"Natürlich kann sie nicht alle Arbeiten durchführen!"

Ein besonderes Arbeitsverhältnis? - Unterstützte Beschäftigung konkret

Autor:in - Rolf Behncke
Themenbereiche: Arbeitswelt
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: impulse Nr. 10, Okt. 1998 impulse (10/1998)
Copyright: © Rolf Behncke 1998

"Natürlich kann sie nicht alle Arbeiten durchführen!"

"Wissen Sie, es hat wenig Sinn, wenn ich Ihnen Adressen von Firmen weitergebe. Ich bin sicher, daß Sie bei diesen Firmen kein Glück haben werden. Der norddeutsche Markt ist hart umkämpft. Da kann sich keine Firma erlauben, ihr Image durch Behinderte zu schädigen."

(Wirtschaftsverbandssprecher in einem Telefonat)

"Man muß den Menschen kennenlernen, um den es geht; ausprobieren, ob es klappt. Wie soll man sich sonst eine Meinung bilden?"

(Wolfgang Ringe, Personalleiter der Firma Globetrotter)

In einem Gespräch mit der Hamburger Arbeitsassistenz äußerten sich Wolfgang Ringe, Personalleiter, Alois Langner, Abteilungsleiter, Mehmet Yüksel und Jorge Hernan Carvillo-Aravena, Lagerarbeiter der Firma Globetrotter, über ihre Erfahrungen, die sie in den vergangenen sechs Monaten mit einem von der Hamburger Arbeitsassistenz unterstützten Beschäftigungsverhältnis gemacht haben.

Hildegard Rilke ist seit dieser Zeit als Lagerarbeiterin bei Globetrotter beschäftigt. Sie besuchte eine Sonderschule für Geistig Behinderte bevor sie in den Arbeitstrainingsbereich der Winterhuder Werkstätten für Behinderte in Hamburg aufgenommen wurde. Nach dem ersten Jahr Arbeitstraining in der WfB wechselte sie in das Ambulante Arbeitstraining der Hamburger Arbeitsassistenz, eine personell unterstützte berufliche Vorbereitungs-, Orientierungs- und Qualifizierungsmaßnahme mit der Zielsetzung der Eingliederung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Ein betriebliches Praktikum in der Firma Globetrotter führte zur Übernahme in ein - weiterhin von der Hamburger Arbeitsassistenz unterstütztes - sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis.

Die Firma Globetrotter ist ein Ausrüster für Outdoor-Equipment-Produkte. Das Zentrallager befindet sich in Hamburg. Von hier aus werden Filialen in Hamburg, Berlin und Dresden beliefert.

Hinsichtlich der Beschäftigung von ArbeitnehmerInnen mit Behinderung gibt es zwar keine ausdrückliche Grundhaltung der Geschäftsleitung. Es besteht aber bei Stellenbesetzungen eine grundsätzliche Offenheit gegenüber vom Arbeitsmarkt benachteiligten BewerberInnen.

Hamburger Arbeitsassistenz:

"Herr Ringe, was ging Ihnen spontan durch den Kopf, als Sie im April zum ersten mal von uns mit der Idee konfrontiert wurden, eine Mitarbeiterin mit Behinderung in Ihrem Betrieb aufzunehmen: Aus vielen Gesprächen mit Unternehmen wissen wir, dass große Vorbehalte gegenüber behinderten MitarbeiterInnen bestehen, wie z.B. die Reaktionen der KollegInnen, Fragen des Leistungsvermögens oder rechtliche Bestimmungen wie der besondere Kündigungsschutz."

Wolfgang Ringe:

"Auch ich war nicht ganz frei von einer Reihe von Befürchtungen und Bedenken, die mir durch den Kopf gingen; letztendlich aber sagten mir meine langjährigen Erfahrungen mit unterschiedlichen Arbeitnehmern, die alle ihre Probleme hatten, dass man im Vorwege eigentlich keine abschließenden Beurteilungen treffen kann. Man muss den Menschen kennenlernen, um den es geht, ausprobieren, ob das klappt. Wie soll man sich denn sonst eine Meinung bilden? Bis zu dem Zeitpunkt, zu dem Hildegard zu uns kam, hatten wir im Betrieb keine Erfahrungen mit geistig behinderten Mitarbeitern."

Hamburger Arbeitsassistenz:

"Unserer Erfahrung nach ist es ganz wichtig, dass nicht nur die Personalleitung sondern auch die Kollegen vor Ort, die dann mit der behinderten Mitarbeiterin zusammenarbeiten, so einen Versuch mittragen. Wurden die Kollegen auf die Arbeitsaufnahme von Hildegard vorbereitet? Haben Sie durch Hildegard Rilke besondere Belastungen in ihrer Arbeit befürchtet?"

Alois Langer (Abteilungsleiter):

"Herr Ringe hat mich vorher informiert, dass Hildegard bei uns ein Praktikum im Lager machen soll. Ich selbst habe keine besonderen Erfahrungen mit geistig Behinderten. Ich denke aber, dass man mit solchen Menschen etwas sensibel umgehen muss, z.B. nicht ungeduldig werden, wenn es nicht schnell genug geht und nicht zu laut werden. Wenn keine sichtbare Behinderung vorliegt, kann es ja passieren, dass man Probleme, die tatsächlich bestehen, nicht richtig wahrnimmt."

Mehmet Yüksel (Lagerarbeiter):

"Man hat mir nicht erzählt, dass Hildegard behindert ist. Aber man kriegt ja schnell mit, dass Hildegard bei manchen Dingen Hilfe braucht. Außerdem konnten wir beobachten, wie zwei Arbeitsassistentinnen am Anfang Hildegard die Systematik hier im Lager erklärt haben. Wenn ich dann z.B. gesehen habe, dass sie mit dem Bestellzettel vor dem Regal steht und nicht weiter kommt, habe ich mich in die Nähe gestellt und selbst nach etwas gesucht, dann fiel es ihr leichter, mich anzusprechen."

Jorge Hernan Carvillo-Aravena (Lagerarbeiter):

"Hildegard hat für mich keine besondere Belastung bedeutet. Für Fragen zwischendurch muss immer Zeit sein. Fast jeder Kollege kennt die Situation, dass man einen Artikel in diesem großen Lager nicht findet, weil er tatsächlich nicht da ist, oder weil man davor steht und ihn trotzdem nicht sieht."

Hamburger Arbeitsassistenz:

"Hildegard arbeitet jetzt seit einem guten halben Jahr hier im Lager. Wir haben den Eindruck, dass sie in dieser Zeit viele Dinge gelernt hat. Wie schätzen Sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Leistungsfähigkeit und Einsetzbarkeit von Hildegard Rilke ein? Ist Hildegard eine Arbeitnehmerin wie jede andere auch für Sie, Herr Ringe?"

Wolfgang Ringe:

"Probleme gibt es keine. Sie macht ihre Arbeit gut, sie ist sehr nett und freundlich. Natürlich kann sie nicht alle Arbeiten machen. Unten aus der Abteilung Sicherheitsetiketten mussten wir sie wieder herausnehmen, weil die zwei Kolleginnen, wenn sie zuviel zu tun hatten, nicht auf sie achten konnten. Wenn sie dann eine teure Goretex-Hose an der falschen Stelle locht, ist das ein irreparabler Fehler.

Hildegard bringt ganz klar keine hundertprozentige Leistung. Damit habe ich auch bei Hildegards Einstellung nicht gerechnet."

Alois Langer (Abteilungsleiter):

"Die Hildegard macht im Wesentlichen die gleichen Arbeiten, wie andere Kollegen auch. Natürlich gibt es auch Einschränkungen. Ich kann sie nicht so flexibel einsetzen wie andere MitarbeiterInnen. Alle anderen müssen auch im übrigen Haus aushelfen können, müssen einspringen, wenn es irgendwo brennt. Wenn ein Kollege aus einer anderen Abteilung anruft und sagt, er braucht ein paar Leute, weil es schnell gehen muss, dann werde ich nicht gerade Hildegard schicken können.

Ein weiteres Problem ist die Selbständigkeit. Hildegard kann derzeit nur in solchen Bereichen arbeiten, die aufgrund der Arbeitsorganisation im Hause noch einer Kontrolle durch einen anderen Mitarbeiter oder durch andere Abteilungen unterliegen. Alle Privatkundenbestellungen, die oben im Lager anhand der Artikelnummern rausgesucht werden, also Hildegards Arbeit, werden unten durch die KollegInnen im Versand überprüft. Fehlerhafte Zuordnungen gehen zurück ins Lager und können so korrigiert werden. Da wir hier eine Vielzahl von ganz unterschiedlichen Arbeiten haben ,ist es eigentlich immer möglich, eine geeignete Arbeit für Hildegard zu finden. Ein Problem ist sicherlich auch, dass Hildegard doch deutlich langsamer arbeitet als die Arbeitskollegen, aber ich hoffe, dass sich das im Laufe der Zeit noch geben wird."

Hamburger Arbeitsassistenz:

"Was uns bei Ihnen im Betrieb gleich am ersten Tag aufgefallen ist, ist der freundliche Umgangston unter den Kollegen und zwischen Kollegen und Vorgesetzten. Das ist unserer Erfahrung nach immer eine gute Voraussetzung für eine berufliche Eingliederung. Haben Sie das Gefühl, dass der Umgang mit Hildegard Rilke anders als mit anderen KollegInnen ist?"

Mehmet Yüksel (Lagerarbeiter):

"Was mir auffällt ist ihre Offenheit. Sie sucht ganz offen Trost und Teilnahme bei z.B. traurigen Ereignissen. Dass ihre Katze letzte Woche gestorben ist, erzählt sie jedem Kollegen immer wieder neu. Und weint auch jedes mal, ohne sich zu schämen. Und jeder geht auf seine Weise darauf ein. Ich denke, es ist ihre Art, die traurigen wie auch die freudigen Dinge zu verarbeiten, und eigentlich machen wir es doch alle so, dass wir uns mitteilen. Was mich irritiert, ist, dass sie manchmal scheinbar ohne Zusammenhang erzählt. Irgendetwas an der Situation oder im Gespräch hat sie wohl darauf gebracht und sie erzählt es einfach."

Wolfgang Ringe (Personalleiter):

"In den Mittagspausen setzt sie sich ohne Scheu und ganz selbstverständlich zu allen MitarbeiterInnen, ob sie sie nun kennt oder nicht. Sie respektiert nicht die üblichen Grüppchen oder Hierarchien, wahrscheinlich kennt sie so etwas auch garnicht. Sie ist allerdings nie unhöflich. Sie zeigt natürliche Reaktionen, wie wir anderen "Nichtbehinderten" sie uns schon abgewöhnt haben. Wenn beispielsweise für sie im Moment nichts zu tun ist, oder sie das Bedürfnis hat sich kurz auszuruhen, so setzt sie sich einfach einen Moment hin. Andere KollegInnen vermeiden dies üblicherweise aus dem Gefühl heraus, nicht als faul zu gelten, oder nicht beim Nichtstun ertappt zu werden."

Hamburger Arbeitsassistenz:

"Das hört sich ja alles recht positiv an. Hildegard scheint sozial weitgehend akzeptiert und integriert zu sein. Doch haben wir manchmal den Eindruck, dass von manchen KollegInnen auch Bedenken geäußert werden."

Alos Langer (Abteilungsleiter):

"Zwar wird hier bei uns nicht über Gehälter gesprochen, aber ich könnte mir vorstellen, dass von manchen Kollegen nicht verstanden wird, dass Hildegard den gleichen Lohn erhält, obwohl sie doch viel langsamer und unflexibler arbeitet."

Wolfgang Ringe (Personalleiter):

"Natürlich kann ich verstehen, vor allen Dingen, wenn wir noch mehr behinderte Arbeitnehmer einstellen würden, dass einzelne Kollegen ihre Arbeit entwertet sehen, wenn die gleiche Arbeit auch von einem behinderten Menschen durchgeführt werden kann.

Ich stehe jedenfalls zu meiner Entscheidung und sehe auch keine weiteren Probleme, da Hildegard gut integriert ist. Ich freue mich, dass ich einem Menschen wie ihr eine Chance geben konnte und ich denke, dass Hildegard diese nutzen wird.

Positiv fand ich die Informationen durch die Hamburger Arbeitsassistenz. Von der Möglichkeit zu erfahren, wie man schwerbehinderten Arbeitnehmer einstellen kann, war für mich wichtig. Die konkrete Ansprache durch Sie hat mich motiviert, den Versuch zu wagen."

Das Gespräch für die Hamburger Arbeitsassistenz führte Frauke Brinckmann, Fotos Teresa Cyron, Arbeitsassistentinnen.

(Das Gespräch wird ebenfalls in der Zeitschrift "zusammen" Ausgabe 9/98 veröffentlicht)

Rolf Behncke, Hamburger Arbeitsassistenz

Quelle:

Rolf Behncke: Natürlich kann sie nicht alle Arbeiten durchführen!"Ein besonderes Arbeitsverhältnis? - Unterstützte Beschäftigung konkret

Erschienen in: impulse Nr. 10 / Okt. 1998

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 21.02.2005

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