Unterstützung von jungen Menschen mit Autismus

im Rahmen der Berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme (BvB) der LAG Gemeinsam leben - gemeinsam lernen, Hessen

Themenbereiche: Arbeitswelt
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: impulse Nr. 41/42, 1 + 2/2007, Seite 39 - 41. impulse (41/42/2007)
Copyright: © Monika Scholdei-Klie 2007

Unterstützung von jungen Menschen mit Autismus

Matthias[1] kommt immer mal wieder bei uns vorbei, d.h. er steht auf der Straße vor unseren Räumen und wartet, bis jemand von seinen ehemaligen Begleiter/innen herausschaut und ihm zuwinkt. Dann geht er. Auch letzten Samstag stand er draußen; wir hatten gerade Mitgliederversammlung, ich wollte in der Mittagspause eine Bestellung bei "unserem Italiener" um die Ecke aufgeben als ich ihn sah und auf ihn zuging. Folgendes Gespräch entspann sich: "Hallo, Matthias. Was machst Du denn hier?" Matthias wendet sich ab und geht einige Schritte zurück, ehe er: "Hallo" sagt. Auf meine Frage, wie es ihm geht, antwortet er "gut", ebenso auf die Frage, wie es ihm bei seiner Arbeit geht, ob es ihm dort noch gefällt. Ein Austausch will sich nicht so recht entwickeln; es bleibt bei einem Frage - Antwort - Dialog, bei dem er stets mit Ein-Wort-Sätzen antwortet.

Matthias hat unsere BvB für die Dauer von 18 Monaten besucht. Er kam aus einer Frankfurter Gesamtschule mit integrativen Klassen und ist nach dem Rahmenplan der Schule für Praktisch Bildbare (in Hessen die Sonderschule für sog. geistig behinderte junge Menschen) unterrichtet worden. Er ist einer der 7 jungen Menschen mit Autismus, die bisher unsere BvB durchlaufen haben.

Die berufliche Integration von jungen Menschen mit Autismus stellt uns vor einige besondere Anforderungen, weil ihr soziales Verhalten oftmals stark von dem, was gemeinhin als "normal" gilt, abweicht und erklärungsbedürftig ist. Daneben verfügen sie - je nach Art und Ausprägung des Autismus - über gute bis sehr gute kognitive (Teil-) Leistungen, wobei die Verarbeitungskapazität für verbale Informationen und damit das Sprachverständnis in vielen Fällen eingeschränkt ist[2]. Das führt oftmals dazu, dass man ihre kognitive Intelligenz unterschätzt.

Menschen mit Autismus werden von der Agentur für Arbeit in unsere Maßnahme vermittelt, weil es für sie besonders schwer ist, passende Angebote im Bereich Berufsvorbereitung und Berufsausbildung zu finden und wir mit einem individuellen Ansatz arbeiten, der auch Jugendliche zulässt, deren kognitive Fähigkeiten ausgeprägter sind als bei dem Rest unserer Teilnehmer/innen-Gruppe. Viele der für Menschen mit sog. geistiger Behinderung entwickelten methodischen Ansätze aus dem Bereich der Unterstützten Beschäftigung lassen sich ebenfalls für die Unterstützung von Menschen mit Autismus nutzen. So ist auch für sie ein Lernen unter realen Bedingungen sinnvoll, weil es ihnen schwer fällt, in Übungssituationen gelerntes Verhalten auf die echten Situationen zu übertragen. Bei der Einübung von Arbeitstätigkeiten und - abläufen ist es Aufgabe des job coaches, Routineabläufe zu entwickeln, den Arbeitstag gut zu strukturieren, Tagespläne und Anleitungen zur Durchführung von einzelnen Tätigkeiten zu entwickeln, vieles über visuelle Anleitungen zu vermitteln und immer wieder: Verhalten zu erklären, störende Elemente im Arbeitsumfeld so weit wie möglich auszuschließen. Bei der Akquisition eines geeigneten Praktikumsplatzes ist darauf zu achten, dass der Arbeitsbereich nicht zu unruhig und stressig ist und nicht zu viele chaotische Einflüsse und Situationen auf den Praktikanten einstürzen.

Trotz einiger übereinstimmender Verhaltensweisen zeigen junge Menschen mit dieser Behinderungsart immer wieder sehr unterschiedliche und höchst individuelle Facetten ihrer Persönlichkeiten, die bei der beruflichen Integration berücksichtigt werden müssen. Einige Einblicke in die Problematik bei der beruflichen Eingliederung von Jugendlichen mit Autismus seien im folgenden vorgestellt:



[1] Die Namen der hier vorgestellten Jugendlichen wurden aus datenschutzrechtlichen Gründen geändert.

[2] Siehe zu den Ausprägungen von Autismus und den folgenden Ausführungen das Handbuch SOKO Autismus, Anne Häußler, Dortmund, 2003

Matthias

Zu Beginn unserer BvB fiel Matthias durch seine außergewöhnliche Art der Kontaktaufnahme auf: So erklärte er, dass er gerne Katzenmilch trinke, zum Frauenarzt gehe, Pampers, Slipeinlagen oder ähnliches benutze. Ansonsten beteiligte er sich nicht an den Gruppengesprächen und war im Unterricht still. Im Laufe der eineinhalbjährigen Qualifizierungszeit gelang ihm auch die Herstellung anderer Kontaktformen: So suchte er oft über Gestik und Mimik Kontakt zu den Lehrkräften und nahm in den Pausen zu einzelnen Teilnehmern, die er mochte, eine Beziehung auf.

Zu seinen Stärken zählen ein hohes Maß an Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, Ausdauer, Pflichtbewußtsein (er hat keinen einzigen Tag gefehlt); er verfügt über ein sehr gutes Zahlengedächtnis und kann gut über visuell vermittelte Tätigkeitsabläufe lernen. Wie bei vielen Autisten ist es schwer, ein Gespräch herzustellen. Es bleibt bei einseitigem Interesse und sehr kurzen Sätzen. Schwierig für uns war es immer gewesen herauszufinden, wie es ihm wirklich geht, in welchem Bereich er arbeiten wollte und ob ihm die vermittelte Arbeit gefällt. Oftmals saß er bei uns und weinte, sagte, ihm ginge es schlecht, "einsam". Wir mussten unterscheiden lernen, ob es ihm in der Tat schlecht ging oder ob er mit diesen oder ähnlichen Äußerungen lediglich Kontakt herstellen wollte, denn auch das kam oft vor: Man konnte ihn fragen, wie es ihm bei seiner Arbeit gefällt, und er antwortete: "schlecht", weiteres war nicht aus ihm herauszuholen und andere Hinweise gab es nicht. Er sagte oftmals nein, auch wenn er durch sein anschließendes Handeln zeigte, dass er es nicht so meinte. Es war also eine große Herausforderung für unsere Mitarbeiter/innen, wahrzunehmen, handelt es sich um ein richtiges "nein" oder meint er eigentlich das Gegenteil (so, wie er auch im Sommer häufig fröhliche Weihnachten wünschte).

Und es gab auch Phasen, in denen es ihm schlecht ging und er - so unsere Wahrnehmung - unter seiner sozialen Isolation litt. Er hatte - in einer für uns radikal erscheinenden Art - den Kontakt zu seinen Eltern abgebrochen und keine Beziehungen zu Gleichaltrigen. Verschiedene Versuche, ihn auch im Freizeit-Bereich an eine Gruppe oder andere Institutionen, Vereine, etc. anzugliedern, scheiterten immer wieder, weil er dort nach den ersten Besuchen, die wir für ihn arrangiert hatten und die in Begleitung mit seinem job coach stattfanden, nicht mehr hinwollte. Auch die Anbindung an eine Freizeit-Gruppe mit jungen Menschen der gleichen Behinderungsart lehnte er ab. Die einzigen Beziehungen, die für ihn tragfähig waren, waren die zu Pädagogen, wie z.B. zu seinem ehemaligen Klassenlehrer. Von daher ist es positiv zu bewerten, dass er nach Ablauf der BvB - trotz anfänglicher Weigerung - nun regelmäßig unser "Veteranentreffen" (ein Treffen ehemaliger Teilnehmer/innen) besucht.

Die Aufgabenstellung von Seiten der Agentur für Arbeit war für uns abzuklären, inwieweit Matthias einfache Aufgaben im Rahmen von Anlerntätigkeiten bewältigen konnte oder - sofern dies für ihn nicht in Frage kam - in eine WfbM eingegliedert werden müsste, was bereits die Empfehlung von Psychologe und Amtsarzt war. Zwei Praktika hatte er bereits in der WfbM absolviert, und man hatte ihm dort ein sehr gutes praktisches Geschick, gutes technisches Verständnis und eine gute Auge-Hand-Koordination attestiert.

Während der Orientierungsstufe standen wir vor der Aufgabe, herauszufinden, in welchem Berufsbereich Matthias gerne arbeiten möchte, was seine Neigungen und Wünsche waren - dies blieb trotz Arbeitens mit vielen Täfelchen, Bildern, Tabellen und Karten ein schwieriges Unterfangen. Er selbst hatte keine Berufswünsche; er hatte zwar in seiner Schulzeit die Imkerei kennen gelernt, auch mit viel Spaß dort gearbeitet, aber dies wollte er nach Abschluss seiner Schule nicht mehr. Weil Imkereien in Frankfurt sowieso Mangelware sind, mussten somit andere Bereiche ausprobiert werden. Als erstes vermittelten wir ihm daher ein Praktikum im Büro eines Kindesgartens, um eine Eignung für diesen Bereich herauszufinden. Es stellte sich heraus, dass er nach Anweisungen gut arbeiten konnte und leichte Bürotätigkeiten mit Wiederholungscharakter, also Routinearbeiten, durchaus selbständig würde erledigen können. Ob es ihm dort Spaß machte - ???? Als weitere Stärken stellten sich heraus: Sortieren, Aufräumen und Archivieren.

Im Zuge der nachfolgenden Akquisitionsbemühungen fanden wir Zugang zu einer Verwaltungsgesellschaft, der ein großes Veranstaltungshaus mit vielen weiteren Büros und Dienstleistungsbetrieben in Frankfurt gehört. Matthias konnte im Bereich Haustechnik ein Praktikum absolvieren und eignete sich sukzessive folgende Tätigkeiten an, die heute zu seinem Routineprogramm gehören: Leeren der Mülleimer, Sortieren des Mülls, Fegen im Innen- und Außenbereich, Postfächer leeren und Briefe zur Post bringen, leichte Gartenarbeiten, Auffüllen der Stoff-Handtuch-Automaten, Kontrolle und Auffüllen von Seifenspendern und Toilettenpapier-Behältern, Ordnen und Archivieren von Zeitschriften. Dazu kommen stets aktuelle Arbeitsaufträge durch den Hausmeister der Firma. Anfangs wurde er sehr eng begleitet, d.h. im Verhältnis 1 : 1, nach ca. 2 Wochen konnte die engmaschige Begleitung zunehmend mehr gelockert werden.

Wichtig bei seiner Einarbeitung war die visuelle Vermittlung der einzelnen Arbeitstätigkeiten (d.h. es war zum Teil notwendig, die anstehenden Arbeiten vorzumachen oder anfangs zusammen mit ihm zu machen), die Erarbeitung und Auflistung von Routinearbeiten, die er jeden Tag selbständig erledigen konnte, und das Erstellen einer Regel-Liste, in der festgelegt ist, wer ihm die Arbeitsaufträge geben kann, wie er anderen Mitarbeitern in dem Haus begegnet usw. Arbeitsbegleitung/job coaching hatte die Aufgabe, auf der einen Seite die anstehenden Arbeitsanforderungen zu ver- und zu übermitteln und auf der anderen Seite auffälliges Verhalten zu erklären und zu übersetzen, d.h. der Arbeitsbegleitung kommt sozusagen eine Dolmetscher-Funktion zu. Ein Beispiel:

Problematisch war der Übergang von Routine-Arbeiten zu den wechselnden Arbeitsaufträgen. Matthias erledigte seine Routine-Aufgaben bald gut, zuverlässig, selbstständig und zum Teil auch in einem hohen Arbeitstempo; wenn er jedoch mit diesem Teil fertig war, meldete er sich nicht bei seinem Vorgesetzten. Beide mussten - vermittelt durch die Arbeitsbegleitung - einen bestimmten Ablauf erlernen: Matthias kommt auch heute noch nicht in das Büro seines Vorgesetzten und sagt, dass er fertig sei, aber er setzt sich vor das Büro und wartet; sein Vorgesetzter muss dann auf Grund seines Verhaltens die notwendigen Schlüsse ziehen.

Schwierig wurde es im Laufe seiner Einarbeitungszeit, weil er seine Traurigkeit auch während der Arbeit durch Weinen deutlich zeigte. Öfters wurden Arbeitgeber, Arbeitskollegen, Matthias selbst und der job coach angesprochen, warum er weinte und warum es ihm offensichtlich schlecht ging. Wir versuchten, seiner Traurigkeit auf den Grund zu gehen und stießen immer wieder auf Hinweise und auf kleine Äußerungen von ihm, die zeigten, dass er sich einsam fühlte und darunter litt. Wir haben darauf reagiert und ihm (wie bereits oben geschrieben) verschiedene Freizeitangebote eröffnet und ihm diverse Gruppen angeboten, in denen er Kontakt zu anderen finden konnte. Wir stießen jedoch immer wieder auf Grenzen, weil er diese ablehnte - warum, war schwer herauszufinden, weil er sich dazu nur wenig äußerte - und die wenigen Äußerungen bezogen sich darauf, dass ihm die Teilnehmer/innen zu behindert waren.

Fragen, die uns in dieser Zeit umtrieben waren: Wie kann man einem Menschen mit Autismus soziale Kontakte ermöglichen? Müsste er doch in eine WfbM, damit er zumindest während seiner Arbeitszeit Kontakt zu anderen erhält (was er jedoch ablehnte)? Ist eine therapeutische Intervention notwendig (was er ebenfalls ablehnte)? Welcher Therapeut würde sich mit dem Phänomen Autismus auskennen? In vielen Teamsitzungen und Supervisionen bewegte uns dieses Thema, ohne dass wir wirklich eine Lösung anbieten konnten.

Gleichzeitig war es notwendig, ihm zu vermitteln, dass er dieses Verhalten bei der Arbeit nicht zeigen durfte, weil sowohl das dort verkehrende Publikum als auch seine Arbeitskollegen damit dauerhaft nicht umgehen konnten, und sie meinten, er litte unter seiner Situation bei der Arbeit. Dieses konnten wir jedoch ausschließen; es gab keine Indizien dafür, dass er die Arbeit nicht mochte oder nicht gerne hinging - dann hätte er sie genauso verweigert, wie die Freizeitangebote - vielmehr kam er immer weit vor der Zeit zur Arbeit. Notwendig war für uns, dieses Verhalten als Indiz Ernst zu nehmen, es jedoch nicht durch Mitleid zu bestärken und damit sein Verhaltensmuster zu bedienen. So wurde seine Regel-Liste um eine weitere Regel ergänzt: "Man darf am Arbeitsplatz nicht weinen".

Mittlerweile zeigt Matthias dieses Verhalten nicht mehr. Er ist in ein unbefristetes Beschäftigungsverhältnis bei der Firma, in deren Hausservice-Bereich er im Laufe von ca. 15 Monaten eingearbeitet wurde, übernommen wurde. Er arbeitet im Rahmen einer Teilzeit-Stelle, hat jetzt eine eigene Wohnung und wird durch das betreute Wohnen unterstützt. In regelmäßigen Abständen schaut er bei uns vorbei und nimmt nun an allen unseren "Veteranentreffen" teil.

Ob es ihm gut geht????

Ursprünglich sollte der Beitrag über den Qualifizierungsverlauf aller unserer Teilnehmer/innen mit Autismus berichten, aber das würde den Rahmen des Artikels sprengen. Daher nun lediglich noch eine kurze Zusammenfassung:

Praktikanten Matthias

Gemeinsam ist den übrigen jungen Leuten mit Autismus, die unsere Maßnahme durchliefen (2 Frauen und 4 Männer), dass ihre intellektuellen Fähigkeiten relativ hoch sind. Alle konnten ihre Schulen mit einem Schulabschluss (Hauptschul-, Realschul- und einer sogar mit Hochschulabschluss und anschließendem Studienbeginn) verlassen.

Hans gelangte nach einigen vorherigen fehlgeschlagenen Maßnahmen schließlich in unsere BvB, die er noch für die Dauer von 10 Monaten besuchen durfte. In dieser Zeit absolvierte er verschiedene Praktika im Bürobereich, und es war schnell klar, welches Umfeld er benötigte: Ein Arbeitsplatz mit wenigen optischen und akustischen Reizen, gut strukturierte Arbeitsabläufe, transparente Pausenregelungen und einem geduldigen Ansprechpartner vor Ort. In einem solchen Bereich hätte er auch eine betriebliche Ausbildung machen können. Leider fanden wir - trotz intensivster Akquisitionsarbeit - keinen Betrieb, der bereit war, ihn auszubilden und bei dem die Bedingungen mehr oder weniger stimmten. Daher mündete er schließlich in eine außerbetriebliche Ausbildung eines Trägers, der Erfahrungen mit der Ausbildung von jungen Menschen mit Autismus hat, und absolvierte dort eine Ausbildung zur Bürokraft, die er als bester seines Jahrgangs abgeschlossen hat. Während des Berufsschulunterrichts erhielt er Unterstützung durch eine Assistenz, die zusätzlich von der Agentur für Arbeit finanziert wurde. Nun ist Hans seit letzten Sommer wieder arbeitslos und sucht gemeinsam mit dem örtlichen IFD eine Anstellung. Die Finanzierung einer Arbeitsassistenz ist ihm bereits zugesagt worden. Diese hätte die Aufgabe, sozusagen die Schnittstelle zwischen den Arbeitskollegen, dem Arbeitgeber und Hans zu sein, die die Arbeitsanweisungen in eine für Hans verständliche Form vermittelt, Arbeit organisiert und strukturiert. Was nun "nur" noch fehlt, ist der passende Betrieb, der jedoch noch nicht gefunden ist und sich auch nur schwer finden lässt.

Katharina nahm im Anschluss an unsere BvB ebenfalls eine außerbetriebliche Ausbildung auf (nachdem sie zuvor in eine Tagesförderstätte hätte gehen sollen); auch sie qualifizierte sich im Bürobereich und absolvierte eine Ausbildung zur Büropraktikerin. Heute arbeitet sie im Betrieb ihres Vaters - vor allem wegen fehlender Alternativen auf dem Arbeitsmarkt.

Jochens Behinderung wurde erst im Laufe seines Studiums diagnostiziert, als er zunehmend Probleme bekam und schließlich sein Studium abbrechen musste. Er kam daher in einem Alter von 30 Jahren zu uns; Auftrag von Seiten der Agentur war, ihn zu stabilisieren, beruflich zu orientieren und ihn in eine Ausbildung münden zu lassen. Dieses Ziel ist leider nicht erreicht worden; er konnte zwar in einem Betrieb platziert und qualifiziert werden - dort arbeitet er zur Zeit auch im Rahmen eines 400,- Euro-Jobs - aber die Ausbildung konnte dort aus betriebsinternen Gründen nicht stattfinden. So ist auch er gegenwärtig auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz, was sich trotz seiner intellektuellen Fähigkeiten als ausgesprochen schwierig erweist.

Bei Bertram hatten wir alle ein großes Problem: Er kam stets um viele Stunden zu spät (sein Arbeitsbeginn in seiner Praktikumsstelle war bereits auf 10 Uhr gelegt, aber er kam öfters auch erst gegen 13 oder 14 Uhr), weil er seinen nächtlichen Zeitablauf nicht regeln konnte und nicht rechtzeitig ins Bett kam. Über ein Jahr lang versuchten wir mit diversen Interventionen, dieses Problem zu lösen, ohne es jedoch in den Griff zu bekommen. "Gott-sei-Dank" fanden wir eine Praktikumsstelle, die über diese eklatanten Fehlzeiten hinwegsah, aber es war klar, dass eine Übernahme in ein Beschäftigungsverhältnis unter diesen Bedingungen nicht möglich war. Eine Qualifizierung in einem Arbeitsbereich, dessen Arbeitszeiten hauptsächlich nachts waren, lehnte er ab. Die Agentur für Arbeit zog letztendlich denn auch die Konsequenzen und brach die BvB für Bertram ab.

Anne ist nach der Qualifizierung im Servicebereich eines Kindergartens mit ihrer Familie wieder in das Heimatland ihrer Mutter gezogen, u.a. weil sie dort bessere Chancen auf eine berufliche Tätigkeit hatte als in Deutschland. Sie arbeitet nun in dem Bereich, in dem sie in Deutschland qualifiziert wurde: im Servicebereich eines Therapie-Zentrums.

Tim, ein junger Mann mit kognitiven Einschränkungen und "autistischen Störungen" besuchte vor unserer BvB eine berufsvorbereitende Maßnahme des BBW Abensberg, das eine Zuweisung zu einer WfbM empfahl. Weil er bereits eine BvB durchlief, hatte er bei uns nur noch eine Restförderungszeit von 6 Monaten. Trotz dieser knappen Zeit ist es jedoch gelungen, ihn in den Lagerbereich eines Betriebs für Sonnenstudio-Bedarfe zu qualifizieren und erfolgreich einzugliedern. Er arbeitet heute im Rahmen einer Vollzeitstelle zur Zufriedenheit aller Beteiligten dort. Er hat als einziger unserer gesamten Teilnehmer/innen seinen Führerschein gemacht und fährt stolz mit seinem Auto.

Die berufliche Integration von Tim kommt insofern einem Glücksfall gleich, als sehr schnell ein passender Betrieb gefunden wurde, bei dem eine relativ kurze Einarbeitungszeit ausreichte. Wie die Verläufe der übrigen Teilnehmer zeigen, ist dies nicht immer gelungen. Die Bereitschaft der Betriebe, Menschen mit Autismus (ich würde es erweitern auf Menschen mit Verhaltensauffälligkeiten bzw. mit fehlenden oder nicht ausreichenden Sekundärtugenden) eine Chance zu geben, erscheint nochmals schwieriger als für Menschen mit lediglich kognitiven Einschränkungen. Welche "settings" Menschen mit Autismus im beruflichen Umfeld benötigen, lässt sich relativ schnell beschreiben, aber diese dann in der Realität zu finden bzw. die Möglichkeit zu erhalten, sie herzustellen, scheint das größere Problem.

2 Burschen beim Essen

Gleichzeitig bestätigt das bisherige Ergebnis unserer Vermittlungsbemühungen die Methodik der Unterstützten Beschäftigung. Immerhin haben auf diesem Weg drei (die junge Frau nicht mitgerechnet, die eine Beschäftigung im Heimatland ihrer Mutter fand) von sieben jungen Leuten den Weg in den Beruf geschafft - das ist mehr als beim Übergang von BBWs auf den allgemeinen Arbeitsmarkt (nach nicht offiziellen Angaben ist dies nur 5% der Autisten gelungen).

Zum Schluss ein Zitat eines "betroffenen" Vaters:

"Aus meiner Erfahrung aus dem Umgang mit der Agentur für Arbeit, mit IFD's und WfbM's habe ich den Eindruck, dass sich die meisten zwar im Lexikon für Medizin über Grundbegriffe von Autismus informiert haben, aber hilflos sind, wenn es darum geht, konkrete Hilfsangebote zu machen. Konkret bei T. setzte erst dann ein Verständnis ein, wenn ich über seine Probleme in der akustischen und optischen Wahrnehmung informiert habe. Wie soll jemand, der zuviel hört und sieht, etwas verstehen? Wie soll er Sozialverhalten lernen, wenn er es bei seinen Mitmenschen nicht "abgucken" kann? Das abweichende Sozialverhalten ist nicht Resultat einer mangelnden Intelligenz, sondern Produkt einer anderen Wahrnehmung. Worauf ich hinaus will, ist, dass man das "Innenleben" eines Autisten ein bisschen verstehen muss, um adäquate Hilfen geben zu können, ohne in Mitleid zu verfallen. Ein Autist braucht wie Menschen mit anderen Behinderungen auch einen Nachteilsausgleich, um am (Arbeits-)-Leben teilhaben zu können. Er braucht im Wesentlichen eine Art Dolmetscher neben den bekannten Rahmenbedingungen." (Heinrich Müller)

Heinrich Müller weist darauf hin, dass der Prozentsatz der Vermittlungen von Menschen mit Autismus "in Deutschland bei 5% liegt, in anderen westeuropäischen Staaten und den USA aber drei- bis viermal höher ist und damit in Deutschland ein erhöhter Nachholbedarf besteht."

Am Ende noch ein Zitat eines weiteren "betroffenen" Vaters:

"Bei Autisten am Anfang zu wenig zu investieren, kann sehr teuer kommen, da die Folgekosten immens sein können". (Verweis auf mögliche Einweisungen in Psychiatrien - Rainer Böhm).

Kontakt

Monika Scholdei- Klie

LAG Gemeinsam leben - gemeinsam lernen

Förderlehrgang

Falkstr. 92, 60487 Frankfurt

Fon: 069 / 79 40 28 07

eMail: lag-beruf@t-online.de

Quelle:

Monika Scholdei-Klie: Unterstützung von jungen Menschen mit Autismus. im Rahmen der Berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme (BvB) der LAG Gemeinsam leben - gemeinsam lernen, Hessen

erschienen in: impulse Nr. 41/42, 1 + 2/2007, Seite 39 - 41.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 06. 05. 2008

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