Teilhabe nur auf Armutsniveau?

Themenbereiche: Arbeitswelt
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: impulse Nr. 54, 03/2010, Seite 26-28 impulse (54/2010)
Copyright: © Martina Puschke, Barbara Vieweg 2010

Teilhabe nur auf Armutsniveau?

Mit der Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention (BRK) durch die Bundesregierung im März vergangenen Jahres werden Behindertenrechte als Menschenrechte anerkannt. Die BRK fordert die Vertragsstaaten auf entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, um der mehrfachen Diskriminierung von Frauen und Mädchen mit Behinderung entgegenzuwirken. Frauen und Mädchen mit Behinderung erfahren in den unterschiedlichen Bereichen des täglichen Lebens Benachteiligungen aufgrund ihrer Behinderung und ihres Geschlechts. Sie sind bei der Aufnahme von Erwerbsarbeit, in der Gesundheitsversorgung oder in der Ausübung ihrer Mutterrolle benachteiligt. Diese Nachteile gilt es abzubauen. Darüber hinaus sind sie etwa doppelt so häufig von Gewalt betroffen wie Frauen ohne Behinderung. Auch diese Tatsache erkennt die BRK an und sieht in diesem Bereich deutlichen Handlungsbedarf der Vertragsstaaten.

Artikel 6 der BRK (Frauen mit Behinderung) ist im Zusammenhang mit der Gleichberechtigung von Frau und Mann in Artikel 3 (Allgemeine Grundsätze) als Querschnittsthema für alle Maßnahmen im Rahmen der Konvention zu sehen. Im Artikel 6wird anerkannt, dass Frauen und Mädchen mit Behinderung mehrfacher Diskriminierung ausgesetzt und Maßnahmen zu ergreifen sind, die gewährleisten, "dass sie alle Menschenrechte und Grundfreiheiten voll und gleichberechtigt genießen können."[1]

Einen konkreten Handlungsauftrag möchten wir hier besonders hervorheben: Einrichtungen der Behindertenhilfe sollen Gleichstellungs- oder Frauenbeauftragte zur Verfügung stellen, um Benachteiligungen von Frauen aufzudecken, in dem sie beraten und Gewaltprävention betreiben. Die politische Interessenvertretung behinderter Frauen - Weibernetz e.V. führt hierzu ein durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördertes Projektes durch: "Frauen-Beauftragte in Einrichtungen".

Im Folgenden möchten wir Fragen und Probleme aus dem Themenfeld berufliche Teilhabe darstellen und Forderungen bzw. Maßnahmen ableiten:

Im Bereich Arbeit wird die mehrdimensionale Benachteiligung von Frauen mit Behinderung sehr deutlich. Sowohl beim Einstieg, als auch beim Wiedereinstieg (nach der Familienphase oder einer im Verlauf des Lebens eintretenden Behinderung) haben Frauen mit Behinderung erschwerte Bedingungen.

Dass der Arbeitsmarkt in Deutschland insbesondere für Frauen wenig off en ist, zeigt sich besonders daran, dass etwa ein Drittel der behinderten Männer erwerbstätig sind aber nur ein Fünftel der Frauen, ebenso sind nur 30 % Frauen in den Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation. Hinzu kommt, dass Frauen mit Behinderung häufig in frauenspezifischen Berufen ausgebildet werden und ihnen diese "Berufs"-Wahl häufig auch von Beratungsstellen angeraten wird. Dadurch sind ihre Verdienst- und Aufstiegschancen schlecht. Dies belegen auch die Zahlen aus dem zweiten Zwischenbericht der Initiative Job4000, die wegweisend geschlechtsspezifische Daten erhoben hat.[2]

A. Geschlechtsspezifische Maßnahmen im Bereich der Bildung

Um Mädchen mit Behinderung zu selbstbewussten jungen Frauen zu erziehen, brauchen sie Vorbilder und Perspektiven für die Zukunft.

  • Lehramtsstudierende müssen im Laufe ihres Studiums zu geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Sozialisation und im Lebensverlauf geschult werden, die Kultusministerien müssen die Lehrpläne entsprechend modifizieren. Das Gleiche gilt für die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern, Pflegepersonal etc.

  • Schulbücher müssen die Lebensrealitäten von Mädchen/Frauen und Jungen/Männer mit Behinderung thematisieren. Bei der Neugestaltung der Schulbücher sollen die Interessenvertretungen behinderter Frauen einbezogen werden.

B. Verbesserung der Ausbildungssituation von Frauen mit Behinderung

  • In der beruflichen Rehabilitation müssen mehr Ausbildungsberufe für Frauen mit Behinderung zugelassen bzw. anerkannt werden. Wohnortnahe und passgenaue Angebote sind auszubauen, damit das Wunsch- und Wahlrecht respektiert wird.

  • In allen Angeboten der beruflichen Teilhabe müssen mehr Frauen mit Behinderungen als Ausbilderinnen und Lehrkräfte zur Stärkung der Vorbildfunktion beschäftigt werden. Damit können geschlechtsspezifische Vorurteile hinsichtlich der Leistungsfähigkeit, Vereinbarkeit von Familie und Beruf abgebaut werden.

C. Geschlechtersensible Umgestaltung der Berufsberatung

  • Beraterinnen und Berater in den Agenturen für Arbeit, den Integrationsfachdiensten, den Jobcentern u.a. müssen zur Lebenssituation von Frauen mit Behinderung sensibilisiert und fortgebildet werden, so wie es die BRK im Art. 8 "Bewusstseinsbildung" fordert.

  • Frauen gelingt der Übergang aus der Werkstatt für behinderte Menschen seltener als Männern. Entsprechend muss die Beratung in den Werkstätten, bei den Agenturen für Arbeit, durch die Integrationsfachdienste gezielt Programme zur Beratung von Frauen mit Behinderung aufstellen, damit Frauen mit Behinderung auch erreicht werden.

Darüber hinaus wäre eine Auslobung von Preisen für die gelungene Teilhabe von Frauen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt durch Bundes- und Landesministerien oder Kommunen sinnvoll. Im Rahmen der durch die BRK geforderten Bewusstseinsbildung müssen Materialien über Rehabilitations- und Erwerbsmöglichkeiten von Frauen mit Behinderung unter Berücksichtigung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf erarbeitet werden.

Ausgehend von der Umsetzung der BRK sind für die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe alle Leistungen daraufhin zu überprüfen, ob Frauen mit Behinderung einen gleichen Zugang zu ihnen haben. Dafür ist es wichtig, alle Daten geschlechtsspezifisch zu erheben.

Die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe nimmt starken Bezug auf die UN-Konvention und die Reform ist daran zu messen, in wie weit sie die Standards der BRK in Rechtsansprüche umsetzt. Grundlage bildet dafür der inklusive Sozialraum, er ist Ausgangspunkt der Bemessung des Bedarfs der Menschen mit Behinderung. Je inklusiver er ist, desto gleichberechtigter können Menschen mit Behinderung leben. Hierbei sind auch alle Dienstleistungen und Beratungsangebote, die sich an Frauen und Familien wenden, inklusiv zu gestalten.

Wie schon dargestellt, arbeiten nur wenige Frauen im erwerbsfähigen Alter und erzielen ein im Vergleich zu Männern mit Behinderung geringeres Einkommen. Die meisten Leistungen für behinderte Menschen sind an die Erwerbstätigkeit gebunden und abhängig von Einkommen und Vermögen. Bei einem hohen Unterstützungsbedarf bleibt nur ein Existenzminimum. Ebenso werden Leistungen für die Teilhabe am Leben der Gemeinschaft nicht bewilligt, weil die Frau oder der Mann mit Behinderung nicht erwerbstätig ist. Teilhabechancen werden vorenthalten, wenn sie an Erwerbstätigkeit geknüpft werden.

Seit vielen Jahren wird dieser Umstand von behinderten Menschen kritisiert. Das Forum für selbstbestimmte Assistenz e. V. - ForseA und die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben - ISL e.V. fordern aus diesem Grund ein Gesetz zur Sozialen Teilhabe, dessen Leistungen einkommens- und vermögensunabhängig sind. Weiterhin soll der Rechtsanspruch auf Persönliche Assistenz, als bedarfsdeckende individuelle Hilfe neben dem Persönlichen Budget im Sozialgesetzbuch IX verankert werden. Dazu gehört zum Beispiel auch die Elternassistenz. Zusätzlich ist ein gestaffeltes Teilhabegeld vorgesehen. Es ersetzt die Landesregelungen zum Landespflege-, Blinden-, Gehörlosen- und Sehbehindertengeld. Die Möglichkeit der Sozialhilfeträger, die Hilfe auf eine Heimunterbringung zu beschränken und die Assistenz in der eigenen Wohnung zu verweigern, soll abgeschafft werden.

Das Forum behinderter Juristinnen und Juristen erarbeitet unter der Leitung von Horst Frehe, Sprecher des Forums, einen Gesetzesvorschlag mit dem Ziel, die Eingliederungshilfe von der Sozialhilfe komplett zu entkoppeln. Behinderte Frauen und Männer sollen ihr Recht auf soziale Teilhabe nicht nur auf Armutsniveau realisieren können! Die soziale Teilhabe muss deshalb gleichberechtigt mit der beruflichen Teilhabe oder der medizinischen Rehabilitation im SGB IX verankert werden.[3]



[1] Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderung, Schattenübersetzung, Netzwerk Artikel 3, 2009, S. 25

Autorinnen

Martina Puschke ist Projektleiterin im Weibernetz e.V. - Politische Interessenvertretung behinderter Frauen und Redakteurin der Weiberzeit. Sie vertritt den Deutschen Behindertenrat im Beirat der Antidiskriminierungsstelle des Bundes

Kontakt und nähere Informationen

Weibernetz e.V.

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Telefon: 0561 / 7288585, Fax: 0561 / 7288553

Mail: info@weibernetz.de

Barbara Vieweg ist Referentin bei Weibernetz e.V. - Politische Interessenvertretung behinderter Frauen

Kontakt und nähere Informationen

Weibernetz e.V.

Mail: barbara.vieweg@weibernetz.de

Internet: www.weibernetz.de

Quelle:

Martina Puschke, Barbara Vieweg: Teilhabe nur auf Armutsniveau?

Erschienen in: impulse Nr. 54, 03/2010, Seite 26-28.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 06.06.2012

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