Arbeitsassistenz contra Unterstützte Beschäftigung ?

Autor:in - Nicole Franke
Themenbereiche: Arbeitswelt
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: impulse Nr. 30, August 2004, Seite 11 - 13. impulse (30/2004)
Copyright: © Nicole Franke 2004

Arbeitsassistenz contra Unterstützte Beschäftigung ?

Seit der Einführung des Rechtsanspruches auf Arbeitsassistenz existiert die Problematik der Umsetzung in der Praxis. Die praktische Umsetzung dieses neuartigen Rechtsanspruches war eng an die "vorläufigen Empfehlungen" der Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen (BIH) geknüpft. Diese wurden erarbeitet, um Kriterien für die Leistungsgewährung festzulegen, die den Sachbearbeitern als Handlungsleitlinie dienen sollten. Daraus entstanden jedoch für die Praxis diverse Unklarheiten und Unsicherheiten und die Kriterien zur Nutzung einer Arbeitsassistenz waren umstritten und wurden vielfach diskutiert (siehe auch Artikel von Berit Blesinger). Insbesondere führten die vorläufigen Empfehlungen zu einer Diskussion über die mögliche Zielgruppe von Arbeitsassistenz, da die von der BIH formulierten Kriterien und Leistungsvoraussetzungen eine Einschränkung der möglichen Nutzergruppe nach sich zogen.

Im Rahmen meiner Diplomarbeit habe ich mich intensiv mit dieser Fragestellung auseinander gesetzt und die Problematik der indirekten Nutzergruppeneinschränkung durch die Empfehlungen der BIH untersucht. Des Weiteren habe ich mich mit der Frage beschäftigt, ob eine Trennung von "Arbeitsassistenz" und "Unterstützter Beschäftigung" im Sinne des SGB IX ist.

Betrachtet man das Gesetz aus der juristischen Perspektive und bedient sich dem Mittel der rechtsmethodischen Auslegung von Gesetzestexten, so lassen sich im Sinne des Gesetzgebers Intention und Zweck einer Vorschrift interpretieren. Dazu muss neben dem Wortlaut der Vorschrift auf deren historische Entstehung, den systematischen Zusammenhang der Norm und Sinn und Zweck von Begrifflichkeiten zurückgegriffen werden. Der dabei zu betrachtende Begriff, der zu der bestehenden Verwirrung führt, ist in diesem Fall das Wort "notwendig". Denn in den Empfehlung wird von der Gewährung einer "notwendigen Arbeitsassistenz" gesprochen.

Doch zuerst soll noch einmal kurz die Entstehung des Rechtsanspruches reflektiert werden.

Historischer Rückblick

Wie in vielen Fällen ist die Politik auch bei der Erarbeitung des Rechtsanspruches auf Arbeitsassistenz den Notwendigkeiten in der Gesellschaft gefolgt. Nachdem sich die deutsche Behindertenbewegung entwickelt und gestärkt hatte, beeinflusste sie maßgeblich die deutsche Behindertenpolitik. Durch ihr großes Engagement und ihren Einsatz gegen die Diskriminierung und für die Durchsetzung von Bürgerrechten behinderter Menschen können ihr zahlreiche behindertenpolitische Verdienste zugeschrieben werden. Auch der Anlass für die Erarbeitung des Rechtsanspruches auf Arbeitsassistenz basierte auf dem Engagement eines behinderten Menschen, der selbst vor dem Problem stand, seine Assistenz am Arbeitsplatz nicht gewährt zu bekommen. So wurde diese Problematik an die Politik herangetragen und um eindeutige Regelung gebeten. Aus diesem Anlass heraus wurde dann der Rechtsanspruch erarbeitet, um behinderten Mitbürgern ein Rechtsmittel zur Durchsetzung ihrer Ansprüche an die Hand zu geben.

Heute ist Arbeitsassistenz eine Vorschrift im SGB IX, welches den Titel "Gesetz zur Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen" trägt. Damit komme ich zur Betrachtung von Arbeitsassistenz im Kontext des SGB IX.

Systematischer Zusammenhang

Das SGB IX wurde erarbeitet, um neue Maßstäbe im Umgang mit behinderten Menschen und ihrer gesellschaftlichen Anerkennung zu setzen. Die lange vorherrschende Fürsorgementalität sollte durch den Selbstbestimmungs- und Integrationsgedanken abgelöst werden. So will der Gesetzgeber der sich stärkenden und emanzipierenden Position der behinderten Mitbürger in der Gesellschaft Rechnung tragen. Menschen mit Behinderung und ihre Interessenvertretungen forderten schon lange Normalität im Umgang mit ihnen und eine Anerkennung ihrer Stärken und Fähigkeiten. Statt Bevormundung und Betreuung wünschen sie ein selbstbestimmtes Leben mit Assistenz. Assistenz ist dabei als Unterstützung anzusehen, die behinderte Menschen in die Lage versetzt, ihr Leben eigenständig und selbstbestimmt zu gestalten (siehe auch Artikel von Elke Bartz). Behinderte Menschen wollen auch im Bereich der Hilfen, auf die sie angewiesen sind, nicht mehr fremdbestimmt werden. So muss auch bei der Anwendung von Arbeitsassistenz dieses Assistenzkonzept Anwendung finden.

Dies ist auch Intention des SGB IX. Der Gesetzgeber will mit diesem Gesetz die Position von Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft stärken. Sie sollen den Prozess der Integration in das Leben der Gemeinschaft aktiv mitgestalten und beeinflussen können. Die jeweils individuelle Situation, die persönlichen Umstände und Wünsche sollen Berücksichtigung erfahren. Deshalb gibt es den Grundsatz des Gesetzgebers, den Einzelfall zu würdigen und Wunsch- und Wahlrechte des Betroffenen zu beachten. Leistungen sollen also individuell zugeschnitten werden können. Der Einzellfall soll die Leistung gestalten und nicht umgekehrt die Leistung den Einzellfall formen.

Kritische Betrachtung der vorläufigen Empfehlungen

Die "vorläufigen Empfehlungen" wiederum berücksichtigten diesen Aspekt nur unzureichend. Teilweise berichteten Betroffene, dass bei ihrem Antrag auf Arbeitsassistenz keine Prüfung stattgefunden hat. Auch unzureichende Beratung über Möglichkeiten und Organisationsformen einer Arbeitsassistenz wurde benannt und kritisiert (vgl. www.bag-ub.de/arbeitsassistenz/stellungnahmen/artikel_aaz2002-08.htm)

Anfangs enthielten die "vorläufigen Empfehlungen" sogar Klauseln, die deutlich gegen das Wunsch- und Wahlrecht der Betroffenen verstießen. So musste z.B. erst der Arbeitgeber gefragt werden, ob er von seiner Möglichkeit, eine Arbeitsassistenz zu beantragen, Gebrauch machen möchte oder nicht. Erst wenn er dies verneinte, konnte der behinderte Arbeitnehmer seinen Rechtsanspruch umsetzen und eigenständig eine Assistenz beauftragen. Ein weiteres Problem war, dass die finanziellen Vorgaben häufig nicht die individuellen Bedarfe der betroffenen Assistenznutzer abdeckten.

Mittlerweile wurden die "vorläufigen Empfehlungen" überarbeitet, um das vom Gesetzgeber betonte Wunsch- und Wahlrecht der betroffenen behinderten Arbeitnehmer zu berücksichtigen. Die Reaktionen aus der Praxis wurden von der BIH aufgenommen und eine Anpassung an die Erfordernisse erfolgte zum Juni 2003. Einige Formulierungen und Inhalte der "Empfehlungen" wurden verändert, so dass heute die Wünsche der Betroffenen stärker berücksichtigt werden, so z.B. bei der Auswahl der Assistenzkraft. Auch wurden die Finanzierungshöchstgrenzen in "Regelförderungen" umgeändert. Die Kostensätze wurden jedoch nicht weiter erhöht, was weiterhin für die Betroffenen zu Problemen bei der Umsetzung ihrer benötigten Assistenz führen kann.

Menschen mit Lernschwierigkeiten sind davon doppelt betroffen. Denn ihr entsprechend höherer Unterstützungsbedarf kann faktisch nicht mit den Regelkostensätzen abgedeckt werden. Eine entsprechend höhere Finanzierung wird hierbei aber durch die "Empfehlungen" erschwert, da der Verdienst des behinderten Arbeitnehmers und die Kosten der Assistenz in vertretbaren Relationen stehen müssen. Arbeitsassistenz sieht die BIH somit nur für entsprechend qualifizierte behinderte Menschen vor, die nur geringfügige Hilfen, nicht jedoch umfangreichere Unterstützung benötigen.

Doch was ist denn nun eine "notwendige Arbeitsassistenz" und wie können lernbehinderte und andere behinderte Menschen mit höherem Unterstützungsbedarf zu ihrem Recht kommen ? Schließlich sind auch Arbeitgeber aufgefordert und gesetzlich verpflichtet, Menschen mit schwereren Behinderungen zu beschäftigen. Doch wie soll das gehen, wenn die Unterstützungsmöglichkeiten nicht ausgereift sind ?

Durch intensive Betrachtung der gesetzlichen Vorschriften innerhalb des SGB IX, deren Kommentierungen sowie weiterer verwandter sozialrechtlicher Vorschriften (z.B. im KJHG und BSHG) konnte ich einen Merkmalkatalog erarbeiten, der beschreibt, was bei einer "notwendigen Arbeitsassistenz" inhaltlich zu berücksichtigen ist (hier in verkürzter Form wiedergegeben). Hierfür wurde u.a. betrachtet, wie bei anderen sozialrechtlichen Hilfen "notwendig" interpretiert und umgesetzt wird.

An erster Stelle steht dabei der Grundsatz, dass eine gesetzliche Vorschrift die Grundrechte, insbesondere die Menschenwürde wahren muss. So sagt insbesondere das BSHG, dass eine Leistung einer der Würde des Menschen entsprechende Gestaltung seines Lebens ermöglichen muss (vgl. § 12 BSHG - notwendiger Lebensunterhalt). Das SGB IX will jedoch nicht nur erreichen, dass behinderte Menschen durch das Gesetz ein menschenwürdiges Leben führen können, sondern dieses Gesetz will ihnen insbesondere zur Angleichung ihrer Lebensumstände an die nichtbehinderter Menschen verhelfen. So lässt dich sagen, dass behinderte Menschen durch die Regelungen des SGB IX eine Verbesserung ihrer Lebensqualität erfahren sollen. Deshalb gewichtet das SGB IX die Einzellfallprüfung sowie die Wunsch- und Wahlmöglichkeiten der Betroffen so stark. Denn das SGB IX will mit "notwendiger Arbeitsassistenz" keine Not abwenden, sondern gleiche Lebensbedingungen für alle schaffen. Außerdem müssen bei der Gewährung einer Leistung der Bedarfsdeckungsgrundsatz (der anerkannte Bedarf muss vollständig gedeckt werden) und das Individualisierungsprinzip (individuelle Befriedigung eines individuellen Bedarfs) Anwendung finden. Im KJHG wird darüber hinaus von der Optimierung einer Hilfe gesprochen (vgl. § 27 KJHG). Es reicht demnach nicht, irgendetwas irgendwie anzubieten, sondern die geeignete Hilfe muss eine auf den Einzelfall zugeschnittene Optimierung erfahren. Dabei geht das KJHG soweit zu sagen, dass eine Hilfe auch dann notwendig ist, "wenn sie teurer als eine andere, aber zur Beseitigung des Mangels besser geeignet ist." (Kunkel 2003 K § 27 RN 4) Da es zum Rechtsanspruch auf Arbeitsassistenz keine gleichwertigen Alternativleistungen gibt, muss Arbeitsassistenz unter Berücksichtigung von Bedürfnissen, Notwendigkeiten, individuellen Bedingungen und persönlichen Wünschen des Betroffenen optimiert werden. Die Vorgabe der möglichen Kosten bzw. Finanzierungsmöglichkeiten erweist sich schon deshalb als unhaltbar, da es der Gesetzgeber verbietet, Rechtsansprüche fiskalisch auszulegen. Außerdem führt eine standardisierte Finanzierung zu einer Bedarfssteuerung, was der vom Gesetzgeber geforderten Bedarfsdeckung unhaltbar gegenüber steht.

Wendet man diese Maßstäbe auf die Vorschriften der "Empfehlungen" an, so wird deutlich, dass der Gesetzgeber eine Auslegung von "notwendiger Arbeitsassistenz" nicht in fiskalischer Form gemeint haben kann. Vielmehr gehe ich sogar noch einen Schritt weiter und behaupte: Der Gesetzgeber zählt auch Unterstützte Beschäftigung zu Arbeitsassistenz.

Arbeitsassistenz für Menschen mit Lernschwierigkeiten

In der Form, in der die "Empfehlungen zur Umsetzung des Rechtsanspruches auf Arbeitsassistenz" vorliegen, erschweren sie diversen Personenkreisen die Nutzung einer erfolgreichen Arbeitsassistenz. Sämtliche Menschen mit Behinderung, die keine Ausbildung oder berufliche Qualifikation haben, deren Schwere der Behinderung höher ist oder die mehr Unterstützungsbedarf als reine Handreichungen benötigen, sind davon betroffen. Demnach können vor allem Menschen mit Lernbehinderungen, mit psychischen Erkrankungen, mit Mehrfachbehinderungen oder mit Autismus Arbeitsassistenz nicht bedarfsgerecht nutzen.

Dies ist jedoch nicht im Sinne des Gesetzes und des Gesetzgebers. Arbeitsassistenz gilt für alle schwerbehinderten Menschen und muss somit auch von allen nutzbar sein. Eine Selektion der Nutzer nach Schwere der Behinderung hat der Gesetzgeber nicht beabsichtigt, denn es gibt keine Sonder- oder Untervorschriften für Menschen mit Körperbehinderung, mit Sinnesbehinderung, mit psychischer Erkrankung.... Die Weitsicht, dass unterschiedliche Menschen auch unterschiedlich intensive Hilfe benötigen, ist dem Gesetzgeber zuzusprechen, so dass davon auszugehen ist, dass Arbeitsassistenz eine bedarfsgerechte und individuelle Hilfe für unterschiedliche Bedürfnisse sein soll.

Das Konzept der Unterstützten Beschäftigung ist nun für die bisher indirekt von der Nutzung einer erfolgreichen Arbeitsassistenz ausgegrenzten Personenkreise die angemessene Variante von Arbeitsassistenz. Unterstützte Beschäftigung ist insbesondere auch mit dem Assistenzkonzept und den Forderungen behinderter Menschen vereinbar. Definiert man die Kompetenzaspekte, die dem Assistenzkonzept zu Grunde liegen (z.B. Organisations- und Finanzkompetenz), als die Verantwortungsbereiche des behinderten Menschen und nicht als seine unmittelbaren Fähigkeiten, so wird keine Behinderungsgruppe davon ausgeschlossen. Unterstützte Beschäftigung hat zudem den positiven Nebenaspekt, dass sie den behinderten Menschen an eine Nutzung seiner Ressourcen heranführt und ihn zu größtmöglicher Selbständigkeit befähigt. Somit können vorerst auf den Assistenten übertragene Kompetenzen später möglicherweise vom Betroffenen selbst übernommen und selbständig ausgefüllt werden. Genau das ist es auch, was die betroffenen behinderten Menschen erreichen möchten. Niehoff betont, dass es an den Helfern liegt, diese Forderungen umzusetzen. "Im Rahmen von Empowerment wird es zur Aufgabe der Professionellen, Prozesse zu initiieren und zu ermöglichen, die relativ hilflose Menschen in die Lage versetzen, ihre Lebensumstände weitestgehend selbst in die Hand zu nehmen."(Niehoff 1999, S. 56)

Die Entstehungsgeschichte des Gesetzes betrachtend, lässt sich sagen, dass der Gesetzgeber die Forderungen behinderter Menschen ernst nimmt und diese durch Anpassung seiner Vorschriften und Gesetzeswerke anerkennen will. Demnach muss auch diese Forderung anerkannt und gewürdigt werden.

Die BIH hat die "Empfehlungen" bereits aufgrund von Beschwerden und Umsetzungsproblemen in der Praxis verändert und angepasst. Wenn Arbeitsassistenz aber eine erfolgreiche Hilfe bei der Eingliederung aller Menschen mit Behinderungen in das Arbeitsleben sein soll, so muss eine Anpassung an den individuellen Bedarf auch durch den Einsatz von Unterstützter Beschäftigung möglich sein. Nur so kann den Erfordernissen von Menschen mit Lernschwierigkeiten Rechnung getragen werden. Genau deshalb sind Arbeitsassistenz und Unterstützte Beschäftigung auch in einem Hilfsinstrument zu vereinen. Frei nach Theunissen und Plaute kann abschließend betont werden, dass es nicht Ziel sein kann, Arbeitsplatzmodelle zu entwickeln, die die Situation zusätzlich erschweren, sondern dass eine persönliche und individualisierte Hilfe in Form von Arbeitsassistenz die Öffnung des allgemeinen Arbeitsmarktes für alle behinderten Menschen fördern muss. Denn eine weitere Differenzierung behinderter Menschen in verschiedene Klassen ist nicht mit dem Ziel der Gleichberechtigung vereinbar. (vgl. Theunissen/Plaute 1995, S. 160)

Kontakt

Nicole Franke

Elebeken 8

22299 Hamburg

Fon: 040/463825

Literatur:

Kunkel, Christian - Peter (Hrsg.): Kinder- und Jugendhilfe. Lehr- und Praxiskommentar. 2. Auflage, Baden-Baden : Nomos 2003

Niehoff, Ullrich: Grundbegriffe selbstbestimmten Lebens. In :Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit Behinderung e.V. (Hrsg.): Vom Betreuer zum Begleiter: Eine Neuorientierung unter dem Paradigma der Selbstbestimmung. 3.Aufl., Marburg : Lebenshilfe Verlag, 1999 S. 53 - 65

Theunissen, Georg; Plaute, Wolfgang: Empowerment und Heilpädagogik. Ein Lehrbuch. Freiburg : Lambertus, 1995

Quelle:

Nicole Franke: Arbeitsassistenz contra Unterstützte Beschäftigung ?

Erschienen in: impulse 30, August 2004, Seite 11 - 13.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 12.07.2006

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