"Situationen, Lebenswelten, Biografien - Persönliche Budgets im konkreten Fall"

Autor:in - Jörg Michael Kastl
Themenbereiche: Kultur, Arbeitswelt
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: impulse Nr. 38, 2/2006, Seite 3 - 10. impulse (38/2006)
Copyright: © Jörg Michael Kastl 2006

"Situationen, Lebenswelten, Biografien - Persönliche Budgets im konkreten Fall"

"So wie ich <jetzt> leb, bin ich der glücklichste Mensch auf der ganzen weiten Welt. Es gibt Dinge, die hab ich nicht, ich hab kein Computer der wenigstens 80 Gigabyte und 256 MB RAM hat. Ich hab kein Internet, was ich manchmal sehr Scheiße finde. Aber ich lebe hier wirklich wie Gott in Frankreich. Ich hab hier mein Budget, ich hab des, was ich brauch. Ich hab mein Fahrrad. Ich hab meine Sachen, ich krieg das, was ich brauche, und ich frage dich jetzt ganz ehrlich: Was brauchst du mehr im Leben, als des, was du brauchst?"

Was man braucht...

"Nichts ist ausreichend für den, dem das Ausreichende zu wenig ist," sagt der griechische Philosoph Epikur. Zu dieser Sorte Mensch gehört der junge Mann, der hier so eloquent seine neue Lebenssituation beschreibt, sicher nicht. Seine Freude über eine Wohnung, die kein Wohnheim mehr ist, steht für die vieler Anderer, die mit Hilfe des Budgets zum ersten Mal in der "eigenen Wohnung" leben. "Was brauchst du mehr im Leben als das, was du brauchst?" Diese epikureische Frage reizt zum Philosophieren.

Persönliche Budgets sollen, sagt das SGB IX, so bemessen sein, dass sie den "individuellen Bedarf" decken. "Bedarf" ist das, was "ich nötig habe", was ich brauche. Aber nicht schlechthin brauche, sondern das, was ich brauche, damit ein bestimmter Zweck erfüllt, ein Ziel erreicht wird, z.B. "um am Leben in der Gemeinschaft teilzunehmen" oder um meine "Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern." (§ 1 SGB IX).

Das Gesetz sagt wohlweislich nichts darüber aus, was genau man "dazu braucht", zum Beispiel einen Internetanschluss, es überlässt die Bestimmung des Bedarfs einer Einzelfallprüfung. Der Bedarf ist individuell und deshalb individuell festzustellen. Die fachlichen Stichworte dazu heißen "personenzentrierte Hilfeplanung", "Individualisierung von Hilfen", "Personenorientierung". Das alles heißt nichts anderes als: was einer braucht, ist eine Funktion seiner Situation, seiner Lebenswelt, seiner Biografie. Üblicherweise wird das Thema "individueller Bedarf" in der Fachdiskussion auf Fragen der Verfahren der Bedarfsfeststellung, der sogenannten "Hilfeplanung", der Bemessung verkürzt. Damit beginnen dann meistens die Schwierigkeiten. Differenzen über Verfahren waren mitunter der Grund dafür, dass Persönliche Budgets vielerorts gar nicht erst zustande kamen. Im Modellprojekt in Baden-Württemberg, das von 2001 bis 2005 durchgeführt wurde und dessen Grundansatz in die gesetzlichen Regelungen des SGB IX übernommen wurde, ist man diesbezüglich pragmatisch vorgegangen. Die Bemessung erfolgte über Verfahren, die eng an die bestehende Verwaltungspraxis anknüpften, und im Übrigen hat man darauf verzichtet vorab präzise festzulegen, was genau es ist, was die Menschen brauchen. Das gibt im Nachhinein die Chance zu einer anderen, nämlich empirischen Betrachtungsweise. Wir können die Frage, was behinderte Menschen zur Teilhabe "brauchen" aus dem heraus beurteilen, was die betroffenen Menschen und ihr Umfeld im konkreten Fall aus dem Angebot des Persönlichen Budgets gemacht haben. Ich glaube, dass man daraus sehr viel lernen kann. Deshalb möchte ich im Folgenden fünf Geschichten von Menschen erzählen, die an diesem Modellprojekt teilgenommen haben.

1. "Überleben im Kampf gegen die Stimmen" - Hannes Waldenfels

Hannes Waldenfels[1] lebt seit 1994 in einem von seinen Eltern erworbenen Appartement in einer Reihenhaussiedlung. Seit über fünfzehn Jahren hört er Stimmen, die ihm ans Leben wollen, ihn verhöhnen, ihm Schmerzen zufügen, ihn beherrschen wollen und sein Leben kontrollieren. Die Bewältigung der damit zusammen hängenden Ängste führt zu einer Reihe von bizarr wirkenden Zwangshandlungen. Diese waren der Anlass für die endgültige Aufgabe jeder Berufstätigkeit und die Bewilligung einer Erwerbsunfähigkeitsrente Ende der 90er Jahre. Hannes Waldenfels blickt auf eine bewegte Biografie zurück. Er wird 1965 als zweiter Sohn in einem bodenständigen Facharbeitermilieu geboren. Die Kindheit und Jugend fällt zusammen mit einer die Familie insgesamt belastenden Phase des beruflichen Aufstiegs des Vaters. Er ist ein guter und fleißiger Schüler, Liebling des Pfarrers, er beendet die Schulzeit mit dem Realschulabschluss und tritt in dieselbe Firma ein, in der der Vater arbeitet. In dieser Zeit kommt es zu Suchtproblemen. Hannes schließt die Lehre 1985 "mit Ach und Krach" ab. Wegen Drogen wird er aus dem Zivildienst entlassen. Er bleibt arbeitslos, eine Zeitlang verbringt er "auf der Straße". Ende der 80er Jahre kommt es dann erstmals zu massiven psychotischen Episoden. Es beginnt eine psychiatrische Karriere mit wechselnden stationären Aufenthalten, Arbeitsmaßnahmen, sozialpsychiatrischer Betreuung. Gegen Ende der 90er Jahre, nachdem er sich vier Jahre lang als Lagerarbeiter "gut gemacht" hat, werden die Zwangsvorstellungen, die Stimmen, die Suizidtendenzen immer bedrängender. Immer wieder kommt es zu stationären Einweisungen unter teils dramatischen Umständen. Er wird für arbeitsunfähig erklärt, bezieht eine Rente. Auch auf Zureden der Eltern bleibt er in seiner Wohnung.

"Okay, wenn mir jetzt Musiktherapie wirklich fehlen würden, na würd ichs halt nehmen, aber ich spiel jetzt hier Gitarre und muss jeden Tag bestimmt ne Stunde üben - du musst, du musst dran bleiben, des geht net, dass du sagst "na üb ich halt morgen n bissle länger", sondern du musst wirklich jeden Tag ran, und die Gitarre in die Hand nehmen, ob du jetzt Lust hast oder net."

Wirklich Gitarrespielen.

Über eine Tagesklinik, die Hannes nach einem neuerlichen fast zweijährigen stationären Aufenthalt für einige Zeit besucht, erfährt die Familie vom Persönlichen Budget. Im Herbst 2003 wird der von den Eltern initiierte Antrag schließlich bewilligt. Hannes Waldenfels wird in Hilfebedarfsgruppe II eingestuft und erhält monatlich 600 €. Von dem Budget wird eine "Begleitung im Haushalt" bezahlt. Die für ihn wichtigen Verwendungen des Persönlichen Budgets liegen aber auf anderen Gebieten. Hierzu gehören zum Beispiel wöchentliche Gitarrestunden bei einem "ganz normalen" Musiklehrer. Unterricht und tägliches Üben sind für ihn nicht bloßes Hobby, sondern tägliche Arbeit. Er selbst sieht einen quasi-therapeutischen Effekt dieser Tätigkeit: sie verlangt ihm eine hohe Disziplin ab, sie strukturiert seinen Tagesablauf mit, er entwickelt im Umgang mit dem Instrument Ausdrucksmöglichkeiten. Auch kommt es ihm darauf an, den Unterschied zur Inanspruchnahme eines musiktherapeutischen Angebotes zum Beispiel in der Klinik oder auch im gemeindepsychiatrischen Zentrum zu markieren: zum Einen hätte er dort das Gefühl "mit einem Fuß in der Klinik" zu sein; zum Anderen kann er dadurch, dass er einen "richtigen" Gitarrelehrer hat und "ganz normalen" Unterricht nimmt, sich selbst und anderen zeigen, dass es ihm ernst ist mit dieser Tätigkeit. Hannes Waldenfels finanziert mit dem Budget weitere Hobbys, darunter die Mitgliedschaft in einer Shotokan-Karate-Gruppe.

"Ein Karatekurs ist doch genau des Richtige gegen finstere Stimmen - es ist ein Kampf, also was mach ich? Ich mach Kampfsport!"

Karate

Das stark körperlich beanspruchende, zugleich aber auf den Erwerb konzentrativer Körpertechniken angelegte Training führt dazu, dass er die Stimmen für diese Zeit nicht mehr wahrnimmt, er fühlt sich stärker im Kampf gegen die Stimmen. Auch das Karate erfordert tägliches Üben von Formen (Kata) und Techniken, so dass auch hier ein tagesstrukturierender Effekt hinzukommt. Außerdem eröffnet das Karate einen zeitlichen Horizont: man kann Fortschritte machen, sich vervollkommnen, weiterkommen. Bereits im Laufe des ersten Jahres hat Hannes Waldenfels mehrere Gürtelprüfungen hinter sich gebracht.

"Ich bin nicht so irgendwie ein Außenseiter, da bin ich mit dabei. Wenn ich Karate auch noch nicht so gut kann, ich bin dabei und lern des und die klopfen mir auch auf die Schulter und sagen ‚Du packsch es jetzt langsam' und so".

Mit dabei

Gemeinsam ausgeübter Kampfsport kultiviert bestimmte, in der japanischen Herkunft wurzelnde, anspruchsvolle Wertmaßstäbe sozialer Teilhabe: Umsicht, Verantwortung, Höflichkeit gegenüber Meister und Mitschüler, Achtung vor dem imaginären oder wirklichen Gegner, Konzentration auf den anderen. Hannes Waldenfels nimmt mit der Karategruppe zusammen an einem verlängerten Trainingswochenende in einer Berghütte teil und übernachtet seit sehr langer Zeit erstmals wieder außerhalb seiner Wohnung. Seine Kameraden und Kameradinnen wissen von seiner Behinderung durch die Stimmen und er kann ihnen davon erzählen.

"Und dann sag ich: mit dem Persönlichen Budget kann ich eigentlich meine Therapien selbst entwickeln, ne und mir auswählen, was nimm ich."

"Selbstbestimmung"

Was ist das, was Hannes braucht? Hannes Waldenfels hatte einen über ein Jahr dauernden stationären Aufenthalt hinter sich, bei dem es letztlich um Leben und Tod ging - das dokumentiert sich in den langen Phasen akuter Suizidalität, in einer Verzweiflung über das Scheitern aller Therapien: weder Medikamente, noch Elektroschocks unter Narkose (Elektrokonvulsionstherapie) halfen gegen die Stimmen. Sie ging so weit, dass sich Hannes Waldenfels "am Gehirn operieren" lassen wollte. Was er nun mit dem Budget macht, steht auch in seinem Selbstverständnis in unmittelbarem Zusammenhang zu seiner Krankheit und der Notwendigkeit, mit den Stimmen leben zu müssen. Das erfordert in erster Linie Durchhaltevermögen und Mut. Ihm geht es wie König Wen, einer mythologischen Gestalt des alten Chinas, die im "I Ging" unter dem Leitmotiv "Verfinsterung des Lichts" beschrieben wird, was für Hannes Waldenfels eine Art Überschrift für seinen eigenen Zustand ist. "Verfinsterung des Lichts" bedeutet, dass man "in Gefangenschaft" ist, es bedeutet, so hält das I Ging fest, "Verletzung", aber es betont auch: "Fördernd ist es, in der Not beharrlich zu sein - das bedeutet, dass man sein Licht verhüllt."

"Ich kann bloß sagen, ich muss warten, bis die Stimmen halt sterben und da die früher sterben, aufgrund ihrer negativen Einstellung, dann hab ich dann später ein gutes Leben."

"Zielerreichung"

Hannes Waldenfels schöpft seine wieder gewonnene Lebenshoffnung daraus, dass ihm diese Beharrlichkeit auch mit Hilfe des Persönlichen Budgets gelingt und er so die Zeit überbrücken kann, bis die Stimmen - nach und nach - leiser, vielleicht sterben werden und er ein gutes Leben haben wird. Wenn mit dem Budget diese Überbrückung erreicht werden kann, dann ist es "brauchbar", dann ist es das, was er braucht. Immerhin sind nun fast drei Jahre seit dem letzten Klinikaufenthalt vergangen.



[1] Die im folgenden auftauchenden Eigennamen sind frei erfunden

2. "Teilhabe ohne Berührung" - Helene Karg

Auch im Fall von Helene Karg ging und geht es um Leben und Tod. Helene Karg wohnt mit ihrem Mann in der gemeinsamen Wohnung. Seit 1994 ist Helene Karg in psychiatrischer Behandlung. Ihre Depressionen, Ängste und Zwangssymptome finden ihre Verdichtung in einer extremen Berührungsangst vor Menschen und Gegenständen, die praktisch ihr gesamtes (Alltags-) Leben und das Leben der Menschen in ihrer Umgebung prägt. Sie kann nichts anfassen ohne Papiertaschentücher oder Toilettenpapier zu benutzen, sie verbraucht davon drei Rollen am Tag. Sie kann keine Socken und keine richtigen Schuhe tragen, nur T-Shirts, weite Pullover und leichte Stoffhosen auch im Winter. Sie kann aus Angst "sich zu verseuchen", nur Sitz- und Liegegelegenheiten in ihrem eigenen Zimmer benutzen. Sie erträgt keinerlei Berührung von Menschen, weder von ihrem Mann noch von einem Arzt. Sie hat keine Zähne mehr, erträgt weder Zahnbürste noch gar zahnärztliche Behandlung. Auf der anderen Seite ist sie angewiesen auf stetige menschliche Nähe in Form von Ansprache und Kommunikation, ohne in Angstanfälle und Panikattacken zu geraten. Kleinere Spaziergänge um das Haus macht sie alleine, weitere Spaziergänge benötigen Begleitung, da sie nicht verkehrssicher ist - wenn es ihr auf dem Gehweg zu eng ist, läuft sie auf der Straße ohne auf den Verkehr zu achten.

Helene Karg wird 1947 in einem Land des ehemaligen Ostblocks geboren. Deutsch ist ihre Muttersprache, in der Schule lernt sie neben der Sprache ihres Geburtslandes französisch und russisch. Danach arbeitet sie als Kassiererin in einer Bank. Sie übernimmt die Filialleitung der Bank, gibt später die Arbeit infolge mehrerer körperlicher Erkrankungen auf, für die zunächst keine klaren Diagnosen vorliegen. Sie wird zunächst falsch behandelt. Seit einer Fehlgeburt kommen psychische Symptome in Form massiver Angstzustände hinzu. Mit ihrem Mann siedelt sie nach dem Fall des eisernen Vorhangs nach Deutschland um, wo bereits ein Teil der Familie lebt. 1994 kommt es zur ersten Einweisung in eine psychiatrische Klinik. Das psychiatrische Betreuungsrepertoire läuft an: stationäre Einweisung, Tagesklinikaufenthalte, kurzzeitige Unterbringung in einem Wohnheim wechseln sich ab. Sie wird mit verhaltenstherapeutischen Methoden konfrontiert, zu Berührungen geradezu gezwungen, eine Therapie, die einen Suizidversuch provoziert, Ihr Mann findet sie, "sie hat sich ein Messer neigwendet", verständigt gerade noch rechtzeitig den Notarzt. Weder ein Aufenthalt in der geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Klinik noch ein dreimonatiger Aufenthalt in einem Wohnheim führen zu einer Verbesserung der Symptome, man ist mit dem Ausmaß ihrer Berührungsangst, ihren Zwängen und den weiteren Bedürfnissen überfordert. Als der Mann Ende 2003 in Rente geht und ihre Betreuung zu Hause übernehmen kann, zieht sie wieder zurück in die eheliche Wohnung. Eine Mitarbeiterin der Wohneinrichtung macht Helene Karg auf das Persönliche Budget aufmerksam. Ein Antrag wird gestellt, sie wird in Hilfebedarfsgruppe III eingestuft und erhält seit Mai 2004 einen Betrag von monatlich 850 Euro, um das Leben in der eigenen Wohnung auf irgendeine Weise möglich zu machen.

Sie nimmt damit professionelle Hilfe in Gestalt einer Sozialarbeiterin in Anspruch. Diese versucht im Rahmen des Möglichen Frau Karg in verschiedene Aktivitäten einzubinden, geht mit ihr aus, sie hören zusammen Musik und sie steht Helene Karg bei der Bewältigung der Krankheit an der Seite steht. Darüber hinaus bekommt Helene Karg Unterstützung ausschließlich von Familienangehörigen. Zu unterscheiden ist dabei eine Art innerer Kreis, bestehend aus ihrem Mann, ihrer Schwester und ihrer Mutter; sie wissen von dem Persönlichen Budget, wollen aber kein Geld annehmen.

"Wir sind doch Eheleute. Eine Schande, dass ich von meiner Frau da Geld annehm, wenn ich ihr etwas mach [...] das gibts gar nicht bei uns. Und wenn Sie auch keinen Persönlichen Budget hätte. Wir werden doch glückliche Eheleute sein!"

Glückliche Eheleute

Die Hauptunterstützung erbringt ohne Zweifel ihr Mann. Er organisiert jede Art von Außenkontakt, erledigt Einkäufe, holt Medikamente ab, macht den Behördenverkehr, bereitet Mahlzeiten zu, kocht Kaffee und hält die Wohnung sauber. Obwohl er durch die Krankheit der Frau keinerlei Spielraum für sein eigenes Leben mehr hat (er wollte so gerne einmal Mallorca sehen) - möchte er nichts von seiner Frau annehmen. "Eine Schande" sagt er, wäre das. "Wir werden doch glückliche Eheleute sein!".

"Da gib ich die 20 Euro und dann gehen wir in ein Laden, wo so billig is. Scheene Sachen und so. [..] ‚Ja', sag ich, ‚kauf dir, was du willst. Ich will a Geschenk dir machen, weil du dich mit mir befassen tust und so.' Und dann guckt sie dorten auf, sagt sie ‚Das möcht ich brauchen!' ‚Ja,' sag ich, ‚kauf dir das, die 20 Euro, die gehören Dein.'"

Kleine Geschenke...

Der äußere Kreis der Angehörigen, bestehend aus Tante, Kusine und einem Neffen, weiß nichts von dem Persönlichen Budget, erhält aber regelmäßig von Frau Karg Gegenleistungen in Form von Geld oder kleinen Geschenken und sichert damit eine Bereitschaft, sich "mit ihr zu befassen". Das heißt einfach, dass sie in deren Gesellschaft sein kann, nicht alleine ist, dass ihr jemand die Quelle- und Neckermann-Kataloge umblättert, die sie so gerne anschaut aber nicht berühren kann; dass sie mitgenommen wird zu Gängen in die Stadt, sei es zum Einkaufen, zum "Bummeln" (Geschäfte gucken) oder den kleinen Neffen vom Kindergarten abzuholen. Solche Wegstrecken sind ihre Form einer wie immer rudimentären Teilhabe an der Gesellschaft: sie kommt - im Begleitschutz ihrer Angehörigen - "unter die Leute", kann gucken, sie kann mit Assistenz Einkäufe tätigen (weder kann sie Türgriffe, noch Geldscheine, noch die Ware selbst berühren). Durch die Einbeziehung des "äußeren Kreises" sind wiederum Mann und Schwester etwas entlastet.

"Da hab ich <meinen Mann> einmal geschickt: nehm von meinem Persönlichen Budget und geh kaufen, da waren so schöne Duschtücher für drei Euro, aber Regenbogen. Ich hab gern der Regenbogen. Da sag ich ‚Kaufst mir zehn Stück, dass ich hab zu geben einem jeden.' Da hab ich den Kleinen auch und meinem Neffen und seiner Frau und meiner Tante hab ich gegeben und meinem Onkel, der tut sich auch befassen mit mir, und meiner Schwester und mein Mann und ich auch. [...] Die waren billig, aber scheen. Rot Gelb Grün Blau, ganz farbige und ich mag Regenbogenfarbe. [...] Regenbogen, alles muss Regenbogen sein bei mir."

Regenbogen

Einmal lässt sie den Mann zehn regenbogenfarbene Duschtücher einkaufen, die sie allen Personen, die sich "mit ihr befassen" verschenkt. Die Handtücher sind zugleich "scheen" und "billig", ein Qualitätskriterium, das dem Milieu, dem sie angehört, unmittelbar einleuchtet. Dennoch sind die Handtücher ein sehr persönliches Geschenk. Sie liebt den Regenbogen: "alles muss Regenbogen sein bei mir". Vielleicht ist es die Unberührbarkeit, die sie am Symbol des Regenbogens fasziniert.

Aus den Schilderungen der Verwendung wird deutlich, dass sie mit dem Persönlichen Budget ein Moment von Gegenseitigkeit in eine Situation bringt, die ansonsten von vollständiger Abhängigkeit geprägt wäre. Es ist für sie wichtig, das Gefühl zu haben, ihren Angehörigen eine Art Gegenleistung zukommen zu lassen, elementare Rollenverpflichtungen wahrzunehmen wie etwa den Kindern des Neffen zu Ostern etwas zu schenken: ("jetzt kommt wieder der Osterhase, da hab ich gesagt, möcht ich wollen auch wieder Geschenke machen.").

"Es ist sehr gut ja, das Persönliche Budget. Es is a große große Hilfe. Glauben sie mir, manchmal gehts mir so schlecht. Dann möchte ich wieder aufgeben. Ich tu ja kämpfen mit meiner Krankheit ständig. Da will ich aufgeben und dann sag ich, ‚Helene, sei stark, du hast jetzt eine Hilfe mit dem Persönlichen Budget.' [...] Weil das ist das Glück, da weiß ich, da bin ich etwas wert noch bei meine Leut." "Ich denk nimmer auf Selbstmord. Ich denk wirklich nimmer. Weil ich weiß, ich kann a bissel rausgehn. Wissen, Sie, ich hab mehr Möglichkeit und das hilft sehr viel."

Große Hilfe

Das Persönliche Budget hat darüber hinaus eine sehr wichtige symbolische und motivierende Bedeutung, es ist eine Hilfe gegen das Aufgeben-Wollen, es beinhaltet für sie eine Verpflichtung "durchzuhalten", sich nicht aufzugeben: "Das gibt mir noch zu kämpfen die Kraft"; "I denk nimmer auf Selbstmord." "Da will ich aufgeben und dann sag ich: ‚Helene, sei stark, du hast jetzt eine Hilfe mit dem Persönlichen Budget.'" Hinzu kommen die objektiven Effekte des Budgets, eine wie immer bescheidene Ausweitung des Bewegungsradius, des Spektrums ihrer Aktivitäten und Ansprechpersonen und die Entlastung des Mannes.

Es ist offensichtlich, dass mit den Symptomen ihrer Krankheit das medizinische und psychiatrische Wissen derzeit überfordert ist. Das Persönliche Budget trägt immerhin dazu bei, Helene Karg' s Lebenshorizont ein klein wenig zu weiten, ein Minimum an Würde zu realisieren und den Mut zum Weiterleben zu bewahren in einem Lebensumfeld, das bis auf weiteres ohne wirkliche Alternative bleibt. Das ist derzeit das Maximum, was Helene Karg brauchen kann und was sich mit Geld erreichen lassen. Alles andere - zum Beispiel eine Therapie, die hilft - muss die Zukunft zeigen.

3. "Daheim wohnen" - Gerhard und Manfred Sauter

"I wohn scho lang do!

<Wie lang?>

Woiß i au net, scho immer.

<Wie gfällts Ihne hier?>

Guat, waaa! do isch's schö bei aos. Wunderbar, wunderbar, wunderbar - do duats!"

Do duats

Gerhard und Manfred Sauter sind Brüder, 67 und 64 Jahre alt. Sie leben seit ihrer Jugend in der Nachkriegszeit in einem einstöckigen Einfamilienhaus mit Garten, in einer Siedlung am Rand eines ländlichen Städtchens. Der Vater arbeitete in einer Firma der Textilbranche als Strickereimeister. Die Brüder haben nie eine Werkstatt für behinderte Menschen besucht und auch sonst keinen Kontakt zu einer Einrichtung der Behindertenhilfe gehabt. Der Vater verstirbt vermutlich Anfang der 80er Jahre. Seitdem bewohnen die beiden Brüder das Haus alleine mit ihrer Mutter. Die Mutter wird Ende der 90er Jahre zum Pflegefall, in dieser Zeit wird die Familie von Sozialstation und Nachbarn unterstützt. Die Mutter verstirbt Anfang 2001. Gegen den Plan eines Onkels, die beiden Brüder in ein Wohnheim umziehen zu lassen, wehren sich diese "mit Händen und Füßen", sehr lautstark und mit aller Vehemenz. Gemeinsam mit der Pfarrerin und von verschiedenen Nachbarn, die als "Nachbarschaftshilfe" organisiert waren, versucht man auszuprobieren, ob ein Verbleib der beiden Brüder irgendwie gesichert werden kann. Nach verschiedenen Versuchen kommt es im November 2003 schließlich auf Betreiben der sehr engagierten gesetzlichen Betreuerin zum Abschluss einer Vereinbarung über ein Persönliches Budget (Hilfebedarfsgruppe III, 950 €), in das dann die vom Sozialamt finanzierten Haushaltshilfen als "Hilfe zur Pflege" mit eingehen. Insgesamt ergibt sich so ein Budgetbetrag von 1120 € für jeden der beiden Brüder.

"Do gang i naa - hier ins Städtle.

<Treffet Sie da Leit?>

Ja, viele. Manche lebet au nemme. Scho wieder a Grab aufdoa, so tief, des isch aber tief, des Grab isch so tief, um Gotteswillen. No ischs aus."

"Spazieralaufa, Natur agucka a bissle. Des isch au wunderbar. Natur isch schö. ..."

Teilhabe I

Der Tagesablauf der beiden Brüder ist, insoweit er ihrer eigenen Organisation unterliegt, im wesentlichen strukturiert durch die Mahlzeiten, die sie im Haus einnehmen und die Phasen, in denen sie das Haus für einige Stunden verlassen, um Gänge in die nahe gelegene Innenstadt oder in die ländliche Umgebung der Siedlung zu unternehmen. Der tägliche Gang des jüngeren Bruders führt ihn regelmäßig vormittags auf den Friedhof, zum Grab der Eltern, er unterhält sich mit den Friedhofsarbeitern und sieht ihnen beim Ausheben der Gräber zu. In der Stadt kennen ihn die Leute, er ist zum Teil akzeptiert, wird aber auf der anderen Seite auch immer wieder von Kindern gehänselt und geneckt, was dann zu sehr lautstarken Wutausbrüchen führen kann. Während Manfred sehr umgänglich ist, Leute anspricht und von ihnen angesprochen wird, und am Leben der Stadt z.B. bei der Stürmung des Rathauses durch die Narren am "Schmotzigen Doschdich" teilnimmt, ist Gerhardt sehr zurückhaltend mit Kontakten. Er lässt sich nicht ansprechen, wechselt die Straßenseite, wenn Leute auf ihn zukommen. Auch er unternimmt wie sein Bruder weite Spaziergänge, die ihn in die nahe gelegenen Wiesen und Wälder führen. Dort sammelt er zum Beispiel Kastanien, aus denen er Pfeifen fertigt, die im Wohnzimmer des Hauses überall herum liegen.

Diese Spaziergänge sind es im Wesentlichen, die den Tagesablauf der beiden Brüder skandieren und gliedern. Sie kehren pünktlich zu den Mahlzeiten zurück in das Haus, als Essen auf Rädern ins Haus kommt, ein Angebot, das der ältere Bruder zunächst zurückweist, weil er sich selbst diverse Suppen und Breigerichte zubereitet, in die er Brotstückchen "brockelt".

Es werden folgende Hilfen finanziert: Morgens kommt eine Mitarbeiterin bzw. ein Mitarbeiter der örtlichen Sozialstation. Dabei geht es im Wesentlichen um eine Aktivierung von Gerhard Sauter. Sehr umfassende Funktionen nimmt die Mitarbeiterin des ambulant betreuten Wohnens wahr, die jede Woche zwischen sechs und acht Stunden, manchmal auch mehr, für die Brüder tätig ist. Neben der Sicherung der Alltagsbewältigung nehmen vor allem auch gemeinsame Arztbesuche einen zunehmenden Raum ein, sie ist neben der gesetzlichen Betreuerin die zentrale Vertrauensperson beider Brüder für alle Anliegen und Probleme, die sich stellen, Kontaktperson für Nachbarn bzw. Menschen aus der Stadt ein, die sie ganz selbstverständlich anrufen, wenn es zu Auffälligkeiten oder Problemen mit einem der beiden Brüder gekommen ist. Die Akzeptanz des Umstandes, dass die Brüder eben nicht im Heim untergebracht wurden, konnte im Ort durch diese Rolle als Ansprechpartnerin (und Konfliktmediatorin) wesentlich verbessert werden. Darüber hinaus macht sie den Brüdern Angebote zur Freizeitgestaltung. Diese Angebote nimmt vor allem der jüngere Bruder mit großer Aufgeschlossenheit wahr, (z.B. erzählt er im Interview vom Besuch eines Fußballspiels in einem Stuttgarter Stadion). Der wesentlich verschlossenere Gerhard Sauter ist dagegen für solche Angebote nicht zu motivieren. Aus diesem Grund wurde nach Anknüpfungspunkten gesucht, um auch ihm ein Angebot für eine Betätigung zu machen. Diese wurden in seiner Vorliebe fürs Selberkochen ausfindig gemacht; zweimal in der Woche besucht ihn nun eine junge Frau, die mittlerweile einen Zugang zu ihm gefunden hat. Sie bespricht mit ihm, was er gerne kochen wil, kauft mit ihm zusammen die notwendigen Zutaten ein und zeigt ihm deren Zubereitung. Für sechs Stunden in der Woche kommen zusätzlich zwei weitere Personen, zur Reinigung und Instandhaltung der Wohnung. Hinzu können diverse Nebenkosten, die vor allem für die Freizeitgestaltung anfallen, kommen (Fahrten, Eintritte u.ä.).

"Fussball! Oh! Null zu Null! Was dent au die wieder! War i dronta in Schtuagerd, Stadion. Mit dem Bussle. Um Gotteswilla! um Gotteswilla! Do wars kalt! Do hots zoga, oba ra, des isch richtig kalt gwäa! Do isch's kalt gwäa. Ond 's war voll, des war richtig voll, des Stadion."

Teilhabe II

Die beiden Brüder zählen zu den Budgetnehmern mit dem umfassendsten Hilfebedarf im Projekt. Zugleich gehören sie zur Gruppe derjenigen, die keinerlei Begriff von "Persönlichem Budget" haben. Von der Einnahme einer Kundenrolle zu sprechen, hat schon bei der großen Mehrheit der leichter behinderten Budgetnehmerinnen und Budgetnehmer etwas Künstliches, bei den Brüdern Sauter kann davon keine Rede sein. Die gesetzliche Betreuerin und die im Rahmen des ABW für sie tätige Heilerziehungspflegerin betrachten sie als ihre "Freundinnen". So fragt Manfred Sauter letztere, wenn sie das Haus verlässt: "Musch heut noch schaffa ganga?".

Dennoch folgt aus diesem Umstand gerade im Fall der Brüder Sauter nicht, dass die Selbstbestimmungsfunktion Persönlicher Budgets in ihrem Fall keine Rolle spielt. Anlass für alles war ihr Wunsch, im Haus der Eltern weiterhin wohnen zu können. Wie tief dieser Wunsch bei beiden Brüdern verankert ist und wie groß zugleich die Angst ist, aus ihrem Lebensumfeld heraus gerissen zu werden, zeigt sich dann, wenn die Brüder auch nur vorübergehend für wenige Tage das Haus verlassen sollen. So konnte Gerhard Sauter wegen einer Operation nur unter Einsatz von körperlichem Zwang durch die Polizei für einige Tage ins Krankenhaus gebracht werden. Seine Befürchtung, nicht mehr zurück zu können, veranlasste ihn trotz gegenteiliger Versicherungen zu massiver Gegenwehr. Die Verwurzlung Manfred Sauters mit dem Haus der Eltern zeigt sich in einer weniger dramatischen, aber ebenso eindeutigen Weise: Manfred Sauter ist zunächst sehr begeistert über die Aussicht, mit der Gruppe vom ABW eine Flugreise in die Türkei anzutreten, er erzählt von dem Plan im Interview. Als ihm aber klar wird, dass er bei dieser Reise über Nacht weg bleiben würde, nimmt er davon Abstand und bleibt zu Hause. Das macht nochmals verständlich, welcher Eingriff in das Leben und die Identität von Gerhard und Manfred Sauter die Einweisung in ein Heim wäre. Mit Hilfe des Persönlichen Budgets und eines ungewöhnlich engagierten Umfelds ist es bislang möglich gewesen, dem Anspruch der beiden Männer auf das von ihnen selbst bestimmte Leben im eigenen Haus gerecht zu werden.

4. "Zwischen Freundschaft und pädagogischer Betreuung" - Peter Lohmann

Peter Lohmann, Jahrgang 1961, wächst bei seinen Eltern in der ehemaligen DDR auf. Er ist gehörlos und gilt als geistig behindert. Er kann sich über Lesen und Schreiben verständigen und das Lautbild einzelner Worte - schwer verständlich - nachahmen. Nach der Wende zieht Peter Lohmann mit seinem Vater, der von Beruf Lehrer war und offensichtlich über nicht unbeträchtliche finanzielle Mittel verfügte, in den Westen, wo sie sich in einer süddeutschen dörflichen Umgebung niederlassen. Dort leben Vater und Sohn in einer Dachgeschosswohnung eines Mehrfamilienhauses. Peter Lohmann besucht eine Werkstatt für behinderte Menschen in der benachbarten Kreisstadt. Der Vater engagiert sich in der "Lebenshilfe", beide verkehren regelmäßig in einem Treffpunkt für behinderte und nicht-behinderte Menschen, einem Café, in dessen Umfeld auch Freizeit- und Beratungsangebote für geistig behinderte Menschen gemacht werden. Vater und Sohn sind integriert in das dörfliche Umfeld, Peter Lohmann geht aus und ein bei einer Familie, die im selben Haus wohnt, er ist eng befreundet mit dem heute 20jährigen Sohn der Familie, Minh. Anfang 2004 stirbt der Vater. Es ist aber von Anfang an deutlich, dass Peter Lohmann in keinem Fall in einem Heim verbleiben, sondern in die gewohnte soziale Umgebung zurückkehren will. Sein Freund Minh, die Mitarbeiter und die Leiterin des Treffs stehen ihm zur Seite. Es müssen eine Vielzahl von Fragen im Zusammenhang mit dem Nachlass, der Vermögenssorge, der Instandsetzung der Wohnung und der Klärung der zukünftigen Lebensverhältnisse gelöst werden. In diesem Zusammenhang kommt auch die Idee eines Persönlichen Budgets auf. Das Budget (Hilfebedarfsgruppe III, 950 €) wird im November 2004 bewilligt.

"An Weihnachten ist er auch bei Minh und seiner Familie. Also, das haben wir so geklärt. Er hätte auch zu uns kommen können, aber das war von vorne herein schon klar, dass er dort bleiben will." "Der Minh ist zentral. Das ist die ganz zentrale Bezugsperson. Das macht mir halt ein bisschen Sorgen. Wie funktioniert das System dann weiter? Peter ist am Wochenende viel in der Familie unten. Ich hab auch schon gesagt, wenn's euch zuviel wird, es ist okay, wenn ihr ihn dann zu uns schickt. Das machen sie aber nicht, weil das, das ist immer so gewesen. Ich hab jetzt auch erfahren, dass Peter auch wo der Vater noch gelebt hat, einfach in der Familie war. Da ist er einfach mit drin."

Einfach mit drin...

Die wichtigste Person im Leben von Peter Lohmann ist der 20jährige Minh, dessen Familie im selben Haus im unteren Stockwerk wohnt. Mit ihm war Peter Lohmann bereits vor dem Tod des Vaters aufs engste befreundet und ist auch in dessen Freundeskreis integriert. Sie teilen ihre Freizeit miteinander, gehen in den Jugendclub, spielen Tischfussball, "chillen", sitzen am Spielplatz, dem Treff der Jüngeren im Dorf, gehen ins Kino oder zu MacDonalds. Minh ist ihm im Umgang mit dem Computer behilflich, er tritt mit Peter Lohmann im Herbst des Jahres 2004 die ursprünglich vom Vater geplante, bereits bezahlte vierwöchige Kreuzfahrt von Portugal nach Rio de Janeiro an. Mit Sakko und Krawatte nehmen die beiden im Speisesaal ihre Mahlzeiten ein und werden bald von Mitpassagieren an deren Tische gebeten, weil alle begeistert sind von dem Paar. "Nein, ich bin nicht sein Betreuer, sagt Minh auf deren neugierige Fragen, ich bin einfach sein Kumpel." Trotzdem oder deswegen hilft er ihm auch ihm bei täglichen Abläufen bei Bedarf (Geldeinteilung, Ämterkontakt usw.). An Silvester fahren sie mit dem Auto des Vaters ins Allgäu, Party machen in einem Ferienhaus zusammen mit Freunden. In der Familie von Minh geht Peter ein und aus, er gehört dazu und teilt die Aktivitäten der Familie ganz selbstverständlich. Am Wochenende kocht die Mutter von Minh für ihn mit, außerdem erledigt sie seine Wäsche und hilft beim Putzen der Wohnung. Dafür erhält die Familie zunächst eine Aufwandsentschädigung aus dem Persönlichen Budget. Von vorne herein gibt es professionelle Unterstützung durch den Leiter eines integrierten Wohnprojekts für behinderte Menschen ein paar Häuser weiter. Der Sozialarbeiter nimmt zunächst die Funktionen eines Case-Managers zur Stabilisierung und Absicherung des "natürlichen" sozialen Netzes wahr, in dem Peter sich bewegt, sowie die Funktion einer "Feuerwehr" für besondere Problem- oder Notfälle. Für die Professionellen war es von Anfang an nicht leicht, mit dem Zwiespalt zurechtzukommen, in der öffentlichen Wahrnehmung Verantwortung für Peter Lohmann zu haben, andererseits aber nur eine Hintergrundfunktion wahrzunehmen. Auch Minhs Rolle und die seiner Familie gerät in einen Zwiespalt: was für diese ein ganz normales Leben ist, ein selbstverständlicher gemeinsamer Lebenskontext, wird von den professionellen Kräften zwangsläufig in der Logik von Betreuung, Hilfeplanung und pädagogischer Zielerreichung wahrgenommen. Wo Minh und Peter eine Freundschaft sehen, "hinterfragt" der Sozialarbeiter "die Beziehung zwischen Peter und Minh": "Ist das nicht zu eng? In ner Einrichtung müsste man jetzt gegensteuern?" "Ist es gut, wenn sich in Peters Wohnung Kumpels von ihm und Minh treffen und Party machen?" "Darf in der Küche ein solches Chaos herrschen?" "Braucht Peter Lohmann so einen großen Fernseher?" Minh auf der anderen Seite muss sich aus seiner Sicht gegen eine sozialpädagogische "Kolonisierung" der gemeinsamen Lebenswelt zur Wehr setzen: nicht noch mehr Leute im Haus, Peter' s "ganz normales" Leben nicht mit Trainingsmaßnahmen, Betreuungen, Fürsorge zuschütten, die Sache lockerer sehen. Dieser zunächst latente, später immer offenere Konflikt hat mittlerweile dazu geführt, dass Peter Lohmann nun im Wohnprojekt wohnt, ohne dass deshalb die engen Kontakte zu Minh und seiner Familie abgerissen wären. Nach wie vor wohnt er in der sozialen Lebenswelt, an die er gewöhnt ist, seine Wohnung ist aber zunehmend tabu für seine Kumpels, sie riecht nach Pädagogik und irgendwie eignet sie sich nicht mehr zum "Chillen".

Das Beispiel zeigt die Differenz zwischen der professionellen Sichtweise des berufsmäßigen Betreuers behinderter Menschen, der möglichst sinnvolle "Ziele erreichen" will und der eines Menschen, der seinen Alltag mit behinderten Menschen ohne jedes Moment beruflicher Beflissenheit teilt und es zeigt, welche Konflikte dabei über die Frage entstehen, was Peter Lohmann "wirklich braucht". Unabhängig von der Frage, wer darin nun Recht hat und ob es gut war, Peter zum Umziehen in das Wohnprojekt zu bewegen, ist aber eines deutlich: Die Beziehung zwischen Minh und Peter ist eines der ganz seltenen Beispiele realisierter und geglückter "Teilhabe" eines behinderten Menschen an einem Lebenskontext, eben weil jedes Moment des Veranstalteten und Hergestellten fehlt, weil es "ganz normal" war. Damit soll nicht einer Entbehrlichkeit der professionellen Sichtweise das Wort geredet werden. Natürlich wird am Fall von Peter Lohmann genauso deutlich, wie wichtig eine funktionierende Infrastruktur professioneller Dienstleister ist. Dennoch: Kein Sozialarbeiter oder Heilerziehungspfleger könnte jemals einen Minh ersetzen. Das Chaos in der Küche ist demgegenüber ein eher nachrangiges Problem.

5. "Der Mangel des Ausreichenden" - Kathrin Herzog

Bei Kathrin Herzog, gelernte Erzieherin, heute Ende 40, wird Mitte der 80er Jahre eine multiple Sklerose mit chronisch progressivem Verlauf diagnostiziert. Im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte schränkt sich die Bewegungsfähigkeit von Kathrin Herzog dramatisch ein, ihre Ehe hält der Belastung nicht stand, sie wird nach 20 Jahren im Jahr 2000 geschieden. Von dem ihr aus der Vermögensteilung zustehenden Kapital kann sie eine behindertengerecht gebaute, auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Eigentumswohnung einigermaßen finanzieren. Eine geeignete Mietwohnung, in die sie ebenerdig mit dem Auto hineinfahren konnte, war trotz intensiver Suche nicht zu finden. Seitdem bewohnt Kathrin Herzog diese Eigentumswohnung, die sie aus Rente und Unterhalt nach wie vor monatlich abzuzahlen hat, zusammen mit ihrer Tochter. Kathrin Herzog betreibt bis in die jüngste Zeit stundenweise eine pädagogische Beratungspraxis, allerdings mit zunehmender geringerer Intensität. Es geht dabei weniger um Geldverdienen, als darum eine Aufgabe zu haben. Ein Pflegegutachten stellte Anfang 2002 einen Gesamtbedarf von 314 Minuten Gesamtzeitaufwand pro Tag fest und erkennt die Pflegestufe III an. Es bestand schon zum damaligen Zeitpunkt bei fast allen Verrichtungen Bedarf für eine "vollständige Übernahme" oder "umfangreiche Teilübernahme". Auch nachts sei Unterstützung notwendig. Seither ist der Unterstützungsbedarf beträchtlich gewachsen. Frau Herzog will unbedingt in ihrer Eigentumswohnung bleiben, die für sie und ihre Bedürfnisse eingerichtet worden war, in der sie der Arbeit nachgeen kann, die ihr noch möglich ist, in der sie Besuche empfangen kann und vor allem mit ihrer Tochter in der gewohnten Umgebung leben kann. Dieser verständliche, ja: selbstverständliche Wunsch ist der Auslöser für eine sozialhilferechtliche Odyssee auf dem Weg zu einem Persönlichen Budget, die zu ihren sonstigen Irrfahrten in der ständigen Auseinandersetzung mit Pflege- und Krankenversicherung um angemessenen Rollstuhlausstattung, Sitzpolster, Antriebshilfe, Bewegungstrainer, Finanzierung alternativer Behandlungsmethoden und Medikamente, Fahrtkostenerstattung zur Therapie, usw. noch hinzu kommt. Alleine der Schriftwechsel mit städtischem Sozialamt, mit Kreissozialamt, mit überörtlichem Sozialhilfeträger füllt mehrere Leitzordner - er kann hier überhaupt nur im Staccato eines Telegrammstils angedeutet werden.

"Bitte reichen Sie uns hierüber noch einen Nachweis ein.[...] wenn ja, reichen Sie uns bitte ebenfalls einen Nachweis (Vertrag) ein [...] Sollten sich die Zahlungen verändern, reichen Sie uns hierüber bitte ebenfalls einen Nachweis ein. [...]Weiterhin fehlt uns noch der Nachweis, dass...[...]

Nachweise...

Der Anfang im Jahr 2002: Finanzierung von zwei selbst beschafften Assistenzen im Haus - es geht nach Abzug des Pflegegelds um rund 900 Euro/Monat - Problem: Wohnung um 25.000 Euro zu groß - es wird eine Hypothek auf die Wohnung aufgenommen und ein Darlehensvertrag mit dem Sozialhilfeträger geschlossen - 905 Euro monatlich vom städtischen Sozialamt für eine selbstbeschaffte Pflegekraft, auszuzahlen als eine Art Vorschuss - Nachweise über die Höhe des tatsächlichen Aufwands - wegen Veräußerung des bis 2001 noch gefahrenen Autos Beantragung von vier Freifahrten beim Kreissozialamt - Nachweise über Bafög der Tochter, über Einkommen, über Rückzahlung der Haftpflichtversicherung werden nötig - Ablehnung des Antrags wegen der Wohnung - Widerspruch - nebenbei Antrag auf Grundsicherung - Ablehnung - Widerspruch - vierteljährliche Nachweise über Absolvieren eines Beratungseinsatzes durch eine Berufspflegekraft werden ständig angefordert - Gutachten wegen einer Umrüstung des Rollstuhls durch die Krankenversicherung sind nötig - Nachweise über Einsatz, Aufenthaltsgenehmigungen der Assistenz-Kräfte, Nachweise über den Ausgang eines Prozesses, wegen der Höhe ihrer Unterhaltszahlungen - Widerspruch gegen die Verweigerung der Freifahrten wird zurückgewiesen - Widerspruch gegen den Widerspruchsbescheid - dramatische Verschlechterung des Gesundheitszustands - dem Widerspruch gegen den Widerspruchsbescheid wird stattgegeben - im August Berechtigungsausweis für vier Freifahrten nach acht Monaten - das Hilfesystem kippt: eine Assistenzkraft fällt aus - die Zeit drängt wegen des erhöhten Bedarfs - Frau Herzog gewinnt zwei professionelle Halbtagskräfte für werktags und zwei Assistentinnen für abends, nachts und an den Wochenenden - Kosten insgesamt rund 3800 Euro. Oktober 2003 Antrag beim örtlichen und überörtlichen Träger auf Persönliches Budget - zugleich:

Wie ging ihre Gerichtsverhandlung wegen ...aus? Legen Sie uns hier bitte ebenfalls Nachweise vor. Wir weisen Sie hiermit gem. §§ 60,66 Sozialgesetzbuch Eins (SGB I) auf Ihre Mitwirkungspflicht hin und fordern Sie auf, die fehlenden Unterlagen bis 30.7.2003 auf unserem Amt vorzulegen (mit Terminabsprache) bzw. zu übersenden. Sollten Sie sich bis 30.7.2003 nicht mit uns in Verbindung gesetzt haben, wird die Hilfe in besonderen Lebenslagen (hier: Hilfe zur Pflege) wegen fehlender Mitwirkung eingestellt, bzw. ist ebenfalls zu prüfen, ob die bereits erfolgten Zahlungen für die Monate Juni und Juli zurückgefordert werden. Die Zahlung für August 2003 wird bis zur Vorlage der Unterlagen erstmals gestoppt."

.... Nachweise...

"Der vom Gesetzgeber geforderte Nachweis des Beratungseinsatzes bei Bezug von Pflegegeld... ist fällig. Bitte weisen Sie uns daher den durchgeführten Einsatz innerhalb der nächsten 4 Wochen nach, da wir ansonsten .... das Pflegegeld zunächst um 50 % kürzen und in der Folge die Pflegegeldleistungen einstellen müssen."

...Nachweise....

"Wie wir vom Sozialamt der Stadt .... erfahren haben, hat sich Ihr Unterhalt erhöht. Bitte übersenden Sie uns noch einen Nachweis (Urteil) über die Höhe monatlichen Unterhaltszahlungen."

...Nachweise....

"Wir bitten noch um Mitteilung, ob Ihre Tochter Monika, wie von Ihnen in Ihrem Schreiben vom 8.7.03 angegeben, wieder zur Schule geht. Erhält Sie Bafög? Hat sie eigenes Einkommen?.... Den Eingang der Unterlagen erwarten wir bis spätestens 12.12.03"

...Nachweise....

Nachweise - für den LWV - für die Pflegeversicherung - fürs Kreissozialamt wegen der Fahrten - Ablehnung von Fahrten durch die Pflegeversicherung - noch immer keine Entscheidung über Budget - Einstufung in HBG III, das entspräche einem Budget von 1050 Euro - Frau Herzog droht mit gerichtlichen Schritten - Notlage, Geldprobleme, Konto im absoluten Soll - Februar 2004 Konferenz zwischen städtischem Sozialamt, Kreissozialamt und überörtlicher Träger - kein Budget des überörtlichen Sozialhilfeträgers, weil das benötigte Budget die stationären Nettokosten übersteigen würde und eine Ermessensausübung wegen Nichtzuständigkeit nicht in Frage kommt - zuständig bleibt der örtliche Sozialhilfeträger - dieser bewilligt, ohne den Begriff Persönliches Budget zu verwenden schließlich eine pauschalierte Leistung für selbstbeschaffte Pflegekräfte von schließlich rund 3850 €. Frau Herzog hat nun an Werktagen tagsüber zwei examinierte Kräfte zur Verfügung, nachts und an Wochenenden nach wie abwechselnd vor ihre beiden Assistenzkräfte, die aus dem persönlichen Budget bezahlt werden, zusätzlich ist enthalten eine Pauschale für Fahrtkosten.

"Bitte teilen Sie uns mit, woraus sich ergibt (auf den Pflegebedürftigen bezogen), dass eine Versorgung durch zugelassene Pflegedienste nicht gewährleistet werden kann und reichen Sie uns die zum Nachweis des Vorliegens der unter II. bis IV. genannten Voraussetzungen notwendigen Unterlagen ein."

...Nachweise....

"Ich bin ein gläserner Mensch. Also sämtliche Dinge, die sind also schon allen Ämtern bekannt. Ich hab also keine Geheimnisse mehr. Und das is Pflicht, wenn Sie was wollen vom Staat, müssen sie sich praktisch nackig ausziehen, dass man sieht, ob sie noch irgendwo was versteckt haben, oder nicht. `S is ein unwürdiges Dasein. Wie man also behandelt wird, eigentlich <..> Kann man nur wünschen, dass niemand der da irgendwo an einer Schiedsstelle sitzt, mal in die Situation kommt."

Gläserner Mensch

Ende gut, alles gut? Ja und nein. Ja: weil Frau Herzog es mit einem vergleichsweise aufgeschlossenen und engagierten örtlichen Sozialamt zu tun hatte (ihr Fall ist der einzige seiner Art im ganzen Projekt!). Ja: weil bis auf weiteres ihr Leben in der eigenen Wohnung gesichert ist. Nein: denn der Papierkrieg geht weiter: sie fährt mit der Sachleistung der vier Freifahrten "besser", es gibt Verrechnungsprobleme mit der Pflegeversicherung wegen der Inanspruchnahme von Verhinderungs- und Kurzzeitpflege, Auseinandersetzungen mit Krankenversicherung über legitime und nicht legitime Therapiekosten usw. usw. Und vor allem nein: weil mit der Leistung gerade einmal ziemlich exakt der pflegerische Bedarf gedeckt wird. Ein Mitteleinsatz zur Sicherung der Teilhabe am gemeinschaftlichen Leben, ist weder vorgesehen noch möglich. Kathrin Herzogs hat das, was gerade mal ausreicht, um ihr Leben in der Wohnung zu sichern. Braucht sie nicht auch die Möglichkeit, einmal heraus zu kommen? Ausflüge zu machen, Verwandte und Freunde, eine kulturelle Veranstaltung zu besuchen? Mag sein. Aber es sind die bekannten Grenzen eines Systems erreicht, in dem für das, was man braucht, wenn man mit einer Behinderung wie der Frau Herzogs konfrontiert ist, keine Absicherung außerhalb institutioneller Verwahrung vorgesehen ist.

Gewiss, es ist die Pflicht von Sozialämtern auch bei der Bewilligung von vier Freifahrten alle Vermögensverhältnisse penibel zu prüfen, denn die kommunalen Haushalte würden nicht einmal das bisherige leisten können, würde man darauf verzichten - das stimmt! Dennoch beschleicht einen bei der Lektüre des Briefwechsels von Kathrin Herzog eine Art von "staatsbürgerlicher Scham" darüber, dass wir es bis jetzt politisch nicht geschafft haben, wirklich angemessene Strukturen für die Absicherung eines Lebensrisikos zu entwickeln, das jeden von uns in jedem Moment treffen kann. Solange das nicht gelingt, muten wir auch weiterhin Männern und Frauen wie Kathrin Herzog zu, einen großen Teil ihrer kostbaren Lebenszeit mit einem Kleinkrieg zu verbringen. Das ist sicher nicht das, was jemand in dieser Lebenssituation "braucht".

Fazit:

Ich habe fünf Geschichten von Menschen erzählt, die mit Hilfe des Persönlichen Budgets herausgefunden haben und noch herausfinden, was sie wirklich brauchen. Die Beispiele sind deswegen beeindruckend, weil jedes auf seine Art ein zwiespältiges Licht auf die mitunter scholastisch geführten Diskussionen um Hilfeplanung, Zielvereinbarung und Bemessung wirft.

Kann und soll irgendeine Verwaltung oder ein medizinisch-pädagogischer Fachdienst dieser Welt entscheiden, ob ein Karatekurs "gebraucht" wird? Ob es nötig ist, für dreißig Euro zehn regenbogenfarbene Handtücher einzukaufen? Wo die finanziellen Trennlinien von pädagogischer Betreuung und Freundschaft verlaufen?

Ich denke nein, und weil sie das nicht kann und nicht soll, gibt es Persönliche Budgets. Persönliche Budgets sind nicht Instrumente zur Raffinierung von Hilfeplanung, sondern eine Erfindung, um mit dem Umstand umzugehen, dass sich das, was jemand braucht aus der ganzen Komplexität einer jeweiligen Lebenssituation ergibt, Veränderungen unterworfen ist und auch immer wieder strittig werden kann. Wenn man ganz genau im Vorhinein weiß, was jemand braucht, ist ein Persönliches Budget sinnlos. Die Stärke Persönlicher Budgets liegt darin, Spielräume zu ermöglichen.

Insoweit ein Spielraum immer umgrenzt ist, einen Rahmen benötigt, ohne den er seine Funktion nicht erfüllen, hat Hilfeplanung natürlich ihren begrenzten Sinn. Aber der eigentliche Sinn des Budgets liegt in der Ermöglichung dieses Spielraums und dieser Spielraum sieht bei jedem der fünf vorgestellten Menschen anders aus: bei Frau Herzog beschränkt er sich auf den Spielraum v.a. ihrer eigenen Wohnung, darunter leidet sie, aber sie zieht ihn dem Leben in einer Einrichtung vor; bei den Brüdern Sauter ist der Spielraum eben der Lebensraum, den sie immer schon bewohnt haben und der ihnen wichtiger ist als alles andere; bei Helene Karg entsteht ein kleiner Spielraum, der aber groß genug ist, ihr Motive zum Weiterleben zu geben; auch für Hannes Waldenfels ist der Mut zum Weiterleben entscheidend, er gewinnt ihn aber aus einer Fülle von Spielräumen, die ihm völlig neue Erfahrungen aufschließen; bei Peter Lohmann schließlich müssen die Profis darauf achten, dass sie die vorhandenen Spielräume in ihrer gutgemeinten Fürsorge nicht verschließen.

Meine persönliche Antwort auf die Ausgangsfrage "Was brauchst du mehr im Leben als das, was du brauchst?", aufgeworfen von einem jungen, sogenannten "geistig behinderten" Philosophen, wäre: dieser "Spielraum" ist es, den man "mehr" braucht. Aber insofern man "Spielräume" überhaupt zum Leben braucht, ist auch wieder keine Rede von einem "Mehr", sondern von einer Selbstverständlichkeit. Das Persönliche Budget ist ein Weg zur Wiedergewinnung dieser Selbstverständlichkeit.

Kontakt

Prof. Dr. Jörg Michael Kastl

Pädagogische Hochschule Ludwigsburg

Fakultät für Sonderpädagogik

Pestalozzistr. 53, 72762 Reutlingen

mail: kastl@ph-ludwigsburg.de

Quelle:

Jörg Michael Kastl: "Situationen, Lebenswelten, Biografien - Persönliche Budgets im konkreten Fall"

erschienen in: impulse Nr. 38, 2/2006, Seite 3 - 10.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 20.05.2008

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