"Man guckt wirklich viel mehr auf die Individualität ..."

Erfahrungen mit dem Persönlichen Budget im Wohnheim

Themenbereiche: Recht, Lebensraum
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: impulse Nr. 43/2007, Seite 11-13. impulse (43/2007)
Copyright: © Gudrun Wansing, Markus Schäfers 2007

"Man guckt wirklich viel mehr auf die Individualität ..."

Erfahrungen mit dem Persönlichen Budget in stationären und teilstationären Unterstützungssystemen sind auch sechs Jahre nach der gesetzlichen Einführung der neuen Leistungsform und seiner Erprobung in zahlreichen Modellversuchen deutschlandweit immer noch Mangelware (vgl. Metzler et al. 2007). Dies gilt für Leistungen der beruflichen Bildung und Beschäftigung ebenso wie für stationäre Wohnangebote.

Bundesweit einzigartig wurde im Sommer 2003 im Rahmen des Projektes Personenbezogene Unterstützung und Lebensqualität (PerLe) ein Modellversuch zur Erprobung des Persönlichen Budgets in einem Wohnheim für Menschen mit geistiger Behinderung gestartet. Beteiligt sind der Stiftungsbereich Behindertenhilfe der von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel, der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) und die Universität Dortmund (Rehabilitationssoziologie). Nach über drei Jahren Laufzeit ist die Modellphase inzwischen abgeschlossen und es liegen umfassende Erfahrungen zu zentralen Fragestellungen der Modellerprobung vor: Ist ein Persönliches Budget in einer stationären Wohneinrichtung überhaupt umsetzbar? Unter welchen Bedingungen können auch Menschen mit umfänglichen Unterstützungsbedarfen von der neuen Leistungsform profitieren? Wie entwickeln sich ihre Lebensführung und Alltagsbewältigung unter Budgetbedingungen? Was bedeutet das Persönliche Budget für das professionelle Selbstverständnis und wie wirkt es sich auf die Arbeitssituation im Wohnheim aus? Nachfolgend werden schlaglichtartig einige zentrale Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitforschung skizziert. Der ausführliche Abschlussbericht wird im Herbst dieses Jahres veröffentlicht (vgl. Schäfers, Wacker, Wansing 2007).

Was wissen die BewohnerInnen über das Persönliche Budget?

Von den insgesamt 24 BewohnerInnen des Wohnheims erhalten 17 Personen ergänzend zu bestimmten Basis(sach)leistungen (z.B. Pflege, Haushaltsführung, Gesundheitsförderung) je nach Leistungstyp und Hilfebedarfsgruppe einen Anteil der Maßnahmepauschale (nach §§ 75 ff. SGB XII) als Persönliches Budget. Dieser kann von den BewohnerInnen nach eigenen Vorstellungen für weitere Unterstützung durch WohnheimmitarbeiterInnen, externe Dienstleister oder Privatpersonen eingesetzt werden.

Viele der BewohnerInnen, die alle bereits seit vielen Jahren bzw. Jahrzehnten in stationären Wohneinrichtungen leben, zeigen (vor allem zu Beginn der Modellerprobung) trotz intensiver Informationsaktivitäten Schwierigkeiten, den Budgetgedanken nachzuvollziehen und in den Alltag zu integrieren. Da der Zusammenhang von Geldleistungen und eigenem Hilfebedarf vielen unklar scheint, ist es für sie schwierig, die Gelder zielgerichtet für notwendige Unterstützung einzusetzen. Die Einführung einer systematischen Budgetplanung und einer für die BudgetnehmerInnen nachvollziehbaren Kontoführung sowie ein eigens entwickeltes Fortbildungsangebot konnten zwar das Verständnis der BudgetnehmerInnen und ihre Partizipation an der Budgetumsetzung erhöhen. Dennoch erschließen sich der monetäre Charakter des Persönlichen Budgets und das Grundkonzept seiner Umsetzung auch mit einem Erfahrungshintergrund von drei Jahren nicht für alle BudgetnehmerInnen gleichermaßen. Fast alle Personen bringen zwar das Persönliche Budget mit Geld in Verbindung, und die Hälfte von ihnen kennt die zentralen Grundideen und hat eine Vorstellung von den notwendigen Schritten beim Mitteleinsatz. Die andere Hälfte der BudgetnehmerInnen kann jedoch die Funktion des Budgets nicht näher beschreiben bzw. ihnen fällt zum Teil die Abgrenzung von anderen Geldern (wie Taschengeld, Kleidungsgeld, Werkstattlohn) schwer.

Der insgesamt geringe Kenntnisstand der meisten BudgetnehmerInnen zu Budgethöhen, Preisen für Dienstleistungen und den einzelnen Schritten der Inanspruchnahme von Leistungen weist darauf hin, dass das Persönliche Budget für diesen Personenkreis mit vielfältigen Anforderungen verbunden ist (und bleibt), die einen eigenen, teils umfänglichen Bildungs- und Unterstützungsbedarf begründen.

Wer unterstützt die BewohnerInnen bei der Budgetverwendung?

Die notwendige Begleitung und Unterstützung im Umgang mit dem Budget (Budgetassistenz) wird von den BewohnerInnen in erster Linie bei den MitarbeiterInnen des Wohnheims nachgefragt. Sie sind Ansprechpartner und Vertrauensperson bei allen Fragen rund um das Persönliche Budget und spielen im Gesamtprozess des Mitteleinsatzes eine aktive Rolle: Sie unterstützen BudgetnehmerInnen bei der Planung von Aktivitäten, informieren über geeignete Dienstleister, vermitteln Kontakte zu diesen, sprechen Termine ab, begleiten den Vertragsabschluss usw. Diese Beratungs- und Regiearbeiten werden von den MitarbeiterInnen (auch im Vergleich zur Sachleistung) als enorm aufwändig erlebt und führen zum Teil zu Rollenkonflikten:

Einerseits sind sie selber Dienstleister und Vertreter einer Einrichtung, andererseits erfordert eine objektive Beratung auch Informationen über andere Anbieter und damit über mögliche Konkurrenz: "Es ist natürlich wirklich auch sehr schwer, einen Bewohner zu beraten, mit wem er was macht, auch wenn man dabei im Hintergrund hat irgendwie: Je mehr ich den eigentlich nach außen berate, je mehr säge ich an meinem Stuhl".

Das unabhängige und kostenlose Angebot der örtlichen Beratungsstelle "Café 3b" ist zwar den meisten BewohnerInnen bekannt, wird aber kaum in Anspruch genommen. Vieles deutet darauf hin, dass eine direkte, unkomplizierte und alltagsnahe Budgetberatung von vertrauten Personen für diese Zielgruppe wichtiger ist als die Unabhängigkeit einer externen Beratung.

Wofür und in welchem Umfang wird das Persönliche Budget eingesetzt?

Die BewohnerInnen setzten ihre Budgets vor allem für Unterstützung bei Freizeitaktivitäten ein, z.B. Besuche von Fußballspielen und Konzerten, Kino- und Schwimmbadbesuche. Darüber hinaus wird Unterstützung zur Bewältigung von "Alltagsaufgaben" über das Budget organisiert, z.B. beim Einkaufen, Aufräumen, Kochen, bei Behördenangelegenheiten oder beim Telefonieren. Auch Beratungs-, Planungs- und Bildungsaktivitäten im Zusammenhang mit dem Budget werden über die Geldmittel bezahlt. Insgesamt offenbaren sich große Unterschiede in der Budgetverwendung. Dies betrifft zum einen das Ausmaß der Inanspruchnahme: Einige Personen setzen nur geringe Anteile ihres Budgets, andere fast ihr gesamtes Budget ein. Diese Unterschiede sind vor allem auf individuelle Voraussetzungen und Umweltfaktoren der einzelnen Budgetnehmer zurückführen. Dabei spielen budgetbezogene Kenntnisse und Kompetenzen allerdings keine übergeordnete Rolle. So nutzt eine Bewohnerin, die über ein vergleichsweise gutes Geldwertverständnis und Kompetenzen bezüglich der Budgetumsetzung verfügt, nur einen sehr geringen Betrag ihres Budgets. Die Bezugsmitarbeiterin sieht den Grund darin, dass die Frau insgesamt "zurückgezogen" lebt und "eine unglaublich lange Zeit braucht, um solche Entscheidungen zu treffen. Und um sie auch umzusetzen." Eine andere Bewohnerin hingegen weist die höchste prozentuale Inanspruchnahme des Budgets auf, obwohl die Interviews mit ihr und der Bezugsbetreuerin verdeutlichen, dass sie keinerlei Verständnis vom Persönlichen Budget und den Schritten der Umsetzung hat. Neben ihrem grundsätzlichen Interesse an Aktivitäten ("also wo Aktion ist, ist Frau G.") spielen hier die Eltern eine einflussnehmende Rolle, die einen Teil des Budgets verwalten und damit externe Unterstützung organisieren.

Ebenso wie das Ausmaß der Budgetnutzung stellt sich auch die Art der nachgefragten Budgetleistungen bzw. das Verhältnis von internen und externen Dienstleistungen individuell sehr verschieden dar: Acht Personen setzen ihr Budget (fast) ausschließlich für die Unterstützung durch WohnheimMitarbeiterInnen ein, vier BewohnerInnen fragen überwiegend interne Leistungen, ergänzt durch einige externe Leistungen nach und fünf Personen organisieren überwiegend externe Unterstützung.

Was verändert sich im Leben der BewohnerInnen und wie beurteilen sie das Budget?

Die meisten BudgetnehmerInnen bewerten das Persönliche Budget insgesamt positiv. Dabei ist bei einigen von ihnen eher eine "diffuse Zufriedenheit" zu erkennen, die nicht weiter begründet werden kann, z.B. "weil es mir Spaß macht" oder "wüsste nicht ganz bestimmt, den bestimmten Grund." Dieses betrifft vor allem Personen, die im gesamten Projektverlauf kein oder nur ein geringes Verständnis für die Grundidee des Persönlichen Budgets sowie kaum Bewusstsein dafür entwickeln, Budgetnehmer/in mit Entscheidungsspielräumen zu sein.

Die anderen BudgetnehmerInnen hingegen, die das Budget aktiv nutzen und für die es inzwischen im Alltag eine bedeutende Rolle spielt, äußern sich ausführlicher. Sie berichten vor allem von einem Zuwachs an Aktivitäten, auch außerhalb des Wohnheims, ("ich kann mehr unternehmen", "weil ich jetzt öfters raus komme"), der auch im Zusammenhang mit den wahrgenommenen Entscheidungsspielräumen steht. Die BewohnerInnen erleben insbesondere die Möglichkeiten, UnterstützerInnen selbst wählen zu können, als sehr positiv. Ein Wohnheimmitarbeiter drückt dies im Interview so aus: "Das war ja so früher nie möglich zu sagen, ich möchte aber gar nicht mit euch ins Kino gehen, ich möchte viel lieber mit irgendjemand fremdes oder jemand preiswerterem gehen. Also das ist so eine revolutionäre Erneuerung, einfach auch Sachen mit Menschen zu machen, die ich mir aussuchen kann." Dadurch eröffnet sich für die BudgetnehmerInnen auch eine zeitliche Flexibilität, die Aktivitäten unabhängig vom Dienstplan im Wohnheim ermöglicht. So wird zum Beispiel ein nächtlicher Diskobesuch inklusive Fahrdienst und Unterstützung beim Zu-Bett-Gehen möglich. Einige Personen sprechen zudem von positiven Wirkungen des Persönlichen Budgets auf ihre persönliche Entwicklung ("mir hat das total geholfen, ich bin freier geworden (...), ich bin nicht mehr so ängstlich") und auf die Beziehung zwischen MitarbeiterInnen und BewohnerInnen ("das Klima ist besser geworden").

Was verändert sich für die Arbeitssituation der MitarbeiterInnen und wie beurteilen sie das Budget?

Aus der Sicht der MitarbeiterInnen ist ein wesentlicher Effekt des Persönlichen Budgets, dass individuelle Unterstützungsansprüche der einzelnen BewohnerInnen transparenter werden und bei der Leistungsplanung und -gestaltung besser berücksichtigt werden können: "Man guckt wirklich viel mehr auf die Individualität einfach und auch auf das, was geplant ist und gewünscht wird." Dies führt nach ihren Aussagen zu einer insgesamt strukturierteren, verlässlicheren und nachvollziehbareren Hilfeplanung, welche die Handlungssicherheit der Mitarbeitenden stärkt und bedarfsgerechte, passgenaue Leistungen ermöglicht. Einige MitarbeiterInnen äußern, dass durch das Persönliche Budget auch den BewohnerInnen ihr eigener Unterstützungsanspruch (und dessen Grenze) bewusster geworden ist und sie Unterstützungsleistungen deshalb auch aktiver einfordern.

Ein zentrales Umsetzungsproblem in der Wohneinrichtung liegt darin, budgetfinanzierte Leistungen mit dem Rahmendienstplan zu vereinbaren. Verfügbare Personalressourcen müssen so eingesetzt werden, dass einerseits die Erfordernisse des "laufenden Betriebs" berücksichtigt und die "Grundversorgung" sichergestellt werden, und andererseits die über das Persönliche Budget vereinbarten individuellen Unterstützungszeiten abgedeckt werden.

Die MitarbeiterInnen im Wohnheim sparen derzeit im Rahmen der Dienstplangestaltung zum Teil an geeigneten Stellen Personalressourcen auf ("Minusstunden machen"), um disponible Zeiten zu gewinnen, die für zeitintensive Budgetaktivitäten eingesetzt werden können.

Langfristig wird aber eine solche zeitliche Flexibilisierung des Personaleinsatzes bei gleichzeitigem Festhalten an herkömmlichen Dienstplänen mit festen Arbeitstagen als nicht tragfähig angesehen. Vielmehr wird eine grundsätzliche Veränderung der Arbeitsorganisation im Wohnheim (z.B. flexible Dienstzeiten in Anlehnung an den ambulanten Bereich) als notwendig erachtet, um dauerhaft sinnvoll im Rahmen eines Persönlichen Budgets arbeiten zu können.

Wie geht es weiter mit dem Persönlichen Budget im Wohnheim?

Die dreijährigen Erfahrungen mit dem Persönlichen Budget im Wohnheim zeigen, dass die Einführung dieser neuen Leistungsform in ein Unterstützungssystem, das in besonderer Weise in der Tradition der pauschalen Sachleistung steht, allen Beteiligten eine erhebliche Neuorientierung abverlangt. Trotz der vielfältigen Anforderungen und dem Erleben einiger kritischer Nebenwirkungen bewerten alle Projektpartner, d.h. BewohnerInnen, MitarbeiterInnen, Einrichtungs- und Leistungsträger, die Erfahrungen überwiegend positiv, und es wurde gemeinsam beschlossen, die Arbeit mit dem Budget auch nach Ablauf der Modellphase fortzusetzen.

Inzwischen signalisieren auch andere Einrichtungsträger Interesse daran, das Persönliche Budget im stationären Wohnbereich zu erproben. Diese Entwicklungen sind mit Spannung zu verfolgen - insbesondere im Hinblick auf den ab 2008 geltenden Rechtsanspruch auf ein Persönliches Budget.

Literatur:

Metzler, Heidrun; Meyer, Thomas; Rauscher, Christine; Schäfers, Markus; Wansing, Gudrun (2007): Begleitung und Auswertung der Erprobung trägerübergreifender Persönlicher Budgets. Zwischenbericht. http://www.projekt-persoenliches-budget.de

Wacker, Elisabeth; Wansing, Gudrun; Schäfers, Markus (2005): Personenbezogene Unterstützung und Lebensqualität. Teilhabe mit einem Persönlichen Budget. Wiesbaden: DUV.

Schäfers, Markus; Wacker, Elisabeth; Wansing, Gudrun (2007): Persönliches Budget im Wohnheim. Wiesbaden: DUV. (im Druck)

Kontakt

Markus Schäfers, Dr. Gudrun Wansing

Universität Dortmund

Rehabilitationssoziologie

Emil-Figge-Str. 50, 44221 Dortmund

Tel.: 0231-7555206

markus.schaefers@uni-dortmund.de; gudrun.wansing@uni-dortmund.de

www.fk-reha.uni-dortmund.de/Soziologie/PerLe2/

Quelle:

Gudrun Wansing, Markus Schäfers: "Man guckt wirklich viel mehr auf die Individualität ..." Erfahrungen mit dem Persönlichen Budget im Wohnheim

erschienen in: impulse Nr. 43/2007, Seite 11-13.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 16.03.2009

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