über ein integriertes Studentenheim in der BRD) zufrieden geben, sondern auch etwas von den theoretischen Ansprüchen und sozialwissenschaftlichen Perspektiven in konkrete, verbesserte Rehabilitationspraxis umsetzen.

Ein Anschlag am "Schwarzen Brett" des Instituts für Psychologie ruft zu ersten Aktivitäten auf: Ein Projekt zur "emanzipatorischen Behindertenarbeit" wird vorgeschlagen. Konkret werden die Durchführung eines "Kurses" für Behinderte und Nichtbehinderte, ein Video-Film -Projekt zur Problematik der Behinderung und eine wissenschaftliche Begleitung in Form von "Handlungsforschung" genannt. Ein Zitat von GOFFMAN (1967, S.170) aus dem Buch "Stigma" vervollständigt den Eindruck eines Aufrufs zu einem soliden wissenschaftlichen Vorhaben:

"Der Normale und der Stigmatisierte sind nicht Personen, sondern Perspektiven; diese werden in sozialen Situationen erzeugt ..."

Die Wirkung dieses Anschlags läßt sich an der Anzahl spontaner Meldungen ablesen. Niemand zeigt Interesse. Vermutlich ist der Eindruck entstanden, es solle ein elitärer Theoriezirkel gegründet werden, in dem vor allem Ansätze des "Symbolischen Interaktionismus" (GOFFMANN ist ein wichtiger Vertreter dieser Richtung) diskutiert werden. Ob Behinderte, zu denen keiner der Studenten Kontakt hat, als "Stigmatisierte" anzusprechen sind, bleibt dem Leser wahrscheinlich ungewiß. Ob die "emanzipatorische Behindertenarbeit" auf Theorien des Interaktionismus aufzubauen ist, wie das dann aussehen soll, bleibt auch durch die Begriffe "Handlungsforschung" und "Kurs" ungeklärt.

Nach diesem offensichtlichen Mißerfolg erzählt der behinderte Psychologiestudent im Rahmen der Einführungslehrveranstaltung "Sozialwissenschaftliche Forschungsmethoden: Handlungsforschung" von einer möglichen Realisierung solch eines Kurs-Konzeptes: Die referierten Vorstellungen sind stark orientiert an dem integrierten Kurs "Bewältigung der Umwelt", der an einer Volkshochschule in Frankfurt durchgeführt wurde (KLEE 1976). Für die gemeinsame Entwicklung und Durchführung solch eines Kurses in Innsbruck werden nun unter den Lehrveranstaltungsteilnehmern Interessenten gesucht. Der Lehrveranstaltungsleiter unterstützt die vorgeschlagene Arbeit und unterstreicht die Wichtigkeit solch eines Praxisbezugs für das Psychologiestudium.

Es melden sich 34 Interessierte, Studentinnen in der Mehrzahl, mit unterschiedlicher Semesteranzahl und Motivation. Diese Zahl ist höher als erwartet. Durch die passiv-abwartende Haltung der meisten gerät der Initiator in die Rolle eines "Seminarleiters". Alle Versuche, davon wegzukommen, mißlingen vorerst. Seine exponierte Spezialistenstellung wird ihm nicht nur aufgrund seines Dissertationsthemas zugeschrieben, sondern auch aufgrund seines Sonderstatus als einziger Behinderter in der Gruppe. Allerdings wird dieser Aspekt, der "Sonderstatus", als solcher nie thematisiert. Der Umgang mit seiner Behinderung hat, was in dieser ersten Zeit unser Verhalten in der Gruppe ihm gegenüber betrifft, "demonstrativ-selbstverständliche" Züge; niemand will sich anmerken lassen, daß ihn der Umgang mit einem Behinderten irritiert und verunsichert; Ängste werden durch betont kollegiales Verhalten zugedeckt.

Obwohl diese theoretische Vorlaufphase unserer Arbeit "unbefriedigend" verläuft, obwohl weder besonders intensiv noch besonders kontrovers diskutiert wird, war diese Diskussion nicht unwichtig. Wahrscheinlich haben sich damals bestimmte Orientierungen und Leitlinien herausgebildet und gefestigt; unbefriedigend war lediglich, daß wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht wußten, wie das alles "praktisch" werden sollte.

Exkurs zum Stigma-Ansatz

Wir haben bereits erwähnt, daß Etiketten gesellschaftlich produziert werden und ihre Verteilung nach bestimmten Gesichtspunkten erfolgt. Was bringt nun in diesem Zusammenhang der Begriff "Stigma" Neues oder Zusätzliches? Weshalb stellt er für unsere Arbeit einen Orientierungspunkt dar?

"Stigma" ist ein alter Begriff, der von der modernen Sozialwissenschaft wiederentdeckt wurde; sie bezeichnet damit einen sozialen Prozeß, durch den schon die alten Griechen Recht und Unrecht, Ansehen und Verachtung, Herrschaft und Unterdrückung, Besitz und Armut kenntlich gemacht haben:

"Die Griechen schufen den Begriff Stigma als Verweis auf körperliche Zeichen, die dazu bestimmt waren, etwas Ungewöhnliches oder Schlechtes über den moralischen Zustand des Zeichenträgers zu offenbaren. Die Zeichen wurden in den Körper geschnitten oder gebrannt und taten kund, daß der Träger ein Sklave, ein Verbrecher oder ein Verräter war - eine gebrandmarkte, rituell für unrein erklärte Person, die gemieden werden sollte, vor allem auf öffentlichen Plätzen." (GOFFMAN 1967, S.9)

Ein Stigma ist also keine natürliche Eigenschaft einer Person, sondern ein Kennzeichen, das gewaltsam zugeteilt wird: Es markiert und entstellt den Körper. Es wird eingebrannt und damit öffentlich gemacht.

Ein Stigma ist immer ein negatives Zeichen, ein negatives Etikett, das den Träger zutiefst erniedrigt. Stigmatisierten gegenüber muß man Abscheu empfinden. Im Grunde setzt sich ihnen gegenüber der Glaube durch, daß eine Person mit einem Stigma nicht ganz "menschlich" sei (vgl. GOFFMAN 1967, S.13, aber auch das DEVEREUX-Zitat in Fußnote1). Stigmatisierte werden folglich dementsprechend behandelt.

Ein Stigma wird in einem Etikettierungsprozeß zugeteilt. Deshalb gelten hier die gleichen Mechanismen, die wir schon beschrieben haben. Was die gesellschaftlichen Minimalvorstellungen betrifft, von denen wir festgestellt haben, daß sie sich an der Güte der Arbeitskraft orientieren, so läßt sich hier eine Erweiterung anfügen.

Es ist ja nicht so, daß die Tatsache der "Unproduktivität" in jedem Fall ein Stigma bedeutet; damit können auch sehr angenehme und öffentlich bewunderte Positionen verknüpft sein. So wird z.B. niemand behaupten, daß der bekannte Millionenerbe und Playboy Gunther Sachs stigmatisiert ist, weil er den Leistungsnormen unserer Gesellschaft nicht entspricht.

Es scheint dagegen so zu sein, daß sich in den meisten Fällen "Arbeitsunfähigkeit" mit einem ästhetischen Eindruck kombiniert, der ebenfalls den gesellschaftlichen Normen nicht entspricht. Diesbezüglich ist oft die vulgäre Umgangssprache entlarvend; sie kennt die Stigma-Ausdrücke Krüppel, Idiot, Schwachsinniger, Bastard usw.

Gibt es zwischen "Arbeit" und "Ästhetik" einen "inneren" Zusammenhang, über den solche Stigma-Etiketten zustande kommen? Entsteht so ein Zusammenhang, weil es in jedem Fall "die Gesellschaft" ist, die diskriminierende Urteile abgibt - einmal über "Leistung", einmal über "Schönheit"?

Klar ist, daß es in jeder Gesellschaft bestimmte Auffassungen darüber gibt, was als "schön" zu bezeichnen ist - wenn wir uns im Urteil auf ein Kunstwerk beziehen. Gegenstände unseres täglichen Lebens bezeichnen wir dagegen ziemlich einheitlich als "schön" - wenn sie nicht nur "angenehm" anzuschauen sind und gut in die Umgebung passen, sondern wenn sie auch angenehm anzugreifen sind, gut in der Hand liegen usw.

Umgekehrt betrachtet: Es ist eine alte Erfahrung, daß für "Waren" (also für Dinge, die auf dem Markt verkauft werden müssen, gleichzeitig aber auch Gegenstände des täglichen Umgangs sind, sogenannte "Gebrauchsgegenstände") höhere Preise erzielt werden können, wenn sie auch "wohlgefällig" aussehen. Werbepsychologie und Verpackungsindustrie (und viele andere Branchen) leben von diesem Effekt der Kombination.

Unsere Ästhetik ist also zum guten Teil eine Waren-Ästhetik. Sie ist es auch dann, wenn wir Menschen beurteilen. Deshalb kann man mit Recht davon sprechen, daß uns die Warentausch-Gesellschaft ihre Gesetze aufprägt: Wer "schön" ist oder sich "schön" zu machen weiß, kann sich besser anbieten, hat am zwischenmenschlichen Markt größere Chancen, gut anzukommen. Wer dagegen das Stigma der "Häßlichkeit" trägt, wer Ekel und Befremden erregt (zudem als Arbeitskraft nicht voll entsprechen kann), hat geringe Chancen und kaum Alternativen. Soll er sich auf dem zwischenmenschlichen Markt unter so ungünstigen Bedingungen (die nicht von ihm gesetzt worden sind) überhaupt anbieten? Soll er die Isolation einem Konkurrenzkampf mit voraussehbarem Ende vorziehen?

Es ist folglich sehr schwierig, das Stigma, das ja von der Gesellschaft hervorgebracht wird, zwischenmenschlich "aufzulösen". Denn es besteht die Tendenz, daß in der zwischenmenschlichen Beziehung alle Reaktionen des Stigmatisierten, wie Ärger, Angst, Aufregung, Aggression, Resignation, als Bestätigung seiner Andersartigkeit aufgefaßt werden. Wie sich der Stigmatisierte auch verhalten mag, stets kann sein Verhalten als Teil seines Stigmas ausgelegt werden. Der Stigmatisierte ist deshalb immer in einer Bedrohungssituation, aus der heraus er Strategien für den sozialen Kontakt entwickeln muß. So muß er z.B. versuchen, bei Kontakten die Information über sich, über das was er sagt und was er tut, zu steuern, zu kontrollieren und zu zensurieren (Stigma-Management).

Auf diese Weise kann er entweder sein Stigma erfolgreich verstecken oder, wenn er das nicht kann, muß er versuchen, sich so locker und natürlich darzustellen und über sein Stigma so unbefangen zu reden, daß dem Nichtstigmatisierten Befangenheit und Hilflosigkeit genommen werden. Gelingt auch das nicht, entsteht Peinlichkeit, Aggression.

Verständnis für den Nichtstigmatisierten, für seine Kommunikations-, und Kontaktblockade, werden also dem Stigmatisierten abgefordert. Er soll seine Bedürfnisse selbst zensurieren, möglichst so, daß die Nichtstigmatisierten daraus noch einen emotionalen Gewinn erzielen können; denn man kann sich als Nichtstigmatisierter wahrhaft charaktervoll fühlen, wenn man diese Selbstzensur des Stigmatisierten (die man im Grunde mitverschuldet) als "innere Stärke und Fähigkeit zur Schicksalsbewältigung" herausstellt. Das ist dann der "sekundäre" Stigma-Gewinn derer, die stigmatisieren. Und ihr "primärer" Stigma-Gewinn? - Die Machtkonzentration auf Seiten der Nichtstigmatisierten, der "Normalen": Kontrollmacht, Handlungsmacht, Etikettierungsmacht, Verfügungsmacht, Polizeimacht.

Das Stichwort "Macht" führt uns noch weiter. Nachdem wir gesehen haben, wie konsequenzenreich gesellschaftliche Definitionsmacht eingesetzt wird, ist nun zu fragen, ob nicht auch die "Produktion von Wissen", die wissenschaftliche Forschung Monopole der Macht erzeugt, und ob dort, im Zentrum dieser Macht, nicht wieder neue Stigmatisierte entstehen: die Uniformierten, die Orientierungslosen, die Dummen - die braven Untertanen.

Exkurs zur Handlungsforschung

Forschung soll etwas mit "Erkenntnisgewinnung" zu tun haben und letztlich der "Wahrheitsfindung" dienen. - Darüber ist man sich einig, auch wenn diese Voraussetzungen nicht ständig neu betont werden. Alle weiterführenden Fragen, ebenfalls oft verschwiegen, wurden durch die geschichtliche Entwicklung "gelöst"; Fragen nach den sozialen Bedingungen, unter denen es allen Menschen möglich ist, relevante Erkenntnisse zu machen; Fragen nach dem sozialen Ort der Wahrheitsfindung usw.

Forschung konzentriert sich heute in Institutionen, in Instituten der Universität, der Wirtschaft, des Heeres, des Staates usw. Spezialisten verfügen dort über immer mehr und immer exklusiveres Wissen. Der Alltag ist von relevantem Wissen entleert, in eine bewußtlose Routine gezwungen, unter fremdes Kommando gestellt.

Handlungsforschung hat sich zum Ziel gesetzt, der angedeuteten Tendenz entgegenzuwirken: Sie will die Erkenntnisgewinnung in den Alltag zurückholen, einseitige Definitionsmacht abbauen, Wissen entmonopolisieren.

Forschung soll in den Lebenssituationen des Alltags ihre "Bewährungsprobe" bestehen, d.h. den im Alltag fremdbestimmt und schablonenhaft handelnden Menschen zu einem Wissen verhelfen, mit dem sie die erschwerenden (stigmatisierenden) Bedingungen in der eigenen Lebenswelt erkennen und verändern können.

Bei der durch Handlungsforschung angestrebten Veränderung geht es demnach darum, daß grundsätzlich jeder Mensch aus dem Zustand der "schicksalshaften" Abhängigkeit gegenüber vorgegebenen, undurchschaubaren und unterdrückenden Lebensbedingungen herauskommt und in die Lage versetzt wird, durch die bewußte Teilhabe am gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß Einfluß auf die eigenen Lebensbedingungen nehmen zu können (vgl. dazu HOLZKAMP-OSTERKAMP 1976, S.449f; GSTETTNER 1977, S.259f).

In der Bundesrepublik, in Frankreich und Italien kam es 1968 im Zuge der Studentenbewegung erstmals zu einem massiven Angriff auf die Bastionen monopolisierten Wissens, auf die Ordinariate der Universitäten. Es dauerte dann allerdings einige Jahre, bis Forschungsgruppen tatsächlich in der Lage waren, in jene Institutionen einzudringen, in denen Bewußtsein eingekerkert wird, Handlungen gesteuert und genormt werden, in denen jeder kritische Diskurs verboten ist, kurz: in Erziehungsheime, Besserungsanstalten, psychiatrische Abteilungen, Gefängnisse.

Da für Österreich zu gelten scheint, daß sich oppositionelle Strömungen -wenn überhaupt - nur schwer bemerkbar machen können, ist Handlungsforschung hierzulande noch weitgehend unbekannt. Am Psychologischen Institut der Universität Innsbruck wurde im Wintersemester 1976/77 erstmals der Versuch gemacht, im Rahmen einer Lehrveranstaltung diese neue Forschungskonzeption vorzustellen.

Hier kann nicht im einzelnen nachgezeichnet werden, wie sich unsere Argumentation in diesem Seminar schrittweise aus einer Kritik der herkömmlichen Forschungsstrategien entwickelt hat. Wir wollen lediglich einige Stadien der Auseinandersetzung zurückverfolgen.

1. Stadium: Untersuchung der "verborgenen anthropologischen Voraussetzungen in der Psychologie" (nach HOLZKAMP 1972); gefragt wurde in erster Linie nach dem "Menschenbild", das den Psychologen vorschwebt, wenn sie Experimente planen und durchführen.

Wir kamen u.a. zum Ergebnis: Die Trennung in "Versuchsleiter", der die Versuchsbedingungen setzt, kontrolliert und Vorschriften über Reaktionsweisen macht, und in "Versuchspersonen", die ihr Einverständnis dazu geben, daß sie Bedingungen ausgesetzt werden, die sie selbst nicht beeinflussen oder voll durchschauen können, stellt eine s c h l e c h t e soziale Realität dar. Sie beruht auf der isolierten und genormten Person.

Diese Experiment-Realität ist allerdings oft nicht weit von der gesellschaftlichen Realität entfernt: Viele Menschen sind gezwungen, unter Bedingungen zu leben, die für sie fremd, äußerlich, undurchschaubar und schicksalhaft vorgegeben erscheinen, Bedingungen, die sie in die Isolation treiben.

2. Stadium: Untersuchung der tatsächlichen Rollenbeziehungen zwischen "Versuchsleiter" und "Versuchsperson" (nach MERTENS 1975); analysiert wurden in erster Linie die wechselseitigen Verhaltenserwartungen.

Zum Ergebnis: Die schlechte soziale Realität des psychologischen Experiments begründet eine "asymmetrische" Rollenbeziehung; zum Beispiel:

Die Versuchsperson erwartet vom Versuchsleiter (in der Rangfolge):

1. Geben von klaren Anweisungen

2. Gewährung von Sicherheit

...

...

10. Ehrlichkeit

Der Versuchsleiter erwartet von der Versuchsperson (in der Rangfolge):

1. Kooperation

2. Ehrlichkeit

3. Pünktlichkeit

4. Ernsthaftigkeit

5. Verschwiegenheit

3. Stadium: Untersuchung von Verhaltensstrategien und Konflikten zwischen "Forschern" und "Betroffenen" (nach FRIEDLÄNDER 1972); analysiert wurden von uns in erster Linie die Auflösungs- und Beharrungstendenzen traditioneller Forschungsstandards, wenn es zu einer Solidarisierung zwischen Versuchsleiter und Versuchsperson kommt.

Unter anderem ergab sich folgendes Schema: Eine "brave" Versuchsperson verhält sich so, wie sich ein "braver" Arbeitnehmer gegenüber der Betriebsleitung verhält.

(AGYRIS 1968, nach MERTENS 1975, S.39)

Beziehung zwischen Management

und Untergebenem

Beziehung zwischen Versuchsleiter und Versuchsperson

  • rationale und klare Definition der Rolle des Untergebenen

  • Etablierung von Informationsmacht (d.h., das Management gibt so wenig Informationen wie möglich)

  • Anreiz zur Teilnahme (z.B. in Form von Geld)

  • einseitige Befriedigung der wissenschaftlichen Bedürfnisse des Forschers;

  • zu diesem Zweck Durchführung einer größtmöglichen Kontrolle

  • Anreiz zur Teilnahme durch Versprechen eines Scheines, finanzieller Belohnung etc.

4. Stadium: Untersuchung von Anspruch und Wirklichkeit hinsichtlich symmetrischer Rollenbeziehung in Handlungsforschungsprojekten (nach dem Themenheft "Handlungsforschung" der Zeitschrift betrifft: erziehung 1975, Heft 5); analysiert wurde in erster Linie nach dem Kritikenkatalog aus dem "Fachbereich Sozialpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Berlin" (in HAAG u.a. 1972, S.56f); dort heißt es:

"Die Forscher treten erstens nicht punktuell in eine Situation ein, um Meinungen zu erfragen, sondern sie nehmen über einen längeren Zeitraum begleitend an einem sozialen Prozeß teil und helfen, ihn voranzutreiben; sie arbeiten zweitens nicht mit sozial isolierten Individuen, sondern mit Gruppen in deren gesellschaftlichen Bezügen, und sie informieren drittens diese Gruppen nicht nur über Ziel und Zweck der Untersuchungen, sondern beteiligen sie auswertend an der Einschätzung der Forschungsergebnisse."

Wir kamen u.a. zum Ergebnis: Das Konzept der Handlungsforschung ist geeignet, die herkömmliche Rolle der Versuchsperson, ihre experimentell herbeigeführte Isolation, aufzuheben und symmetrische Kommunikation sowie relevante Lernprozesse bei allen Beteiligten zuzulassen. Für die Überprüfung konkreter Projektpraxis an diesen Kriterien sind allerdings noch eine Reihe weiterer Fragen zu stellen und zu beantworten:

  • Wie sind die gesellschaftlichen Gruppen definiert und organisiert, mit denen die Forscher zusammenarbeiten wollen?

  • Welches theoretisches Vorverständnis haben die Forscher vom Bewußtsein, vom sozialen Umfeld der Betroffenen, von möglichen Veränderungsstrategien?

  • Kommt es zu Diskrepanzen zwischen theoretischem Vorverständnis und praktischen Erfahrungen, und wie werden sie bearbeitet?

  • Werden Handlungsziele bzw. Forschungskonzepte durch die Betroffenen erarbeitet, angenommen, verändert, abgelehnt oder sonstwie beeinflußt?

  • Welche Methoden der Sozialforschung werden (mit welcher Begründung, mit welchen Schwierigkeiten) eingesetzt?

  • Wird die Rolle der Versuchsperson völlig aufgehoben oder kommt es zu einer "flexiblen Arbeitsteilung" bzw. zu einem zeitweiligen Rollentausch?

  • Kommt es zu Spannungen, Konflikten, Kooperationsaufkündigungen zwischen Forschern und Betroffenen und welche Konsequenzen/Bearbeitungsformen ergeben sich daraus?

  • Welche kurzfristigen/langfristigen Folgen der Handlungsforschung sind zu erwarten, und was haben die Forscher/Betroffenen voraussichtlich bzw. nachweisbar gelernt?

  • Zieht die Forschergruppe Konsequenzen irgendeiner Art für Forschungen ähnlichen Typs, und wie grenzt sie sich von anderem forschungsstrategischen Vorgehen ab?

(Auszug aus den "Fragen zur Analyse von Handlungsforschungsprojekten" WS 1976/77).

Es ist vom Stand unserer heutigen Arbeit in der "Initiativgruppe" schwer abzuschätzen, ob uns der damalige Einstieg über die Lehrveranstaltung "Handlungsforschung" und über die Stigma-Diskussion geholfen hat, die Behinderungsproblematik "richtig" aufzugreifen. Auf der einen Seite war uns klar, daß mit Methoden der herkömmlichen Forschung (Beobachtung, Tests, Befragung usw.) die Lebenswelten und Bewußtseinsformen von Behinderten nicht adäquat abbildbar sein würden, daß so Behinderten überhaupt nicht geholfen würde. Auf der anderen Seite wurden durch unsere theoretischen Überlegungen hohe Selbst-Ansprüche aufgebaut, besonders was die Kriterien für eine "entstigmatisierende", symmetrische Kommunikation betrifft. Vermutlich blieb in diesem Zusammenhang auch das eigene Unvermögen, mit Behinderten zu kommunzieren, weit unterschätzt.

Koketterie mit der "Praxis"

Da wir uns kaum vorstellen können, was "Rehabilitation" unter dem Stigma-Ansatz praktisch bedeutet, wozu sie befähigt, und wir den dunklen Verdacht hegen, daß die gängige Rehabilitation womöglich neue Stigmatisierung erzeugt, beschließen wir, dem Rehabilitationszentrum in B. einen Besuch abzustatten. Als Vorbereitung arbeiten wir anhand unserer bisherigen Erkenntnisse einen Beobachtungs- und Fragenkatalog aus, den wir zur Analyse der Interaktion im Rehabilitationszentrum (RZ) verwenden wollen. Ein Artikel in einer Illustrierten über das RZ in B. kommt uns dabei zu Hilfe. Die dort dargestellte Rehabilitation erscheint uns zu glatt formuliert, "zu schön, um wahr zu sein". Da heißt es zum Beispiel:

"... In B. merkt man kaum etwas von Spitalsatmosphäre. Das riesige moderne Gebäude mit seinen Sonnenterrassen liegt in einem weitläufigen Park, von Waldstücken und Ausläufern der kleinen Ortschaft umgeben. Auch die Inneneinrichtung erinnert mehr an ein Ferienheim als an ein Krankenhaus. Der Speisesaal ist groß und hell, die Wände mit Mosaiken dekoriert, die Tische sind bunt gedeckt, im Buffet ist eine ganze Wand mit einem heiteren Zaubergarten voll phantastischer Tiere bemalt. In der Halle stehen große lederne Klubsessel rund um einen mit Pflanzen bewachsenen Springbrunnen. Nur die Türen, die sich automatisch öffnen, und die hohen Tische im Speisesaal verraten, daß hier behinderte Menschen leben.....

.... Die größte Aufgabe erwartet die Patienten von B. nach der Rückkehr in die frühere Umgebung. Wenn die Rehabilitation beendet ist, haben Ärzte, Pfleger und die Kranken selbst alles getan, um die Behinderten auf ihr zweites Leben vorzubereiten. Wie weit sie von der Gesellschaft akzeptiert werden, ist eine andere Frage." (aus: BRIGITTE, Heft 22 vom 21.Oktober 1976).

Also ein kleines Paradies, in das wir einen Blick werfen dürfen. Tatsächlich wird sich auch herausstellen, daß die Beschreibung des RZ in der Illustrierten "richtig" ist, d.h. es werden keine falschen Informationen verbreitet.

Was uns aber auffällt, ist zweierlei: Einmal die Perspektive, die der Berichterstatter eingenommen hat, und zum anderen das "Bild", das im Bewußtsein des Lesers erzeugt werden soll. Die Funktion der Zeitungssprache ist hier - wie in den meisten anderen Medien, die über Behinderte berichten (z.B. HOVORKA 1977a) - "verschleiernd"; und indem man sich um Verschleierung bemüht, wird vieles klarer - zwischen den Zeilen; zum Beispiel:

  • Die "Spitalsatmosphäre", die man kaum merkt; - Weshalb soll (oder darf) man sie nicht merken, wenn das RZ doch faktisch ein Spital ist? Weil dieses "Spital" nicht Kranke heilt, sondern Stigmatisierte entläßt? Ist es die spezifische "Atmosphäre", die Stigmatisierte umgibt, und die man vor den Besuchern verbergen will?

  • Der "weitläufige Park"; - Was bedeutet eigentlich "weitläufig" für jene, die nicht mehr laufen können? Verkehrt sich für sie nicht der Park in einen "Park-Platz"?

  • Die Waldstücke und die "Ausläufer der kleinen Ortschaft"; - Was sind eigentlich diese "Ausläufer" des Ortes? Einzelne Häuser, Ortstafeln, Straßenränder - oder ab und zu ein Mensch (ein hin-auslaufender Dorfbewohner)?

  • Das "Ferienheim", hinter dem sich ein "Krankenhaus" versteckt; - Was sind das für "Ferien", zu denen man durch einen Arbeitsunfall gezwungen wird? Ist das nicht eine großzügige Gesellschaft, die ihre Arbeiter in Ferienheime schickt?

  • Die herrlichen Farben und phantastischen Malereien, Kunstwerke, die sogar eine ganze Wand ausfüllen; - Was für einen Streich spielt uns die Ästhetik hier? Weshalb schreibt man über die bunte Pracht von toten Gegenständen und nicht über die Eintönigkeit und Verstümmeltheit der lebenden Menschen, über jene, die von der Arbeit arbeitsunfähig gemacht wurden?

  • Die "großen ledernen Klubsessel" und der ganze Hauch von Luxus; Was verbirgt sich hinter diesem Luxus, wem dient er? Den Besuchern, damit sie sehen (und "sinnlich wahrnehmen"), daß die Gesellschaft keine Ausgaben scheut, wenn es um die Rehabilitation von Behinderten geht?

  • Dann - ein kleiner Schönheitsfehler: Durch irgendetwas wird "verraten, daß hier behinderte Menschen leben ...."

  • Es sind die Türen und Tische, die die Anwesenheit behinderter Menschen verraten - nicht etwa die behinderten Menschen selbst, die ja angeblich dort l e b e n.

  • Und schließlich die Rehabilitation selbst, diese große und totale Umwandlung des Menschen. Er ist nicht mehr der, der er früher war. Er ist jetzt ein anderer. Er kehrt zurück in die "Umgebung", von der gesagt wird, daß sie noch die "frühere" ist. Und nach der totalen Rehabilitation, nachdem alle alles getan haben, zum Besten des Behinderten, sogar er selbst? Hier beginnt für den Behinderten das "zweite Leben"; - Ist es das Leben nach dem Tod, der Tod selbst, nämlich die tödliche Isolation, das heißt: das Stigmatisiertenleben?

Der Besuch selbst gestaltet sich zu einer Art Museumsführung. Die Abteilungen werden uns gezeigt, die technischen Einrichtungen vorgeführt. Wir dürfen auch einen Blick in Räume machen, in denen gerade therapeutisch gearbeitet wird. Überall wird Trainingsanzugs-Uniform getragen.

Bei der anschließenden Diskussion mit dem leitenden Arzt und dem Personal des Zentrums kommt es zu großen Differenzen. Es ist unsere erste Kontroverse mit Vertretern und Verfechtern der Rehabilitations-Realität. Dazu einige Zitate aus einem Gedächtnisprotokoll (später noch ergänzt):

"Der Arzt betont, daß die Architektur des Zentrums kommunikativ ist, die Vorhalle, durch die jeder gehen muß, die Holzvertäfelung in den Gängen usw..... Für uns Besucher ist die "reine" (im doppelten Sinn) Krankenhausatmosphäre jedoch nicht zu übersehen....

Der Arzt spricht immer. Er läßt die Schwester, trotz direkter Befragung durch uns, kaum zu Wort kommen....

Sport, Physikotherapie, physische Ertüchtigung gehören zur offiziellen Arbeit des RZ, der zentrale Bedeutung zugemessen wird. Eine Nachbetreuung für die Zeit nach dem Aufenthalt im Zentrum ist nicht vorgesehen. Das Zentrum ist nur für Arbeitsunfälle da, nicht z.B. für Sportunfälle. Das Zentrum wurde von der AUVA (Allgemeine Unfallversicherung) eingerichtet und wird von ihr finanziert, also von einer Institution, die von den Unternehmern bezahlt wird, um sich vor Ansprüchen der verunfallten Arbeitnehmer abzusichern. Unser Einwand, daß das ja doch letztlich die Arbeitnehmer mit ihren Beiträgen finanzieren, wird als "ideologisch" bezeichnet ... Der Sozialarbeiter tritt wie ein Funktionär der AUVA auf. Er stellt die soziale Rehabilitation als gelöstes Problem dar, verweist auf das Zentrum für berufliche Förderung Behinderter in L. Er geht nach einer halben Stunde - "ich habe alles klargestellt" - obwohl noch nichts klar ist... Tatsache ist, daß das RZ mehr Personal als Patienten hat, aber nur eine Psychologin (sie ist selbst behindert, heute leider nicht anwesend) und nur zwei Sozialarbeiter. Das spricht für sich....

Es wird zugegeben, daß man das RZ nicht "Rehabilitationszentrum" nennen sollte, sondern lieber privates Krankenhaus zur physischen Wiederherstellung.... Im RZ gibt es keine Patientenklassen ....

Man erzählt uns, daß die Psychologin Ausflüge für die Patienten organisiert, sie wählt aus, wer mitfährt. Die Orte H. und W. sind für die Patienten so gut wie nicht erreichbar, jedenfalls nicht ohne fremde Hilfe. (H. ist die "kleine Ortschaft" mit den oben zitierten "Ausläufern".) Zu den Veranstaltungen im Zentrum hat die Dorfbevölkerung keinen Zutritt. Die Isolation ist fast perfekt ...

Weil uns das nicht einleuchten will, daß man so entmündigend behandelt wird, fragen wir nochmals, ob die Patienten nicht wenigstens das Programm der Veranstaltungen selbst mitgestalten können. - Sie dürfen das zwar "offiziell", es geschieht aber nie.

Es werden uns keine selbständigen Aktivitäten von Patienten genannt, die vom Zentrum aus als wichtig oder förderungswürdig bezeichnet werden. Man kann hier auch nicht "nur so zum Spaß" das Schwimmbad oder die Sauna benutzen. Das geht nur unter Aufsicht des Personals, sagt man uns .... Wir fragen (scheinheilig), ob es da nicht sexuelle Probleme gibt, wenn man so eingesperrt ist; weil ja die Therapeutinnen auch nicht gerade häßlich sind, und so. Nein, eigentlich nicht; weder die Therapeutin noch die Krankenschwester haben bisher Patienten beim Onanieren "erwischt"...

Auffällige Patienten (Aggression, Depression) werden an die Psychologin verwiesen ("Kümmern Sie sich mal um den Patienten X.") Wir erhalten keine Antwort auf die Frage, ob die Schwestern irgendwie an der Betreuung (oder Überweisung) beteiligt sind. Die Psychologin und eine Schwester werden zu den medizinischen Besprechungen zugezogen. Was sie dort zu sagen haben, bleibt unklar....

Ein Psychiater wird fallweise herangezogen. Aber man ist vorsichtig mit solchen Überweisungen, weil eine Überweisung von Patienten sehr ernst genommen wird ("Ich bin doch kein Trottel") und weil ein zusätzliches Stigma entsteht ("Alkoholiker" usw.)...

Wir äußern nochmals unseren Verdacht, daß die soziale Rehabilitation doch weitgehend ausfällt und die berufliche wohl nicht sehr effektiv sein dürfte. - Das stimme schon, nur müsse man die wirtschaftliche Situation bedenken. Stellen werden keine bewilligt, Behinderte nicht wieder eingestellt....

Im Anschluß an die Diskussion sitzen wir noch in der Kantine des RZ. Bei uns am Tisch, jedoch etwas abgerückt, sitzen einige Patienten, Rollstuhlfahrer. Zögernde Fragen gehen hin und her. - Woher wir kommen? - Aus Innsbruck, studieren dort Psychologie. - Ob wir auf Besuch sind? - Nein, wir wollen das hier nur einmal ansehen, kennenlernen. Ob sie die Psychologin kennen? - Ja, kennen schon; aber man war noch nie dort; die ist ja selber so arm dran, behindert ist sie. Wie soll die einen trösten? - Zwischendurch immer wieder kurze Gespräche mit der Frau hinter der Theke. Es herrscht eine vertrauliche Atmosphäre. Wir fragen in diese Richtung. - Ja, ja, die Frau F., die kennt unsere Probleme gut; wahrscheinlich besser als die Psychologen. - Wir fragen, ob sie glauben, wieder eine Arbeit zu finden. - Ja, hoffen tut man's halt; aber schwierig wird's sein...."

Wir sind wieder im Seminar und diskutieren. Einige Studenten nehmen die Möglichkeit wahr, an einer Initiative zur Schaffung eines (privaten) integrierten Kindergartens teilzunehmen. Relativ viele ziehen es vor, mit behinderten Kindern zu arbeiten; so teilt sich die Gruppe, es bleiben acht Leute übrig, die weiter an einem Kurs-Konzept arbeiten möchten. Die beiden Gruppen treffen sich nun noch einige Zeit regelmäßig zu einem "Plenum", jedoch in der Folge reduzieren sich die Kontakte immer mehr.

Um von den Diskussionen wegzukommen, entsteht die Idee, daß wir Studenten "demonstrativ" mit Rollstühlen in die Öffentlichkeit gehen sollten, um so auf Barrieren aufmerksam zu machen, Passanten um Hilfe zu bitten, um die Unzugänglichkeit der öffentlichen Verkehrsmittel zu zeigen usw. (Man erkennt, daß wir immer noch stark am Konzept des Kurses von KLEE orientiert sind.)

In den Räumlichkeiten des psychologischen Instituts wird der Umgang mit einem Rollstuhl zuerst einmal ausprobiert. Wir setzen uns hinein. Der Effekt ist erstaunlich. Sofort stellen sich nämlich Angst und "unwohle Gefühle" ein. Am liebsten würde man aufstehen und sich aus dem Staub machen, sobald jemand vorbeikommt und den "Rollstuhlfahrer" sieht. Das Bedürfnis ist groß, sich sofort als "Nichtbehinderter" zu erkennen zu geben.

Der Plan, im Rollstuhl auf die Straße zu gehen, wird neuerlich diskutiert. Es wird erwogen, sich so zu verkleiden, daß man durch Bekannte auf keinen Fall erkannt wird.

Wir kommen zu keinem Entschluß. Der Sinn der ganzen Aktion wird in Frage gestellt - der Plan schließlich still fallengelassen. Wir haben bei uns erfolgreich verdrängt, was wir bei anderen so gut als "Versagen" wahrnehmen konnten.

Nach wie vor gibt es Unsicherheit und Aktionslosigkeit in unserer Gruppe. Wir holen Informationen bei der Sozialberatungsstelle des Landes zur aktuellen Situation von Behinderten in Tirol ein. Wir stellen Kontakt zum "Institut für Soziales Design" (ISD) in Wien her, wo Mitarbeiter an der Volkshochschule Meidling einen Kurs für Behinderte und Nichtbehinderte abhalten (HOVORKA 1977). Drei Mitglieder dieses Instituts kommen zu uns nach Innsbruck und berichten über ihre Arbeit. Wir werden noch unsicherer, ob ein "Kurs" an einer Volkshochschule für unsere Behindertenarbeit wirklich der beste Rahmen ist.

Wir beschließen, die konsequente Arbeit an der Theorieperspektive hintanzustellen, und - ohne endgültiges Handlungskonzept - Behinderte in die Gruppe zu holen. Trotz dieses Beschlusses und des Vorhandenseins von Adressen von Behinderten, wird gezögert, entsprechende Kontakte aufzunehmen. Man ist sich nicht klar, wie man mit Behinderten reden soll, wie man sich mit seinen Plänen verständlich machen soll, ob man nichtstudierende Behinderte ins Institut bringen kann usw.

Schließlich kommt uns ein über Bekannte informierter Behinderter (Rollstuhlfahrer) zu Hilfe; ohne große Hemmungen gesellt er sich zu uns. Nach kurzer Zeit kommt eine weitere Behinderte ins Seminar. Die Idee des "Kurses" wird durch die Idee eines locker geführten, eigenständigen "Clubs" ersetzt (- unsere spätere "Initiativgruppe"). Auch aus dem Instituts-Ghetto wollen wir ausbrechen.

"Öffentlichkeit" wird hergestellt

Da wir uns mit der entstehenden "integrativen" Gruppe in kein Hinterzimmer eines Lokals zurückziehen wollen, halten wir nach einem Ort Ausschau, an dem wir uns regelmäßig treffen könnten. Eine Beteiligung an dem gerade entstehenden "Kommunikationszentrum" (KOZ) in Innsbruck bietet sich an.

Das KOZ wird Anfang 1977 auf Initiative von Studenten eröffnet und in Selbstverwaltung geführt. Die Räumlichkeiten liegen im Parterre eines alten Stadthauses. Sie sind also für uns optimal zugänglich. Das wöchentliche KOZ-Plenum ist das beschlußfassende Organ. Ein Einfluß der Wiener Arena-Bewegung ist nicht abzuleugnen. Im Programm dominieren politische und kulturelle Veranstaltungen; am Abend gibt es einen offenen Barbetrieb. Mehrere, voneinander unabhängige Arbeitsgruppen und Initiativen nützen die räumlichen Möglichkeiten für Sitzungen, Veranstaltungen und lockere Kontakte.

Wir beschließen, im KOZ unsere "Club"-Idee zu verwirklichen und uns gleich an der Eröffnungsveranstaltung zu beteiligen. Unsere Einladungen zum "Fest" gehen an über 100 Behinderte, deren Anschriften wir uns über den Zivilinvalidenverband besorgen. Ein Abholdienst wird organisiert. Wir hoffen, daß viele Leute kommen, und daß wir mit unserer Unsicherheit nicht sonderlich auffallen. Wir wollen bewußt kein Programm anbieten, um den Eindruck erst gar nicht entstehen zu lassen, wir wollten etwas f ü r die Behinderten tun. Uns geht es um die Möglichkeit, daß alle untereinander in einer entspannten Atmosphäre ins Gespräch kommen.

Einige Behinderte kommen überaus pünktlich; unsere Gruppe ist noch nicht vollzählig. Die kleinen Räume des KOZ füllen sich aber so rasch, daß wir es bald aufgeben, Kontakte zu managen und Gespräche strategisch zu beginnen. Es sind ca. 20 Behinderte und 35 bis 40 Nichtbehinderte da. Die Behinderten in Rollstühlen sind teilweise beängstigend zwischen sitzenden und stehenden Menschen eingeklemmt. Die Stimmung ist überaus gut; jeder hat was zu reden, zu lachen, zu trinken. Das Fehlen eines "Festprogramms" löst Verwunderung, Verwirrung und sicher auch Ablehnung aus.

Uns fällt einerseits auf, daß sich eine größere Zahl von Nichtbehinderten ständig als geschlossener Block an der Bar aufhält. Sie getrauen sich nicht, sich unter die Behinderten zu mischen, für die die Getränke meistens von nichtbehinderten Begleitpersonen an der Bar geholt werden. Andererseits fällt uns nicht nur diese notwendige Serviceleistung auf, sondern auch die faktische Abhängigkeit, in der sich die meisten Behinderten befinden. Behinderte verstärken selbst diesen Eindruck. Einige betonen ihre Dankbarkeit für das Fest und bitten, nicht im Stich gelassen zu werden. Wir reagieren darauf unbeholfen-abweisend: Unser Standpunkt, daß wir für sie kaum viel tun können, daß es vielmehr darauf ankommt, daß sie selbst aktiv werden, wird vorerst kaum irgendwo verstanden oder geteilt. Die Mutter einer Behinderten will einem Medizinstudenten die Krankengeschichte ihrer Tochter mitbringen und weist - nach Ablehnung durch den Studenten - darauf hin, daß Behinderte mitunter sehr sonderbar sein können; da wäre es vielleicht recht gut, wenn wir uns informieren würden.

Im allgemeinen Tumult gelingt es uns gerade noch, soweit durchzudringen, daß eine Art "Anwesenheitsliste" herumgeht, um die Namen und Adressen zu erfassen. Für uns ist klar, daß wir nach diesem Erfolg weitermachen.

Wir werden eine Gruppe

Intentionen und Erwartungen

Beim Fest ist einigen von uns deutlich geworden, daß unser bisheriges "Konzept" nicht gänzlich falsch gewesen sein konnte; bisher waren wir uns nur selbst bei der Realisierung angstvoll im Wege gestanden.

Kommunikation zwischen Behinderten und Nichtbehinderten ist also durchaus herstellbar. Die "Kultur des Schweigens" ist nicht auf Sprachlosigkeit aufgebaut, sondern auf Sprachunterdrückung: also Sprechhemmung und Selbstzensur hinter einer Mauer des Schweigens, die von den Nichtbehinderten errichtet und gestützt wurde?

In der euphorischen Stimmung des Anfangs scheint uns gerade das KOZ die Gewähr dafür zu bieten, daß wir hier unsere Zielsetzungen am ehesten erreichen können. Im KOZ soll sich unsere Gruppe regelmäßig treffen, für Interessenten jederzeit zugänglich. Hier soll der Versuch gemacht werden, Lernprozesse bei allen Beteiligten in Gang zu setzen, neue Erfahrungen einzuleiten und isolierende Barrieren abzubauen. Neben den ständigen Gruppensitzungen ist daran gedacht, die Räume des KOZ zu einem Treffpunkt für Behinderte und Nichtbehinderte überhaupt zu machen, als Ort zu definieren, wo es ständig möglich sein soll, in zwangloser Atmosphäre Kontakte anzuknüpfen, Gespräche zu führen und vielleicht mit anderen KOZ-Besuchern gemeinsam Lösungen zur Beilegung von Alltagskonflikten zu finden.

Zu Beginn unserer Treffen existiert kein vorbereitetes Arbeitskonzept, da man sich nach den Bedürfnissen und Problemen der einzelnen Gruppenmitglieder richten will. Diese Offenheit läßt sehr rasch deutlich werden, wie unterschiedlich die Motive sind, die uns im KOZ zusammenführen.

Eine ganz grobe Einschätzung dieser Ausgangslage verweist auf zwei Aspekte:

  • Die Studenten betonen den Arbeitscharakter der Gruppe. Im Vordergrund steht ihr Interesse an einer langfristigen Verbesserung der Behindertensituation. Gemeinsam mit den Betroffenen wollen sie die Durchsetzung von deren Interessen erreichen und den Kampf gegen diskriminierende Lebensverhältnisse führen. Es ist auch ihr Bedürfnis, Angst, Scheu und Unsicherheit im Umgang mit Behinderten abzubauen und die Distanz aufzubrechen, die einen davor schützt, sich mit ihrer Lage auseinandersetzen zu müssen. Ihr Interesse richtet sich auch verstärkt darauf, daß die Öffentlichkeit durch gezielte Aktionen auf die Initiativgruppe und ihr Anliegen aufmerksam wird.

  • Für Behinderte liegt das Hauptinteresse in der Wahrnehmung des Kommunikationsangebots, das mit der Überschreitung der räumlichen und sozialen Isolation verbunden ist. Die Gemeinschaft der Gruppe bedeutet für sie eine Gelegenheit, das Bedürfnis nach Kontakt und Problemaustausch zu befriedigen. Der Aspekt der gemeinsamen Freizeitgestaltung hat hier stärkeres Gewicht. Einige nutzen die Möglichkeit, konkrete Probleme mit technischen und sozialen Barrieren zur Sprache zu bringen, wobei sie sich von der Gruppe Lösungen erhoffen.

Allen gemeinsam ist die Hoffnung, daß man sich "menschlich" näher kommen wird, d.h. sich außerhalb jener "repressiven Humanität" kennenlernen kann, die von den üblichen Fürsorgeeinrichtungen und deren Veranstaltungen ausgehen, und daß der Zusammenschluß zu einer "integrierten" Gruppe einer gesellschaftlichen Minorität größere Macht verleiht, und damit die Aussicht auf eine erfolgreiche Durchsetzung existentieller Interessen steigt.

Die Herausbildung der Mitgliederstruktur

Zum ersten Treffen finden sich ca. 20 Interessierte ein, jeweils die Hälfte Behinderte und Nichtbehinderte. Teilnehmerzahl und Zusammensetzung der Gruppe sind vor allem in der Anfangsphase fluktuierend. Es dauert eine ganze Weile, bis sich so etwas wie ein "harter Kern" (von ca. 5 Behinderten und ebensoviel Nichtbehinderten) gebildet hat, durch den der Fortbestand der Gruppe gewährleistet ist und in dem nicht mehr ausschließlich Studenten die Nichtbehinderten repräsentieren. Über ein halbes Jahr hindurch bleibt diese Kerngruppe ohne wesentliche personelle Veränderungen. Um den Teilnehmerstand zu vergrößern, um neue Leute auf die Gruppe aufmerksam zu machen, wird im Dezember (1977) wieder ein Fest durchgeführt.

An den ersten Sitzungen beteiligen sich manchmal Begleitpersonen von Behinderten. Aus unserer Sicht scheinen sie mit großer Selbstverständlichkeit eine Position von "außenstehenden Betreuern" einzunehmen und sich für das Geschehen in der Gruppe nicht zuständig zu fühlen. Unsere Versuche, sie zu "integrieren", bleiben erfolglos.

Das mag auch an diesen Versuchen liegen. Diese zeigen nämlich (in einem recht frühen Stadium unserer Arbeit) eine doppelte Schwierigkeit:

einerseits die ganze Tragweite dessen vorauszusehen, was an konkreter Lebensweltproblematik berührt wird, wenn wir der Auflösung des Komplexes von Isolation und Abhängigkeit auch nur durch kleine Schritte näherkommen; andererseits der ständigen Versuchung zu widerstehen, Partei für jemanden zu ergreifen, indem man f ü r ihn die Probleme formuliert und den Betreffenden dadurch fortgesetzt der "Kultur des Schweigens" überantwortet (Übernahme des "Stellvertreter-Prinzips").

Der folgende Gesprächsausschnitt aus unserem ersten Treffen zeigt einerseits, wie leicht und unkontrolliert wir durch das Fehlen einer Arbeitskonzeption in provozierende Rollen hineinkommen, andererseits, wie wir, im guten Glauben, das entmündigende "Stellvertreter-Prinzip" problematisieren zu müssen, gerade nach eben diesem Prinzip verfahren. Tonbandabschrift (P Student, M Mutter eines behinderten Mädchens, A anwesenes behindertes Mädchen ohne Wortmeldung, G Student, H Therapeutin und Studentin)

P.: Wir haben schon einmal darüber geredet. Es sind das letzte Mal Begleitpersonen mitgekommen: Auch heute sind einige mitgekommen und ich glaube, sie sollten in den Kreis herein.

M.: Ich hab mir gedacht, es soll die Tochter selber ..., sie soll selbständig werden.

P.: Ja, das ist auch ein Teil...; aber Sie können auch im Kreis drinnen sein.

M.: Ich höre erst einmal zu und dann ...

G.: Ich möchte aber dazu etwas sagen. Was die A. zuerst gesagt hat, sie muß daheim immer das tun, was die Eltern sagen. Sie kann nie das tun, was sie selber will. Und da wäre gerade so eine Gruppe oder so ein Ort wie das KOZ geeignet, wo sie was tun könnte, was sie selber möchte. Und nicht, was ihre Eltern sagen.

M.: Na eben, das ist falsch, nicht? Das müssen die Kinder schon selber wissen. Die Eltern können das nicht so beurteilen.

G.: Anscheinend kommen die Kinder gar nicht in die Situation, irgend etwas zu sagen, weil die Eltern da sind und sowieso ihr Programm durchziehen wollen.

M.: Na, also, ich bin anderer Meinung.

G.: Was für einer Meinung sind Sie nachher?

M.: Ich bin der Meinung, daß sie selber machen kann; also, was Sie da besprechen, daß sie da mittut, selbständig ist. Also wir reden da ihr nichts drein. Sie kann machen, was sie will.

(längere Wortmeldung eines Studenten zu einem anderen Thema)

M.: Da (im KOZ) kann man erzählen;..... Es muß ja nicht gerade über Politik gesprochen werden, nicht?

H.: Das kann auch ....

M.: ....kann auch, ja. Das ist so: wer sich interessiert, gell? Also, meine Tochter interessiert es nicht.

Der Schluß dieser Szene ist auch insofern typisch, als er zeigt, daß ein unterschiedliches Politik-Verständnis von Anfang an die Kommunikation über unsere Gruppenziele schwierig gemacht hat. Die Studenten gehen selbstverständlich davon aus, daß alte Aktivitäten der Gruppe insofern "politisch" sein werden, als eben Artikulation und Organisation von Interessen zu den unumgehbaren Voraussetzungen von politischer Handlungsfähigkeit und Durchsetzungskraft gezählt werden müssen.

Für die Studenten steht die Vorstellung im Hintergrund - als Teil ihrer eigenen Erfahrung -, daß eine persönliche Emanzipation aus Verhältnissen, die isolieren und in Abhängigkeit halten, letztlich ein politisches Faktum ist - auch wenn man sich für "Politik" überhaupt nicht interessiert. Es ist für sie deshalb undenkbar, "Politik" aus der Gruppe herauszuhalten.

Die Mutter, die hier ja stellvertretend für ihre Tochter spricht, möchte "Politik" als Gesprächsthema vermieden wissen, zumal sich ihre Tochter dafür nicht interessiert gezeigt hat. Wahrscheinlich ist diese Berufung auf das fehlende Interesse der Tochter aber nicht nur eine Stellvettreter-Reaktion. Sie ist auch eine versuchte Ausflucht vor den Widersprüchen, die sich aufgebaut haben: Man redet der Tochter nichts drein über Politik soll aber nicht gesprochen werden; die Tochter kann machen, was sie will - man bleibt aber hier und hört "erst einmal zu und dann ....."

Die nichtbehinderten Gruppenmitglieder sind in der ersten Zeit vorwiegend Studenten, die zum Teil schon der Seminargruppe angehört haben, zum Teil erst später, etwa aus den Reihen der KOZ-Besucher, dazugekommen sind. Die später hinzukommenden nichtbehinderten Mitglieder sind berufstätig oder Hausfrauen. Sie erfahren meist durch persönliche Kontakte von unserer Gruppe.

Der Großteil der Nichtbehinderten hat schon früher in irgendeiner Weise mit Behinderten zu tun gehabt: Einige als Sozialarbeiter oder Physikotherapeutinnen; zwei Medizinstudentinnen hatten im Rahmen einer anderen Initiative mitgeholfen, für Behinderte aus Deutschland eine Urlaubswoche in Tirol zu organisieren; ein Student hatte einen Monat in einem integrierten Studentenheim verbracht usw.

Bei einem Teil der nichtbehinderten Mitglieder entsteht dadurch ein relativ hoher Grad an Informiertheit über das, was man als "Behindertenprobleme" bezeichnet. Von hier aus ist auch verständlich, daß viele Nichtbehinderte für sich einen gewissen "Durchblick" beanspruchen, der dann in der Problemformulierung deutlich wird.

Dazu ein Beispiel von unserem ersten Treffen, bei dem eine Studentin im Rahmen der "Vorstellung" u.a. berichtet:

"Ja, ich studiere Psychologie und habe bis vor kurzem in einem Heim als Physikotherapeutin gearbeitet und habe halt da viele Sachen gesehen, die mir aufgefallen sind; daß die Leute also wirklich acht Stunden täglich (in der geschützten Werkstätte) diese langweiligen Arbeiten machen, die man sonst in Heimarbeit macht, wo man sowieso schon einen Pappenstiel dafür kriegt. Wenn das ein Körperbehinderter macht, dann schaut natürlich noch viel weniger heraus, weil der braucht viel länger dazu. Dann ist mir außerdem aufgefallen, daß der Tag genau eingeteilt ist, daß man alles gemeinsam unter nimmt, daß fast keine Möglichkeit besteht, daß irgendeiner einmal ein bißchen ausweicht, abweicht. Das fällt sofort auf, wird sofort besprochen und wird sofort wieder verhindert. Und es handelt sich hier um Leute, die zwischen 16 und 28 Jahre alt sind. So, wie das Ganze aufgebaut ist im Heim, hab ich mir eigentlich nicht vorstellen können, wie man da jemals wieder herauskommt: Erstens verdient man nichts, wodurch man sich ein bißchen eine Grundlage schaffen könnte. Zweitens kann man keine Verbindungen anknüpfen, daß man da ein bißchen einen Abstand gewinnt zu der Abhängigkeit."

Von den jugendlichen Behinderten, die zur Gruppe kommen, sind die meisten arbeitslos oder mit ihrer Arbeit unzufrieden. Wenige haben das Gefühl, in ihre Umgebung voll integriert zu sein, familiär und beruflich. Bei der Mehrzahl der Behinderten liegen zahlreiche konkrete Erfahrungen von gesellschaftlicher Diskriminierung, Stigmatisierung und Isolation vor (menschliche Zurückweisung, mangelnde Ausbildung, Arbeitslosigkeit, Heimghetto, bauliche Unzulänglichkeiten usw.).

Die Berichte darüber stellen keine abgehobenen und zusammengefaßten Problemformulierungen dar, sondern geben Unmittelbarkeit und leidvolle Betroffenheit wieder. In den Schilderungen brechen sich die enthumanisierenden Praktiken der Umwelt ebenso wie die Restbestände individuellen Widerstands gegen diese Umwelt.

Auch dazu ein Beispiel vom ersten Treffen, entnommen aus der "Vorstellung" eines behinderten Jugendlichen, der in dem Heim lebt, von dem die Therapeutin eben gesprochen hat:

".. daß wir der Heimleitung aufs Wort gehorchen müssen, wie der Hund auf sein Herrchen. Ich hätte z.B. bei mir daheim die Möglichkeit, einen Telefonfunkdienst halbtags zu übernehmen, .... weil, was wir da im Heim machen, sind einfache Arbeiten, was die Behinderten ... Du weißt eh.(....)

zum Beispiel mache ich jetzt unten im Heim Klemmen. Da krieg ich für 100 Stück 3,85 Schilling. Was ist das schon? Einer tut's zählen; die einen tun das und die anderen das. Ich weiß, Arbeit finden ist für einen Behinderten schwer, weil viele Leute, ich meine, Ihr werde lachen, viele Leute sagen, "den können wir nicht nehmen". Das kommt vor ... (...) Ob das jetzt ein gesunder Mensch ist, ob das jetzt ein behinderter Mensch ist, das ist vollkommen wurst; aber ich bin der Meinung, daß der Behinderte das gleiche Recht hat, einen Beruf zu ergreifen wie ein Gesunder. Ja, wenn Du dich da nicht früher kümmerst, bist Du selber der blöde Hund."

Im Laufe der Zeit verließen einige nichtbehinderte und behinderte Mitarbeiter die Gruppe. Die Motive lassen sich schwer rekonstruieren, dürften jedoch einerseits auf nichterfüllte Erwartungen, andererseits auf "Überforderung" durch die Gruppe zurückgehen; Überforderung vor allem hinsichtlich des Arbeitsaufwandes (Sitzungen, Abholdienste, Vorbereiten von Aktionen usw.), aber auch hinsichtlich der "emotionalen Aufwendigkeit" der Arbeit in der Gruppe (persönliche Aufarbeitung von Reaktionsweisen gegenüber Behinderten; Aufarbeitung der eigenen Balance von Zuwendung und Distanz usw.). Zu diesem Bereich können wir jedoch heute nicht mehr als ein paar Vermutungen äußern.

Zur Arbeitsweise

Unsere Arbeitsweise ist einfach und unterscheidet sich wahrscheinlich nicht von der vieler anderer Arbeitsgruppen. Am Beginn jeder Sitzung werden Diskussionspunkte festgelegt, die man anschließend der Reihe nach bespricht. Ein Diskussionsleiter wird jedesmal neu gewählt. Die einzelnen Sitzungen werden mehr oder weniger ausführlich protokolliert, sofern wir nicht vergessen, einen Protokollanten zu bestimmen. Gelegentlich wird ein Tonbandgerät aufgestellt, um die Sitzung einer späteren Auswertung zugänglich zu machen. Die Notwendigkeit dieser Tonband-Dokumentation wird zwar von den Studenten in der Gruppe mit dem Hinweis auf die Protokoll-unterstützende Funktion begründet, es bleibt aber fraglich, inwiefern dies den übrigen Gruppenmitgliedern "gut begründet" erscheint, zumal eine Auswertung des Materials lange Zeit nicht in Angriff genommen wurde.

Das Vorhandensein des Tonbandgeräts hat jedenfalls in der ersten Zeit dazu beigetragen, daß die Sitzungen für "offizieller" und "verbindlicher" gehalten wurden; daß sich zusätzlich Anfangshemmungen verstärkten, zeigt folgender, umständlich-verlegener Sitzungsbeginn (3.Treffen): Wir sind weit davon entfernt, die Anwesenheit dieser Art von Dokumentation unbefangen zu akzeptieren bzw. zu ignorieren; im Gegenteil: Die Frage des Verfahrens wird zum ersten Anstoß, sich gegenseitig auf sein Demokratieverständnis hin zu befragen.

(nach den ersten drei Wortmeldungen:)

P.: Es läuft?

H.: Es läuft.

(Mehrere:) haha, hm hm, es läuft.

H.: Sollen wir's abschalten?

P.: Wenn wir noch warten wollen?

V.: Na. I würd sagen, daß wir net warten. Oder schon?

(Mehrere:) Ja, ja; na...

V.: Wart ma no fünf Minuten.

(jemand ruft:) Abstimmen!

E.: (ohne abzuwarten): Einstimmig angenommen.

(jemand ruft:) Du nimmsch es einstimmig an und die andern fragsch nit!

E.: hm.... is ja wurscht.

P.: Unser demokratisches Verhalten wird da jetzt aufgenommen, gell!

Inhaltlich gesehen gehen wir so vor, daß folgende Phasen einander ablösen:

  • Feststellung einer Mangelsituation

  • Diskussion von Interpretationsmöglichkeiten und Handlungsalternativen

  • (Abbruch des Themas; oder:) Durchführung von Aktionen

  • Feststellung von Erfolg/Mißerfolg bzw. Austausch von neuen Interpretationen

  • Diskussion über neue Handlungsalternativen usw. usf.

Im Fortschreiten dieser spiralenförmigen Vorwärtsbewegung sind wir allerdings längst nicht so konsequent, wie dies hier vielleicht den Anschein haben mag. Es hat sich gezeigt, daß die Kontinuität der Diskussion bei verschiedenen Problemen nicht zuletzt davon abhängt, ob die Personen, die mit den jeweiligen Problemen identifiziert werden, kontinuierlich die Gruppe besuchen und dort in der entsprechenden Richtung immer wieder "nachhaken".

Aktivitäten und Initiativen: Eine vorläufige Zwischenbilanz

Pläne - und wo bleibt die Realisierung

Wie schon erwähnt, trifft sich die Initiativgruppe einmal wöchentlich am Abend im KOZ, manchmal auch privat. Für diejenigen Behinderten, die keine Möglichkeit haben, von sich aus zum Treffpunkt zu kommen, wird jeweils gruppenintern ein Abholdienst eingerichtet. Auch während der Sommermonate besteht die Gruppe im kleinen Rahmen weiter. Die meisten sind allerdings verreist, vor allem die Studenten. Danach kommen alle wieder zusammen, zusätzlich einige Neue.

Wenn neue Leute zur Gruppe stoßen, stellt sich das Problem, wie sie über die bisherigen Gruppenprozesse und Diskussionen unterrichtet werden sollen. Sowohl die Gruppe als auch die Neulinge stellen unartikulierte Ansprüche hinsichtlich der Mitarbeit, denen jeweils die Gegenseite gar nicht gerecht werden kann, weil keine gemeinsame Informationsbasis existiert. So beginnen die Neuen meistens als Zuhörer. Immer häufiger taucht der Wunsch nach einem "Papier" auf, nach einer Gruppenselbstdarstellung, die über uns informiert. Nach längerer Diskussion entsteht auch so ein Informationsblatt.

Um Konflikten innerhalb der Gruppe aus dem Wege zu gehen, wird im allgemeinen versucht, solche Anspruchs- und Erwartungsdifferenzen zu ignorieren. Diesbezügliche Aussprachen werden nach Möglichkeit vermieden; wahrscheinlich fühlt sich niemand für diesen "gruppendynamischen" Aspekt in unserer Arbeit zuständig.

Außerhalb der Gemeinschaft der Arbeitsgruppe gibt es kaum Kontakte zwischen den Teilnehmern. Beim ersten Treffen hatte man mit großer Euphorie (besonders von Seiten der Studenten) Pläne für einen erweiterten Abholdienst zwecks gemeinsamer Freizeitgestaltung entworfen. Bei diesen Plänen ist es geblieben, da persönlicher Einsatz und Nachdruck zu ihrer Verwirklichung fehlten. Die Hoffnung, es käme zu engeren Beziehungen zwischen den anderen Besuchern des KOZ und den Behinderten, hat sich nicht erfüllt. Eine Ursache liegt wahrscheinlich darin, daß wir das KOZ für die Dauer der Gruppenarbeit der Allgemeinheit verschließen müssen, da sonst die Lärmbelästigung, die vom Barbetrieb und den übrigen Besuchern ausgeht, zu groß ist.

Das Verhältnis der Gruppenmitglieder untereinander ist als freundlich aber distanziert zu bezeichnen. Besonders die Nichtbehinderten vermeiden es in der Gruppe deutlich, persönliche Äußerungen zu machen. Indem sie versuchen, sich ganz auf "Behindertenprobleme" einzustellen, ist es ihnen lange Zeit hindurch gelungen, von ihrer Lebenswelt nichts berichten zu müssen. Wenn von ihnen aus über Sorgen und Interessen überhaupt gesprochen wird, die nicht unmittelbar mit der gemeinsamen Arbeit in Verbindung stehen, so geschieht dies in kleinen Gruppen außerhalb der "offiziellen" Diskussion, auf dem Heimweg oder in Telefongesprächen, die zwischen den Sitzungen manchmal geführt werden.

Einige Behinderte kritisieren dieses Verhalten der Nichtbehinderten in der Gruppe, weil sie den Eindruck haben, daß jene zu wenig von sich selbst erzählen, sich vielmehr auf die Position von Zuhörern und Beratern beschränken.

Wie diese Form der Distanzierung während der Diskussion aufrechterhalten wird, kann allerdings erst durch eine Analyse der protokollierten Gespräche aufgedeckt werden. Hier zeigt sich dann deutlich, über welche Strategien der Gesprächsführung der "Ausgleich" stattfindet: Diejenigen, die von ihrer persönlichen, existentiellen Lebenssituation nichts in die Gruppe einzubringen in der Lage sind, führen dennoch das Wort; sie liefern nicht nur die längsten Beiträge, was auf eine geschultere und geübtere Ausdrucks- und Sprechtechnik schließen läßt, sie steuern auch die Diskussion auf vielfältige Weise; zum Beispiel, indem sie

  • andere zum Erzählen auffordern,

  • den Problemen anderer nachgehen (z. B. durch wiederholtes Nachfragen),

  • die anderen zum Denken anregen (z.B. Vorschläge mit betont unverbindlichem Charakter machen oder Hypothesen in den Raum stellen), - die Aussagen anderer deuten (z.B, ihre Situationsschilderungen interpretieren),

  • die Interpretationen anderer verschärfen oder abschwächen (z.B. durch Dramatisieren oder Zuspitzen auf Alternativen),

  • die Interpretationen anderer einer Bewertung unterziehen,

  • Zusammenfassungen geben und den Standort der Diskussion einschätzen,

usw.

Die Asymmetrie solcher Kommunikationssituationen wird natürlich durch die Analyse nicht "aufgehoben". Daß aufgrund der Analyse das Interesse an Behindertenproblemen, das die Nichtbehinderten zeigen, als "echt" und ihre sprachliche Sozialisation als "schichtspezifisch" bezeichnet werden muß, läßt die Frage unbeantwortet, weshalb es den Nichtbehinderten nicht gelingt - in welcher Ausdrucksform auch immer -, i h r e P r obleme als Behindertenprobleme in die Gruppe einzubringen. Wird dieses konkrete Unvermögen in der Praxis nicht durch die abstrakte und theoretische Vorstellung trefflich untermauert, daß unsere Konkurrenz-Gesellschaft im Grund niemanden "nicht-behindert" läßt, daß Verkrüppelungen nicht die Ausnahme sondern die Regel sind? Weshalb gehen wir aber zunächst immer wieder von gegenteiligen Annahmen aus und gehen "Erfahrungen" auf den Leim, die ja "eigentlich" anders zu deuten wären? Müssen sich in unserer Arbeit noch "Theorie" und "Praxis" weiter durchdringen, damit wir auch im Projektalltag einen verblendungsfreien Durchblick in die Qualitäten und Proportionen jener Behinderungen erhalten, die die sogenannten "Nichtbehinderten" zu privatisieren versuchen, d.h. von denen sie glauben, daß man sie nicht zeigen und aussprechen darf? Was steckt unter der Oberfläche der demonstrierten Sprachkompetenz und zu wessen Nutzen wird sie ausgespielt? [3]

Exkurs: Die Realität einkreisen ohne sie aufzusprengen

Im folgenden gehen wir etwas ausführlicher auf eine Diskussionsphase ein, an die sich die ursprünglich geplante Aktion n i c h t anschließen ließ. Wir vermuten, daß gerade dieses Beispiel zeigt, daß der Abbruch oder das Versanden von Initiativen (Aktionen), bevor sie noch auf der Handlungsebene realisiert werden, auf typische Konstellationen zurückgeht. Wir nehmen ferner an, daß die Wahrscheinlichkeit des Vorkommens solcher Konstellationen dann zunimmt, wenn

  1. Projekte so angelegt sind, daß die Beteiligten hinsichtlich der Struktur und dem Niveau des Bewußtseinsstandes der Betroffenen schon fixe ideologische Positionen bezogen haben und/oder Möglichkeiten der wechselseitigen Vermittlung von relevanten Lebensweltaspekten und des gegenseitigen Voneinanderlernens nicht (oder bei "jungen" Projekten erst unzureichend) gegeben sind; ersteres ist z.B. der Fall, wenn Nichtbehinderte glauben, Behinderte könnten nie so souverän und frei in größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen denken wie sie selbst, weil sie ja in besonderen Abhängigkeiten und Einschränkungen leben müssen; letzteres ist z.B. der Fall, wenn man in einem Projekt die Lebensweltproblematik von Drogenabhängigen innerhalb der Universitätsklinik mittels eines Fragebogens untersuchen will;

  2. sich die Lebenswelten der Beteiligten und der Betroffenen in vielen relevanten Aspekten unterscheiden; wie das z.B. der Fall ist, wenn man auf der einen Seite an Studenten und Akademiker denkt, die selbst meistens aus sogenannten "Mittel- und Oberschichtfamilien" stammen, und auf der anderen Seite an Sonderschüler und Hilfsarbeiter, die in Sozialstatistiken am anderen Ende der Schicht-Skala gehäuft registriert werden;

  3. sich der Lebenszusammenhang der Betroffenen vorwiegend aus "Grenzsituationen" [4] konstituiert, die Beteiligten in ihrem Leben jedoch nur gelegentlich oder überhaupt nie mit solchen Situationen konfrontiert sind, wie das z.B. der Fall ist, wenn man auf der einen Seite an stigmatisierte Personen denkt, wie etwa an "Idioten", "Krüppel", "Verbrecher", "Alkoholiker", auf der anderen Seite an alle, die ein geordnetes bürgerliches Leben führen.

Diese Aufzählung in drei Punkten ist sicher nicht vollständig, genügt aber, um zu zeigen, daß wir unter vergleichsweise schwierigen Konstellationen zu arbeiten begonnen haben. Aus mangelnder Erfahrung im Umgang miteinander haben die Schwierigkeiten in der ersten Phase eher zu- als abgenommen.

Die folgenden auszugsweise wiedergegebenen Interaktionen stammen alle aus unserer dritten Sitzung. Die Situation ist so zu beschreiben: Zwei jugendliche Bewohner eines Heimes (mit angeschlossener "geschützter Werkstätte") haben bei den vorangegangen Treffen über ihre dortige Situation erzählt. Sie "beschwerten" sich bei unserer Gruppe besonders über die strenge Handhabung der Heimordnung durch den Heimleiter und meinten, vielleicht könnten wir (von unserer Gruppe aus) einmal mit dem Heimleiter darüber reden. Vom Heimleiter berichten sie uns, daß er selbst schon den Wunsch geäußert hat, einmal mit dem einen oder anderen von unserer Gruppe zu sprechen. Für uns ist dieser Wunsch klar motiviert: Er möchte wissen, was da im KOZ so alles passiert, wenn "seine" beiden Zöglinge (der Einfachheit halber werden wir im folgenden Text den antiquierten Begriff "Zöglinge" beibehalten) dabei sind.

Die Studenten beginnen sich nun (bei dieser dritten Sitzung) für die näheren Umstände zu interessieren, unter denen die Heimordnung vollzogen wird (vgl. im folgenden Situation I und Situation II). Es scheint aber so, als würden nun die beiden Zöglinge einen "Rückzug" antreten, ihren ursprünglichen Unmut über die Heimordnung hintanstellen. Sie suchen sogar nach Argumenten, die für eine Einhaltung der Heimordnung sprechen (Sit. I), die den Heimleiter nicht zu scharf treffen (Sit. II) und die uns schließlich zeigen sollen, daß sie überhaupt ganz hinter der Heimordnung stehen (Sit. III).

Wir wollen an die Interaktionen jeweils eine ausführliche Interpretation anschließen, nicht zuletzt in der Absicht, zu zeigen, daß dieser "Rückzug" sowohl situativ provoziert wurde als auch Teil einer notwendigen "Überlebensstrategie" war. Daß es letztlich zur Konfrontation mit dem Heimleiter (also zur "Aktion") n i c h t gekommen ist, wird nach der Lektüre der folgenden Passagen klar.

Situation I

Eine Studentin (S) erkundigt sich nach dem Entstehen der Regelung, daß die Zöglinge um zehn Uhr im Heim sein müssen. Einer der beiden Heimbewohner (Z1) geht auf diese Frage ein.

Z1: Ja, warum? Genau kann i Dir des a nit sogn, weil i ja net der Heimleiter bin. Darüber kann nur der Heimleiter was sogn. Aber i möcht, daß Ihr ihm decht sogts, daß er um zehne, dreiviertel zehne, er des Licht abdreht hot.

S.: Hot er des nit irgendwie begründet, warum er des mocht?

Z1: Erstens, schon wegen die Betreuerinnen, weil .., sog ma, wenn i jetzt also ausgeh, sog ma, meinetwegn an Kaffee oder a Bier trinkn, oder wos was denn i -, oder wir gehn eben zur Unterhaltung. - Aber es isch der Standpunkt, wenn i Dir sog, gegeben, daß wir um zehne - so wie ma do sein - im Haus sind. I hob ihn am Mittwoch gfrogt, "kann i zum Behindertentreffen ins KOZ", aber er hot do kane Einwendungen gmacht. Er hot nit gsogt, Ihr müßt um zehne daham sein. Wir wissen des - wie ma do sein - jo selber. Wir san ja kane klan dreijährigen Kinder mehr, sondern jo erwachsene Jugendliche.

Zunächst ist auffallend, daß zweimal nachgefragt werden muß, bis der Heimzögling anhebt, die Frage nach den Gründen für die Regelung zu beantworten. Er traut es sich nicht zu - aus welchen Gründen auch immer Begründungen des Heimleiters vorzubringen - falls dieser überhaupt jemals solche gegeben hat. Erst nach der abermaligen Frage schießt er mit "erstens" los, um dann, ohne die Begründung vollständig auszuführen, wieder auf die blanke Tatsache dieses "Standpunktes" (des Heimleiters) zurückzukommen. Die Regel ist eben gegeben, sie funktioniert, wie er anschließend ausführt, sogar automatisch. Die Begründung für dieses Funktionieren scheint in der Tatsache verankert zu sein, daß sie erwachsene Jugendliche sind, die wissen, was sich gehört.

Regeln gibt es eben im Heim schon so lange, daß es schwer wird, Begründungen dafür zu finden. Schon lange nicht mehr, oder überhaupt nie, haben jene danach gefragt, auf die die Regeln angewandt werden. Die Bedingungen schauen nicht danach aus, daß Fragen erwünscht wären. Sie fordern vielmehr das absolute und automatisierte Befolgen der Regeln. Wenn vom Heimleiter Begründungen für die Regeln gegeben werden, sind es vermutlich solche, die dem Zögling sofort klar machen, daß nicht er Mittelpunkt aller Dinge sein kann: Da gibt es "erstens" schon die Betreuerinnen, auf die man Rücksicht nehmen muß, denn sie müssen für die Behinderten sorgen. Jegliches Aufbegehren gegen die Regeln kann somit nicht nur als Regelverstoß geahndet, sondern auch als Nichtanerkennung der Betreuung bewertet werden. So wird der Behinderte zu zweifachem Dank verpflichtet: Er muß der Gesellschaft dankbar sein, daß er in einem Heim wohnen darf und er muß den Betreuern dankbar sein, daß sie ihn betreuen. Dieser Zwang zur Dankbarkeit vervielfältigt sich in jeder Situation: in der Familie, am Arbeitsplatz, in der Schule.....

Wen wundert es da, daß den Zögling die Begründungen für die Regeln nicht interessieren, wenn er weiß, daß Gründe immer als Sachzwänge artikuliert werden, in Wirklichkeit aber nur Standpunkte sind, die von Mächtigeren durchgesetzt werden. So ist es nur logisch, daß die beiden Heimzöglinge an die Gruppe mit dem Wunsch herangetreten sind, etwas für die Veränderung der Regeln zu tun; denn in ihren Augen ist die Gruppe "mächtiger" als sie selbst. Somit wäre eine bessere Ausgangsposition für die Definition neuer Regeln geschaffen.

Situation II

Eine Studentin erkundigt sich, ob es möglich ist, mit einer Betreuerin aus dem Heim bis nach zehn Uhr wegzubleiben.

Z1. Ja, nur muß der Heimleiter davon wissen.

S.: Und des kommt mir also wahnsinnig vor ... Wenn jetzt die Betreuerin mit Euch was unternimmt, dann ist des ja nur Eure Sache; dann ist ja geklärt, wer Euch ins Bett bringt, dann muß ja niemand warten.

Z1: Dann bringt uns die Betreuerin ins Bett.

S.. Ja, und dann müßts aber erst no amol den Heimleiter frogn.

Z1: Ja guat, i man jetzt, nit grod "frogn". Aber des werd in so an Heftl ... des werden nochan do eintrogn. Des ist neben dem Büro des Heimleiters, wast. So wie wir die Arbeitsberichte eintrogn, so werden die Freizeitberichte a a bißl "vervielfältigt". Ohne des gehts ja net.

Und i möcht des a verhindern, wenn der Heimleiter jetzt nächste oder übernächste Woche kimmt ... Daß Ihr do a bißl Rücksicht nehmts; nit daß es nochan haßt, wir können nimmer ins Konzert gehn, oder Theater, oder wos grod anfollt. Weil wir jo wieder Begleitung brauchen. Weil wir froh sein, wenn wir - so wie wir do sein - ... i Beton des no amol, daß wir Begleitung ham, de was uns a bißl unterstützt. Auf dem Standpunkt steh i jetzt. Wennst von Montag bis Freitag hinter vier Wänden bisch, nocha hosch a gnua.

Die Studentin greift das "Betreuersachargument" von Situation I auf und konstruiert eine neue Situation, in der diese Argumentation wegfällt, weil sich die Betreuerin bereit erklärt, selbst mit dem Heimzögling bis nach zehn Uhr wegzubleiben. Aber auch in diesem Fall gibt es Kontrollen: Es genügt nicht, wenn die offiziellen Betreuer dafür einstehen, daß die Zöglinge sicher ins Bett kommen. Auch davon muß der Heimleiter wissen. Die Studentin ist mit ihrem verstehenden Nachvollzug am Ende. Das kommt ihr "wahnsinnig" vor. Das veranlaßt den Zögling dazu, einen Versuch in Richtung "Abschwächung" zu tun, indem er sagt, daß man ja nicht gerade "fragen" muß, sondern nur die Abwesenheit in ein Heft einzutragen ist. Im selben Zusammenhang beschreibt er eine räumliche Struktur, die die vorangegangene "Abschwächung" wieder auflöst: Das Büro des Heimleiters ist in unmittelbarer Nähe des Ortes, wo die Jugendlichen ihre Arbeitsberichte und Freizeitaktivitäten eintragen müssen. Dieses räumliche Arrangement sichert offenbar die Kontrollmacht über alle wichtigen Vorgänge im Heim. Die täglich erfahrene Kontrolle über Arbeit und Freizeit scheint dem Heimzögling schon so gewohnt und gleichsam "natürlich", daß er sie für uns als nicht wegdenkbar darstellt: "Ohne das gehts ja net." Erst im Anschluß an diese Deklaration äußert er die Ängste, die ihn wahrscheinlich gerade veranlaßt haben, sich voll mit der Heimordnung zu identifizieren: Er schränkt den in Sit.I an uns herangetragenen Wunsch nach Diskussion mit dem Heimleiter über eine Veränderung der Regeln ein und bittet uns, vorsichtig zu sein, weil er "verhindern" möchte, daß ihnen die "Begleitung" entzogen wird. Seine Rücksichten begründet er auch sofort mit der ohnehin vorhandenen Zufriedenheit ("wir sein jo froh") und mit der Abhängigkeit ("weil wir ja wieder Begleitung brauchen").

Der Heimzögling verstärkt dieses Argument noch einmal und erklärt es zu seinem momentanen "Standpunkt". Die sich anschließende (nochmalige) Begründung soll den Studenten klarmachen, daß es sich hier um eine extreme Situation von Isoliertheit handelt, und daß sie - müßten sie eine Woche hindurch in vier Wänden eingeschlossen sein - das sicher verstehen könnten.

Situation III

Die Studenten diskutieren nun fast ausschließlich unter sich über die Möglichkeit einer "Öffentlichkeitsarbeit" der Gruppe: Wenn sich Probleme mit dem Heimleiter ergeben, soll auch die Öffentlichkeit davon etwas mitkriegen. Man erwartet sich durch Resonanz in der Öffentlichkeit mehr Druck auf den Heimleiter. Für die Diskussion mit dem Heimleiter wird eine "Strategie der kleinen Schritte" vorgeschlagen. Einzelne Punkte, die die Heimzöglinge stören, sollen vorgebracht werden.

Um sicher zu gehen, fragen die Studenten nochmals nach diesen Punkten der Unzufriedenheit. Jetzt beteiligt sich auch der zweite Heimbewohner an der Diskussion.

S1: Ist des jetzt des einzige, des Euch stört an der Heimordnung, daß Ihr um zehne ins Bett gehen müßts, oder gibts do was anders a no?

Z2: Mi störts eigentlich net. I bin des schon gwöhnt. Früha hama scho um nenne schlofn gehn müssn.

S2: Jetzt um zehn. Scho a Fortschritt.

Z2: Nochan bin i holt daham blibm und nochan bin i holt so lang aufblibm, net, bis elfe, zwölfe, oans, zwoa. So wias ma holt gfalln hat. Aba des hat ma a net paßt nochan. Und jetzt hama halt da im Heim, daß ma um zehne schlafn gehn. Ja, i sag da nix dagegn, des is scho spat. Da mechst decht no lieber no a Stickl....net? Und nit glei wieder ins Heim.

S3: Weißt, um die Situation würd sichs drehen, verstehst, daß es so flexibel is, daß ma do amol später hamkemmen kann.

Sl: Ja, es liegt nämlich überhaupt kein Grund vor, ... warum er Euch befehlen kann, nochm Konzert nimma irgendwohin zu gehn. Des gibts nit. Er hat überhaupt ka Berechtigung dazu.

Z2: Woll, hat er schon!

S1: Jo, was für ane?

Z2: Jo, er hat die Verantwortung.

Direkt angesprochen auf das, was sie stört, was sie beim Heimleiter vorbringen wollen, kommt es beim zweiten Jugendlichen, der sich vorher, als es darum ging, daß man den Heimleiter wegen dem "Licht-ausdrehen" ansprechen solle, nicht geäußert hatte, zu einem totalen Rückzug. Er betont, daß die Heimordnung ihn persönlich nicht stört und führt auch gleich zwei Gründe an: die Gewöhnung an die Heimordnung und die Tatsache, daß es früher noch schlimmer war.

Anschließend führt er dazu aus, wie er versucht hatte, sich im Heim trotz dieser Ordnung ein Stück Freiraum zu schaffen: durch längeres Aufbleiben im Heim selber. Dieses Spiel, die Heimordnung sozusagen zu "unterleben", machte aber bald keinen Spaß mehr. Folglich kann nach diesem Versuch der Zehn-Uhr-Termin ruhig als "freiwillig akzeptiert" hingestellt werden bzw. als selbst gewünscht. Dem widerspricht allerdings seine eigene Formulierung "i sag da nix dagegn", die doch die grundsätzliche Nichterwünschtheit der Regelung andeutet. Ganz läßt sich dieses "andere" Bedürfnis nicht unterdrücken, das da lautet: ... "no a Stickl" und "nit glei wieder ins Heim". Für die Studenten ist dies das Signal, wieder ihre Sicht vorzubringen, und nun auf einer allgemeineren Ebene die Berechtigungslosigkeit der Definitionsmacht des Heimleiters anzuprangern. Dieser prinzipiellen Infragestellung des ganzen Systems von Obhut und Verwahrung kann der Heimzögling nicht zustimmen. Er wurde während seiner Heimzeit bereits darüber informiert und immer wieder darauf hingewiesen, daß der Heimleiter die "Verantwortung" für alles hat und damit ein Recht, die Heimordnung zu definieren. Es zeigt sich nun in besonderem Maße, wie sehr die behinderten Heimbewohner ihre Rolle gelernt haben und auch den Gruppenmitgliedern gegenüber perfekt beherrschen - dies geschieht vor allem dann, wenn auf einer allgemeinen und prinzipiellen Ebene die Bedingungen angegriffen werden, unter denen die Heimzöglinge leben müssen. Gerade die obige Gruppensituation müssen sie auch als Angriff auf ihre Heim-Identität sehen, eine Identität, die nichts anderes zu beinhalten scheint als die Struktur und die Regeln des Heimes. Sie haben ihre Möglichkeiten zur Lebensbewältigung im Heim gelernt und mißtrauen nun zu Recht den Studenten, wenn jene von ihnen fordern, den Kampf gegen ihre unterdrückenden Bedingungen aufzunehmen: Sie - also die jugendlichen Heimbewohner - müssen schließlich auch nach einer Konfrontation mit dem Heimleiter noch weiterhin im Heim leben und mit ihm auskommen. Die Studenten dagegen leben in einer anderen Welt, in der sie die möglichen Konsequenzen einer verschärfenden Regelung nicht zu tragen haben.

Erst nach einer Analyse der Bedingungen, unter denen diese behinderten Heimzöglinge leben müssen, werden so widerspruchsvolle Aussagen wie "mi störts eigentlich net" und "do mechst decht no lieber no a Stickl" einer Deutung zugänglich. Mit großem Aufwand und nur mit allen erdenklichen Mitteln und Strategien muß sich der Heimzögling ein Überlebenskonzept im Rahmen der Heimordnung zurechtlegen. Das führt zu einer Art "Doppelstrategie": Einerseits akzeptiert er prinzipiell die Heimordnung nach außen hin und tut ihr damit Genüge; andererseits kritisiert er doch einzelne Punkte an dieser Heimordnung und tut sich damit Genüge. Diese Vorgehensweise führt jedoch langfristig zum frustrierenden Zwiespalt, der dann doch - wenn es darauf ankommt - ganz einseitig zugedeckt werden muß. Das hat zur Folge, daß sich der Heimzögling noch mehr von jener Macht abhängig fühlt, die alles zu bestimmen scheint - und die er schließlich auch voll akzeptiert. Das führt dazu, daß seine Kritik immer unsichtbarer wird. Sie wird nach innen gedrängt und ist kaum mehr hervorzulocken. Der Heimzögling steht nun ganz auf dem "Standpunkt", auf dem er sagen kann, "mi störts net", und von dem aus er sich von den anderen Heimbewohnern, die manches sehr wohl stört, abgrenzt. Die gemeinsame Entwicklung von Strategien des Widerstands und der Veränderung ist somit unwahrscheinlich geworden.

Situation IV

Im weiteren Diskussionsverlauf werden nun verschiedene Vorschläge gemacht, die man dem Heimleiter vorlegen könnte. Nach wie vor spielt die Frage nach der "Verantwortung" eine große Rolle.

Z1: Ma kunnt vielleicht scho fragn, ob er an Schlüssel an Jugendlichen gibt, der was die Türschlüssel praktisch .... sog ma, mit zwa andere hat und übernimmt. Sog ma, der G.; ... an dem Tag übernimm i die Verantwortung oder die S. oder Du ...

S.: Ja, des is dann allweit wieder so, daß a bürokratisches Amt, des übertragen wird auf den und auf den und auf den. Es wird sich nie darauf ausilaufn, daß von Euch jeder für sich entscheiden derf. Wir erreichen maximal, daß von seiner uneingeschränkten Macht auf einen anderen ein winzig kleiner Bereich übertragn wird, der erst wieder ihm untersteht.

Z2: Na, aber da muß i Dir scho widersprechen, gel, bei Dir. Wie schaugerts denn aus, wenn jeder entscheiden tät!

S.: Ja, was glabst, wie's da ausschaut?

Z2: Ja, wie schaugerts da aus? Nocha derfs .... nocha derfs aber ka Heim mehr gebn!

Der Heimzögling bemüht sich um einen konstruktiven Vorschlag. In einer Gruppe soll immer einer der Jugendlichen für den Schlüssel verantwortlich sein. Die Studentin meint daraufhin, daß sich dadurch nicht viel ändern würde, weil sich dadurch nur ein "Amt" nach unten verlagert, für dessen Zuteilung aber immer noch der Heimleiter zuständig ist. Diese Ansicht führt zu einem starken Widerspruch seitens des zweiten Jugendlichen. Er will nun von ihr wissen, wie denn eine Heimsituation beschaffen sein muß, in der jeder für sich entscheiden darf. Er selbst gibt nach einer Rückfrage die Antwort: Dann darf es kein Heim mehr geben.

Wie schon so oft knüpfen die Studenten mit ihren Beiträgen nicht dort an, wo konkrete Vorschläge von den Betroffenen kommen, sondern gehen gleich auf die nächsthöhere Ebene und stellen den eingebrachten Vorschlag so dar, als lohne es sich nicht, darauf einzugehen.

Ein Heimzögling geht auf die prinzipiellere Argumentationsebene mit und fordert eine klare Aussage von der "Alternative": "Wie schaugerts denn aus, wenn jeder entscheiden tät?" Dieser schon rundum bekannte Spruch derer, die Veränderungen abblocken und Kritik zum Verstummen bringen, weil sie am gegenwärtigen Zustand (am status quo) festhalten wollen, muß dann zutiefst verwundern, wenn er aus dem Mund eines Menschen kommt, der gerade durch den status quo an den Rand der Gesellschaft gestellt wird. Oder ist es doch nicht so verwunderlich, wenn man bedenkt: Wie gewalttätig müssen die Bedingungen sein, daß ein Überleben in dieser Institution nur möglich ist, wenn sich der, der dort in massiver Weise täglich Einschränkungen an Körper, Geist und Seele erfahren muß, gänzlich mit diesen Einschränkungen identifiziert?

In der Identifizierung und in der Frage nach der Alternative drückt sich auch ein Mißtrauen den Nichtbehinderten gegenüber aus, die sich mit verbaler Kritik so gerne und leicht über die realen Machtverhältnisse hinwegsetzen und gerade dort den behinderten Heimzögling allein lassen, wo er seine Probleme im Alltag erfährt. Der Heimzögling erlebt den Studenten in diesem Fall als jemanden, der ihm sagt, was alles schlecht ist, der ihm aber in keiner Weise beistehen kann. In diesem Zusammenhang kann aber auch der vehemente Widerspruch und die volle Identifikation des Heimzöglings eine "Aggressionsverschiebung" andeuten: Die Aggression, die er eigentlich gegen den Heimleiter hegt, verschiebt sich in die Gruppe hinein und richtet sich hier auf die "Angreifer". Die Gründe für diese Verschiebung sind sicher in der distanzierten Analyse der Studenten zu sehen, in ihrer Nichtbetroffenheit, die den Heimzögling in eine ähnlich hilflose Lage bringt, in welcher er sich täglich dem Heimleiter gegenüber befindet.

Vage Andeutungen über eine Machtverschiebung an der Heimspitze lassen sich für den Heimzögling nur schwer mit der Vorstellung konkreter Veränderungen verbinden. Deshalb erzeugt dieser Gedankenflug eher Angst und nicht mitreißende Begeisterung. So wird der status quo zum sicheren Hort, mit dem man umzugehen gewohnt ist. Alles andere wird als Bedrohung des letzten Quäntchens Sicherheit gesehen. Daß es in dieser fatalen Situation eigentlich nur noch die allgemeine und radikale Forderung gibt - "nocha derfs aber ka Heim mehr gebn" -, sieht der Jugendliche selbst.

Realisierungen - und was macht die "Öffentlichkeit"?

Die Kontakte mit den Heimzöglingen, die Unmöglichkeit, mit dem Heimleiter in eine Diskussion über die Heimordnung einzutreten, bringen uns wieder zum Ausgangspunkt zurück: Die minderqualifizierte Arbeitskraft, die zusätzlich doppelt stigmatisiert ist (wegen "abnormer" Leistungsschwäche und Ästhetik) hat in unserer Gesellschaft so gut wie keine Chancen, sich aus der erniedrigenden Abhängigkeit zu befreien.

Um sich über Ausbildungsmöglichkeiten für Behinderte zu informieren, wird eine kleine Abordnung unserer Initiativgruppe ins WIFI (Wirtschaftsförderungsinstitut) geschickt. Der Vertreter dieser Institution zeigt sich über den Besuch sehr überrascht; es ist die erste Aufgabe dieser Art. Entsprechend dürftig ist auch das Ergebnis dieses Besuchs. Einer Behinderten wird angeboten, an einem Schreibmaschinenkurs teilzunehmen, eine Möglichkeit, die unterschiedliche Reaktionen in unseren Reihen hervorruft:

Die Betroffene ist überrascht darüber, daß so ein Angebot überhaupt gemacht wird - und noch dazu einer Behinderten. Sie äußert ihre persönliche Einsatz- und Anstrengungsbereitschaft.

"Ja, i bin do ganz überrascht gwesen, gell. I bin heut no a bißerl ... ding...., weil i des ja gar nit glaubt hab, daß es so was überhaupt gibt - na also für unseren. Und i möcht echt probieren, versuchen, nicht? Daß i da also - i habs dem V. eh schon erzählt - daß i jetzt fleißig schreiben tu. Gell, es ist am Anfang halt a bissl schwer, aber es wird hoffentlich schon werdn. - Mehr was i momentan nit:'

Ein nichtbehinderter Begleiter beurteilt die Sache etwas anders. Er sieht das Angebot mehr als ein "Abfallprodukt" einer Institution, die er von vornherein als "behindertenfeindlich" eingeschätzt hat. Darin sieht er sich insofern bestätigt, als ja bisher im WIFI tatsächlich keine Behinderten ausgebildet wurden. Deshalb erzählt er vom Besuch ohne jede Überraschung.

".... und do sein ma die verschiedenen Möglichkeiten durchgangen von die Kurse und do isch hat wirklich nit viel Gscheits außakemmen, lei die H., für die H. hätt sich die Möglichkeit ergebn, eventuell maschinzuschreibn."

Mittlerweile hat sich herausgestellt, daß es der Behinderten Schwierigkeiten macht, den Leistungsanforderungen des Kurses zu entsprechen, weil im Tempo des Kursfortschritts auf ihre Behinderung kaum Rücksicht genommen wird. Sie hat nun aus diesem Grund einen (zweiten) Anfängerkurs neu begonnen.

In einer "Presseaussendung" versucht unsere Gruppe, einer breiteren Öffentlichkeit das Problem der hohen Arbeitslosenrate und der mangelnden Infrastruktur in Innsbruck darzustellen. Dieser Text geht auch (mit einem Begleitbrief) führenden Politikern der Stadt zu. Zusätzlich wird diese Presseaussendung im Rahmen einer kleinen Aktion als "Flugblatt" von zwei Behinderten und zwei Nichtbehinderten in der Innsbrucker Altstadt verteilt.

Die Resonanz dieses Schrittes in die Öffentlichkeit fällt im Vergleich zum Aufwand mager aus. Nur von einem Politiker erhalten wir eine Antwort, einen Brief mit einigen unverbindlichen Äußerungen, einer Bekundung des Unterstützungswillens und einem dezenten Hinweis auf schon Vollbrachtes. Von den offiziellen Behindertenverbänden kommen zwei Reaktionen: eine positive und eine negative - mit dem Vorwurf, daß wir als Grüppchen doch nicht so groß auftrumpfen sollten, da wir damit nämlich nichts erreichen, sondern nur das "gute Verhältnis" zwischen den Verbänden und den Politikern stören würden.

Zwei (Privat-)Personen melden sich telefonisch als Interessenten.

Da uns von keinem Politiker ein Vorsprachetermin angeboten wird, bemühen wir uns selbst darum. Das gestaltet sich in einem Fall so schwierig - wir kommen an den zentralen Mann, der den Terminkalender des Chefs verwaltet, telefonisch nicht heran -, daß wir beschließen, einen ganzen Tag hindurch abwechselnd jede Stunde hindurch im Sekretariat des Amtes anzurufen. Auf diese Weise erhalten wir rasch einen Termin.

Dieser Termin-Erfolg ist insofern wichtig, als es schon zuvor in der Gruppe immer wieder Meinungsverschiedenheiten darüber gegeben hat, ob wir uns an "die Großen", an die Stadtväter, über persönliche Beziehungen wenden sollten, oder ob wir lediglich wie "normale Bürger" beanspruchen sollten, unsere "Volksvertreter" einmal sprechen zu können. Wir einigten uns, daraus keine prinzipielle Frage zu machen, aber doch dem zuletzt genannten Vorgehen Priorität einzuräumen; erst wenn wir so überhaupt nicht durchkämen, sollten jene zum Zug kommen, die über private Kanäle und gute Beziehungen verfügen.

Es würde hier zu weit führen, über die Gespräche mit den Politikern und mit den für soziale Fragen zuständigen Beamten in den verschiedenen Institutionen detailliert zu berichten. Von übergreifendem Interesse sind die R e a k t i o n s f o r m e n auf unser Auftauchen (- und weniger die salbungsvollen Hinweise auf die wichtige Rolle der "nachbarschaftlichen Hilfe", der Brüderlichkeit und Menschlichkeit, oder die vagen Zusagen und Versprechungen, die wir erhielten). Unser Erscheinen dürfte bei den Repräsentanten des öffentlichen Lebens einen "Schuldkomplex" wachrufen, der üblicherweise im Verborgenen gehalten wird. Diese Reaktionsform wollen wir "Auf-die-gute-Tat-verweisen" nennen.

Obwohl es jedem leicht fallen muß, unsere Initiativgruppe als ganz kleines, außerinstitutionelles Unternehmen einzuordnen - und wir machen daraus auch nie ein Geheimnis, was bei unseren Gesprächspartnern eine gewisse Erleichterung hervorruft, weil sie uns nun einordnen können fließen in jedes Gespräch mit großer Regelmäßigkeit zahlreiche "Leistungsnachweise" ein; im Sinne von "Schaut her, was wir für die Behinderten tun - also, was wollt Ihr noch?".

In einem Fall schlägt diese Tendenz bis in die Titelzeile einer Zeitungsmeldung durch: Vom Gespräch mit dem Bürgermeister wird unter der Schlagzeile "WAS MAN FÜR BEHINDERTE NOCH TUN KÖNNTE" berichtet. Das verfängliche Wörtchen "noch" kommt in dem Artikel, der auf Betreiben unserer Gesprächspartner erschienen ist, weiter unten wieder vor - dieses Mal in einem Zusammenhang, der zum Lachen reizen würde, würde man sich des heimlichen Zynismus nicht bewußt:

"... Transportprobleme gibt es immer noch, besonders bei den öffentlichen Verkehrsmitteln.(...) Ferner wiesen die Sprecher der Initiativgruppe noch auf Wohnprobleme und die Tatsache hin, daß in Österreich 7.300 Behinderte bei den Arbeitsämtern als Arbeitssuchende eingetragen sind ...."

Der "Witz" an der Sache ist, daß Arbeits- und Wohnungsprobleme die zentralen Anliegen unserer Vorsprache waren, und daß es in Innsbruck keine einzige "Lösung" für das Transportproblem von Behinderten gibt zumindest keine allgemeine und öffentliche Lösung: Kein einziges öffentliches Verkehrsmittel ist z.B. für Rollstuhlfahrer geeignet, kein Taxiunternehmen hat ein entsprechendes Fahrzeug. Sogar die "Selbstfahrer" können sich in der Stadt nicht fortbewegen, da mit einem Rollstuhl selbständig kein einziger Randstein zu überwinden ist.

In einem anderen Fall wird uns schon bei der Begrüßung eine photokopierte Zahlenaufstellung in die Hand gedrückt (ein Auszug aus dem Budget des Arbeitsamtes, aus dem hervorgeht, welche Beihilfen im vergangenen Jahr an Personen ausbezahlt wurden, "die gemäß der Verordnung zum § 16 Arbeitsmarktförderungsgesetz als Behinderte gelten").

Wenn dann unter dem Strich ein Millionenbeitrag steht - wer wäre dann nicht schon davon überzeugt, daß sein Erscheinen als Bittsteller eigentlich überflüssig ist? Die Almosen sind bereits verteilt.

Von "Almosen" zu sprechen, mag manchem unangebracht erscheinen. Eine andere Deutung trifft die Situation vielleicht noch besser: Die Reaktionsweise soll zeigen, daß man durchaus verstanden hat - "Ansprüche" (und solche stehen immer hinter dem Erscheinen von Bittstellern) sind auch in unserem Fall Fragen an die Legitimität der Verteilung von Geld, sind also letztlich ökonomische Machtfragen. Man gibt uns deshalb frühzeitig (bevor wir überhaupt noch die "Verteilungsfrage" anschneiden) zu verstehen, daß wir mit der herrschenden Verteilung zufrieden sein können wenn wir auf die Millionen blicken.

Kann man den beschriebenen Mechanismus noch anders verstehen, wenn man bedenkt, daß es sich hier um Zahlen handelt, die u n s ja überhaupt nicht interessieren, weil sie uns nichts nützen, und daß ja keine offizielle Stelle unserer informellen Gruppe gegenüber "auskunftspflichtig" ist?

Eine andere allgemeine Beobachtung von den "Spitzengesprächen" ist rasch berichtet: Es gibt eine große und umfassende Uninformiertheit, was die Lage der Behinderten im Lande betrifft. Unsere Fragen nach Statistiken und Untersuchungen über die Ausbildungs- und Arbeitsplatzsituation erzeugen nur Kopfschütteln und Achselzucken. Größer ist die Ratlosigkeit nur noch dort, wo wir nach Zukunftsplänen und Reformkonzepten fragen. Da kommt es sogar vor, daß man mit "Argumenten" abgefertigt wird, die man selbst in anderen Zusammenhängen gebraucht: "Behinderte sollen nicht zusätzlich dadurch stigmatisiert werden, daß sie registriert und untersucht werden." Die Folge davon: Behinderte gibt es für die Ämter und die verantwortlichen Politiker nur als Einzelindividuen, als Antragsteller oder Unterstützungsempfänger. Insofern existieren also offiziell gar keine "Behindertenprobleme" (in der Mehrzahl - als Massenerscheinung), keine Arbeitslosigkeit, keine Ausbeutung, keine Armut, keine Ausgestossenen und keine Eingeschlossenen, keine Isolierten und keine Stigmatisierten.

Auch mit diesem Problem werden wir uns also beschäftigen müssen - daß unsere Arbeit an "Behindertenproblemen" aus der Sichtweise der Repräsentanten des öffentlichen Lebens einstweilen noch eine Arbeit mit Phantomen ist.



[3] Hier wären noch viele Fragen zu stellen. Wir möchten lediglich die Richtung einer möglichen Antwort andeuten:

SEVE (1972) sagt über die Problemlosen, die an der Oberfläche Ausgeglichenheit und befriedigtes Leben demonstrieren, harte Worte; Worte, die treffend charakterisieren, wie illusionär wir zum Teil selbst unsere Arbeit begonnen haben, Worte, die aber auch an jene gerichtet sind, die glauben, sich von der Behindertenarbeit freisprechen oder freikaufen zu können:

"Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch der offensichtliche Sachverhalt, daß eine solche Ausgeglichenheit im Kapitalismus stets, wie in jeder Klassengesellschaft, Vorrecht einer kleinen Minderheit ist und unvermeidlich eine oft erschreckende Unausgeglichenheit des Lebens der großen Mehrheit zur Folge hat, im Inneren der betrachteten Persönlichkeit selbst durch den parasitären Charakter des Gleichgewichts und den in letzter Instanz illusorischen Charakter der Übereinstimmung zwischen abstrakter und konkreter Aktivität. Diese Persönlichkeiten können die Widersprüche des Kapitalismus nur deswegen dem Anschein nach überwinden, weil es ihnen zufällig gut geht, oft so zufällig, daß es ihnen selbst nicht bewußt ist. Darin liegt, trotz ihrer scheinbaren Größe, ihre grundlegende Beschränktheit, denn das befriedigte Leben im Kapitalismus kann nie frei sein von Philistertum." (S.382)

Wenn wir das richtig verstehen, geht es hier um die "Nichtbehinderten", um ihr "befriedigtes Leben" bzw. um die Frage, weshalb "im Kapitalismus" solche Konstruktionen wie "der Nichtbehinderte" oder "der Behinderte" notwendig sind.

SEVE meint, daß diese Konstruktionen Bestandteile des "falschen Bewußtseins" sind, das vornehmlich die Problemlosen und Ausgeglichenen auszeichnet. Nicht genug damit, daß jene sich selbst etwas vorgaukeln, sie erzeugen darüber hinaus (für andere sichtbar) den Eindruck, daß "Unausgeglichenheit" ein persönliches Problem der Unausgeglichenen ist, etwas, das man selbst aufgrund seiner Persönlichkeit schon längst geschafft hat. Von dieser Konstruktion lebt diese Minderheit wie "Parasiten".

[4] Unter "Grenzsituationen" verstehen wir (nach FREIRE 1973, S.82) jene Lebensbereiche, in denen Hindernisse, Barrieren und andere gesellschaftliche Eingrenzungen die persönliche allseitige Entwicklung verhindern. In Grenzsituationen offenbaren sich aber auch die verstellten, nicht-erreichten Gebiete: Über die Grenzen hinweg fällt der Blick ins Reich der erweiterten Freiheiten und größeren Möglichkeiten.

Kein Schlußwort, aber eine Perspektive

"So sind es nicht Grenzsituationen an und für sich, die ein Klima der Hoffnungslosigkeit schaffen, sondern vielmehr die Weise, wie sie von Menschen in einem bestimmten historischen Moment begriffen werden: ob sie nur als Schranken erscheinen oder als unüberwindbare Barrieren. Da sich kritisches Verständnis in Aktion verkörpert, entwickelt sich ein Klima der Hoffnung und Zuversicht, das die Menschen zu dem Versuch führt, die Grenzsituationen zu überwinden. Dieses Ziel kann nur erreicht werden durch ein Handeln an der konkreten Wirklichkeit, in der sich die Grenzsituation historisch vorfindet. Während die Wirklichkeit verwandelt wird und diese Situationen überholt werden, tauchen neue auf, die ihrerseits neue Grenzakte erzeugen werden." (FREIRE 1973, S.82; Hervorh.durch die Verf.)

Literaturverzeichnis

Devereux, G., Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften, Carl Hanser, München 1967.

Freire, P., Pädagogik der Unterdrückten, Rowohlt, Reinbek 1973.

Friedländer, F., Die weiße und die schwarze Forschung, in: Gruppendynamik 1972, Heft 1, S.23-43.

Goffman, E., Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Suhrkamp, Frankfurt 1967.

Gstettner, P., Zum Innovationsanspruch von Handlungsforschung, in: U. Hameyer, H. Haft (Hrsg.), Handlungsorientierte Schulforschungsprojekte, Beltz, Weinheim/Basel 1977, S. 255-270.

Haag, f., H. Krueger, w. Schwaerzel, j. Wildt (Hrsg.), Aktionsforschung, Juventa, München 1972.

Holzkamp, K., Kritische Psychologie, Fischer, Frankfurt 1972.

Holzkamp-Osterkamp, U., Motivationsforschung 2, Campus, Frankfurt 1976.

Hovorka, H., Invalider randaliert vor Kreisky-Villa, in: erziehung heute 1977, Heft 6, S.3-5 (a).

Hovorka, H., Emanzipatorische Behindertenarbeit an Volkshochschulen, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 2, 1977, Heft 1/2, S.77-79 (b).

Jantzen, W., Sozialisation und Behinderung, Focus, Gießen 1974.

Jantzen, W., Konstitutionsprobleme materialistischer Behindertenpädagogik, Andreas Achenbach, Lollar 1977.

Klee, E., Behinderten-Report I, Fischer, Frankfurt 1974.

Klee, E., Behinderten-Report II, Fischer, Frankfurt 1976.

Mertens, W., Sozialpsychologie des Experiments, Hoffmann und Campe, Hamburg 1975.

Seve, L., Marxismus und Theorie der Persönlichkeit, Verlag Marxistische Blätter, Frankfurt 1972.

Quelle:

Erschienen in: Forster, Rudolf / Schönwiese, Volker (Hrsg.): BEHINDERTENALLTAG - wie man behindert wird. Jugend und Volk, Wien 1982, S. 333 - 376

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 19.05.2008

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