Blumenstrauß und Fototapete - Selbstbestimmung als Tagungsthema

Eine Glosse zur Selbstbestimmung Behinderter

Autor:in - Sigrid Arnade
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: impulse Nr. 13, Nov. 1999 impulse (13/1999)
Copyright: © Sigrid Arnade 1999

Eine Glosse zur Selbstbestimmung Behinderter

Nicht überall, wo Selbstbestimmung drauf steht, ist auch Selbstbestimmung drin. Das erlebten die TeilnehmerInnen zweier Parallel-Veranstaltungen, die im Herbst in Berlin stattfanden: Die Tagung der Deutschen Vereinigung zur Integration Bonner Beamter (DVzibb) "Selbstbestimmung Bonner Beamter in Berlin - Chancen und Grenzen" und der ähnlich konzipierte Kongress der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation (DVfR) "Selbstbestimmung in der Rehabilitation - Chancen und Grenzen".

Die TeilnehmerInnen und ReferentInnen kamen bei beiden Veranstaltungen hauptsächlich aus dem Kreis der nichtbetroffenen Fachleute. Aber es waren hier wie da vereinzelt auch erfolgreich rehabilitierte beziehungsweise erfolgreich integrierte Personen zu sehen und zu hören. Die selbstbewusste Behauptung mancher Betroffener, sie seien die eigentlichen ExpertInnen in eigener Sache, empfand die Mehrheit der anwesenden Profis allerdings als überzogen und unrealistisch.

Unmut regte sich bei den eingeladenen Bonner Beamten, als sie für die Übernachtung nicht im Tagungshotel, sondern außerhalb untergebracht wurden. Dass das nur zu ihrem eigenen Schutz geschah, um sie bei der abendlichen DVzibb-Feier vor übermäßigem Alkoholkonsum zu bewahren, sahen sie nicht ein. Hingegen ertrugen es die behinderten TeilnehmerInnen des DVfR-Kongresses fast ohne Murren, dass das Tagungshotel nicht barrierefrei war.

Dagegen protestierten letztere heftig, als das Rolli-WC zwar mit einem Blumenstrauß bestückt, dafür aber nicht abschließbar war. Kompetentes Hotelpersonal war jedoch bald in der Lage, den passenden Schlüssel nachzuliefern. Auch die Stimmung der Bonner Beamten drohte kurzfristig zu kippen, als sie feststellen mussten, dass für sie Gemeinschaftswaschräume vorgesehen waren, um der Vereinzelung in der unübersichtlichen Weltstadt vorzubeugen. Als sie dann aber die Fototapete mit Blick auf Rhein und Siebengebirge bemerkten, verstummte die Kritik augenblicklich. Stattdessen sah man den einen und die andere verschämt eine Träne aus dem Auge wischen.

Der abendliche Ausflug zu einer Reha-Einrichtung beziehungsweise in eine Beamten-Siedlung fand ebenfalls ein geteiltes Echo: Für die Reha-Einrichtung interessierten sich die behinderten TeilnehmerInnen kaum, während das Beamten-Ghetto bei den Bonnern auf positive Resonanz stieß: Man bliebe doch zunächst noch gerne unter sich und verschiebe den direkten Kontakt mit BerlinerInnen lieber auf später, wenn man sich an die Schrecken der Weltstadt gewöhnt habe.

Resümee: Selbstbestimmung ist und bleibt ein hehres, aber unrealistisches Ziel sowohl für Bonner Beamte in Berlin als auch für behinderte Menschen in der Rehabilitation. Um keine unerfüllbaren Erwartungen zu wecken, sollte man den geplanten Nachfolge-Veranstaltungen im Jahr 2000 deshalb lieber andere Titel geben: "Dankbar und bescheiden - die Rolle der Bonner Beamten in Berlin" und "Dankbar und bescheiden - die Rolle der Betroffenen in der Rehabilitation".

von Sigrid Arnade, Journalistin

Quelle:

Sigrid Arnade: Blumenstrauß und Fototapete - Selbstbestimmung als Tagungsthema. Eine Glosse zur Selbstbestimmung Behinderter

Erschienen in: impulse Nr. 13 / November 1999

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 28.02.2005

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