Projektbericht Qualifizierungslehrgang für nichtsprechende Menschen mit Autismus

Themenbereiche: Arbeitswelt
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: impulse Nr 29, Mai 2004, Seite 14 - 17 impulse (29/2004)
Copyright: © Ulla Güthoff, Danja Moldenhauer 2004

Zur Vorgeschichte des Lehrgangs

Inhaltsverzeichnis

Die Initiative für die Entwicklung dieses Lehrgangs ging von Eltern nichtsprechender junger Erwachsener mit autistischer Behinderung aus. Ihre Söhne sind mit einem jungen Autisten befreundet, der in Gießen die Möglichkeit hatte in Einzelförderung den Hauptschulabschluss zu machen. Sie äußerten über FC (Gestützte Kommunikation) den Wunsch auch einen Hauptschulabschluss machen zu wollen; "...Hunger nach Bildung...", wie ein Teilnehmer schrieb. Ihre intellektuellen Fähigkeiten waren während ihrer schulischen Laufbahn weitgehend unerkannt geblieben und konnten erst in den letzten Jahren aufgedeckt werden. Die angestrebte dreijährige Qualifizierungsmaßnahme ist der Versuch, für diesen Personenkreis mittels gestützter Kommunikation sowohl schulische Bildungsdefizite auszugleichen (ggf. bis hin zum Hauptschulabschluss) als auch eine adäquate Berufsvorbereitung zu leisten, die es ermöglicht, einen angemessenen - bislang noch unbestimmten Platz - in der Arbeitswelt zu finden.

Bevor der Lehrgang in seinen Strukturen und Inhalten näher dargestellt wird, vorab eine kurze Einführung zu Merkmalen des Autismus, die speziell hier in unserem Lehrgang auftauchen bzw. Beachtung finden müssen. Daran anschließend folgt noch ein kurze Einführung zur Methode der Gestützten Kommunikation, mit der wir in unserem Projekt arbeiten. Im letzten Teil des Artikels beschreiben wir unsere gegenwärtige Situation.

Autismus

Zu den besonderen Merkmalen von Autismus gehört u.a.:

  • Schwierigkeiten in der Kommunikation und Kontaktaufnahme. Unsere Teilnehmer benutzen alle keine oder nur wenig verbale Sprache.

  • Schwierigkeiten bei Veränderungen (von Räumen, Personen, Tagesablauf usw.)

  • Schwierigkeiten, Gefühle zu verstehen

  • Schwierigkeiten, Motive und Absichten bei anderen zu erkennen.

Aufgrund dieser Schwierigkeiten entwickeln Autisten häufig besondere Rituale und Stereotypien. Diese dienen einerseits dazu, eine für sie unangenehme oder unklare Situation (z.B. durch Reizüberflutung) für sie erträglich zu machen, andererseits aber auch dazu, sich selbst zu spüren, da sie häufig auch eine erhebliche Wahrnehmungsstörung für das eigene Körperempfinden haben.

Diese Stereotypien und auch zum Teil daraus resultierendes nicht angepasstes Verhalten einerseits zu verstehen und zu akzeptieren, gleichzeitig auch im Umgang klare Strukturen zu setzen, gestaltet die Situation nicht immer ganz einfach. Es müssen mit den Jugendlichen die Schwierigkeiten angesprochen werden und nach anderen Lösungen gesucht, Vorschläge angebahnt und erprobt werden.

Durch die Möglichkeit mit gestützter Kommunikation zu schreiben, ergeben sich Alternativen. Es ist zu bemerken, dass Stereotypien und vor allem unangepasstes Verhalten durch die Kommunikation und durch das Wahrgenommenwerden auf einer anderen, erwachseneren Ebene erheblich zurückgehen.

Daneben gibt es bei Autisten häufig Besonderheiten

  • in der visuellen Wahrnehmung (peripheres Sehen) und

  • akustischen Wahrnehmung (Überempfindlichkeit beim Hören) sowie

  • Handlungsblockaden.

Diese Besonderheiten sind sowohl in der Unterrichtssituation als auch im allgemeinen Umgang mit ihnen stets zu berücksichtigen. Dies erfordert eine besonders deutliche und klare Struktur des Tagesablaufs und eine besondere Unterrichtsvorbereitung.

Gestützte Kommunikation

Die Teilnehmer sind alle nichtsprechend. Obwohl drei auch wenige Worte benutzen, ist es nicht möglich, die Sprache als verlässliches Kommunikationsmittel einzusetzen.

Wir arbeiten daher mit der Methode der Gestützten Kommunikation, einer Methode, die vor knapp zwanzig Jahren in Australien entwickelt wurde für Menschen, die keine verbale Sprache und auch keine Gebärdensprache benutzen.

Diese Methode berücksichtigt, dass Autisten häufig aufgrund von Handlungsblockaden nicht in der Lage sind, selbstständig eine PC-Tastatur zu betätigen. Eine stützende Person berührt den Schreibenden leicht an Hand/Unterarm/Ellenbogen, um so den Impuls zugeben, auf die Tastatur zu zeigen.

Neben dieser physischen Stütze ist die psychische Stütze ebenso wichtig, da Autisten sich nur für einen sehr kurzen Zeitraum auf eine Aufgabe konzentrieren können. Sie benötigen ständig eine Aufforderung von außen, sich wieder auf ihre Arbeit einzulassen und sich nicht von äußeren Reizen oder ihrem Innenleben ablenken zu lassen.

Die Rahmenbedingungen und Ziele des Lehrgangs

Die Lebenshilfe Gießen ist Träger der Behindertenhilfe und unterhält vielfältige Einrichtungen und Dienste zur Betreuung behinderter Menschen. Für das Projekt hat die Lebenshilfe eine Kooperation mit dem Institut für Berufs- und Sozialpädagogik (IBS) in Gießen vereinbart. Das IBS ist Träger von Bildungsmaßnahmen für benachteiligte Jugendliche und bietet unter anderem Kurse zur nachträglichen Erlangung des Hauptschulabschlusses an. IBS verfügt sowohl über das fachliche Wissen im Bereich der schulischen Bildung, als auch über die notwendigen Lehrkräftekapazitäten.

Basierend auf den Erfahrungen von Berufsvorbereitungslehrgängen einerseits und dem erfolgreichen Umgang mit autistisch behinderten Menschen, die im Rahmen von gestützter Kommunikation in den Wohnstätten der Lebenshilfe Gießen gefördert werden, sind bei der vorliegenden Planung beide Erfahrungsfelder miteinander kombiniert und auf den beschriebenen Personenkreis übersetzt.

Nach einer Vorstellung dieses Projektes in der örtlichen Zeitung meldeten sich noch weitere interessierte Eltern und Betreuer aus verschiedenen Einrichtungen, so dass im November 2002 der Lehrgang beginnen konnte.

Die Teilnehmer

Wir arbeiten in unserem Projekt mit sechs jungen Männern im Alter von 17 und 23 Jahren. Sie besuchten alle eine Schule für praktisch Bildbare in Gießen bzw. Wetzlar. Drei der Teilnehmer kamen direkt aus den Schulen zu uns, zwei andere Teilnehmer hatten bereits eine Zeit in der Tagesförderstätte verbracht. Ein Teilnehmer hatte nach Beendigung der Schulzeit ein Jahr zu Hause verbracht, mit vielen Schwierigkeiten für die Familie, die eine solche wenig strukturierte Zeit mit sich bringt.

Alle Teilnehmer hatten Vorerfahrungen mit FC, einer erst seit einigen Monaten, die meisten aber bereits über einige Jahre. Bis zu dem Zeitpunkt, zu dem sie mit FC zu schreiben begannen, galten alle Jugendlichen als geistig behindert. Erst die Arbeit mir FC machte deutlich, dass dies nicht zutreffend ist.

Über die Schulerfahrung hinaus besucht ein überwiegender Teil der Teilnehmer einmal wöchentlich eine Therapiestunde mit FC.

Die Empfehlung an diesem Lehrgang teilzunehmen kam sowohl durch die Lehrer, die Eltern, die Betreuer aus der Heimunterbringung, als auch durch die Therapeutin.

Die Jugendlichen zeigten sehr unterschiedliche Ausmaße an auto- oder fremdaggressivem Verhalten, an Schwierigkeiten sich einem sozialen Umfeld anzupassen. Hierzu gehören heftiges Schreien, sich schlagen, den Kopf an die Wand schlagen, an den Haaren ziehen, sich auf den Boden schmeißen, Essen klauen. Diese Verhaltensweisen gibt es immer noch, aber in deutlich geringerem Ausmaß und sind ebenfalls leichter zu unterbrechen.

Drei unserer Jugendlichen sprechen gar nicht, einer benutzt einige Worte wie Klo, essen, kitzeln..., zwei andere sprechen deutlich mehr, jedoch wird die Sprache häufig echolalisch eingesetzt, bzw. nur in sehr begrenztem Umfang und auch dabei, in sich täglich wiederholenden Sequenzen, kommunikativ.

Die Räumlichkeiten

Dem Lehrgang steht ein Unterrichtsraum zur Verfügung der nach Möglichkeit in verschiedene Bereiche untergliedert wurde. Der größte Teil der Raumes bildet ein aus Tischen gestelltes Viereck an dem jeder Teilnehmer einen mit PC ausgestatteten Arbeitsplatz hat. Frontal hinter dem Lehrerpult befindet sich ein Tafel. Daneben gibt es eine Pausenzone, die durch einen Vorhang und anders farbigen Fußboden vom Rest des Raumes optisch getrennt wurde. Hier steht ein Sofa (der heimliche Mittelpunkt des Lehrgangs), ein Tisch an dem gespielt, gemalt, gearbeitet werden kann und ein Bücherregal, mit Büchern und Spielen von Mitarbeitern und Teilnehmern bestückt, sowie eine Garderobe.

Ein zweiter Raum steht für die Musiktherapie, für Einzelgespräche und als Rückzugsraum zur Verfügung.

Je nach Belegungsplan steht uns in aller Regel zusätzlich eine voll ausgestattete Küche zur Verfügung, in der wir Frühstücken und Mittagessen oder eben auch Kochen können. Der Essplatz ist ein großer rechteckiger Tisch mit Eckbank an dem alle Teilnehmer und Mitarbeiter essen.

Lehrgangsstrukturen

Der Lehrgang beginnt morgens um 8 Uhr und endet um 15 Uhr. Von 8.00 bis 9.45 und von 10.30 bis12.45 Uhr findet schulischer Unterricht zur Vorbereitung auf die Hauptschulabschluss-Prüfung und die berufliche Eingliederung statt. Von 12.45 bis 14.00 ist Mittagessen und kurze Pause, von 14.00 bis 15.00 u.a. eine Förderung der persönlichen Kompetenzen. Einmal in der Woche fahren wir am Warmbadetag zum Schwimmen ins Hallenbad.

Wöchentlich haben die Teilnehmer die Möglichkeit an einer Stunde Musiktherapie teilzunehmen. Dieses Angebot wird von allen gerne angenommen und zum Teil auch regelrecht eingefordert.

Im zweiten Jahr wird verstärkt die berufliche Qualifizierung im Vordergrund stehen. Der Unterricht zur Vorbereitung auf die Hauptschulabschluss-Prüfung wird fortlaufend angeboten, jedoch in zeitlich geringerem Maß. Angestrebt sind erste Praktikumbesuche für Einzelne zur Mitte des Jahres. Das Sportangebot wird ausgeweitet. Die Musiktherapie wird weiter fortgesetzt. Einmal wöchentlich wird selbst gekocht.

Strukturgebendes Element TEACCH

Mit dem Einsatz von Strukturierungselementen aus dem TEACCH-Konzept, versuchen wir den Teilnehmern soviel Vorhersehbarkeit über den Lehrgangsverlauf wie möglich und wie nötig zu geben.

So gibt es neben dem täglich wechselnden Stundenplan einen sog. Stützerplan, aus dem die Teilnehmer entnehmen können, wer sie am aktuellen Tag stützen wird. Ferner gibt es einen Wochenplan an der Pinnwand, aus dem die Wochenarbeitszeiten der Stützer zu sehen sind. Auch hängt dort ein Essensplan, aus dem die täglich wechselnden Mittagsgerichte zu entnehmen sind. Diese Elemente werden laut Rückmeldung der Teilnehmer wahrgenommen und gelesen. Für uns ist das Wahrnehmen der Pläne durch Einzelne sichtbar, bei anderen konnten wir das noch nicht bemerken, was nicht heißt, dass sie die Pläne nicht für sich nutzen.

Die angeführten Elemente dienen auch der Orientierung der Stützer, die zum Teil in der Hälfte des Tages (11.30 Uhr) wechseln.

Für einen Teilnehmer, der besonders viel kleinstrukturierte Orientierung braucht, gibt es einen Tagesplan nach TEACCH der im 20 minütigen Rhythmus gesteckt wird.

Ein weiteres Element, welches im TEACCH-Ansatz Verwendung findet, sind die TimeTimer. Dies sind Uhren (Kurzzeitwecker) mit einem flexibel verstellbaren Zeitfenster, das mit Ablaufen der eingestellten Zeit sichtbar abläuft. Mit dieser Hilfe teilen wir die Arbeitszeit der uns zur Verfügung stehenden Stützer gerecht zwischen zwei Schreibern ein. Die Arbeit mit den TimeTimern muss wohl als Kompromiss angesehen werden, der zur Zeit von den Schreibern gut angenommen werden kann, obwohl sie sich längere Arbeitsphasen wünschen.

Mitarbeiter

MitarbeiterInnen im Projekt sind:

  • zwei Lehrgangsleiterinnen, die neben ihrer beruflichen Qualifikation jahrelange Erfahrung in der Berufs- und Hauptschulabschlussvorbereitung mit benachteiligten Jugendlichen haben. Sie sind verantwortlich für die inhaltliche und organisatorische Gestaltung des Lehrgangs sowie die Durchführung des Unterrichts und der Berufsvorbereitung. Eine der zwei Lehrgangsleiterinnen ist ausgebildete Musiktherapeutin.

  • eine Heilerziehungspflegerin, die den Nachmittag inhaltlich gestaltet und leitet

  • Stützer, die aus verschiedenen beruflichen Bereichen kommen. Zur Zeit arbeiten im Projekt u.a. ein Zivildienstleistender, StudentInnen der Heil- und Sonderpädagogik, eine Diplom Pädagogin

  • ein Mann der ein freiwilliges Soziales Jahr leistet. Er begleitet die Teilnehmer in den Pausenzeiten, ist an der täglichen Versorgung beteiligt und unterstützt den Lehrgang dort wo es nötig ist.

  • Fahrer, die im Fahrdienst tätig sind.

Unterricht

Im Bereich des Hauptschul-Unterrichtes wird in den Fächern Deutsch, Mathematik, Biologie, Ernährungslehre und Erdkunde unterrichtet. Dies sind auch die Schwerpunktfächer, in denen letztlich eine Hauptschulabschlussprüfung erfolgt. Ebenso entsprechen die Unterrichtseinheiten den Rahmenlinien der Hauptschule.

Allerdings muss bedacht werden, dass der Unterricht mit FC relativ langsam vonstatten geht. Andererseits ist bisher zu beobachten, dass in den meisten Fächern auch Inhalte angeboten werden können, die über das Niveau der externen Hauptschulabschlusslehrgänge hinaus gehen, da ein häufiges Üben von Inhalten offensichtlich nicht notwendig ist.

Schwierigkeiten gibt es jedoch in den Bereichen, in denen freies Schreiben gefordert ist. Dies macht sich vor allem im Fach Deutsch bemerkbar, wenn es um das Schreiben von Berichten, Bildergeschichten und Aufsätzen geht. Hier besteht noch Bedarf an Erfahrung und Übung.

Ebenso müssen Prüfungssituationen eingeübt werden. Dazu wird wiederholt auf die Notwendigkeit hingewiesen, auch bereits Gelerntes und Bekanntes neu zu produzieren.

- Schwimmen/Sport

Für alle ist Bewegung ein wichtiges Element. Einmal wöchentlich bieten wir als Sportangebot Schwimmen an. Dies wird von den meisten Teilnehmern sehr geschätzt. Es fördert nicht nur ihre Beweglichkeit, sondern wirkt sich auch positiv auf ihr Gesamtverhalten aus.

Erweitert wird das Sportangebot mit einem Besuch einer Turnhalle am Nachmittag sowie einem zusätzlichen Angebot von Krafttraining und Gymnastik.

- Musiktherapie

Jeder Jugendliche hat wöchentlich Gelegenheit an Musiktherapie teilzunehmen. Hier gibt es die Möglichkeit, sich auf nichtsprachlicher Ebene auszudrücken.

Musik ist nicht an kognitive Fähigkeiten gebunden und gibt einen Raum für Gefühle und Befindlichkeiten. Die Musiktherapie findet als freie Improvisation und ungestützt statt und ermuntert die Jugendlichen so auch ihre spontanen Äußerungen und Verhalten zu entwickeln und sich nicht nur auf gestützte Kommunikation und gestütztes Handeln zu konzentrieren. Bei manchen Teilnehmern ist zu beobachten, dass das spontane Handeln sehr verschüttet ist und erst hervorgelockt werden muss

Musik als freie Improvisation ist keinen äußeren Gesetzen unterworfen, hier gibt es kein richtig oder falsch, sondern ein Sein.

Gleichzeitig kann durch Rhythmus und Melodie eine Struktur gegeben werden ohne dabei einzuschränken.

Die meisten nehmen dieses Angebot gerne an, jeder auf seine Art. Manche freuen sich im musikalischen Spiel, andere brauchen viele Vorgaben/Strukturen, an denen sie sich orientieren, manche nutzen auch die Situation, sich in Entspannung und Erholung zu begeben und die Musik nur zu hören, oder auch die haptische Erfahrung an den Händen durch die Schlegel oder das Trommelfell zu genießen.

- Nachmittag

Der Nachmittag dient sowohl zu lebenspraktischen Übungen, aber auch zu Entspannung und Erholung.

Nach dem gemeinsam eingenommenen Mittagessen gibt es einen kurzen Spaziergang. Stadtbummel, einkaufen gehen, Gartenprojekt, kochen, Museumsbesuch sind einige Aktivitäten, die den Nachmittag bereichern.

Ziele des Lehrgangs

Ziele des Lehrgangs sind, Lern- und Bildungsprozesse zu initiieren, um den mehrfach benachteiligten jungen Erwachsenen theoretisch und praktisch - durch Erprobungsphasen - die Möglichkeit zu bieten, einen angemessenen Platz in der Arbeitswelt zu finden. Hierfür werden ihnen berufliche Grundkenntnisse und Fertigkeiten vermittelt, die sie in die Lage versetzen sollen, ihre Neigungen zu klären und eine Berufswahlentscheidung herbei zu führen. Darüber hinaus soll eine verbesserte Allgemeinbildung einen berufsqualifizierenden Charakter erfahren, der ihre Integrationschancen erhöht.

Im Bereich der persönlichen Fähigkeiten legen wir besonderes Gewicht auf eine situationsangemessene Kommunikation und Selbststeuerung, sowie insgesamt - als unabdingbare Voraussetzungen für eine Einmündung in die Arbeitswelt - geht es um die Vermittlung von Schüsselqualifikationen .

Nachfolgend einige Beispiel für angestrebte Ziele:

  • Die Förderung sozialer Kompetenzen wie z.B. Grenzen des Gegenüber respektieren, Selbstkontrolle trainieren (z.B. man klaut kein Essen vom Teller des Nachbarn), Training von Impulskontrolle (z.B. nicht plötzlich wegrennen), sozialverträgliche Kontaktanbahnung lernen/üben (z.B. nicht an Haaren ziehen, Kopf riechen nicht überfallartig durchführen)

  • Eine Begleitung im Erwachsenwerden, z.B. Sexualaufklärung, persönliche Perspektiven bzgl. Wohnen, Arbeiten, Gesellschaft besprechen. Hilfestellung anbieten.

  • Angestrebt und praktiziert wird ein Umgang zwischen Teilnehmenden und Mitarbeitern der das Selbstbewusstsein der Jugendlichen stärkt sowie ihr sensibles Selbstbild und ihren Selbstwert fördert.

  • Die Förderung der Selbständigkeit im Kommunizieren, z.B. Erweiterung des Sprachschatzes soweit möglich, Erlernen von Handzeichen nach Mühl. In bezug auf die gestützte Kommunikation heißt eine Förderung der Selbständigkeit, dass die Teilnehmer mit verschiedenen Personen schreiben lernen (mindestens vier verschiedene Personen pro Woche - im Laufe der Zeit eher mehr), dass "so wenig Stütze wie möglich und nur so viel wie nötig" gegeben wird, es wird ständig am Ausblenden der Stütze gearbeitet, dass die Teilnehmer lernen Fragen zu beantworten, deren Inhalt sie vielleicht nicht beantworten wollen, weil er zu leicht, zu langweilig , zu oft wiederholt wurde o.ä..

Evaluierung

Das Projekt wird von Frau Dr. phil. Lang von der Universität Marburg begleitet. Im Rahmen ihrer studentischen Vorlesungsreihe an der Uni Gießen wurden bzw. werden im Rahmen des vorgestellten Projekts verschiedene Examensarbeiten und eine Diplomarbeit vergeben. Ein Teil der Arbeiten ist so konzipiert, dass sie im ersten Jahr des Lehrgangs geschrieben werden und somit den Ist-Stand der Ziele und der Fähigkeiten der Teilnehmer sowie der Begleitpersonen erheben. Zur Überprüfung des Erreichens der angestrebten Ziele im Hinblick auf die Inhalte des Lehrgangs und der Entwicklung der Teilnehmer werden im dritten Jahr nochmals eine Reihe von Diplomarbeiten mit ähnlichen Inhalte geschrieben werden.

Von den Projektleiterinnen wird ein jährlicher Entwicklungsbericht über den Fortgang des Lehrgangs für jeden einzelnen Teilnehmer ans zuständige Arbeitsamt gesendet.

Lehrgangsintern wird der tägliche Tagesverlauf von den Projektleiterinnen für jeden einzelnen Teilnehmer in Stichpunkten protokolliert, besondere Vorkommnisse festgehalten und Entwicklungen notiert.

Die Stützer werden angehalten in regelmäßigen Abständen sog. "Stützer-Protokolle" zu schreiben.

Neben der Verschriftlichung der Ergebnisse wird während des Lehrgangs in regelmäßigen Abständen gefilmt und fotografiert. Die Auswertung des Filmmaterials hat in erster Sitzung mit unserer FC-Ausbilderin (Frau Lachenmaier) mit dem Fokus auf die Entwicklung der Stützer begonnen.

Gegenwärtige Situation

Im ersten Jahr dieses Projekts konnten dessen sechs Teilnehmer erhebliche Fortschritte erzielen. Nach und nach hat sich eine zunehmend konzentrierte Arbeitsatmosphäre entwickelt. Wir können feststellen, dass alle Teilnehmer hinsichtlich ihres kognitiven Leistungsstandes in der Lage sind die Hauptschulabschluss-Prüfung zu bestehen.

Die in der Wissenschaft nicht unumstrittene Methode des Stutzens ist in der Praxis unverzichtbar. Es mag in Teilbereichen vorkommen, dass Stützer unbewusst auch aktiv Einfluss nehmen - obwohl sie alle in eigens durchgeführten mehrtägigen Fortbildungen u.a. hierfür nachdrücklich sensibilisiert wurden - im großen und ganzen steht für das beteiligte Lehrgangsteam die Authentizität der Äußerungen jedoch zweifelsfrei fest, nicht zuletzt aufgrund einer manchmal unverwechselbaren Originalität. Dies ist jedoch ein Thema das höchst sensibel durch die Lehrgangsleiterinnen und auch die fachlichen Begleiterinnen des Projekts beobachtet und diskutiert wird.

Im Hinblick auf die Berufsvorbereitung lässt sich für die gesamte Gruppe sagen, dass der Erwerb und die Stabilisierung von sozialen Kompetenzen, entgegen mancher Erwartungen, bereits ein hohes Maß erreicht hat. So ist, von Ausnahmen abgesehen, ein weitgehend konzentrierter Unterricht möglich, die Teilnehmer lassen sich auf die Arbeitssituationen gut ein. Auch außerschulische Projekte wie kleinere Gartenarbeiten, Arbeiten in der Küche u.a. werden gerne angenommen und mit Unterstützung zunehmend bewusster und selbständiger ausgeführt.

Ein wichtiger Aspekt im sozialen Kontext, der für autistische Menschen generell sehr schwierig ist, ist das Zusammensein und Sicheinlassen in ein Gruppengefüge. Hierzu lässt sich bei allen Teilnehmern eine deutliche Zunahme an Kontaktaufnahme, an emotionaler Beteiligung und am Wahrnehmen des Gruppengeschehens feststellen.

Die Zusammenarbeit mit den Eltern bzw. den Betreuern der sechs jungen Männer entwickelte sich angenehm und konstruktiv. Förderkonzepte konnten hier auch dann gemeinsam abgesprochen werden - sicher keine Selbstverständlichkeit -, wenn sie die autistischen Männer selber stärker forderten und in die Pflicht nahmen. Insgesamt erntete das Lehrgangsteam - das im Rahmen einer Reihe kontinuierlicher Elternabende großes Engagement zeigte - aus der Elternschaft viel Dankbarkeit.

Das fachliche Verständnis des Lehrgangsteams für die Besonderheiten autistischer Behinderungen wird durch regelmäßige Beratungen und Supervision weiterhin vertiefend begleitet.

Kontakt:

Lebenshilfe Kreisvereinigung Gießen e.V.

U. Güthoff & D. Moldenhauer

Wilhelmstr. 114, 35392 Gießen

eMail: qualifa@web.de

Quelle:

Ulla Güthoff, Danja Moldenhauer: Projektbericht Qualifizierungslehrgang für nichtsprechende Menschen mit Autismus

Erschienen in: impulse Nr 29, Mai 2004, Seite 14 - 17

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 05.08.2010

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