Arbeitsweltbezogene Bildungsbegleitung im Übergangsfeld zwischen Schule und Beruf

Themenbereiche: Arbeitswelt
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: impulse Nr. 36, Dezember 2005, Seite 23 - 33. impulse (36/2005)
Copyright: Joachim Radatz, Ferdinand König, Martina Bausch, Charlotte Petri, Gabriele Humpert-Plückhahn 2005

Arbeitsweltbezogene Bildungsbegleitung im Übergangsfeld zwischen Schule und Beruf

Seit 1999 unterstützen wir in unterschiedlichen Projekten junge Menschen mit Lernschwierigkeiten[1] in Berlin beim Übergang von der Schule in das Erwerbsleben. Die konzeptionellen Grundlagen, Ziele und Ergebnisse dieser Arbeit haben wir in einer Reihe von Projektberichten[2] und Aufsätzen[3] dargestellt. Unsere Bemühungen, einen projektübergreifenden Ansatz zu formulieren, führten zu einem online Handbuch für die Praxis einer arbeitsweltbezogenen und ambulant organisierten Bildungsbegleitung von jungen Menschen mit besonderem Förderbedarf im Übergangsfeld zwischen Schule und Arbeitsleben.[4] Im Folgenden werden einige zentrale Inhalte dieses Handbuches in stark geraffter Form dargestellt.



[1] Bevor Elternvereinigungen den Begriff "geistige Behinderung" in den 60er Jahren durchsetzten, waren zweifellos herabsetzende Bezeichnungen wie "Schwachsinn", "Debilität" und "Idiotie" im wissenschaftlichen und pädagogischtherapeutischen Sprachgebrauch üblich. Sprach man in den 80er Jahren noch überwiegend von den "Geistig Behinderten", so hat sich nun die Bezeichnung "Menschen mit geistiger Behinderung" weitgehend durchgesetzt. Aber auch diese Bezeichnung wird von den Betroffenen abgelehnt. Bereits 1993 forderten sie, "people with learning difficulties" genannt zu werden (Knust-Potter, E.: Self Advocacy - oder wir sprechen für uns selbst. In: Bundesvereinigung der Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung (Hg.): Selbstbestimmung S. 519 - 534, verg. S. 527). Es wäre naiv, anzunehmen, dass Stigmatisierungsprozesse allein durch eine veränderte Sprachregelung vermieden werden könnten. Richtig ist es aber auch, dass Menschen durch Sprache verletzt, herabgesetzt und ausgegrenzt werden können und ihr soziales Ansehen auch in der Sprache ihren Ausdruck findet. Schwierigkeiten bereitet die aus unserer Sicht vorzuziehende Bezeichnung Menschen mit Lernschwierigkeiten jedoch immer dann, wenn Aussagen auf einen rechtlichen oder institutionellen Kontext bezogen werden, in dem geistige Behinderung oder Lernbehinderung als Kategorien zur Definition des Förderbedarfs entscheidend sind. In diesen Zusammenhängen haben wir uns für die Bezeichnungen "Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung" und "Menschen mit sogenannter Lernbehinderung" entschieden

[2] Die Projektberichte sind im Internet auf der Homepage der ISB gGmbH unter http://www.isb-berlin.de/Dokument veröffentlicht

[3] U.a.: Radatz, Joachim (1999). Konzeptionelle Überlegungen und Projektentwicklung zur nachgehenden Begleitung von Schulabsolventen mit Lernschwierigkeiten. Im Internet: http://bidok.uibk.ac.at/library/radatz-konzept.html. Ginnold, Antje; Radatz, Joachim (2003). SprungBRETT - Damit es nach der Schule weiter geht! Beratung und Begleitung für Jugendliche mit Lernschwierigkeiten beim Übergang von der Schule in das Arbeitsleben. In: Feuser, Georg (Hg.), (2003). Integration heute - Perspektiven ihrer Entwicklung in Theorie und Praxis. Frankfurt/Main. Radatz, Joachim; Bausch, Martina; König, Ferdinand (2003). KOALA - Ein Modell zur betriebsintegrierten Berufsvorbereitung. In: Feuser, Georg. (Hg.) (2003). Integration heute - Perspektiven ihrer Weiterentwicklung in Theorie und Praxis. Frankfurt am Main: .S. 275-286.

[4] Diese Hinweise wurden im Rahmen eines Projektes erarbeitet, das den Auftrag hat, eine Internetplattform zu erstellen, die über schulische und nachschulische Bildungswege und Unterstützungsangebote für junge Menschen mit besonderem Förderbedarf in Berlin informiert. Es wird von der ISB gGmbH in Kooperation mit Arbeit und Bildung e.V., dem Neuköllner Netzwerk Berufshilfe e.V. und der Siemens Technik Akademie durchgeführt. Die bislang erreichten Arbeitsergebnisse sind unter www.wege-zum-beruf.de veröffentlicht.

1 Zum Institutionellen Umfeld arbeitsweltbezogener Bildungsbegleitung

An Berliner Schulen sind berufsorientierende Unterrichtsinhalte bereits in der 9. Klassenstufe Bestandteil der Lehrpläne. Schülerinnen und Schüler, die im Anschluss an das zehnte Schuljahr keinen Ausbildungs-oder Arbeitsplatz gefunden haben, können berufsqualifizierende Lehrgänge der 11. und 12. Klassenstufe besuchen. Im nachschulischen Bereich können berufsorientierende und berufsvorbereitende Maßnahmen gemäß SGB III oder SGB VIII mit einer Dauer von bis zu 18 Monaten folgen, die von einer Vielzahl unterschiedlicher Anbieter durchgeführt werden. Dabei ist es nicht ausgeschlossen, dass ein Jugendlicher an mehreren Maßnahmen unterschiedlicher Kostenträger nacheinander teilnimmt. Daran kann eine außerbetriebliche oder betriebliche Berufsausbildung anschließen, die bei verlängerter Ausbildungszeit bis zu vier Jahren dauern kann. Der Übergang in das Erwerbsleben ist damit in vielen Fällen jedoch noch nicht abgeschlossen. Auch ausgebildete Jugendliche und junge Erwachsene mit besonderem Förderbedarf finden häufig keinen Einstieg in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse und werden arbeitslos. Schülerinnen und Schüler mit sogenannter geistiger Behinderung finden in der Regel abseits des allgemeinen Arbeitsmarktes einen Beschäftigungsplatz in Werkstätten für behinderte Menschen.

Das Übergangsfeld zwischen Schule und Beruf besteht also aus einem differenzierten System schulischer und nach schulischer Angebote, die eine Zeitspanne von mehr als acht Jahren umfassen können. Zur Beschreibung und Analyse dieses Feldes werden in der Regel die Begriffe "erste Schwelle" und "zweite Schwelle" verwendet. Mit "erster Schwelle" wird der Übergang von der Schule in Ausbildung bezeichnet, mit "zweite Schwelle" der Übergang von Ausbildung in Arbeit. Damit wird ein linearer Entwicklungsverlauf suggeriert, der auf die Bildungs- und Erwerbsbiographien von jungen Menschen mit besonderem Förderbedarf nicht mehr zutrifft. Es wird eine "Normalbiographie" unterstellt, die mit den vielfältigen Übergangs-, Um- und Irrwegen oder Warteschleifen, die in Arbeit, Ausbildung und Arbeitslosigkeit oder Dauerbeschäftigung in einer Werkstatt für behinderte Menschen führen, nur noch wenig gemeinsam hat.

Abbildung 1 bietet eine vereinfachte Darstellung des Übergangsfeldes zwischen Schule und Beruf, in dem arbeitsweltbezogene Bildungsbegleitung als ein Partner im Netzwerk der Hilfen und Angebote für junge Menschen mit besonderem Förderbedarf berücksichtigt wurde. Pfeile bezeichnen die möglichen, ggf. durch Arbeitslosigkeit unterbrochenen, Bildungs- und Integrationswege.

Abbildung 1: Übergangsfeld zwischen Schule und Beruf

2 Ziele und Aufgaben arbeitsweltbezogener Bildungsbegleitung

Durch arbeitsweltbezogene Bildungsbegleitung sollen junge Menschen mit besonderem Förderbedarf einen Platz im Arbeitsleben finden, der ihren Vorstellungen und Fähigkeiten entspricht. Um dies zu erreichen, setzt Bildungsbegleitung auf drei Ebenen an (siehe Abb. 2, S. 24):

Die individuellen Voraussetzungen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen werden durch Unterstützung bei der betriebsintegrierten Aneignung arbeitsmarktrevanter Komptenzen verbessert.

Die Integrationsfähigkeit der Betriebe wird durch Unterstützung bei der Anleitung der jungen Menschen im Betrieb und im Zuge ihrer Übernahme in Ausbildungs- und Arbeitsverhältnisse verbessert.

Abbildung 2: Ziele und Aufgaben

Die Kooperationsbeziehungen der am beruflichen Bildungs- und Integrationsprozess beteiligten Akteure und Institutionen werden verbessert, indem sie in den Begleitprozess einbezogen und ihre Aktivitäten am individuellen Unterstützungsbedarf der Jugendlichen ausgerichtet werden. Neben der Einbeziehung informeller Ressourcen (z.B. Einbeziehung sogenannter "natürlicher" oder "alltäglicher" Unterstützung durch Kolleginnen und Kollegen im Betrieb oder durch Personen im persönlichen Umweld und zusätzlicher professioneller Hilfen (z.B. Beratungsangebote der Ausländerbeauftragten zur Klärung des Aufenthaltsstatus bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund) geht es dabei insbesondere um horizontale und vertikale Lernortkoordination:

Abbildung 3: Horizontale Lernortkoordination

Horizontale Lernortkoordination

Durch horizontale Lernortkoordination werden die Aktivitäten kooperierender Betriebe und Schulen sowie anderer außer betrieblicher Bildungsträger auf ein gemeinsames Ziel hin orientiert, unterschiedliche Kenntnisse und Sichtweisen produktiv genutzt und einander gegenläufige Aktionen zum wechselseitigen Vorteil vermieden.

Außerbetriebliche Bildungsträger können durch die Kooperation mit Betrieben ihre Lehr-/Lernmöglichkeiten er weitern und verbessern. Durch betriebliche Praktika werden Erfahrungsräume geöffnet, in denen berufliche Vorstellungen entwickelt und berufliche Fähigkeiten realistisch eingeschätzt werden können. Auf der Grundlage der betrieblichen Rückmeldungen können arbeitsweltbezogene Curricula anforderungsorientiert gestaltet werden.

Für Betriebe hat die Kooperation mit außerbetrieblichen Einrichtungen der beruflichen Bildung den Vorteil, dass sie berufsorientierende und berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen mitgestalten können und ihre Personalauswahl auf der Grundlage betrieblicher Erprobung erfolgen kann. Indem Betriebe ihre Anforderungen so gestalten, dass sie der Qualifizierung von jungen Menschen mit besonderem Förderbedarf dienen, können sie die im außerbetrieblichen Bildungssystem vorhandenen Ressourcen für ihre Zwecke nutzen.

Was also aus der Perspektive der außerbetrieblichen Einrichtungen als Förderung beruflicher Fähigkeiten wahrgenommen wird, kann aus der Perspektive von Betrieben ein Beitrag zur Personalauswahl und Personalentwicklung sein (Siehe Abb. 3).

Abbildung 4: Vertikale Lernortkoordination

Vertikale Lernortkoordination

Durch vertikale Lernortkoordination werden die vorangegangenen Anstrengungen zur beruflichen Orientierung und beruflichen Vorbereitung aufgenommen und fort geführt. Dies bedeutet unter anderem, dass bereits im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht angebahnte Kontakte zu Betrieben und anderen Trägern der beruflichen Bildung im Hinblick auf die nachschulischen Perspektiven der Jugendlichen und jungen Erwachsenen ausgewertet und bei positiver Beurteilung in das soziale Netzwerk integriert werden.

Im Idealfall gelingt es, bereits im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht (in Berlin zehn Schulbesuchsjahre) betriebliche Qualifizierungsplätze zu akquirieren, die über die weitere Schulzeit hinweg und in der nachschulischen beruflichen Bildung erhalten bleiben. Auf diese Weise können bei wechselnden Maßnahmen und Maßnahmeträgern kontinuierliche berufliche Qualifizierungsprozesse erreicht werden, die bei gutem Verlauf in betriebliche Ausbildungsverhältnisse und sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse mit den Kooperationsbetrieben einmünden (Siehe Abb. 4).

3 Prozesse arbeitsweltbezogener Bildungsbegleitung

Arbeitsweltbezogene Bildungsbegleitung unterstützt alle Phasen des beruflichen Qualifizierungs- und Integrationsprozesses.

Abbildung 5: Phasen beruflicher Qualifizierung

Die Phase der Berufsorientierung bildet die Grundlage für den anschließenden Begleitprozess. Sie ist abgeschlossen, wenn ein Jugendlicher eine seinen Wünschen entsprechende und realisierbare Berufswahlentscheidung g troffen hat.

Die Phase der Berufsvorbereitung zielt auf Berufsausbildungs- bzw. Beschäftigungsfähigkeit. Sie ist abgeschlossen, wenn ein Jugendlicher über die Kompetenzen verfügt, eine Berufsausbildung oder eine Beschäftigung in einem Wirtschaftsunternehmen des ersten Arbeitsmarktes aufzunehmen. Die Phase der "Individuellen Passung bildet den Übergang in eine betriebliche Ausbildung oder sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Sie ist abgeschlossen, wenn der Auszubildende oder Arbeitnehmer den Anforderungen der Arbeit oder Ausbildung ohne Hilfe gewachsen ist oder ein Unterstützungssystem etabliert ist, das den erfolgreichen Abschluss der Berufsausbildung oder das Arbeitsverhältnis langfristig sichert.

Die Phase der betrieblichen Berufsausbildung beginnt mit dem Abschluss des Ausbildungsvertrages und endet mit der erfolgreich bestandenen Abschlussprüfung und/oder mit der Überleitung in ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis.

Einzelfallorientierte Begleitdiagnostik ist ein integraler Bestandteil aller Phasen und ermöglicht der Bildungsbegleitung empirisch fundierte Integrations- bzw. Förderpläne zu erstellen, zu überprüfen und weiter zu entwickeln.

3.1 Einzelfallorientierte Begleitdiagnostik

Damit die Bildungsbegleitung berufliche Lehr-/Lernprozesse und betriebliche Integrationsprozesse wirkungsvoll unterstützen kann, müssen die Ziele der Unterstützung möglichst genau beschrieben werden. Dies ist mittels TOC (Tätigkeitsorientierter Curricula) und FAIR (Fähigkeits- und Anforderungsprofile für Integration und Rehabilitation) möglich. Durch die Entwicklung und en Einsatz von TOC können betriebliche Anforderung, individuelle Fähigkeiten und Lehr-/Lernentwicklungen im Bereich funktionaler Kompetenzen ermittelt werden. Die Anwendung von FAIR gestattet dies für den Bereich der extrafunktioanlen Kompetenzen.

3.1.1 TOC

Mittels tätigkeitsorientierter Curricula (TOC) können die fachpraktischen Anforderungen konkreter Arbeitsabläufe für die Ermittlung von individuellen fachlichen Fähigkeiten und zur Darstellung von Lehr-/Lernentwicklungen in diesem Bereich nutzbar gemacht werden. Zur Erstellung von TOC werden die Tätigkeiten der ausgeübten mittels Beobachtung und Arbeitsanalyse erfasst und beschrieben. Die auf diese Weise gewonnenen Tätigkeitslisten definieren Lehr-/Lernziele, die bei der arbeitspädagogischen Unterweisung im Betrieb als ein der betrieblichen Situation angepasster Leitfaden dienen und fachpraktische Kompetenzen der Beurteilung zugänglich machen (siehe Abb. 6).

Die Gliederungstiefe der TOC richtet sich nach den beruflichen Fähigkeiten des einzelnen Bewerbers und ist theoretisch hinab bis zur Ausführung von elementaren Funktionen wie Hinlangen, Greifen, Loslassen usw. möglich. Entsprechend können durch diese Form der Leistungsbeurteilung auch die Beherrschung von elementaren Teiltätigkeiten als individuelle Kompetenzen anerkannt und bezeichnet wer den.

TOC lassen sich für beliebige Tätigkeitsfelder mit vertretbarem Aufwand erstellen. Sie stellen ein Instrument zur Durchführung kontrollierter Qualifizierungsprozesse dar, wie dies auch mit den an Ausbildungsrahmenplänen orientierten Qualifizierungsbausteinen angestrebt wird.

Abbildung 6: TOC - Beispiel (Auszug)

3.1.2 FAIR

Um das Verhältnis zwischen Anforderungen und Fähigkeiten auch im extrafunktionalen Kompetenzbereich empirisch fundiert beschreiben zu können, haben wir Instrumente entwickelt, mit deren Hilfe einerseits der Status individueller Fähigkeiten und Kompetenzen sowie deren Veränderung und Entwicklung diagnostiziert, andererseits aber auch die Anforderungen eines Qualifizierungs-, Arbeits- oder Ausbildungsplatzes hinreichend präzise erfasst werden können. Gleichzeitig können mit den Instrumenten individuelle berufliche Fähigkeiten und Kompetenzen sowohl aus der Sicht der Jugendlichen (durch Selbsteinschätzungen) als auch aus der Wahrnehmung Dritter (mittels Fremdeinschätzungen durch Lehrer, Ausbilder Sozialpädagogen, Arbeitsassistenten, Arbeitgeber, Bildungsbegleitung) beurteilt werden.

Abbildung 7: FAIR - Merkmale und Beschreibungen (Beispiele)

Bei den neuen Instrumenten handelt es sich um Fragebögen mit 5-stufig skalierten Schätzskalen, die je nach inhaltlicher Gestaltung zur Beschreibung individueller Fähigkeiten und Kompetenzen oder betrieblicher Anforderungen genutzt werden können. Die derzeitig berücksichtigten Merkmalscluster sind Kognition, Soziales, Arbeit, Motorik, Kulturtechniken und Motivation. Die Merkmalsbereiche sind erweiterbar (z.B. Psyche, Persönlichkeit, Ressourcen), können aber auch in reduziertem Umfang eingesetzt werden.

Die berücksichtigten Merkmale bzw. Merkmalscluster integrieren die wichtigsten der auch in anderen Verfahren oder Settings (Assessment, Profiling, Melba, Karlsruher Profilverfahren, DIK) thematisierten Fähigkeiten und Kompetenzen. Die Verfahren sind unkompliziert in der Anwendung, haben akzeptable Bearbeitungszeiten und gewährleisten, dass sie auch von lernbeeinträchtigten und benachteiligten Jugendlichen selbstständig oder mit begrenzter Hilfestellung bearbeitet werden können.

Zur Beschreibung der Merkmale sind in möglichst knapper Form typische Situationen, Verhaltensweisen, Bereitschaften oder Gewohnheiten benannt, in denen sich Ausprägungen der Merkmale widerspiegeln. Die Merkmale sind so beschrieben, dass sie eine Selbst- (SE) und eine Fremdeinschätzung (FE) individueller Merkmalsausprägungen, aber auch die Einschätzung betrieblicher Anforderungen (AN) erlauben (siehe Abb.7).

Fremd-, Selbst- und Anforderungseinschätzung sind einheitlich skaliert, was den Vergleich zwischen diesen Einschätzungen ermöglicht:

FAIR bietet prinzipiell die Möglichkeit, die Merkmalsliste zu erweitern. (FAIR als "Baukasten"), wenn die FAIR-Konstruktionsprinzipien eingehalten werden. Eine Gruppenzuordnung neuer Merkmale ist jedoch ohne empirische Analyse (Faktorenanalyse, Clusteranalyse) nicht möglich.

Beispiel für FAIR als "Baukasten"

3.1.3 Diagnostischer Dialog

Beim diagnostischen Dialog handelt es sich um ein Verfahren, mit dem die einseitige Zuschreibung von beruflichen Fähigkeiten oder Defiziten vermieden wird und starre Wahrnehmungsmuster aufgebrochen werden. Indem die Perspektivität sozialer Wahrnehmungsprozesse bewusst und produktiv in den diagnostischen Prozess integriert wird, gelingt es, konkrete und realisierbare berufliche Perspektiven zu entwickeln und gemeinschaftlich umzusetzen.

Auf Grundlage von TOC und FAIR werden Selbst- und Fremdeinschätzung beruflicher Fähigkeiten im Dialog mit dem Jugendlichen aufeinander bezogen und im Hin blick auf seine beruflichen Wünsche ausgewertet, um konkrete und realisierbare berufliche Perspektiven zu entwickeln. Die Abweichungen und Übereinstimmungen zwischen diesen Einschätzungen (das Einschätzungsverhältnis) bieten dabei einen sehr konkreten und für den Jugendlichen nachvollziehbaren Inhalt. Nach der Methode der "Erfahrungsproduktion" wird "Auseinandersetzung um die zutreffende Einschätzung" (Schroeder, J.; Storz, M., Alltagsbegleitung und nachgehende Betreuung, in, dies., Einmischungen, 1994, S. 10 - 19, vergl. S. 14) in den Auswertungsgesprächen zur konkreten Unterstützungspraxis. Aus der Binnenperspektive (Selbsteinschätzung) wird versucht, die verarbeitete Arbeitswirklichkeit der Jugendlichen zu rekonstruieren. Durch die Vermittlung der Außenperspektive (Fremdeinschätzung) wird es den Jugendlichen möglich, die eigenen Leistungen vom Standpunkt der betrieblichen Anleiter zu betrachten (Storz, M., Alltagsbegleitung konkret, 1994, vergl. S. 4). Dieser diagnostische Dialog hilft den Jugendlichen, ihre Arbeitsleistungen realitätsnah einzuschätzen und damit eine zentrale Kompetenz für eine berufliche Tätigkeit in einem Betrieb des allgemeinen Arbeitsmarktes zu erlernen.[5]

3.2 Beruf orientierende Bildungsbegleitung

Durch berufsorientierende Bildungsbegleitung werden junge Menschen mit besonderem Förderbedarf in Kooperation mit Bildungseinrichtungen und Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarktes bei der Entwicklung eines realisierbaren beruflichen Bildungszieles unterstützt. Die Formulierung eines hinreichend klaren Berufswunsches und dessen Überprüfung sind dazu die zentralen Voraussetzungen. Informationen über mögliche Bildungswege und die Durchführung betrieblicher Orientierungspraktika sind die Arbeitschritte, mit denen die Ziele verfolgt werden.

Abbildung 8: Diagnostischer Dialog

Folgende Fragen sind dabei handlungsleitend (siehe Abb. 9):

Hat der Jugendliche einen hinreichend klaren und überprüfbaren Berufswunsch?

Äußert der Jugendliche einen Berufswunsch, der mit keinen oder realitätsfernen Vorstellungen von den Inhalten der strebten Tätigkeit angeverbunden ist, dann ist dieser Berufswunsch nicht hinreichend klar. Es kann vorkommen, dass ein Jugendlicher über einen hinreichend klaren Berufswunsch verfügt, dessen betriebliche Überprüfung unmöglich ist oder mit nicht tolerierbaren Gefährdungen verbunden wäre, weil sich die Ausübung des Wunschberufes aus gesundheitlichen, rechtlichen oder sittlichen Gründen verbietet

Abbildung 9: Ablaufdiagramm zur berufsorientierenden Bildungsbegleitung

Um einen hinreichend klaren und überprüfbaren beruflichen Wunsch zu erreichen, müssen Informationen zu den in Frage kommenden Berufen oder Tätigkeitsfeldern vermittelt werden. Schriftliche, verbale oder auch multimediale Informationen können dabei hilfreich sein. Bei Jugendlichen mit Lernschwierigkeiten reichen sie in der Regel aber nicht aus. Interessentests können Anhaltspunkte bieten. Betriebsbesichtigungen oder Besuche bei außerbetrieblichen Ausbildungsträgern haben sich besonders bewährt.

Wurde der Berufswunsch durch ein betriebliches Praktikum überprüft?

Berufe sind so komplex, dass im Gespräch nicht vollständig geklärt werden kann, ob der Jugendliche für einen bestimmten Beruf wirklich geeignet ist. Um eine tragfähige Entscheidung zu finden, muss der Jugendliche die Wirklichkeit des von ihm gewünschten Berufes oder Tätigkeitsfeldes unter den realen Bedingungen betrieblicher Praxis kennen lernen. Die betriebliche Überprüfung des Berufswunsches ist eine notwendige Voraussetzung, um ihn als Bildungsziel in den beruflichen Qualifizierungsplan aufzunehmen.

Hat sich der Berufswunsch im betrieblichen Praktikum als stabil erwiesen?

Der Berufswunsch hat sich als stabil erwiesen, wenn der Jugendliche dies bestätigt und die ihm übertragenen Arbeitsaufgaben mit Interesse und Engagement verfolgt hat. Kategorien der Arbeitshaltung, wie "Pünktlichkeit" und "Eigeninitiative", lassen Rückschlüsse auf Interesse und Engagement des Jugendlichen zu. Häufige Krankmeldungen können darauf hinweisen, dass es entweder soziale Probleme im betrieblichen Umfeld gibt oder dass der Jugendliche mit den Inhalten und Anforderungen der ausgeübten Tätigkeiten unzufrieden ist.

Oft wird im Praktikumsverlauf deutlich, dass der Jugendliche die Tätigkeiten nicht wegen der Arbeitsinhalte sondern wegen des sozialen Umfeldes gerne macht. Dann ist ein weiteres Orientierungspraktikum in einem anderen Betrieb zur Überprüfung notwendig.

Ist der Berufswunsch realisierbar?

In der Praxis lässt sich diese Frage häufig nicht mit einem eindeutigen "Ja" oder "Nein" beantworten. Die Antwort ist das Ergebnis einer sorgsamen Abwägung zwischen den beruflichen Zielen des Jugendlichen und seinen Möglichkeiten, diese Ziele zu erreichen und benötigt oft viel Zeit.

Ein Berufswunsch ist dann unmittelbar realisierbar, wenn

  • das Anforderungsprofil des Berufes oder der beruflichen Tätigkeit mit dem Fähigkeitsprofil des Jugendlichen so weit übereinstimmt, dass ein gutes individuelles Passungsverhältnis erreicht werden kann,

  • Voraussetzungen wie beispielsweise Mindestalter, Schulabschluss oder eine vorgelagerte Berufsausbildung erfüllt werden.

Der Berufswunsch des Jugendlichen ist langfristig anzustreben und kann langfristig erreicht werden, wenn

  • für das Erlernen des gewünschten Berufes Schulabschlüsse vorliegen müssen, die der Jugendliche noch nicht nachweisen kann und für ihn grundsätzlich erreichbar erscheinen,

  • zum Einstieg in die gewünschte Ausbildung eine Berufsausbildung vorliegen muss oder erwartet wird, die der Jugendliche noch nicht absolviert hat und die für ihn grundsätzlich erreichbar erscheint,

  • wenn das für die Ausbildung im Wunschberuf oder zur Ausübung der gewünschten Tätigkeit vorgeschriebene Mindestalter vom Jugendlichen noch nicht erreicht wurde und

  • die Motivation des Jugendlichen hinreichend erscheint, um über die notwendige Zeitspanne hinweg das angestrebte Ziel zu verfolgen.

Erweist sich der Berufswunsch als modifizierbar?

Der Berufswunsch eines Jugendlichen kann auch langfristig nicht erreicht werden, wenn deutlich geworden ist, dass die Anforderungen des gewünschten Berufes auch nach intensiver und langandauernder Berufsvorbereitung die individuellen Fähigkeiten überfordern oder die berufsvorbereitende Qualifizierung selbst schon eine Überforderung darstellt, die mittels verfügbarer Unterstützungsleistungen nicht kompensierbar erscheint.

Ist der Berufswunsch langfristig nicht erreichbar, sollte er nicht gleich gänzlich verworfen werden. Vielleicht besteht die Möglichkeit, ihn zu modifizieren. Modifizieren bedeutet, dass mit dem Jugendlichen eine berufliche Perspektive entwickelt wird, die realisierbar ist und möglichst viele Aspekte (berufliche Interessen und Vorlieben) umfasst, die zum ursprünglichen Berufswunsch geführt und sich im Orientierungspraktikum bestätigt haben. So ist es beispielsweise möglich, dass nach dem Orientierungspraktikum in einer Autowerkstatt die Ausbildung zum Fahrzeugpfleger oder eine Anlerntätigkeit im Kfz-Bereich zum nicht erreichbaren Beruf des Kraftfahrzeugmechatronikers eine naheliegende, umsetzbare und erstrebenswerte Alternative bietet. Wenn es also im diagnostischen Dialog (siehe Kap. 3.1.3) gelingt, vorhandene Widersprüche im Verhältnis zwischen Berufsziel und beruflichen Möglichkeiten auf der Grundlage beruflicher Erfahrungen im angestrebten Berufsfeld auszubalancieren, hat sich der Berufswunsch als modifizierbar erwiesen. Es ist eine Frage des Einzelsfalls, ob der modifizierte Berufswunsch in einem betrieblichen Orientierungspraktikum nochmals überprüft werden sollte, um ihn zu bestätigen und als Bildungsziel in den Qualifizierungsplan des Jugendlichen aufzunehmen.

3.3 Berufsvorbereitende Bildungsbegleitung

Durch berufsvorbereitende Bildungsbegleitung werden junge Menschen mit besonderem Förderbedarf in Kooperation mit ihren Bildungseinrichtungen und Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarktes bei der Verbesserung ihrer beruflichen Fähigkeiten in dem von ihnen gewünschte n Berufsfeld unter stützt. Die Vorbereitung, Begleitung und Aus wertungbetrieblicher Qualifizierungsphasen sind dabei die zentralen Arbeitsschritte (siehe Abb. 10).

Abbildung 10: Ablaufsdiagramm zur berufsvorbereitenden Bildungsbegleitung

Vorbereitung betrieblicher Qualifizierungsphasen.

Das Ziel der betrieblichen Qualifizierung, die Fähigkeiten des Jugendlichen, sein Unterstützungsbedarf und Anforderungsbereiche, in denen es unter Umständen zu Problemen kommen kann, müssen ebenso bekannt sein wie die formalen Rahmenbedingungen der betrieblichen Qualifizierung (z. B. versicherungsrechtliche Bedingungen, Einschränkungen des Jugendschutzes, tägliche Qualifizierungszeit im Betrieb) bevor der Akquisitionsprozess startet. Auf dieser Grundlage werden Betriebe identifiziert, deren Geschäftsfeld voraussichtlich Inhaltsbereiche umfasst, die mit den beruflichen Wünschen und Fähigkeiten des Jugendlichen überein stimmen und die für ihn unter Berücksichtigung ggf. vorhandener Einschränkungen der Mobilität möglichst ohne fremde Hilfe gut erreichbar sind.

Die Ansprache eines Betriebes hängt wesentlich davon ab, ob bereits bewährte Kooperationsbeziehungen zum Betrieb bestehen. Ist dies der Fall, dann ist der betriebliche Ansprechpartner bekannt und man kann an positiven Erfahrungen anknüpfen. Handelt es sich um einen "neuen" Betrieb, dann geht es zunächst darum, Interesse für das Anliegen zu wecken und die Kooperationsbereitschaft des Betriebes zu ermitteln.

Stellt sich heraus, dass im angefragten Einzelfall eine Kooperationsmöglichkeit gegeben ist, dann sollte ein Termin für ein Vorstellungsgespräch mit dem Jugendlichen so vereinbart werden, dass hinreichend Zeit für die notwendigen Vorbereitungen mit dem Jugendlichen bleibt.

Führt diese Vorgehensweise zum gewünschten Ergebnis, wird ein Vertag abgeschlossen, in dem neben der Dauer des Praktikums die Rechte und Pflichten des Praktikanten und des Betriebes ebenso geregelt sind wie der Versicherungsschutz. Im negativen Fall geht es darum, die dabei erlittene Frustration gemeinsam mit dem Jugendlichen zu bearbeiten und zu klären, ob die weitere Suche nach einem betrieblichen Qualifizierungsplatz sinnvoll und machbar ist. Begleitung betrieblicher Qualifizierungsphasen

Der zur Begleitung der betrieblichen Qualifizierung erforderliche Aufwand hängt vom individuellen Unterstützungsbedarf des Jugendlichen ab. Dieser variiert erfahrungsgemäß erheblich.

Bei Jugendlichen, die den einfachen Hauptschulabschluss erreicht haben, sind regelmäßige Betriebsbesuche und Gespräche mit den betrieblichen Anleitern und den Jugendlichen zumeist ausreichend. Die Bildungsbegleitung kann sich auf diese Weise ein Bild von der Situation machen, den betrieblichen Anleiter bei pädagogischen Fragen beraten und bei der Lösung auftretender Probleme unterstützen.

Jugendliche mit sogenannter geistiger Behinderung benötigen hingegen in der Regel eine kontinuierliche Anleitung am Qualifizierungsplatz nach dem Konzept der Unterstützten Beschäftigung, um den Anforderungen betrieblicher Praktika gewachsen zu sein. Diese Anleitung kann nach dem Patenmodell von Betriebsangehörigen, der Bildungsbegleitung selbst oder von einer dritten Person übernommen werden.

Intervention ist immer dann notwendig, wenn Probleme auftreten, die den erfolgreichen Abschluss der Qualifizierung gefährden (z.B. Unpünktlichkeit oder Fehlzeiten, Überforderung oder Konflikte mit Kollegen). Allgemeingültige Rezepte zur Bearbeitung dieser und anderer Probleme gibt es nicht. Wichtig ist, dass die Bildungsbegleitung diese Probleme als Lehr-/Lerngelegenheiten versteht, die aus der betrieblichen Berufsvorbereitung resultieren und zur Normalität des Arbeitslebens gehören. Die Auseinandersetzung mit ihnen ist geeignet, insbesondere die überfachlichen beruflichen Fähigkeiten des Jugendlichen (Teamfähigkeit, Fähigkeit, Kritik anzunehmen und Kritik zu üben, Misserfolgstoleranz, Durchsetzungsfähigkeit) zu fördern.

Auswertung betrieblicher Qualifizierungsphasen

Die Auswertung erfolgt auf der Grundlage von Selbst- und Fremdeinschätzung der beruflichen Leistungen anhand von TOC (siehe Kap. 3.1.1) und FAIR (siehe Kap. 3.1.2). Im diagnostischen Dialog (siehe Kap. 3.1.3) mit dem Jugendlichen werden die unterschiedlichen Perspektiven aufeinander bezogen und die nächsten individuellen Qualifizierungsschritte geplant und vereinbart.

Kommt man zu dem Schluss, dass die beruflichen Fähigkeiten des Jugendlichen hinreichend entwickelt sind, um mein Beschäftigungs- oder betriebliches Ausbildungsverhältnis anzubahnen, dann gilt es, einen einstellungsbereiten Betrieb zu finden.

Kommt man zu dem Schluss, dass die berufsvorbereitende Qualifizierung fortzusetzen ist, dann sind die Ziele dieser Qualifizierung zu formulieren und Wege zu finden, mit denen diese erreicht werden können. Zeigt der Betrieb Bereitschaft, sich an der Qualifizierung des Bewerbers weiterhin zu beteiligen und entspricht der Qualifizierungsplatz den Wünschen, Vorstellungen und Fähigkeiten des Jugendlichen, ist die Grundlage für eine Kooperationsbeziehung geschaffen, die nach Maßgabe des Einzelfalls fortgesetzt und ausgebaut werden kann.

3.4 Entwicklung "guter Passungsverhältnisse"

Damit ein Jugendlicher dauerhaft und mit Zufriedenheit im Arbeitsleben Fuß fassen kann, müssen seine beruflichen Wünsche und Fähigkeiten mit den Inhalten und Anforderungen der angestrebten oder ausgeübten Tätigkeit hinreichend übereinstimmen. In diesem individuellen Passungsverhältnissen treten Differenzen auf, wenn

  • die Arbeitsaufgaben / Arbeitsinhalte den beruflichen Vorstellungen widersprechen,

  • die Arbeitsaufgaben und Tätigkeiten dauerhaft zu kleinteilig, zu einfach strukturiert, zu monoton oder zu isoliert sind und dadurch die individuellen Fähigkeiten und Kompetenzen unterfordern,

  • die betrieblichen Anforderungen nicht mit den individuellen Fähigkeiten und Kompetenzen vereinbar sind, weil sie diese überfordern,

  • es Probleme im sozialen Kontext der Arbeit bzw. dem sozialen Miteinander gibt, die sich aus personalen und/ oder organisatorischen Konstellationen im betrieblichen Alltag ergeben.

Es gibt Differenzen im individuellen Passungsverhältnis, die zur Normalität des Arbeitslebens gehören. Diese Art von Differenzen werden von den Akteuren (Jugendlicher, betriebliche Mitarbeiter, Bildungsbegleitung) akzeptiert bzw. hingenommen, weil sie nichts Besonderes sind und keine Gefährdung von ihnen ausgeht. In diesen Fällen sind die Differenzen tolerierbar.

Werden Differenzen von den Akteuren jedoch nicht akzeptiert, weil Motivationsprobleme oder Probleme persönlicher Verletztheit oder Betroffenheit den betrieblichen Integrationsprozess gefährden, dann sind sie nicht tolerierbar. Es muss nach Möglichkeiten gesucht werden, mit denen diese Differenzen ausgeglichen und ein gutes Passungsverhältnis entwickelt werden kann.

Differenz im individuellen Passungsverhältnis können durch

(1) Qualifizierungsmaßnahmen (z.B. Job-Coaching und außerbetriebliche Schulungen),

(2) Maßnahmen der Arbeitsgestaltung (z.B. Arbeitsvereinfachung oder Arbeitsbereicherung),

(3) technische Hilfen (z.B. Zählhilfen und Checklisten),

(4) finanziell Hilfe (z.B. Eingliederungszuschüsse gemäß SGB III) und

(5) Arbeitsassistenz gemäß SGB IX ausgeglichen werden. Qualifizierungsmaßnahmen haben gegenüber anderen Ausgleichsmaßnahmen Vorrang, weil der Jugendliche dadurch die größtmögliche Unabhängigkeit erreichen und den größtmöglichen persönlichen Beitrag zum Ausgleich festgestellter Differenzen im individuellen Passungsverhältnis leisten kann. Arbeitsassistenz ist gegenüber allen genannten Ausgleichsmöglichkeiten nachrangig. Sie ermöglicht zwar ein hohes Maß an Selbstbestimmung aber- nicht an Selbstständigkeit.

Entsprechend ist bei festgestellten und als nicht tolerierbar beurteilten Differenzen im individuellen Passungsverhältnis zunächst zu fragen, ob es möglich ist, diese Differenzen durch Qualifizierung auszugleichen. Erst wenn sich herausstellt, dass durch Qualifizierung nicht alle nicht tolerierten Differenzen ausgeglichen werden können, weil zum Ausgleich notwendigen Qualifizierungsmaßnahmen vom Jugendlichen oder vom Betrieb nicht akzeptiert werden oder weil dafür nicht genügend Zeit vorhanden ist oder die finanziellen Mittel fehlen, soll geprüft werden, ob die verbliebenen Differenzen anderen Möglichkeiten des Ausgleichs soweit behoben werden können, dass sie in einem hinreichend guten in einem hinreichend guten Passungsverhältnis tolerierbar sind. Gelingt dies nicht, dann ist der betriebliche Qualifizierungs-, Ausbildungs- oder Arbeitsplatz für den Jugendlichen nicht geeignet.

Abbildung 11: Ablaufsdiagramm zur berufsvorbereitenden Bildungsbegleitung

3.5 Bildungsbegleitung im betrieblichen Ausbildungsverhältnis

An der Berufsausbildung von Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf sind unterschiedliche Institutionen (Betriebe, überbetriebliche Werkstätten, Berufsschulen, Trägerausbildungsbegleitende Hilfen (abH), Innungen und Kammern, Arbeitsagenturen) und Personen beteiligt. Die Aufgabe der Bildungsbegleitung besteht darin, die Aktivitäten dieser Institutionen und Personen so zu koordinieren, dass sie als tragfähiges Unterstützungssystem zum Erfolg der Berufsausbildung beitragen. Probleme, die den Erfolg der Ausbildung gefährden, müssen erkannt und gelöst, Prüfungen vorbereitet, begleitet und ausgewertet werden. Sollte der Gesellen- oder Facharbeiterbrief nicht erreicht werden, können Teilqualifikationen zertifiziert werden. Das Flussdiagramm der Abbildung 12 bietet dazu einen Gesamtüberblick.

Probleme erkennen und lösen

Nachdem die Formalitäten zur Aufnahme der Ausbildung (u.a. Eintragsbestätigung des Berufsausbildungsverhältnisses und Anmeldung bei der Berufsschule) geklärt und ausbildungsbegleitende Hilfen (abH) gemäß SGB III beantragt wurden, müssen Informationen zum Verlauf der Ausbildung regelmäßig eingeholt, ausgewertet und weitergeleitet werden. Wichtige Informationsquellen sind das Berichtsheft des Auszubildenden, die Ergebnisse der Klassenarbeiten, das Ergebnis der Zwischenprüfung und nicht zuletzt die Gespräche mit Berufsschullehrern, Anleitern oder Ausbildern und dem Stützlehrer der abH.

Bildungsbegleitung ist insbesondere dann gefordert, wenn Probleme auftauchen, die den erfolgreichen Abschluss der Ausbildung gefährden. Dies ist unter anderem der Fall, wenn

  • der Rollenwechsel vom Praktikanten zum Auszubildenden nicht erfolgreich vollzogen wird. Jugendliche mit besonderem Förderbedarf benötigen dazu häufig mehr Zeit und Unterstützung,

  • es dem Auszubildenden in den ersten Monaten der Ausbildung nicht gelingt, sich auf die neuen vielfältigen Anforderungen einzustellen, und damit das erfolgreiche Bestehen der Probezeit gefährdet ist,

  • außergewöhnliche Belastungssituationen im Betrieb auftreten (z. B. Wechsel der Bezugspersonen, einschneidende Veränderungen des Aufgabenbereichs, besonderer wirtschaftlicher Druck im Betrieb),

  • die Anforderungen in der Berufsschule nicht bewältigt werden,

  • die persönliche Situation des Auszubildenden Unterstützung erfordert (z. B. finanzielle Schwierigkeiten, ungeklärte Wohnsituation, Beziehungsprobleme, zusätzliche Anforderungen, wie die Vorbereitung auf den Führerschein).

Bei der Analyse von Problemen sollte die Bildungsbegleitung darauf achten, welche Probleme von den beteiligten Personen selbst gemeistert werden können und wann Unterstützung notwendig ist. Für viele Probleme, vor allem für solche, die für die Beteiligten erstmalig auftreten, gibt es keine fertigen Lösungen. Häufig ist es erforderlich, unkonventionelle Wege zu beschreiten.

Prüfungen vorbereiten, begleiten

In jeder Berufsausbildung findet nach dem ersten oder inner halb des zweiten Lehrjahres eine Zwischenprüfung statt. Am Ende einer jeden Ausbildung steht die Abschlussprüfung. Beide Prüfungen werden von der zuständigen Kammer oder Innung durchgeführt und bestehen aus einem theoretischen und einem praktischen Teil. Damit Jugendlichen mit so genannter Lernbehinderung der Abschluss in Ausbildungsberufen gemäß § 4 BBiG und § 25 HwO gelingt, ist auch die intensive Vorbereitung darauf nicht immer hinreichend. Es hat sich als notwendig erwiesen, dass

  • der Auszubildende von einer pädagogisch kompetenten Person in der Prüfung begleitet wird,

  • Zeitverlängerung in der Prüfung gewährt wird,

  • Wissensprüfung anhand konkreter Arbeitsmaterialien (statt Abbildungen reale Gegenstände) erfolgt.

Abbildung 12: Ablaufsdiagramm zur Bildungsbegleitung im Ausbildungsverhältnis

Das Berufsbildungsgesetz (BBiG) ermöglicht Jugendlichen mit Behinderung die Durchführung einer theorieverminderten Ausbildung nach § 66 BBiG oder nach § 42m der Handwerksordnung (HwO). Ergänzend dazu wurde eine Grundlage zur Beantragung besonderer Prüfungsbedingungen mit § 65 BBiG bzw. § 42l HwO geschaffen. Für Vollausbildungen nach § 4 BBiG bzw. § 25 HwO gibt es keine entsprechenden Regelungen im BBiG oder in der HwO. Dennoch ist es auch bei Vollausbildungen gelungen, in Anlehnung an § 65 BBiG oder § 42l HwO einen Antrag auf Nachteilsausgleich erfolgreich zu stellen und besondere Prüfungsbedingungen für Auszubildende mit so genannter Lernbehinderung umzusetzen.

Nach der ersten Teilnahme an der Abschlussprüfung kann der Auszubildende, sofern er die Prüfung nicht bestanden hat, diese sowohl im Ganzen als auch in Teilen (praktischer oder theoretischer Teil) zweimal wiederholen. Die erste Wiederholung findet ungefähr nach einem halben Jahr und die zweite Wiederholung gegebenenfalls nach einem weiteren halben Jahr statt. Somit kann die Ausbildungszeit auf Anfrage des Auszubildenden bei der zuständigen Innung oder Kammer maximal um ein Jahr verlängert werden. Für diese Zeit besteht ein Rechtsanspruch auf Weiterbeschäftigung im Ausbildungsverhältnis, die zur Nachqualifizierung genutzt werden kann.

Teilqualifikationen zertifizieren

Vor allem im Handwerk, aber auch in anderen Berufsausbildungen, kommt es vor, dass ein Auszubildender zwar die praktische Prüfung besteht, aber den theoretischen Teil auch in der zweiten Wiederholung nicht. Die zuständige Innung oder Kammer zertifiziert in diesem Fall das Bestehen der praktischen Prüfung als Teilqualifizierung. Im Handwerk wird dies umgangssprachlich "kleiner Gesellenbrief" genannt.

Im Jahr 2002 wurde mit § 50 (jetzt § 68) die Berufsausbildungsvorbereitung als integraler Bestandteil in das Berufsbildungsgesetz aufgenommen. Teilqualifikationen können durch Qualifizierungsbausteine gemäß Berufsausbildungs-Vorbereitungs-Bescheinigungsverordnung (BAVBVO) zertifiziert werden. Für einige Berufe liegen bereits Qualifizierungsbausteine vor, mit denen auch in der Berufsausbildung erworbene Teilqualifikationen nachgewiesen werden können.

In jedem Fall hat der Auszubildende Anspruch auf ein durch den Ausbildungsbetrieb erstelltes Zeugnis.



[5] Siehe hierzu: Radatz, Joachim; Ginnold, Antje (2003). Die Bedeutung von Selbst-und Fremdeinschätzung im beruflichen Interaktionsprozess. In: Feuser, Georg (Hg.). Integration heute - Perspektiven ihrer Entwicklung in Theorie und Praxis. Frankfurt/Main: S. 237-255. Im Internet: http://www.feuser.uni-bremen.de/texte/Ginnold_Radatz%20_b.pdf

Projekte für junge Menschen mit Lernschwierigkeiten im Übergangsfeld

Logo: Koala

KOALA (Kooperationsverbund für Ausbildung, Lernen und Arbeiten) ist die Bezeichnung für einen betriebsintegrierten Förderlehrgang in Berlin. "Betriebsintegriert" bedeutet, dass die Qualifizierung der Teilnehmer/-innen nicht nur an den Qualifikationsanforderungen eines Berufsfeldes ausgerichtet ist, sondern dass der Qualifizierungsprozess in die Arbeitszusammenhänge von Wirtschaftsbetrieben des allgemeinen Arbeitsmarktes eingebettet ist. KOALA richtete sich an Jugendliche und junge Erwachsene mit Lernschwierigkeiten, die nach den Definitionen der Bundesagentur für Arbeit "aufgrund der Art oder Schwere ihrer Behinderung -zumindest derzeit -... für eine Berufsausbildung ... nicht in Betracht kommen" und "durch eine Beschäftigung in einer Werkstatt für Behinderte unterfordert wären".

Die Finanzierung erfolgt durch den Europäischen Soziafonds, die Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz und die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport.

Logo: Mobile

Bei MOBILE handelt es sich um einen betrieblichen Qualifizierungs- und Ausbildungsverbund für junge Menschen mit sog. Lernbehinderung.

Die Auszubildenden schließen ihre Ausbildungsverträge direkt mit den Wirtschaftsbetrieben ab. MOBILE ist ein Verbund gleichberechtigter Kooperationsbetriebe, die sich wechselseitig unterstützen.

In der zweiten Modellphase (Laufzeit bis 31.12.2006) werden von MOBILE 30 Ausbildungsverhältnisse unterstützt. Die Finanzierung erfolgt durch den Europäischen Sozialfonds, die Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz und die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport.

Logo: SprungBrett

Das Projekt SprungBRETT begleitet seit 1999 Jugendliche und junge Erwachsene mit Lernschwierigkeiten im Übergangsfeld zwischen Schule und Beruf. Es handelt sich dabei um ein ambulantes Unterstützungsangebot, das ressourcenorientiert, betriebsnah und auf¬suchend arbeitet.

Die Finanzierung erfolgt durch den Europäischen Sozialfonds und die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport.

BVQB

Berufsvorbereitung mit Qualifizierungsbausteinen

BVQB ist eine freiwillige berufsqualifizierende Maßnahme im 11. Schuljahr, in der neue Formen der beruflichen Qualifizierung in der Zusammenarbeit zwischen Berufsschulen, Betrieben und freien Bildungsträgern umgesetzt und erprobt werden.

Die Finanzierung erfolgt durch den Europäischen Sozialfonds, das Bundesministerium für Bildung und Forschung und die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport.

Plakat: LOS Qualifizierungsprojekt

Die betriebliche Integration von jungen Menschen mit Lernschwierigkeiten wurde bislang fast ausnahmslos in kleinen Betrieben realisiert. Großbetriebe sind weitestgehend unbeteiligt geblieben, gleichwohl ihr Integrationspotenzial aufgrund ihrer Größe aussichtsreich erscheint.

Vor diesem Hintergrund führten wir von Mai 2003 bis August 2004 in Kooperation mit den Berliner Stadtreinigungsbetrieben (BSR), der Firma DB-Services und der Loschmidt-Oberschule (LOS) das betriebsintegrierte Qualifizierungsprojekt "Gemeinsam schaffen wir das!" durch.

Der zweite Projektdurchlauf startete unter Einbeziehung von weiteren großen Betrieben im August 2005. Die Finanzierung erfolgt gemäß SGB VIII §

13.2 und durch den Europäischen Sozialfonds.

LernOrtKooperation

Betriebsintegrierter Berufsbildungsbereich für Menschen mit Behinderungen. Ein Modellprojekt von Werkstätten für behinderte Menschen in Berlin, Betrieben und der ISB gGmbH

LOK ist eine Gemeinschaftsinitiative von Werkstätten für behinderte Menschen in Berlin, Berliner Betrieben und der ISB gGmbH, um Beschäftigte aus der Werkstatt in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse des allgemeinen Arbeitsmarktes überzuleiten.

Betriebe des allgemeinen Arbeitsmarktes stellen den Lernort zur fachpraktischen Qualifizierung bereit, die ISB gGmbH den zur Qualifizierung in Theorie. Die Plätze der WfbM werden zum Training spezifischer fachlicher Fähigkeiten genutzt, wenn dies in den Kooperationsbetrieben nicht möglich ist.

Das Projekt hat im Juni 2004 begonnen. Die Finanzierung erfolgt durch den Europäischen Sozialfonds, die Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz und die Bundesagentur für Arbeit.

Kontakt:

Wir freuen uns über Ihre Hinweise, Anregungen und Kritik. Bitte schreiben Sie an Joachim Radatz. E-Mail-Adresse: a-radatz@isb-berlin.de

Quelle:

Joachim Radatz, Ferdinand König, Martina Bausch, Charlotte Petri, Gabriele Humpert-Plückhahn: Arbeitsweltbezogene Bildungsbegleitung im Übergangsfeld zwischen Schule und Beruf

erschienen in: impulse Nr. 36, Dezember 2005, Seite 23 - 33.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 17.10.2007

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