Hyperaktivität

Hintergründe und pädagogische Folgerungen eines Modethemas

Autor:in - Anita Hohenegger
Themenbereiche: Therapie
Textsorte: Diplomarbeit
Releaseinfo: Diplomarbeit zur Erlangung des akademischen Grades einer Magistra der Philosophie an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Leopold - Franzens - Universität Innsbruck, eingereicht bei Ass. Prof. Univ.- Doz. Dr. Volker Schönwiese, am Institut für Erziehungswissenschaften, Innsbruck, Dezember 1997
Copyright: © Anita Hohenegger 1997

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Als im vorigen Jahrhundert der erste Kinderpsychiater deutscher Sprache Dr. Heinrich Hoffmann seinen "Struwwelpeter" schrieb, konnte er sich wohl kaum vorstellen, daß sein Kinderbuch mit den Schilderungen vieler Symptome des hyperkinetischen Syndroms 150 Jahre später so viel besondere Aufmerksamkeit erregen würde. Das Problem des hyperkinetischen Syndroms ist also kein Phänomen ausschließlich unserer Zeit, wie oft angenommen wird.

Im 19. Jahrhundert wurde störendes, eigensinniges oder allgemein unerwünschtes Verhalten moralisch bewertet, und die körperliche Züchtigung in der familiären und in der schulischen Erziehung war das am häufigsten angewandte Erziehungsmittel. Die Reformpädagogik des 20. Jahrhunderts strebte einerseits eine Humanisierung und Pädagogisierung der Erziehungsmethoden an, andererseits bewirkte sie für einen Teil der sogenannten Schwererziehbaren eine Pathologisierung. Die pharmakologische Disziplinierung mit psychoaktiven Drogen und Medikamenten scheint schnelle Hilfe zu versprechen. Voss spricht diesbezüglich vom "Wandel von der mechanischen zur chemischen Behandlung des Eigensinns von Kindern" (Voss/Wirtz 1990, Seite 41). Stichwort Eigensinn: Die ursprüngliche Bedeutung dieses Wortes war "eigener Sinn und stolzer Mut". Laut Voss kehrte sich im 19. Jahrhundert das Positive des Wortes um; seit dieser Zeit gilt, den Eigensinn zu brechen, es ist nicht mehr gefragt, einen eigenen Willen zu haben und selbständig zu denken und zu entscheiden. Gehorsam und Respekt vor der Obrigkeit ist Ziel der Erziehung.

Der Eigensinn wird ersetzt durch Fremdbestimmung. Das wichtigste Ziel ist die Abhängigkeit von der Gesellschaft durch Anpassung und Disziplinierung, welche in der Medizin ihre Legitimation findet (vgl. Voss 1995, Seite 11 - 13).

So "ist seit Beginn der 80er Jahre eine zunehmende Bereitschaft von Eltern, Lehrern, Erziehungsberatern und Ärzten wahrzunehmen, abweichendes Verhalten von Kindern und Jugendlichen mit Hilfe von Medikamenten reduzieren oder gar beheben zu wollen. Losgelöst von den sozialen Entstehungszusammenhängen werden Fehlverhaltensformen von Kindern medizinischen Kategorien zugeordnet und aus der Sicht eines im wesentlichen (hirn-)organisch orientierten Krankheitsverständnisses behandelt" (Voss 1983, Seite 36).

Besonders betroffen von dieser Medizinisierung ist die Gruppe der hyperaktiven Kinder, die auffällig wird durch motorische Unruhe, durch Konzentrationsmangel und Unaufmerksamkeit sowie durch verminderte Kontakt- und Gruppenfähigkeit.

Terminologie

Allgemeine Überlegungen

Die begriffliche Vielfalt in der Fachliteratur zum Thema "Hyperaktivität" ist sehr verwirrend. Es gibt weder eine eindeutige, allgemein anerkannte Definition des Störungsbildes, noch gibt es eine einheitliche Begrifflichkeit.

Historischer Abriß

Die Autorin Monika A. Vernooij beschreibt in ihrem Buch "Hampelliese - Zappelhans" die historische Entwicklung von der Hyperaktivität zur Hyperkinese.

So wurde um 1900 das Störungsbild mit Begriffen wie: "zappelig, impulsiv, ablenkbar, streitsüchtig, ungehorsam, rebellisch, antisozial" beschrieben.

Um 1920 ging man von einer Hirnschädigung als Ursache motorischer Unruhe aus. Obwohl kein eindeutiger Zusammenhang zwischen einer Hirnschädigung und dem genannten Verhalten nachweisbar war, wurde selbst dann eine Hirnschädigung angenommen, wenn die Anamnese keine Anhaltspunkte dafür ergab.

Nach Monika A. Vernooij tauchte der Begriff "hyperactivity" um 1935 erstmals in der Literatur auf und wurde noch in den 50er Jahren mit Hirnschädigung bzw. Hirnverletzung beinahe gleichgesetzt, obwohl keine empirischen Bestätigungen dafür vorlagen.

Erst in den 60er Jahren zogen sich die Fachleute von der oben beschriebenen Position zurück und bezeichneten die motorische Unruhe neben Hyperaktivität als verstärkte Aufmerksamkeitsstörung. Weiterhin wurde die verstärkte motorische Unruhe als Indiz für eine Hirnschädigung angenommen. Es erschien den Fachleuten jedoch angemessener, den Begriff Dysfunktion zu verwenden, da die Prognose in Hinblick auf Heilung bzw. Reduzierung der Beeinträchtigung bei einer Funktionsstörung sehr viel günstiger ist als bei einer Verletzung, die in der Regel eine bleibende Schädigung darstellt.

Laut Verfasserin einigte man sich Mitte der 60er Jahre auf den Terminus "minimale cerebrale Dysfunktion" (MCD). Die Gleichsetzung von Hyperaktivität und MCD blieb jedoch in Deutschland bis in die 70er Jahre erhalten. Obwohl MCD nicht mehr als alleinige Ursache motorischer Unruhe angenommen wurde, wurde das auffällige Verhalten weiterhin als Hauptsymptom von MCD angesehen.

Die verstärkten wissenschaftlichen Untersuchungen seit den 60er Jahren in den USA zum Problem Hyperaktivität machten die Vielschichtigkeit des Phänomens immer deutlicher. Auffälligkeiten unterschiedlichster Art wurden nun mit dem Begriff "Syndrom" zusammengehalten. Monika A. Vernooij schreibt, daß sich ab 1968 erste Beiträge zum "Hyperkinetischen Syndrom" (HKS) in Fachzeitschriften finden. Die Bezeichnung HKS mit all seinen Einzelsymptomen umschreibt nun das verhaltensauffällige Kind schlechthin. Vernooij's Worte dazu lauten: "Damit (mit der Bezeichnung HKS) hat eine Ausweitung des ursprünglichen Begriffs Hyperaktivität auf der Symptomebene stattgefunden. Das Symptomspektrum, welches zu Beginn nur motorische Unruhe und Aufmerksamkeitsstörungen umfaßte, wurde erheblich erweitert. Diese Ausweitung trug, statt zu einer Klärung, zu einer verstärkten Unschärfe des allgemeinen Störungsbildes bei" (Vernooij 1992, Seite 15).

Weiters warnt die Autorin vor einer Subsumierung von Kindern mit abweichendem Verhalten unter einen Begriff, um Interventionsmöglichkeiten für diese Gruppe zu entwickeln. "Pädagogik bei Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten ist und bleibt eine Einzelfallpädagogik" (Vernooij 1992, Seite 15).

Aus eigener Erfahrung kann ich berichten, daß die Begriffe Hyperaktivität, Hyperkinese und Hyperkinetisches Syndrom in der Literatur sehr häufig synonym verwendet werden. Sofern ich in meiner Arbeit vom hyperkinetischen Syndrom spreche, möchte ich an dieser Stelle unterstreichen, daß ich den Terminus nicht als disziplingebundenen Begriff verwende.

Definitionsversuche

Daß sich keine einheitliche, allgemeine Definition zum Störungsbild "Hyperkinetisches Syndrom" in der Literatur finden läßt, habe ich bereits erwähnt. Es folgen nun verschiedene, teilweise metaphorisch ausgekleidete, Definitionsversuche diverser Autoren.

- "Den Zappelphilipp gab es schon immer. Er wird schon zappelig geboren. Ihn kann die Mutter keine einzige Minute auf der Wickelkommode allein lassen. Lieber wickelt sie das quirlige Kind daher auf dem Boden. In der Badewanne kann so ein Zappelphilipp wie ein Hecht aus den Händen der Mutter springen. Am Tisch verhält er sich, als hätte er Ameisen im Po. Und immer ist er auf Achse, als könnte er nichts in Ruhe tun und nichts in Ruhe lassen ... Jedenfalls ist immer etwas an ihm in Bewegung, selbst wenn er sich um seine Lieblingsbeschäftigung bemüht. Er muß mit den Beinen wackeln, mit dem Stuhl schaukeln, sich am Kopf kratzen ... Ist er in der Schule, so wird er für seinen Lehrer zur harten Prüfung. Man kann ihn und seine Unruhe einfach nicht übersehen. Da er reizoffen ist, ist er allen Ablenkungen ungeschützt ausgesetzt, und er kann schwer seine Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Aufgabe lenken. Ihn stört im wahrsten Sinne des Wortes die Fliege an der Wand, wenn er zum Beispiel volle Konzentration für das Diktat nötig hätte. Er tut sich schwer, in sich selbst zu ruhen. Oft wechselt er von einer Aktivität zur anderen, wird sozusagen hyperaktiv" (Prekop/Schweizer 1993, Seite 13).

- "Hyperaktivität ist ein Gemisch aus vielen Dingen ... Hyperaktivität kann durch eine große Anzahl von Störungen des Nervensystems hervorgerufen werden, durch genetische Probleme, Geburtsschäden, vorangegangene Infektionen, Unfälle, Streßfaktoren, emotionale Probleme, Hormonstörungen, biochemische Störungen, Gifte und sogar Enzymdefekte ... Lebensmittelfarben beispielsweise blockieren dieses Enzym, so daß es nicht mehr richtig funktioniert. Das Ergebnis kann dann Hyperaktivität sein, die wiederum auf Bakterien zurückzuführen ist, die nicht richtig entgiftet wurden" (Rapp 1996, Seite 186).

- "Manche Kinder fallen immer und überall sofort auf. Alles, was sie tun, ist heftig und flüchtig zugleich. Diese Kinder sind laut und ungestüm, ihre Bewegungen sind fahrig und ungebremst, sie können auf nichts warten und verlieren schnell die Lust an allem, sie fangen alles an und bringen nichts zu Ende. Sie sind ständig auf der Suche nach etwas Neuem und sind dabei doch phantasielos. Sie gehen ohne Zurückhaltung auf andere Menschen zu und haben dennoch kein Interesse an ihnen. Sie trauen sich alles zu und sind doch ängstlich und resignieren sofort wieder. Sie sind rücksichtslos gegenüber anderen, selbst aber empfindlich und weinerlich" (Jetter 1996, Seite 5).

- "Die Bezeichnung ,Hyperkinetisches Syndrom' verwenden Ärzte und Psychologen für Kinder und Jugendliche, die durch eine überstarke Aktivität, starke Impulsivität und Erregbarkeit sowie nicht situationsgerechte Gefühlsäußerungen auffallen, die sich schlecht in die Altersgruppe eingliedern oder Leistungs- und Entwicklungsstörungen zeigen. Jungen sind häufiger betroffen als Mädchen. Neben dem Etikett ,Hyperkinetisches Syndrom' wird auch u.a. der Begriff ,Minimale Cerebrale Dysfunktion' gebraucht.

- Die Verwendung des Begriffs Syndrom weist bereits darauf hin, daß es sich auch im medizinischen Sinne nicht um eine einheitliche ,Erkrankung' handelt, sondern daß eine Vielzahl verschiedener Störungen, die sich in ähnlicher Weise äußern, zu einem Komplex zusammengetragen wird. Vor diesem Hintergrund ist auch verständlich, daß verschiedene Faktoren ursächlich mit der ,Erkrankung' in Beziehung gebracht werden und mit verschiedensten Behandlungsformen angegangen werden. Psychopharmakontherapie, Verhaltenstherapie, Psychotherapie und diätetische Behandlung" (Voss/Wirtz 1990, Seite 23).

- Clements geht davon aus, daß es sich um Kinder von durchschnittlicher oder überdurchschnittlicher Intelligenz handelt, "die gewisse Lern- und/oder Verhaltensstörungen aufweisen, welche einen geringen bis schweren Ausprägungsgrad erreichen können, und die mit geringen Funktionsstörungen des Zentralnervensystems verbunden sind. Diese Abweichungen charakterisieren sich durch eine unterschiedliche Kombination von Beeinträchtigungen im Bereich von Wahrnehmung, Begrifflichkeit, Sprache, Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Impulskontrolle und Motorik" (Clements 1966, zitiert nach Vernooij 1992, Seite 17).

- "HKS ist ein Störungsbild, dessen wesentliche Merkmale kurze Aufmerksamkeitsspanne und erhöhte Ablenkbarkeit sind. In der frühen Kindheit ist das auffallendste Symptom eine ungehemmte, wenig organisierte und schlecht gesteuerte, extreme Überaktivität an deren Stelle aber in der Adoleszenz Hypoaktivität treten kann. Impulsivität, ausgeprägte Stimmungsschwankungen und Aggressivität sind ebenfalls häufige Symptome. Oft bestehen Verzögerungen in der Entwicklung bestimmter Fähigkeiten sowie gestörte und eingeschränkte zwischenmenschliche Beziehungen" (Steinhausen 1988, zitiert nach Vernooij 1992, Seite 17).

- "Schwierige Kinder begegnen uns Tag für Tag, und wer kennt ihn nicht, den Zappelphilipp, das Kind, das nicht ruhig sitzen kann, niemals zuhört, sich kaum konzentriert. Mürrisch, rechthaberisch und aggressiv verschreckt es seine Spielkameraden, Freundschaften entstehen kaum und wenn doch - zerbrechen sie schnell wieder. Überall erfährt es Ablehnung. Eltern und Lehrer klagen heutzutage immer öfter über Kinder, deren Verhalten unerklärlich zu sein scheint, aber allen Beteiligten das Leben bitter schwer macht. Bei einigen Kindern - sie werden oft als Klassenkaspar, Störenfried oder Prügelknabe bezeichnet - ist dieses Verhalten besonders ausgeprägt. Noch immer ist leider viel zu wenig bekannt, daß es sich hierbei um eine Erkrankung handeln kann, um das ,Hyperkinetische Syndrom'...

Das Kind fällt aus der Norm, ist eine Nervensäge, schwierig, ungezogen, stark erziehungsbedürftig und fordert die Menschen seiner Umgebung bis an die Grenzen ihrer Kraft. Sogar Fachleute - die es doch eigentlich besser wissen müßten - tun sich häufig schwer, die krankheitsbedingte Störung - denn um eine solche handelt es sich ja - richtig einzuordnen ...

Mal ,wie von der Tarantel gestochen', mit einem kleinen Teufel im Kopf, mal völlig verzweifelt, zurückgezogen und apathisch, fast immer sprunghaft und motorisch ungeschickt, begegnet uns das Zappelkind und ruft damit ganz spontan ambivalente Gefühle hervor: unser Mitleid, unser Helfenwollen, aber auch unsere Ablehnung und unseren Wunsch nach Erziehungsmaßnahmen ...

So ist es sicher hilfreich, darauf hinzuweisen, daß das ,hyperkinetische Syndrom'...der Fachausdruck für eine international definierte Krankheit ist" (Bernau 1995, Seite 11 - 13).

- " ... wird immer wieder behauptet, daß sich hyperaktive Kinder von andern durch ihre Andersartigkeit unterscheiden. Es muß also an diesen Kindern etwas wahrgenommen werden, was Erzieher und Lehrer dazu führt, diese Kinder mit dem Terminus ,hyperaktiv' zu belegen ... In diesem Sinne definiert Kaspar Hyperaktivität primär nicht als Verhaltensmerkmal einer bestimmten Gruppe von Kindern, sondern zu allererst als Zuschreibungskategorie durch Erwachsene" (Kaspar 1972, zitiert nach Neukäter/Goetze 1978, Seite 78).

- "Der nahezu paranoide Zwang, Störungen aufzuspüren und zu beseitigen, ist als Konstitutivum der modernen Industriegesellschaft zu bezeichnen. Er basiert auf einem technokratisch reduzierten Menschenbild, das den Menschen auf äußerlich sichtbare Verhaltensweisen reduziert. Als ,gestört' werden alle Verhaltensweisen bezeichnet, demnächst vielleicht alle Lebensphasen - Kindheit, Jugend, Alter - , die nicht nutzbringend einzusetzen sind" (Voss 1992, Seite 119).

- Die gängige Einstellung in der Beurteilung kindlicher Entwicklung kann als Set von Hindernissen, die bewältigt werden müssen, dargestellt werden. "Das Kind wird mit den Erwartungen der Umwelt konfrontiert und nach deren Vorstellungen vom ,Standard-Kind' geformt. Dabei gibt es ebenso viele Standard-Kinder wie Entwicklungsmodelle: mächtige Bilder, die Beziehungen derart prägen können, daß die Identität des individuellen Kindes nicht mehr zählt. Kinder, die sich dieser Anpassung verweigern, die an ihrer Identität festhalten oder beim Blick auf die vor ihnen liegenden Hindernisse entmutigt und passiv werden, laufen Gefahr, je nach Kontext als eigensinnig, verhaltensauffällig oder gestört angesehen und behandelt zu werden" (Gidoni in Voss 1995, Seite 46).

Symptome

Klassifizierung - Symptombeschreibung

Eine Überschrift in dem Selbsthilfe - Elternbuch von Sabine Bernau lautet: "Internationale Klassifikationssysteme schaffen Klarheit für die Einordnung der Krankheit".

Zwei Begriffe stören mich an dieser Behauptung: Klarheit und Krankheit. Daß es sich nicht um eine Krankheit im medizinischen Sinne handelt, habe ich schon erwähnt. Was den ersten Punkt anbelangt, möchte ich nun untersuchen, ob Klassifizierungen wirklich Klarheit verschaffen können.

Monika A. Vernooij liefert uns in ihrem Buch eine ausführliche Beschreibung der Klassifizierungen und Diagnoseschemata, die ich nun in zusammengefaßter Form wiedergeben werde.

Klassifizierungen und Diagnoseschemata in den USA

Die beiden gebräuchlichsten Klassifikationsschemata in den USA sind laut Vernooij das diagnostische und statistische Manuel, kurz DSM II und III, sowie das International Classification of Diseases, kurz ICD 9. Die aktuellste Überarbeitung der Diagnoseschlüssel der Weltgesundheitsorganisation ist das International Classification of Diseases, kurz ICD 10 (vgl. Kutscher 1996, Seite 69).

Das DSM II stammt aus dem Jahre 1968 und spricht von der "Hyperaktiven Reaktion", wobei Hyperaktivität ( deutliche und hohe Ausprägung der grobmotorischen Aktivitäten, z.B. häufiges Aufstehen, Sich-Bewegen während des Sitzens usw.) und Aufmerksamkeitsstörung (altersunangemessene Ablenkbarkeit, sowie die Unfähigkeit zu längeren Aufmerksamkeitsspannen) als Hauptsymptome genannt werden.

Im DSM III von 1980 wird das Störungsbild unter dem Begriff "Aufmerksamkeits-defizitstörung" (ADS) zusammengefaßt. Die Aufmerksamkeitsstörung steht nun im Vordergrund, und es wird zwischen

- Aufmerksamkeitsstörung mit Hyperaktivität und

- Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität unterschieden.

Im ersten Fall werden drei Symptomkomplexe genannt, aus denen jeweils mindestens zwei oder drei Einzelsymptome feststellbar sein müssen:

1.) Unaufmerksamkeit

- seltenes Beenden von Angefangenem,

- mangelnde oder fehlende Aufmerksamkeit bei Gesprächen,

- leichte Ablenkbarkeit,

- Konzentrationsprobleme bei Aufgaben, die längere Aufmerksamkeit erfordern,

- nur kurzfristiges Verweilen bei Spielaktivitäten.

2.) Impulsivität

- häufiges unüberlegtes Handeln,

- häufiger, plötzlicher Wechsel der Beschäftigung,

- Schwierigkeiten bei der schrittweisen Arbeits- bzw. Aufgabenplanung,

- häufiges Unterbrechen der Rede anderer, Zwischenrufe,

- Probleme hinsichtlich des Abwartens, des Sich-Geduldens bei Spielen,

- hohes Aufmerksamkeits- bzw. Aufsichtsbedürfnis von seiten der Erwachsenen.

3.) Hyperaktivität

- ständige motorische Unruhe,

- häufige, deutlich sichtbare Körperbewegungen während des Sitzens,

- unruhiger, bewegungsreicher Schlaf,

- Wirkung auf andere: gehetzt, "überdreht".

Im Jahre 1988 wird das DSM III revidiert. An seine Stelle tritt das DSM III R, welches die relativ einseitig auf ADS bezogene Sichtweise korrigiert durch eine bereits in der Bezeichnung herausgestellte Gleichwertigkeit der Symptome Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsdefizitstörung. Das Störungsbild heißt nun "Aufmerksamkeitsdefizit- Hyperaktivitätsstörung".

Die Autorin Monika A. Vernooij beschreibt die Bewertung kindlichen Verhaltens nach dem DSM III als nicht unproblematisch. Zum einen überschneiden sich teilweise die Symptome der Komplexe Impulsivität und Hyperaktivität, und zum anderen verhindert die Art der Kriterienbeschreibung nicht, daß die subjektive Einstellung des Diagnostizierenden in die Bewertung mit eingeht ( vgl. Vernooij 1992, Seite 19).

Im ICD 9 wird die Bezeichnung "Hyperkinetisches Syndrom" verwendet. Neben den genannten Symptomkomplexen des DSM III wird ein vierter hinzugefügt, nämlich Stimmungslabilität und Aggressivität (vgl. Vernooij 1992, Seite 18 - 20).

Die aktuellste Klassifikation, nämlich das ICD-10, veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation im Buch "Internationale Klassifikation psychischer Störungen". Die "Hyperkinetischen Störungen" werden darin wie folgt beschrieben:

"Diese Gruppe von Störungen ist charakteristisch durch: einen frühen Beginn, die Kombination von überaktivem, wenig modulierten Verhalten mit deutlicher Unaufmerksamkeit und Mangel an Ausdauer bei Aufgabenstellungen; situationsunabhängige und zeitstabile Verhaltenscharakteristika.

Nach verbreiteter Überzeugung spielen konstitutionelle Faktoren eine entscheidende Rolle in der Genese dieser Störungen, jedoch fehlt zum jetzigen Zeitpunkt Kenntnis über die spezifische Ätiologie. In den letzten Jahren wurde der diagnostische Begriff ,Störung mit Aufmerksamkeitsdefizit' für diese Syndrome empfohlen. Dieser Terminus wurde hier nicht verwendet, da er die Kenntnis psychologischer Prozesse impliziert, die noch nicht verfügbar ist, und den Einschluß verängstigter oder verträumter, unbeteiligter Kinder nahelegt, die wahrscheinlich andere Schwierigkeiten aufweisen. Gleichwohl ist unter Verhaltensgesichtspunkten klar, daß Aufmerksamkeitsprobleme ein zentrales Merkmal der hyperkinetischen Syndrome sind.

Hyperkinetische Störungen treten immer früh in der Entwicklung auf (gewöhnlich in den ersten fünf Lebensjahren). Ihre Hauptmerkmale sind ein Mangel an Ausdauer bei Beschäftigungen, die einen kognitiven Einsatz verlangen, und eine Tendenz, von einer Tätigkeit zu einer anderen zu wechseln, ohne etwas zu Ende zu bringen; hinzu kommt eine desorganisierte, mangelhaft regulierte und überschießende Aktivität. Diese Schwierigkeiten persistieren gewöhnlich durch die Schulzeit und sogar bis ins Erwachsenenalter; aber viele Betroffene zeigen eine graduelle Besserung bezüglich Aktivität und Aufmerksamkeit.

Verschiedene andere Störungen können zusätzlich vorhanden sein: hyperkinetische Kinder sind oft achtlos und impulsiv, neigen zu Unfällen und - eher aus Unachtsamkeit als vorsätzlich - zu Regelverletzungen, worauf sie mit den disziplinarischen Folgen konfrontiert sind. Ihre Beziehungen zu Erwachsenen sind oft von Distanzlosigkeit und einem Mangel an normaler Vorsicht und Zurückhaltung geprägt; bei anderen Kindern sind sie unbeliebt und können isoliert werden. Eine kognitive Beeinträchtigung ist üblich, spezifische Verzögerungen der motorischen und sprachlichen Entwicklung sind überproportional häufig.

Sekundäre Komplikationen schließen dissoziales Verhalten und ein niedriges Selbstwertgefühl ein. Dementsprechend gibt es eine beträchtliche Überschneidung zwischen hyperkinetischem Verhalten und anderen Mustern störenden Verhaltens wie der Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen. Trotzdem legen die gegenwärtigen Befunde eine Abtrennung der Störungsgruppe nahe, bei der das hyperkinetische Verhalten das Hauptproblem darstellt.

Hyperkinetische Störungen treten bei Jungen mehrfach häufiger auf als bei Mädchen.

Begleitende Leseschwierigkeiten oder andere schulische Probleme sind verbreitet.

Diagnostische Leitlinien:

Die Kardinalsymptome sind beeinträchtigte Aufmerksamkeit und Überaktivität. Für die Diagnose sind beide notwendig und beides sollte in mehr als einer Situation (z.B. zu Hause, im Klassenraum, in der Klinik) vorkommen.

Die beeinträchtigte Aufmerksamkeit zeigt sich darin, daß Aufgaben vorzeitig abgebrochen und Tätigkeiten nicht beendet werden. Die Kinder wechseln häufig von einer Aktivität zur anderen, wobei sie anscheinend das Interesse an einer Aufgabe verlieren, weil sie zu einer anderen hin abgelenkt werden (wenn auch Laboruntersuchungen nicht regelmäßig ein ungewöhnliches Ausmaß an sensorischer oder perzeptiver Ablenkbarkeit zeigen). Diese Defizite in Aufmerksamkeit und Ausdauer sollten nur dann diagnostiziert werden, wenn sie im Verhältnis zum Alter und Intelligenzniveau des Kindes sehr stark ausgeprägt sind.

Überaktivität bedeutet exzessive Ruhelosigkeit, besonders in Situationen, die relative Ruhe verlangen. Situationsabhängig kann sie sich im Herumlaufen oder Herumspringen äußern, und Aufstehen, wenn dazu aufgefordert wurde, sitzenzubleiben, in ausgeprägter Redseligkeit und Lärmen oder im Wackeln und Zappeln. Beurteilungsmaßstab sollte sein, daß die Aktivität im Verhältnis zu dem was in der gleichen Situation von gleichaltrigen Kindern mit gleicher Intelligenz zu erwarten wäre, extrem ausgeprägt ist. Dieses Verhaltensmerkmal zeigt sich am deutlichsten in strukturierten und organisierten Situationen, die ein hohes Maß an eigener Verhaltenskontrolle fordern.

Die folgenden Begleitmerkmale sind für die Diagnose nicht notwendig, stützen sie jedoch: Distanzlosigkeit in sozialen Beziehungen, Unbekümmertheit in gefährlichen Situationen und impulsive Mißachtung sozialer Regeln (sie äußert sich in Einmischung in oder Unterbrechung von Aktivitäten anderer oder vorschnellem Beantworten noch nicht vollständig gestellter Fragen oder in der Schwierigkeit zu warten, bis man an der Reihe ist).

Lernstörungen und motorische Ungeschicklichkeit treten mit großer Häufigkeit auf und sollten, wenn vorhanden, getrennt verschlüsselt werden. Bestandteil der eigentlichen Diagnose der hyperkinetischen Störung sollten sie jedoch nicht sein.

Symptome einer Störung des Sozialverhaltens sind weder Ein- noch Ausschlußkriterien für die Hauptdiagnose. Diese Störung bildet jedoch die Basis für die Hauptunterteilung der hyperkinetischen Störungen.

Die charakteristischen Verhaltensprobleme sollen früh (vor dem 6. Lebensjahr) begonnen haben und von längerer Dauer sein. Wegen der breiten Variation der Norm ist Hyperaktivität vor dem Schulalter schwierig zu erkennen. Bei Vorschulkindern soll nur ein extremes Ausmaß zu dieser Diagnose führen.

Auch im Erwachsenenalter kann die Diagnose eines hyperkinetischen Syndroms gestellt werden. Die Kriterien sind dieselben, jedoch müssen Aufmerksamkeit und Aktivität anhand entwicklungsmäßig angemessener Normen beurteilt werden. Wenn eine hyperkinetische Störung in der Kindheit bestand, aber nicht mehr nachweisbar ist, ihr jedoch eine andere Störung, wie etwa eine dissoziale Persönlichkeitsstörung oder ein Substanzmißbrauch folgte, dann ist die augenblickliche Störung und nicht die anamnestisch bekannte zu verschlüsseln.

Differenzialdiagnose: ...

Ein akut einsetzendes hyperaktives Verhalten bei einem Kind im Schulalter ist wahrscheinlicher auf eine reaktive Störung (psychogen oder organisch), einen manischen Zustand, eine Schizophrenie oder eine neurologischen Krankheit (zum Beispiel rheumatisches Fieber) zurückzuführen.

Ausschluß:

- affektive Störungen

- Angststörungen

- Schizophrenie

- tiefgreifende Entwicklungsstörungen"

(WHO 1993, Seite 293 - 296)

Klassifizierungen und Diagnoseschemata im deutschsprachigen Raum

Hier besteht das heutige Diagnosesystem aus je vier Kern- und Sekundärsymptomen.

Die Kernsymptome sind:

- Hyperaktivität,

- Aufmerksamkeitsstörung,

- Impulsivität,

- Emotionale Auffälligkeit.

Die Sekundärsymptome sind:

- Lernstörung,

- Teilleistungsstörung,

- Soziale Störung,

- Selbstwertprobleme.

Aufgrund der Vielzahl der Einzelsymptome wird deutlich, daß es das hyperkinetische Kind nicht gibt und nicht geben kann. Es gibt viele hyperkinetische Kinder mit individuell unterschiedlich ausgeprägter Symptomatik (vgl. Vernooij 1992, Seite 18 - 29).

Gestellte Diagnosen auf der Grundlage der oben beschriebenen Diagnosekataloge gelten allgemein als "sicher" und sollen angeblich Klarheit verschaffen. Der Diplompsychologe Jan Kutscher schließt sich dieser Meinung nicht an, stattdessen spricht er von "pseudowissenschaftlichen Willkürentscheidungen" und von der "Verwissenschaftlichung von Vorurteilen" (Kutscher 1996, Seite 68). In seinem Artikel "Diagnosen aus dem Katalog" bezieht er sich hauptsächlich auf Hans Westmeyer, Professor für psychologische Diagnostik an der Freien Universität Berlin, welcher psychische Störungen als "konstruierte Kategorien, die der Realität übergestülpt werden" (Westmeyer zitiert nach Kutscher 1996, Seite 69), bezeichnet. Für den Berliner Diagnostik-Experten sind Klassifikationsschemata "keine Systeme wissenschaftlicher Hypothesen, sondern nur mehr oder weniger willkürliche Sammlungen von Konventionen" (Westmeyer zitiert nach Kutscher 1996, Seite 69). Seines Erachtens beruhen Diagnosen, die nach diesen Schemata vorgenommen werden, auf die Definitionsmacht einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe, nämlich der Psychiater. Die große Gefahr der modernen Klassifikationskataloge liegt darin, daß eine kleine Psychiaterelite durch ihre Diagnose "psychische Störung" den oder die Betroffene aus dem Kreis der "Gesunden" ausgrenzt und mögliche fatale persönliche Folgen provoziert. Ein weiterer Kritikpunkt ist das Zustandekommen dieser Diagnosesysteme. Die Arbeitsgruppe der Psychiaterverbände erstellt und überarbeitet nämlich diese Kataloge, die als nicht wissenschaftlich gelten können, da die Experten über die Veränderung einer gegebenen diagnostischen Definition entscheiden.

Mit der Zuordnung abnormer Erscheinungsformen des Erlebens und Verhaltens zu bestimmten Ziffern der Diagnosekataloge kann weder die Ursache herausgefunden werden, noch liefert sie Beiträge für eine mögliche Behandlung des Leidens (vgl. Kutscher 1996, Seite 70 - 71).

Die These der Autorin Bernau, daß Internationale Klassifikationssysteme Klarheit schaffen (vgl. Kap. 3.1), kann hiermit wohl widerlegt werden. Sie sind nicht nur untauglich für das Finden und Beseitigen von Ursachen, sondern haben darüber hinaus noch eine etikettierende Wirkung.

Technische Verfahren

Es stehen keine Diagnosemittel wie Laboruntersuchungen, apparative Möglichkeiten, Tests oder Meßdaten zur Verfügung, um Hyperaktivität festzustellen. Weder Blutuntersuchungen, noch Röntgenaufnahmen oder neurologische Untersuchungen können Aufschluß darüber geben, ob ein Kind hyperaktiv ist.

Diagnose

Die Frage, wann denn nun ein Kind hyperaktiv ist, kann nicht beantwortet werden, da eindeutige diagnostische Kriterien fehlen. Der Familientherapeut Reinhard Voss meint dazu: "Die Verwischung der Grenzen von Bereichen wie Lernstörungen, Erziehungsschwierigkeiten, situationsbedingten, leichten Verhaltensabweichungen auf der einen und schweren, verfestigten Verhaltensstörungen, psychogenen oder organischen Erkrankungen auf der anderen Seite wiegt dabei besonders schwer. Darüber hinaus kann die kindliche Verhaltensauffälligkeit zu einer Restkategorie für alles und jedes werden" (Voss 1992, Seite 43).

Die Diagnose des Arztes beruht größtenteils auf Angaben von Eltern und Lehrern, wobei hier Zweifel aufkommen, ob die Beurteilung dem Kind auch gerecht wird. Die meisten Ärzte greifen bei der Diagnose auf den von Conners (1969) entwickelten Fragebogen zurück.

Dieser setzte sich ursprünglich aus einem umfassenden Lehrerfragebogen und einem umfassenden Elternfragebogen zusammen. Aus praktischen Gründen wurde daraus ein 10 Punkte umfassender Eltern-Lehrer-Fragebogen gemacht, der folgendermaßen aufgebaut ist (siehe nächste Seite):

(Voss 1992, Seite 44)

Unklarheit herrscht auch über die für eine Diagnose notwendige Anzahl von Befunden und deren Ausprägungsgrad. Die Summationsdiagnose, welche zur Absicherung mehrere Befunde fordert, scheint sich allgemeiner Beliebtheit zu erfreuen. Voss veranschaulicht diese an dem "Hydraulischen Dampfkesselmodell" von Arnold (1976): (bidok: Grafik nicht verfügbar)

"Hinreichend viele Befunde, jeweils in ausreichender Quantität, lassen den Symptompegel so ansteigen, daß genügend Interpretationsdruck entsteht, um die MCD-Diagnose auszulösen. Im ,Dampfkessel' könnten auch andere Syndromschilderungen aufgeführt sein oder Befunde aus Anamnese, medizinischen und testpsychologischen Untersuchungen" (Voss 1992, Seite 45). Dieses Aufsummieren von Merkmalsgruppen, denen keine unterschiedlichen Gewichte beigemessen werden, wird auch vom deutschen Kinderarzt Martin H. Schmidt scharf kritisiert. Er weist auf die Gefahr hin, daß einem Kind mit auffälligem Verhalten, belasteter Geburts-anamnese und verlangsamter frühkindlicher Entwicklung die Diagnose zugeschrieben wird, ohne daß es wirklich Hirnschädigungszeichen zeigt (vgl. Schmidt 1992, Seite 40).

Auch bezüglich der Aussagekraft der umfangreich angewandten diagnostischen Verfahren im Bereich der Medizin, Psychologie und Sonderpädagogik herrscht große Unsicherheit. Sowohl die Persönlichkeits-, Intelligenz- oder Entwicklungstests als auch die neurologischen und röntgenologischen Untersuchungen wirken sich hinsichtlich ihrer etikettierenden Wirkungen negativ auf das Kind aus (vgl. Voss 1992, Seite 46).

In der Folge werden heterogene Symptome allzu schnell auf die Diagnose der MCD oder des HKS reduziert. "Es ist deutlich, daß aufgrund fehlender, oberflächlicher oder einseitiger Diagnostik der systemische Person-Umwelt-Kontext nicht eruiert werden kann und damit in allen Fällen das Kind im Sinne eines somatischen Defekts etikettiert wird. In der Konsequenz wird die organische Erkrankung mit Psychopharmaka behandelt" (Voss 1992, Seite 46). Schmidt führt dazu folgendes aus: "Die verwendeten diagnostischen Merkmale messen häufig nicht einen pathologischen Zustand, sondern die Nichtoptimalität einer Funktion. Sie weisen relativ hohe Basisraten auf, zeigen eine unterschiedliche Datenqualität und erklären sich in unklarem Ausmaß gegenseitig. Werden diese Merkmale also ungewichtet summiert, können der gleichen Diagnose sehr unterschiedliche Kombinationen zugrunde liegen und diese auch in unterschiedlichen Ausprägungsgraden. Eine weitere Hauptschwierigkeit ist aber die Vorstellung einer Spezifität der psychopathologischen Symptomatik, ... " (Schmidt 1992, Seite 41).

Häufigkeit

Die Frage nach der Häufigkeit läßt sich kaum beantworten. Die ständig wachsenden Zahlen von Veröffentlichungen und wissenschaftlichen Untersuchungen verweisen auf einen starken Anstieg der Verhaltensstörungen. Aussagen wie: "Eltern und Lehrer sind hinsichtlich der steigenden Zahlen von Problemkindern ratloser denn je" (Vernooij 1992, Seite 12); "Auf einem großen Kinderärztekongreß wurde festgestellt, daß fast 15 % aller Schulkinder Lern- und Leistungsstörungen aufweisen ... Genauso angestiegen sei der Teil der Schulkinder mit zusätzlichem hyperkinetischem Syndrom" (Bernau 1995, Seite 92); "Ärzte schätzen die Häufigkeit und Bedeutung der MCD hoch ein" (Schmidt 1992, Seite 40) "Immer mehr Eltern, Erzieher/innen, Lehrer/innen und sonstige Fachleute aus dem medizinischen und therapeutischen Bereich werden mit einer immer größer werdenden Zahl an sog. ,hyperaktiven Kindern' konfrontiert" (Hammer 1994, Seite 184) sind keine Ausnahme, sondern die Regel. Hartmann schreibt, daß 43,7 % der männlichen Schulversager und 37,4 % der weiblichen Schulversagerinnen in Heidelberg laut Statistik eine leichte frühkindliche Hirnschädigung aufweisen. Ihren Angaben zufolge "wurde bei 74 Schulkindern einer ländlichen Gemeinde zwar nur in vier Prozent der Fälle eine frühkindlich-leichte Hirnfunktionsstörung diagnostiziert. Es ergab sich aber bei immerhin 14,6 % ein entsprechender Verdacht, und Grenzbefunde wurden sogar bei 46 % dieser untersuchten Kinder festgestellt" (Hartmann 1994, Seite 42 - 43).

Die Tatsache, daß man heute dazu neigt, alle unruhigen Kinder als hyperaktiv zu bezeichnen, macht die Sinnlosigkeit, irgendwelche Zahlen zu nennen, deutlich. "Angaben über auffällige Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen hat es auch in früheren Generationen gegeben, ohne daß ihnen derartige Aufmerksamkeit geschenkt wurde oder sie gar medizinisch behandelt wurden" (Voss 1992, Seite 49).

Die Normabweichungen in neurophysiologischen, neuropsychologischen und Leistungsparametern sind nach Schmidt überzufällig oft in der Bevölkerung zu finden. Sie kommen in extremen Ausprägungen weitaus häufiger vor, "als es den Verteilungsgesetzmäßigkeiten für biologische oder biologisch fundierte Merkmale, die sich in der Regel nach der Gaußschen Normalverteilung richten, entspricht" (Schmidt 1992, Seite 44). Schmidt betont, daß keine Rede sein kann von einem Syndrom, das bei einer hohen Anzahl von Kindern vorkommt. Deshalb ruft er alle Ärzte auf, von der Vorstellung einer globalen minimalen cerebralen Dysfunktion als häufige kinderpsychiatrische Störung Abschied zu nehmen.

Ursachen

Die beschriebene Problematik hinsichtlich einer Definition sowie der Klassifikation setzt sich auch im Zusammenhang mit den Ursachen fort. Die Vielfalt der Literatur liefert die unterschiedlichsten Erklärungen.

Bei den meisten Überlegungen zur Verursachung des Hyperkinetischen Syndroms zeigt sich, wie fest verankert die MCD-These ist. Inzwischen haben Untersuchungen jedoch bestätigt, daß die Kernsymptome des HKS auftreten, wenn eine minimale cerebrale Dysfunktion vorliegt, daß ein Rückschluß jedoch nicht zulässig ist. D.h.: Weist ein Kind die Kernsymptome auf, darf nicht automatisch eine MCD angenommen werden!

Als Ursachen werden folgende Faktoren genannt:

Genetische Faktoren

Während einige Autoren die Möglichkeit in Betracht ziehen , daß hyperaktives Verhalten durch Vererbung weitergegeben werden kann (vgl. Bernau 1995, Seite 48; Hartmann1994, Seite 20 oder Rapp 1996, Seite 186), lehnen andere diese Position strikt ab, da es bisher keine Untersuchungen gibt, die diese Hypothese untermauern (vgl. Vernooij 1992, Seite 33). Wieder andere greifen das Thema erst gar nicht auf; das könnte ein Indiz dafür sein, daß sie diese Gründe von vornherein ausschließen (vgl. Voss oder Prekop/Schweizer).

Die Frage einer Erblichkeit, und hier sind sich die Autoren ziemlich einig, konnte bisher durch keine Forschungsergebnisse endgültig geklärt werden.

Organische Faktoren

Hier sei zum wiederholten Male die Hirnfunktionsstörung genannt. Als Faktoren für eine mögliche Entstehung dieser Störung gelten neben Sauerstoffmangel bei der Geburt auch Zangengeburten, der Einsatz von Saugglocken, Kaiserschnitte und Frühgeburten. Bernau gibt als möglichen Grund für Schwierigkeiten in den Gehirnfunktionen eine Stoffwechselstörung im Gehirn an.

Bei hyperaktiven Kindern darf jedoch nicht von vornherein auf eine Gehirnfunktionsstörung geschlossen werden. Obwohl es mehrere Hypothesen zur (hirn-)organischen Bedingtheit des HKS gibt, konnte bisher kein Zusammenhang festgestellt werden.

Ökologische Faktoren

Die klinische Ökologin Doris Rapp beschreibt in ihrem Buch "Ist das Ihr Kind" die Auswirkungen häufig unerkannter Allergien auf Nahrungsmittel, Pollen, Schimmelpilze oder Chemikalien. Solche Allergien können unter anderem hyperaktives Verhalten zur Folge haben.

Sie schreibt von den verheerenden Folgen unserer immer effektiveren High-Tech-Gesellschaft, und davon, wie die Verschmutzung unseres Wassers, unserer Luft, unserer Erde, unserer Nahrung, Kleidung und Häuser ständig steigt. Sie zeigt weiters die Konsequenzen der Chemikalien auf, die Krankheit und Verwüstung beim Mensch und der Umwelt hinterlassen. Viele Menschen reagieren bereits auf den Geruch einer chemischen Substanz überempfindlich und bekommen daraufhin allergische Symptome. Nach einiger Zeit kann sich diese Überempfindlichkeit auch auf andere Bereiche wie Nahrungsmittel, Staub, Schimmelpilze und so weiter ausdehnen. Diese Menschen scheinen immer empfindlicher auf eine immer größere Zahl von störenden Substanzen zu sein (vgl. Rapp 1996, Seite 173 - 176).

Rein medizinisch erklärt die Autorin das folgendermaßen: "Man nimmt an, daß ein Teil dieser verstärkten Empfindlichkeit auf biochemische Veränderungen im Körper als Antwort auf die Chemikalienexposition zurückzuführen ist. Chemikalien können unser Immunsystem schädigen und die normale Zellfunktion beeinflussen, etwa den Stoffwechsel und die Entgiftung" (Rapp 1996, Seite 173).

Bei einer Allergie handelt es sich demnach um eine Fehlreaktion auf eine Substanz, die das Gehirn beeinträchtigt. Dadurch werden die Kinder hyperaktiv, sie toben wild herum und merken nicht einmal, daß sie sich selbst mißhandeln, indem sie gegen Mauern und Möbel stoßen (vgl. Rapp 1996, Seite 83). Um solche Reaktionen zu vermeiden, muß nach Rapp jeder Kontakt mit Chemikalien gemieden werden. Das betrifft Chemikalien in Nahrungsmitteln genauso wie im Wasser, in der Luft, in der Kleidung, zu Hause, am Arbeitsplatz oder in der Schule. Fragen, ob das überhaupt zu verwirklichen sei, stellt sie nicht. Stattdessen führt sie eine Reihe von Möglichkeiten an, wie Giftstoffe vermieden werden können, so z.B. durch das Benutzen eines Luftfiltergerätes oder einer Kohlemaske, durch den Kauf von biologisch erzeugten Lebensmitteln und Produkten aus natürlichem Material, durch Vermeiden von Plastik, durch Einnehmen von Vitamin C und durch Betreiben von Sport.

Kommt die Allergie dennoch zum Ausbruch, rät Rapp eine Allergenextrakt-Therapie gegen die problematischen Substanzen sowie das Einhalten einer Rotationskost. Diese Behandlungsmöglichkeiten werden im Kapitel 7.2 noch genauer ausgeführt.

Auch der amerikanische Kinderarzt und Allergologe Ben Feingold erkannte 1973 ökologische Faktoren als Verursacher des Hyperkinetischen Syndroms, wie aus mehreren Büchern hervorgeht. Nach seiner Hypothese lösen die in Nahrungsmitteln enthaltenen Farbstoffe z.B. Salicylate hyperkinetisches Verhalten aus. "Dr. Feingold glaubte, daß jede Substanz - egal ob künstlich oder natürlich - potentiell eine Reaktion bei jedem Menschen auslösen könnte" (Rapp 1996, Seite 106). Seine Diät verbietet demnach alle Nahrungsmittel, die gefärbt sind, die künstliche Aromen, Salicylate oder sonstige Zusätze enthalten.

"1984 erregte die Apothekerin Herta Hafer Aufsehen, weil sie eine phosphatreiche Nahrung als Auslöser für Verhaltensstörungen bei Kindern verantwortlich machte. Frau Hafers Diät baut auf die Feingold-Diät auf; zusätzlich werden phosphatreiche Nahrungsmittel wie z.B. Milch, Mais, Kakao gemieden. Lebensmittel, denen Phosphat zugesetzt wurde wie z.B. Backpulver, Getränke usw. werden abgelehnt" (Stemmann in Voss 1995, Seite 71).

Während Monika A. Vernooij betont, daß zur Überprüfung der Farbstoff-Hypothese zahlreiche wissenschaftlich unbefriedigende Studien vorliegen, die keine eindeutigen Ergebnisse erbrachten, und daß ein statisch signifikanter Zusammenhang zwischen kindlichen Verhaltensstörungen und der Verabreichung oder Eliminierung von Phosphat nicht nachweisbar ist (vgl. Vernooij 1996, Seite 37 - 38), schreibt Stemmann in seinem Beitrag im Buch "Das Recht des Kindes auf Eigensinn" davon, daß bewiesen werden konnte, "daß Nahrungsmittel bei Kindern mit hyperkinetischem Syndrom Unverträglichkeits- bzw. allergische Reaktionen auslösen und der Entzug der betreffenden Nahrungsmittel die Symptomatik des hyperkinetischen Syndroms bessern bzw. aufheben kann" (Stemmann in Voss 1995, Seite 71).

Vernooij führt die festgestellten positiven Verhaltensänderungen bei Kindern darauf zurück, "daß bei der Durchführung einer so relativ aufwendigen Diät die Mittelpunktposition des betroffenen Kindes verstärkt wird. Verbunden damit sind mit hoher Wahrscheinlichkeit:

- eine Veränderung des Zuwendungsverhaltens,

- eine Veränderung der Kommunikations- und Interaktionsmuster,

- eine (anfängliche) Entspannung der Drucksituation, sowohl für die Eltern als auch für

das Kind,

- eine Veränderung der Familienatmosphäre.

Die Verabreichung einer wie auch immer gearteten Diät beeinflußt die psychosoziale Situation des Kindes in nicht unerheblichem Maße. Das Kind reagiert darauf mit Verhaltensänderung" (Vernooij 1992, Seite 38). Jutta Hartmann, eine Verfechterin der Phosphatdiät, beschreibt einen Diät-Versuch in einem Krankenhaus. Im Bericht der Klinik werden die Zweifel daran, daß Phosphat allein zu hyperkinetischen Verhaltensstörungen führt sichtbar, indem es heißt: "Vielmehr glauben wir, daß ein ganzes Ursachenbündel in Frage kommt. Auch Mehrzuwendung, eine positive Erwartungshaltung der Betreuer ... wird als Teil dieses Diäterfolgs bewertet" (Hartmann 1994, Seite 78). Zustimmung diesbezüglich erhält Vernooij auch von Vertretern der Schulmedizin, welche den Effekt der Diät ebenfalls auf die damit verbundene Zuwendung der Eltern zurückführen (vgl. Hartmann 1994, Seite 80). Diese Meinung scheint sich auch hinsichtlich anderer Behandlungsmethoden verfestigt zu haben, so schreibt Voss: "... gesteigertes Interesse an der Schule und geringere motorische Aktivitäten lassen sich z.B. durchaus als Folge einer verstärkten Aufmerksamkeit seitens der Betreuer erklären, mit einer vermehrten Zuwendung, die diese Kinder durch die medikamentöse Therapie erhielten" (Voss 1992, Seite 30). Die Relevanz der elterlichen Zuwendung ist hier nicht zu übersehen und soll bereits an dieser Stelle unterstrichen werden.

Dieses Kapitel möchte ich nun mit einem Zitat abrunden. "Es scheint so, als ob alle Erklärungsansätze, welche das Erzieherverhalten und die familiäre Atmosphäre außer acht lassen, besonders gern, zumindest von Eltern, Erziehern und Lehrern, aufgegriffen werden; denn solche Ansätze entlasten die Erziehenden" (Vernooij 1992, Seite 37).

Psycho-soziale Faktoren

Diesen Teil werde ich mit einem, in mehreren Büchern genannten, Beispiel beginnen, das verdeutlichen soll, daß Kinder oft als verhaltensgestört definiert werden, ohne daß die gestörten Verhältnisse, in denen sie leben, hinterfragt werden.

Beispiel (Voss 1992, Seite 17):

"Klaus, acht Jahre alt, ist im Unterricht unruhig und unkonzentriert. Nach den Worten seines Lehrers ist er ,ständig abwesend', verläßt regelmäßig nach der zweiten Stunde die Klasse und geht nach Hause. Mit der Zeit wird der Lehrer hilflos, die Eltern sind verärgert. Als ,Schulverweigerer' etikettiert, wird Klaus dem Schulpsychologen vorgeführt. Nachdem auch dieser scheitert, verschreibt der zu Rate gezogene Kinderarzt Psychopharmaka zur Behandlung der Unruhe und ein Mittel zur Steigerung der Konzentrationsfähigkeit. Am Ende seiner ,Karriere' hat Klaus das Glück, daß er in der Kinder- und Jugendpsychiatrie auf eine engagierte Ärztin trifft, der es gelingt, eine engere Beziehung zu ihm aufzubauen. In dieser Situation hat der Junge zum ersten Male die Möglichkeit, sich zu öffnen. Er beginnt zu erzählen, daß er eines Abends durch die angelehnte Tür den Streit der Eltern mit angehört habe, in dem seine Mutter unter anderem drohte, die Familie zu verlassen. So hielt es Klaus verständlicherweise nicht lange im Unterricht aus. Erst nachdem er sich persönlich vergewissert hatte, ,daß die Mutter noch da war', kam er für den Rest des Tages zur Ruhe."

Dieses Beispiel macht die Notwendigkeit einer genauen Analysedes gesamten Lebensfeldes eines Kindes deutlich, wenn man eine Leidensgeschichte wie diese verhindern will. "Dies setzt voraus, daß man losgelöst von linearen Erklärungsmustern die Ursachen für sein Verhalten in einer gestörten Lebenswelt zu finden befähigt ist. Für diesen Prozeß ist ein Verständnis der "inneren Welt" des Kindes von besonderer Bedeutung. Dies zu erreichen, setzt menschliche und professionelle Kompetenz voraus" (Voss 1992, Seite 19 - 20).

In einer Zeit, in der das menschliche Gleichgewicht aus den Fugen geraten ist, können grundlegende Bedürfnisse der Menschen und insbesondere jene der Kinder oft nicht mehr befriedigt werden. Viele Menschen werden deshalb in die Krankheit oder ein Ersatzverhalten gedrängt. Durch die Definition des Problemkindes als "krank" werden die Eltern von der Verantwortung, die Ursache der auffälligen Verhaltensweise auch im eigenen Verhalten, in der Familienkonstellation oder in der Umwelt zu suchen, befreit. Die Krankheit des Kindes wird als Ursache der gestörten Situation festgeschrieben, die Verantwortung dafür an den Arzt delegiert und gegebenenfalls das eigene, schlechte Gewissen beruhigt. Die Tablette besitzt somit eine enorme Entlastungsfunktion für die Eltern und Erziehungsberechtigten und erklärt deren hohes Interesse an der medikamentösen Therapie auffälligen Verhaltens (vgl. Voss 1990, Seite 52).

Die psycho-soziale Komponente findet in der gesamten Literatur zu diesem Thema enorme Beachtung. Vernooij unterteilt die psycho-sozialen Faktoren in drei Gruppen:

  1. ökonomisch-kulturelle Bedingungen,

  2. die Bedingungen des sozialen Umfeldes,

  3. die psycho-emotionalen Bedingungen.

Zu 1

Materielle Not, beengte Wohnverhältnisse und das anregungsarme Milieu in der Unterschichtfamilie führen u. a. zu sozio-kultureller Benachteiligung. Psychische Probleme der Eltern aufgrund von Arbeitslosigkeit werden durch die gespannte Atmosphäre in der Familie auf das Kind übertragen.

Zu 2

Eheprobleme der Eltern belasten die Kinder selbst dann, wenn die Eltern bemüht sind, diese von den Kindern fernzuhalten. Psychische Störungen eines Elternteils z.B. Ängste, Depressionen, Alkoholmißbrauch usw. wirken auf Kinder immer verunsichernd oder sogar bedrohlich. Kindliches Fehlverhalten in solchen Situationen hat häufig Signal- und/oder Schutzcharakter.

In der Schule wird das Kind mit einschränkenden und häufig unkindgemäßen Regeln konfrontiert, z.B. Bewegungseinschränkungen über längere Zeit, Forderung nach langfristiger Aufmerksamkeit und Konzentration. Das Kind gerät leicht unter Leistungs- und Konkurrenzdruck. Alle genannten Faktoren können eine hyperkinetische Symptomatik hervorrufen.

Zu 3

Die psycho-emotionalen Bedingungen umfassen:

- die Art der Beziehung zwischen Mutter (Eltern) und Kind,

- das emotionale Gefüge im weiteren familialen Feld,

- die Art der Erziehung.

Dieser letzte Punkt stellt den wichtigsten Faktor im Rahmen der kindlichen Entwicklung dar. Es werden vier Erziehungsformen unterschieden:

- Verwöhnung,

- Härte, Lieblosigkeit.

- Vernachlässigung, Gleichgültigkeit,

- Wechselklima.

Leider wird diesen Verursachungsfaktoren bei der Entstehung des HKS sehr wenig Beachtung geschenkt. "Sicher ist es für Erziehende eher akzeptabel, genetische, organische oder ökologische Faktoren für die Entwicklung hyperkinetischer Symptome verantwortlich zu machen. Es enthebt sie scheinbar der Notwendigkeit, sich und ihre Erziehungshaltung, sowie ihre Beziehung zum Kind kritisch zu betrachten. Erziehungsfehler sind zu allen Zeiten von allen Eltern gemacht worden, aus Unsicherheit und Unwissenheit, aus Schuldgefühlen oder aus Angst vor der Verantwortung vor der Umwelt, oder davor, das Kind, bzw. seine Liebe, zu verlieren. Auch eigene Probleme der Erziehenden führen häufig zu erzieherischen Fehlhaltungen. Sie können korrigiert werden, wenn die Signale des Kindes frühzeitige Beachtung finden" (Vernooij 1992, Seite 45 - 46).

Perspektivenwechsel

Aufgrund der traditionellen, linearen Zuschreibung einer vorhandenen Problemsituation zum Kind wird die eigentliche Ursache für gewisse Schwierigkeiten erst sehr spät und nach einer langen Leidensgeschichte erkannt.

Deshalb fordert Voss zum folgenden Perspektivenwechsel auf:

(bidok: Grafik nicht verfügbar)

Traditionelle lineare

Perspektive (oben)

und

topologische ganzheitliche

Perspektive (unten)

(Voss 1995, Seite 32)

Diese, in der Literatur vielfach verwendete, Abbildung von Reinhard Voss stellt meines Erachtens den relevanten Unterschied zwischen der linearen und der ganzheitlichen Perspektive allein nicht dar. Die folgende, zusätzliche Erklärung ist deshalb für das Verständnis der Abbildung vonnöten.

lineare Perspektive

Es gibt eine Menge linearer Erklärungsmuster zum Thema "kindliche Auffälligkeit", die aber nur isolierte Betrachtungsweisen darstellen und keinesfalls auf die Ganzheitlichkeit des Phänomens eingehen.

Im Falle der Hyperaktivität fehlt eine interdisziplinär erarbeitete gesellschaftsbezogene Theorie.

Beim linearen Erklärungsmuster wird von einer Disziplin ein Punkt herausgegriffen und untersucht (z.B. Umwelt, Lebensgeschichte) ohne Parallelen in den anderen Disziplinen zu suchen, ohne Informationsaustausch und Erfahrungserweiterung.

So gibt es verschiedene Behandlungsansätze, aber keine einheitlichen Erklärungsmuster, und damit keine sinnvolle Therapie. Dies würde voraussetzen, daß man die Entstehung und Entwicklung der Auffälligkeit versteht. "Tatsächlich gibt es aber keinen einheitlichen, unbestrittenen und widerspruchsfreien theoretischen Rahmen zur Erfassung und Erklärung der kindlichen Auffälligkeit" (Voss 1995, Seite 29).

Die Kinder und Jugendlichen werden von Eltern, Schule und Öffentlichkeit als Problem empfunden, obwohl sie über ihre Auffälligkeit eine Störung in ihrer Lebenswelt signalisieren.

topologische Perspektive

Dieses Erklärungsmuster fordert eine ganzheitliche, theoretische Erfassung der Auffälligkeit, indem die Summe und Vernetzung aller relevanten Problemebenen und ihre Relationen erfaßt werden. Das bedeutet, daß man eine umfassende Theorie des auffälligen Verhaltens erstellen muß, und zwar unter Berücksichtigung lebensweltlicher (personal, sozial, institutionell, organisatorisch, gesellschaftlich), lebensgeschichtlicher (individual-, familien-, kulturgeschichtlich) und mythologischer Aspekte (unbewußte Prozesse, verdeckte Sinnstrukturen, versteckte Bilder). Erst diese Position ermöglicht die Erkenntnis vergangenheitsbestimmter und zukunftsorientierter Aspekte der aktuellen Situation.

In der Zeit der kindlichen Entwicklung, von der Schwangerschaft bis zum Erwachsenenalter, gibt es eine Vielzahl potentieller Störfaktoren. Die Ausprägung der Störung ist abhängig von verschiedenen Faktoren wie Zeitpunkt, Intensität, Dauer, Möglichkeiten des Kindes zur Selbstregulation, positive Kräfte der sozialen Umwelt.

Eine Kumulation negativer Einflüsse führt zu einer Entgleisung des Sozialisationsprozesses. Die Aufmerksamkeit darf sich nicht linear auf das verhaltensauffällige Kind konzentrieren, sondern auf die systemische Vernetzung des Kindes mit seiner sozialen Umwelt und der dynamischen Einheit seines Entwicklungsprozesses.

Die Verhaltensauffälligkeit ist das Resultat einer Vielzahl von Prozessen, die sich als "Systemsteuerung" im Kind vergegenständlichen. Kindliche Verhaltensauffälligkeiten sind also situationsadäquate Verhaltensweisen. Sie stellen den Versuch dar, die widersprüchlichen Anforderungen und Probleme verschiedener Systemebenen kompromißhaft zu lösen. Eine Störung, die auf jeder einzelnen Ebene des Systems auftritt, ja sogar von einer auf die andere Ebene überwechseln kann, signalisiert somit immer eine Störung des gesamten Systems.

Störungen können also nicht linear, rückschließend und individuumzentriert ermittelt werden, es muß die gesamte Lebenswelt und Lebensgeschichte betrachtet werden (vgl. Voss 1995, Seite 27 - 37).

Erklärungsansätze zur Entstehung des Hyperkinetischen Syndroms

Lerntheoretische Ansätze

Hier stehen Lernprozesse im Mittelpunkt des Interesses, d.h. Verhaltensweisen, ob erwünschte oder nicht erwünschte, sind nicht angeboren, sondern im Laufe des Lebens erlernt worden.

Erwünschte Verhaltensweisen sind das Sprechen, das selbständige Essen, das Malen usw., die ein Kind gewöhnlich in bestimmten Reifestufen erlernt.

Aber auch unerwünschte Verhaltensweisen wie z.B. das Streiten, das Stehlen oder das Kauen an den Fingernägeln werden durch Lernprozesse erworben. Hierbei handelt es sich also um Verhaltensweisen, die den Absichten und Bemühungen der Erzieher entgegengesetzt sind, und dem Kind offensichtlich nicht bewußt vermittelt werden. Für Verhaltensauffälligkeiten sind offenbar Bedingungen verantwortlich, die so unscheinbar sind, daß wir sie nicht bemerken.

Konditionierungsprozesse

Das Verhalten eines Kindes hängt im wesentlichen von den Konsequenzen dieses Verhaltens ab. Will man also das Verhalten ändern, so müssen die Folgen dafür verändert werden. Verhaltensweisen, die häufiger auftreten sollen, müssen verstärkt werden. "Folgt auf die Reaktion des Kindes eine positive Verstärkung, wird die Art der Reaktion beibehalten; folgt eine negative, oder bleibt eine positive aus, so wird diese Art der Reaktion reduziert, modifiziert oder ganz aufgegeben" (Vernooij 1992, Seite 49).

Die Lerntheoretiker gehen davon aus, daß auf unerwünschte Verhaltensweisen, die häufig auftreten, irgendwelche angenehmen Konsequenzen gefolgt sind. Beispiel:

Bettelt ein Kind häufig um Süßigkeiten, so ist es möglich, daß dieses Verhalten von Zeit zu Zeit dadurch verstärkt wird, daß das Kind Süßigkeiten bekommt.

Verhaltensweisen, die seltener auftreten sollen, dürfen nicht verstärkt werden (vgl. Florin 1971, Seite15 - 48).

Modellernen

Dem Modellernen wird in der Literatur zum Thema Hyperaktivität kein großes Interesse beigemessen. Es wird davon ausgegangen, daß sich Kinder nur einen Teil der hyperkinetischen Symptome über Beobachtungslernen aneignen können. "Die Entstehung des Gesamtsyndroms ist mittels Modellernen jedoch nicht erklärbar" (Vernooij 1992, Seite 50).

Unterstimulation

Zentall geht davon aus, daß das Kind seine Umwelt als wenig oder mangelhaft stimulierend empfindet. Dieser permanente Mangel an Reizen löst ein Verhalten aus, welches als Eigenstimulation gedeutet werden kann, nämlich vermehrte motorische Unruhe. Da dieses Verhalten aber nicht akzeptiert wird, wird es normalerweise durch Strafen (aversive Reize) unterbrochen. Das Kind vermindert nun zwar seine Aktivitäten, erlebt als Folge erneut eine Reizdeprivation und wird dazu neigen, diese durch Eigenstimulierung abzubauen. Die motorische Unruhe wird wieder gesteigert (vgl. Vernooij 1992, Seite 50 - 51).

Tiefenpsychologische Ansätze

Tiefenspsychologische Erklärungsansätze ziehen in hohem Maße das personale Umfeld des Kindes mit ein. Nicht das Kind allein steht im Mittelpunkt des Interesses, sondern die Familie, insbesondere die Bezugsperson(en) rücken ins Blickfeld. Das ganze Spektrum psycho-emotionaler Faktoren wird dabei in einen Gesamtzusammenhang gebracht.

Tiefenpsychologisch gesehen sind unbewußte Prozesse sehr bedeutsam sowohl für die psychische Entwicklung als auch für das Verhalten eines Menschen. Menschliches Fühlen, Denken und Handeln werden durch unbewußte Wünsche, Ziele und Konflikte bestimmt. Die Grundstruktur eines Menschen, die aus bewußten und unbewußten Anteilen besteht, bildet sich bereits in den ersten fünf Lebensjahren. Deshalb spielt in dieser Lebensphase die Erziehungsform eine so wesentliche Rolle (vgl. Vernooij 1992, Seite 53).

Psychoanalytischer Ansatz

Bei den Aussagen bezüglich dieses Ansatzes beziehe ich mich auf Monika A. Vernooij, welche den pschoanalytisch-sozialpädagogischen Erklärungsansatz für hyperkinetische Kinder von Bruno Bettelheim (1903 - 1989) beschreibt. Bettelheim geht dabei von der Freudschen Theorie aus.

Aus psychoanalytischer Sicht sind Verhaltensabweichungen Symptome relativ konstanter psychischer Störungen, die in der frühen Kindheit infolge von ungelösten Konflikten, Versagungserlebnissen, und/oder traumatischen Situationen, welche ins Unbewußte verdrängt wurden, entstanden sind.

Bettelheim sieht die hyperkinetische Symptomatik als Gegenreaktion auf die ablehnende Umwelt. Das Kind entwickelt sozusagen einen Abwehrschutzmechanismus, um die fehlende emotionale Bindung nicht bewußt wahrnehmen zu müssen. Zudem kann das Kind durch sein hyperaktives Verhalten den Schmerz über das Nicht-Angenommensein überspielen. Bettelheim nennt dafür drei Gründe:

- Das hyperaktive Verhalten gibt dem Kind das Gefühl, seine Umwelt zu kontrollieren und alles im Griff zu haben.

- Die erhöhte Aktivität ist für das Kind ein unbewußtes Hilfsmittel bei der Vermeidung von Selbstreflexion.

- Durch das Verhalten kann das Kind, ebenfalls unbewußt, die Erwachsenen bestrafen. Bettelheim bezeichnet Hyperaktivität als eine "erfolgreiche Macht-Ausübe-Strategie"

(Bettelheim zitiert nach Vernooij 1992, Seite 53 - 54).

Individualpsychologischer Ansatz

Monika A. Vernooij entwickelte in Anlehnung an die Theorie Alfred Adlers den folgenden individualpsychologischen Erklärungsansatz.

Für sie ist normabweichendes Verhalten ein Ausdruck einer Fehlentwicklung in der Wahrnehmens- und Erlebnisstruktur des Kindes, welche die Möglichkeiten der Orientierung und der Adaption beeinträchtigen. Aus der These Adlers, in der die Persönlichkeit und die individuelle Art der Wahrnehmung in gegenseitiger Wechselwirkung stehen, leitet Vernooij folgendes ab: "Weist die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes geringe bis erhebliche Störungen auf, so werden auch die individuellen Wahrnehmungsmuster geringe bis erhebliche Störungen aufweisen" (Vernooij 1992, Seite 55). Das Kind bildet auf der Basis seines genetischen Potentials und aufgrund der positiven und negativen Erfahrungen in den ersten fünf Lebensjahren seine eigene Theorie des Lebens, die Adler Lebensstil nennt, aus. Dieser Lebensstil gibt Sicherheit und Richtung, da er folgendes enthält:

  • Meinungen, Einstellungen, Wertungen, von sich, den anderen, der Welt, dem Leben;

  • Ziele für die weitere Lebensführung;

  • ein Strategien-Repertoire zu Erreichung dieser Ziele;

  • individuelle Wahrnehmungs- und Erlebensmuster.

Der Mensch ist ein zielgerichtetes Wesen, das motiviert ist, erfolgreiche Aktionen durchzuführen, nämlich vom Klein-Sein zum Groß-Werden. Er strebt immer von unten nach oben, von Unzulänglichkeit zu höherer Vollkommenheit. Für seine psychische Entwicklung ist daher die Erfahrung, aus eigener Kraft in diesem Streben vorwärts zu kommen, enorm wichtig. "Diese Erfahrung, verbunden mit einer emotional zuverlässigen, liebevoll akzeptierenden, Selbständigkeit gewährenden Umwelt, bilden die Basis für die Entwicklung eines stabilen Selbstwertgefühls und eines realitätsbezogenen Lebensstils, innerhalb dessen die positive Hinwendung zu den Mitmenschen eine große Rolle spielt" (Vernooij 1992, Seite 67).

Fehlt nun eines der Basiskomponenten, kann das Kind kein Selbstwertgefühl entwickeln, stattdessen bildet es ein Minderwertigkeitsgefühl, welches das Kind mit Hilfe von sozial unerwünschten Verhaltensweisen, z.B. der hyperkinetischen Symptomatik, bekämpft.

An dieser Stelle wird deutlich, weshalb aus individualpsychologischer Sicht die eigentlichen Kernsymptome, oder Zentralsymptome, wie sie Vernooij nennt, die

- Selbstwertprobleme,

- Teilleistungsstörungen, hier im wesentlichen Störungen in den Wahrnehmungs- und Erlebnismustern des Kindes,

- soziale Schwierigkeiten

sind.

Medizinische Ansätze

Auf der Suche nach der Beschreibung des hyperkinetischen Syndroms in der Standardliteratur eines Medizinstudenten, wurde ich nur im Lehrbuch der Psychiatrie fündig. Unter dem Kapitel "Teilleistungsschwächen" wurde das HKS knapp wie folgt beschrieben: "Beim hyperkinetischen Syndrom (mit psychomotorischer Unruhe, impulsivem und aggressivem Verhalten und Aufmerksamkeitsstörungen) können frühkindliche Hirnschäden, die noch zu anderen Leistungs- und Persönlichkeitsstörungen im Rahmen des ,frühkindlichen hirnorganischen Psychosyndroms' führen, neben psychosozialen Einflüssen ein pathogenetischer Teilfaktor sein" (Huber 1994, Seite 559). Weiters heißt es im Kapitel "Psychopharmakontherapie": "Dagegen sind bestimmte Psychostimulanzien, nämlich Methylphenidat (Ritalin), beim hyperkinetisch-hyperaktiven Syndrom der Kinder indiziert und oft erst die Voraussetzung für eine wirksame psychologische Behandlung" (Huber 1994, Seite 600). Nebenwirkungen und Komplikationen werden nicht ausgeschlossen.

Eine wesentlich detailliertere Ausführung dieses Ansatzes liefert Reinhard Voss in dem Buch "Anpassung auf Rezept", derzufolge auffällige Verhaltensweisen verstärkt auf der Basis eines klinisch organischen Paradigmas diskutiert werden. Da die medizinische Pathologie abweichende Körperprozesse als Ausdruck eines im Menschen vorhandenen krankhaften Geschehens definiert, kommt es zu einem folgenschweren Analogieschluß, "der die Umwelteinflüsse zu Krankheitserregern werden läßt und die Gleichschaltung von Körpersymptom und Organerkrankung auf auffällige Verhaltensweisen überträgt" (Voss 1992, Seite 38 - 39). Auffällige Verhaltensweisen werden folglich vor dem Hintergrund gestörter Hirnfunktionen erklärt, wobei eine prä-, peri- oder postnatale Schädigung des Nervensystems als Ursache angenommen wird.

An eine hirnorganische Störung glauben nicht nur Mediziner, sondern auch Psychologen und Pädagogen, wenn sie Kinder und Jugendliche mit motorischer Unruhe oder anderen Auffälligkeiten mit dem Etikett HKS oder MCD versehen.

Der Blick des medizinischen Modells richtet sich direkt auf das Kind; Bedingungen, Probleme, Erfahrungen des Kindes werden dabei nicht ins Auge gefaßt. Stattdessen führt die Überbewertung einer organisch bedingten Ursache zur Etikettierung der Verhaltensauffälligkeit als "krank". Eltern, Lehrer und Erzieher werden aus ihrer Verantwortung entzogen, da ja Ärzte und Therapeuten für solche Probleme zuständig sind.

Die Dominanz des medizinischen Modells ist weiterhin gegeben, auch wenn es der ätiologischen Forschung nicht gelungen ist, ein organisches Korrelat nachzuweisen!

(vgl. Voss 1992, Seite 38 - 40,139 -143)

Sozialwissenschaftlicher Ansatz

Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive wird die Auffälligkeit erst durch den Etikettierungsprozeß geschaffen. Die soziale Reaktion der Umwelt, die bestimmte Verhaltensformen als auffällig bezeichnet, steht im Mittelpunkt des sozialwissenschaftlichen Interesses. Wichtig dabei ist die Herausarbeitung der Normgebundenheit der Verhaltensstörung, denn dadurch lassen sich auffällige Verhaltensweisen als anormale, von der Norm abweichende Handlungen bezeichnen. Denn kein Verhalten ist in sich anormal, sondern erhält erst unter bestimmten Bedingungen seinen anormalen Charakter. Abweichendes Verhalten ist also das Resultat von Zuschreibungsprozessen zwischen Personen oder Gruppen, die sich auffällig verhalten und anderen Menschen, die darauf reagieren und das Verhalten als abweichend definieren.

Allgemeine Bemerkungen

Voss spricht davon, daß die Ganzheitlichkeit des Phänomens Auffälligkeit von keinem der genannten Ansätze erfaßt wird. Jeder Ansatz beschäftigt sich mit einzelnen Aspekten und trifft dann pauschale, lineare Schuldzuweisungen. "Die gesellschaftliche Bedingtheit der Auffälligkeit, die Persönlichkeitsstruktur, organische und psychosozialeAspekte sind in ihrer je eigenen Aussage durchaus zu beachten, doch sind sie isoliert voneinander nicht in der Lage, ein umfassendes theoretisches Fundament einer ganzheitlichen Theorie auffälligen Verhaltens zu legen" (Voss 1992, Seite 42).

Das Fehlen eines einheitlichen und widerspruchsfreien theoretischen Rahmens zur Erklärung der Auffälligkeit sieht Voss als Ursache für die weitgehende Hilflosigkeit und Wirkungslosigkeit im Umgang mit der kindlichen Auffälligkeit (vgl. Voss 1992, Seite 42 -47). Der Kinderarzt Hans von Lüpke scheint diese Meinung zu teilen, indem er sagt: "Das Problem besteht in einem Mangel an Konzepten, die in der Lage sind, die Situation angemessen zu beschreiben, Erfahrungen auszuwerten und Handlungsstrategien daraus zu entwickeln" (von Lüpke in Voss 1995, Seite 86).

Schule

Manchen Kindern wird ihre Unruhe erst zum Problem, wenn sie in die Schule kommen. Betroffen davon sind jene Kinder, die nicht sitzen bleiben können und nicht auf Kommando reagieren.

"Die Angaben zur Auftretenshäufigkeit des Störungsbildes HKS bei Schulkindern schwanken zwischen 5 % in den USA (Wender 1973) und 2 % in der BRD (Eisert 1988)" (zitiert nach Vernooij 1992, Seite 27). Diese Unterschiede lassen sich wohl auf die unterschiedlichen Diagnoseschemata zurückführen. "Gerade angesichts der Vielzahl von Symptomen bei HKS und der inhaltlichen Überschneidung mit Symptomen bei Verhaltensstörung allgemein sind Häufigkeitsangaben nur mit Einschränkung als verbindlich zu betrachten" (Vernooij 1992, Seite 27).

Auffällig ist, daß in der Literatur zum Thema Hyperaktivität das Alter der betroffenen Kinder bei ca. 6 - 14 Jahren liegt. Damit drängt sich mir die Frage auf, ob die Hyperaktivität ein für das Schulalter charakteristisches Störungsbild ist.

Verhaltensauffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen werden im Bereich von Schule und Unterricht mit verschiedenen Begriffen bezeichnet. Der Begriff "Disziplinschwierigkeiten" wurde vom Begriff "Verhaltensstörungen" verdrängt. Während die Disziplinprobleme noch ein "Problem" des Lehrers waren, und seine pädagogische Kompetenz herausforderten, sind die "Verhaltensstörungen" ausschließlich die Sache des Schülers und liegen somit außerhalb der pädagogischen Verantwortlichkeit des Lehrers (vgl. Voss 1992, Seite 51). Die betroffenen Kinder laufen Gefahr, in eine Sonderschule umgeschult oder an andere medizinische oder psycho-soziale Institutionen delegiert zu werden. Voss spricht diesbezüglich von "einer schrittweisen Entpädagogisierung im Umgang mit auffälligen Verhaltensweisen von Schülern" (Voss 1992, Seite 52).

Da die Schule in das Netz sozialer Beziehungen eingebunden ist, werden alle schulischen Prozesse von außen beeinflußt und beeinflussen ihrerseits das außerschulische Sozialsystem. Die Schule "ist damit nur ein Subsystem jenes umfassenden sozio-ökologischen Feldes (Familie, Peer-group, Kindergarten, Gemeinde etc.), in dem sich die in Schule lebenden Personen bewegen" (Voss 1992, Seite 164). Schulische Störungen können demnach inner- oder außerschulisch bedingt sein. Will ein Lehrer auf ein Störverhalten reagieren, darf er nicht die Ursache beim Kind suchen, sondern er muß systembezogen handeln, d.h. er muß die Störung in ihrem größeren Zusammenhang erfassen. Nachdem der Lehrer die Teilsysteme (Klasse, Lehrkörper) unter die Lupe genommen hat, analysiert er die Subsysteme (Familie, Schule, Peer-group) und gelangt so zu einer Erfassung des gesamten Systems. Noch bevor der Lehrer zur Tat schreitet, ist er vor die Entscheidung gestellt, ob er die Analyse allein oder mit Hilfe von und in Kooperation mit anderen Kollegen oder Fachleuten (Arzt, Psychologe, Sozialarbeiter) durchführen will. Auch wenn ein Lehrer weiß, daß außerschulische Einflußfaktoren der Grund für Störungen sind, muß er sich engagieren und nicht nur eine Delegation an einen Arzt oder eine Beratungsstelle anordnen.

Die Auffälligkeit des Kindes kann mit der zunehmenden Leistungsanforderung nach dem Übergang vom Kindergarten in die Grundschule, mit dem langweiligen Unterrichtsstil oder mit Kommunikationsstörungen in der Klasse zusammenhängen, sie kann aber auch in der Familie (z.B. Ehekrise, finanzielle Probleme, Nachwuchs usw.) oder der Peer-group (z.B. Verlust der Freundin, Konkurrenzprobleme usw.) liegen. Um die Wirkmomente der "gestörten" Situation zu verstehen und zu ändern, müssen Eltern, Lehrer und Psychologen gemeinsam mit dem Kind die komplexen Zusammenhänge erkunden und aufarbeiten (vgl. Voss 1992, Seite 164 -173).

Obwohl vielfach von steigenden Zahlen verhaltensgestörter Kinder nach der Einschulung die Rede ist, weisen Voss und Vernooij darauf hin, daß es bislang keine wissenschaftlichen Studien gibt, die eine Expansion von Schul- und Unterrichtsstörungen belegen. Es werden jedoch vielfach Ergebnisse aus methodisch umstrittenen Untersuchungen als gesicherte Daten in wissenschaftlichen Arbeiten übernommen, die dann von den Medien aufgegriffen und in weitgehend falschen Pauschalierungen in die Öffentlichkeit übertragen werden. Die Folge sind ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit und ein in Gang gesetzter Prozeß, in dem eine veröffentlichte Meinung über ein Problem erst das besprochene Problem bewirkt (vgl. Voss 1992, Seite 52 -54).

Die Handlungsfähigkeit des Lehrers

(vgl. Voss 1992, Seite 177 - 189)

Die Handlungsfähigkeit eines Lehrers setzt sich aus vier Handlungsräumen zusammen, und zwar dem personalen, dem sozialen, dem berufstypischen und dem gesellschaftspolitischen. Jeder dieser vier grundlegenden Handlungsräume erfordert ein entsprechendes Handeln, das in seiner Einheit die notwendige Handlungsfähigkeit des Lehrers darstellt. Diese Fähigkeit könnte man als verfügbares Verhaltens- und Handlungsrepertoire definieren, das der Lehrer zur Ausübung seines Berufes benötigt, um die Handlungsfähigkeit der Schüler zu entwickeln.

Vorhandene Schwächen und Defizite in einem der vier grundlegenden Bereiche bedeuten in der Regel eine Einschränkung der gesamten Qualifikationsstruktur.

Die personale Handlungsfähigkeit

Ein Lehrer ist personal handlungsfähig, wenn er sich in der konkreten Lebenssituation bewußt wahrnimmt, sich akzeptiert, und wenn er seine Entwicklungsmöglichkeiten (kognitiven, emotionalen, körperlichen, künstlerischen, handwerklichen) auslebt und weiterentwickelt. Weiters sollte er auch fähig sein, auftretende Probleme, Konflikte und Rückschläge zu bewältigen oder zumindest den Versuch wagen, sie zu lösen.

Ein personal handlungsfähiger Lehrer ist offen zu sich selbst, seinem Körper, seinen Gefühlen, seinen Gedanken, Träumen und Ängsten und kann deshalb tolerant gegenüber der Anders-artigkeit seiner Schüler sein. Dadurch daß sich dieser Lehrer selbst akzeptiert, kann er auch seine Schüler annehmen. Er kennt seine eigenen Grenzen und jene der anderen und kann auf dieser Basis von seinen Schülern Respekt fordern. Weil sich der Lehrer mit seinen Schwächen und Problemen bewußt auseinandersetzt, vermeidet er die Gefahr, seine Probleme auf die Schüler zu übertragen.

Die soziale Handlungsfähigkeit

Die soziale Handlungsfähigkeit ist jene Fähigkeit, die ein Lehrer für sein interaktionelles und kommunikatives Handeln benötigt, um in der Schule bzw. im Unterricht adäquat arbeiten zu können.

Ein Lehrer ist sozial handlungsfähig, wenn er sich selbst und die anderen differenziert wahrnehmen und mit seiner Umwelt in Kontakt treten kann. Dies geschieht in ständiger Wechselwirkung mit seiner personalen Handlungsfähigkeit. Jeder Lehrer muß seinen Schülern in die Augen schauen können; er muß imstande sein, ein persönliches Gespräch zu führen und sollte das Kind auch in den Arm nehmen können. Darüber hinaus sollte er sensibel sein für Verhaltensweisen anderer und sollte Wahrnehmungsfähigkeiten für momentane innere Befindlichkeiten besitzen. Wichtig ist auch seine Bereitschaft zur Kooperation in Hinblick auf die Unterrichtsgestaltung sowie auf die intensive Zusammenarbeit mit den Eltern und Vertretern der psychosozialen und medizinischen Berufsgruppen.

Lehrer, die ihren Unterricht zwar hervorragend planen, den sozialen Anforderungen auf der Beziehungsebene jedoch hilflos gegenüberstehen, müssen die Erfahrung machen, daß der Unterricht erheblich gestört wird.

Die berufstypische Handlungsfähigkeit

Im Zentrum der berufstypischen Handlungsfähigkeit stehen die Unterrichtsvorbereitung, das Unterrichten und das Erziehen. Aktivitäten im Bereich der Verwaltung, Organisation, Diagnose und Kooperation beanspruchen einen immer größeren Anteil der Arbeitskraft des Lehrers. Demnach könnte man den berufstypischen Handlungsraum in die vier folgenden Bereiche bzw. Fähigkeiten aufteilen:

- fachlicher

- fachdidaktisch-methodischer

- pädagogischer

- administrativer Bereich

Gelingt es dem Lehrer, diese Fähigkeiten in seinem Handeln zu verwirklichen, besitzt er die berufstypische Handlungsfähigkeit.

Die gesellschaftspolitische Handlungsfähigkeit

Ein Lehrer verfügt über gesellschaftspolitische Handlungsfähigkeit, wenn er über die notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten verfügt, um in politischen und gesellschaftspolitischen Situationen analytisch zu denken, adäquat und gekonnt zu handeln. Voraussetzung dafür ist die Verantwortung für seine Schüler, denen er Grundprinzipien einer demokratisch-rechtsstaatlichen Grundordnung lehrt und denen er Modell eines politisch Handelnden ist, der die eigenen Interessen, die seiner Klasse oder die der Schule vertritt.

Alle Lehrer, nicht nur jene die Geschichte oder Politikwissenschaft unterrichten, sollten über ein gesellschaftspolitisches Repertoire verfügen, um mit den Schülern demokratische Spielregeln in Schule und Unterricht einüben zu können.

"Die gesellschaftspolitische Handlungsfähigkeit als integrierter, nicht herauslösbarer Bestandteil der allgemeinen Handlungsfähigkeit des Lehrers gewährleistet, daß nicht alle Kompetenz zum bloßen Reaktionsmodus verkommt (Voss 1992, Seite 185).

Lehrerausbildung

Die Erlangung der genannten Handlungsfähigkeiten erfordert eine entsprechende Lehreraus- und -fortbildung, welche die verschiedenen Handlungsfähigkeiten und die unter Punkt 5.1.3 genannten Qualifikationsebenen umfassen muß.

Die Abbildung auf der nächsten Seite soll veranschaulichen, daß den Qualifikationsebenen die folgenden Qualifikationsbereiche

- Wertorientierung (Diese bestimmt den Umgang mit den Schülern und Kollegen und unterstützt oder verhindert auffälliges Verhalten. Formen praxisbezogener Selbsterfahrung müssen demnach ein fester Bestandteil der Lehrerausbildung sein.)

- Handlungswissen (Die Auseinandersetzung mit Theorie und Utopie muß ein wesentlicher Bestandteil einer ganzheitlich orientierten Lehrerausbildung sein.)

- Handlungsmuster (Lehrertrainingsseminare sind wichtige Bestandteile einer Lehrerausbildung, da bestimmte Handlungsmuster eine Entlastungsfunktion für die tägliche Leistung am Arbeitsplatz bieten können.)

- Erfahrungen (Es ist wichtig, die einzelnen Qualifikationsbereiche in konkreten Handlungssituationen zu erfahren, um Stärken und Schwächen bewußt erleben zu können. Theorie- und Praxisphasen sollten sich in einer Lehrerausbildung abwechseln.)

zugeordnet werden, um die zu erwerbenden Qualifikationen ganzheitlich zu sichern. Das ist nämlich eine wesentliche Voraussetzung, um auffälligen Verhaltensweisen von Schülern begegnen zu können.

Berufstypische Handlungsfähigkeit:

(Voss 1992, Seite 187)

 

Fachliche Handlungsfähigkeit

Didaktisch-methodische Handlungsfähigkeit

Pädagogische Handlungsfähigkeit

Administrative Handlungsfähigkeit

Wertorientierung

Reflexion der Kongruenz zwischen Formen und Inhalten des jeweiligen Faches und der persönlichen Wertorientierung

Überprüfung der Kongruenz zwischen persönlicher Wertorientierung und den angewandten didaktisch-methodischen Handlungsformen

Reflexion der persönlichen Erfahrungen mit Erziehung und Sozialisation, Transparenz der persönlichen Wertorientierung

Überprüfung der Kongruenz zwischen persönlicher Wertorientierung sowie Art und Umfang administrativen Handelns

Wissen (Handlungs-wissen)

Fachwissen

Wissen im Bereich der Planung, Durchführung und Kontrolle von Unterricht

Wissen im Bereich von Erziehung und Sozialisation

Wissen für die verschiedenen Bereiche administrativen Handelns

Fertigkeiten (Handlungs-muster)

Einübung fachspezifischer Techniken und Fertigkeiten

Einübung verschiedener didaktisch - methodischer Handlungsmuster

Einübung in pädagogisch relevante Handlungsmuster

Einübung verschiedener Fertigkeiten administrativen Handelns

Erfahrungen

Unterrichtsprakische Erfahrungen im Umgang mit fachlichen Inhalten und Methoden

Unterrichtspraktische Erfahrungen im Umgang mit den verschiedenen Bereichen didaktisch-methodischen Handelns

Praktische Erfahrungen im Umgang mit verschiedenen erziehungsrelevanten Situationen

Praktische Erfahrungen in der Handhabung der verschiedenen administrativen Tätigkeiten

Pädagogische Konzepte zum Unterricht

Unterrichtliche Maßnahmen für hyperaktive Kinder und für verhaltensauffällige Kinder allgemein sind häufig deshalb so schwierig zu gestalten, weil die Rahmenbedingungen der Regelschule nur wenig flexibel zu handhaben sind. Die drei folgenden, in verkürzter Form wiedergegebenen Konzepte stellen einen Versuch dar, die betroffenen Kinder entsprechend zu fördern. Sie sind dem Buch "Hyperaktives Verhalten im Unterricht" von Neukäter und Goetze entnommen (vgl. Neukäter/Goetze 1978, Seite 17 - 44).

Das Reiz-Reduktions-Konzept nach Cruickshank

Dieses Konzept ist medizinisch ausgerichtet und geht von einer Überstimulierung des Kindes aus. Demnach wäre hyperkinetisches Verhalten eine Abwehrreaktion im Hinblick auf Reizüberflutung. Während Cruickshank's erstes Modell für Kinder mit MCD bestimmt war, legte er 20 Jahre später eine leicht modifizierte Fassung für die Zielgruppe der "lern- und wahrnehmungsgestörten Kinder" vor.

Wegen der Ablenkbarkeit der Kinder sollen die Umweltreize, die das Kind in der Klasse ablenken können, reduziert werden (Reizreduktion). Deshalb lernen die Kinder anfangs in relativ kleinen, wie die übrigen Räumlichkeiten, schmucklosen und einfarbigen Lernkabinen, in denen sie auch essen und ihre Mittagsruhe halten. Raum- und Reizreduzierung werden solange beibehalten, bis das Kind durch Konditionierungsprozesse Aufmerksamkeitsverhalten gelernt hat. Der Reizwert bestimmter Stimuli wird auf der anderen Seite erhöht, damit sie sich für das Kind deutlich abheben und dessen Aufmerksamkeit auf sich ziehen können (Reizintensivierung). Vor dem Hintergrund einer Reizkontrolle soll so für die Kinder eine Situation geschaffen werden, in der sie eigene Erfolgserfahrungen machen können.

Der schulische Alltag ist geprägt von festen Regeln, das kindliche Lernen bleibt lehrerzentriert oder anders gesagt fremdgesteuert. Vernooij spricht diesbezüglich von einem "rigiden, manipulativen Unterrichtsprogramm, welches vorwiegend an der Lernumgebung des Kindes ansetzt. Formen sozialen Lernens treten als Rand- oder Endphänomene von schulischer Förderung völlig in den Hintergrund" (Vernooij 1992, Seite 140). Neukäter und Goetze bezeichnen das Konzept als defizitorientiert, "das sich an den Schwächen des Kindes ausrichtet und darauf ein Modell des pädagogischen Handelns aufbaut" (Neukäter/Goetze 1978, Seite 25).

Das Konzept des funktionsteiligen Klassenraumes nach Hewett

Hewett stellte sein schulisches Konzept, welches durch die Anwendung verhaltensmodifikatorischer Elemente gekennzeichnet ist, 1968 erstmals vor. Als Zielgruppe nannte er Kinder mit Verhaltensstörungen allgemein. Er stellte den Entwicklungsaspekt in den Vordergrund; sein hierarchisch gegliedertes Entwicklungsstufenmodell besteht aus den folgenden 7 Stufen:

- Aufmerksamkeitsverhalten ("Fähigkeit, sich auf relevante Reize in der Umgebung auszurichten" (Neukäter/Goetze 1978, Seite 29)).

- Antwortverhalten (Allgemeine Reaktion auf gesetzte oder gegebene Reize)

- Befehlsausführung (Das Kind soll Verhaltensketten bilden, um am Ende Aufträge vollends ausführen zu können.)

- Erkundungsverhalten (Tat oder Reaktion)

- Soziales Anpassungsverhalten (Soziales Verhalten im Sinne sozialer Erwünschtheit)

- Kognitive Grundfertigkeiten (Erwerb basaler Fertigkeiten und einer Informationsbasis über die Umwelt, mittels derer das Kind unabhängig und erfolgreich im Rahmen seiner Möglichkeiten aktiv sein kann.)

- Intrinsisches Leistungsverhalten (Fähigkeit, selbstmotiviert, nicht außengesteuert, zu lernen.)

Die aus dem Stufenmodell abzuleitenden Ziele sind:

- Aufgabe (Jede Aktivität, die den Schüler auf der Entwicklungssequenz weiterbringt.)

- Struktur (Allgemeiner Rahmen des Lernprogramms)

- Belohnung (Erwünschtes Verhalten wird verstärkt, und es wird versucht, es aufrechtzuerhalten und zu erweitern.)

Nachdem das Kind einer der sieben Stufen zugeordnet wurde, werden Aufgaben ausgewählt, die seine Mängel und Schwächen reduzieren oder beheben sollen. In der modifizierten Fassung des Konzeptes von 1974 sollen dann nicht mehr die Schwächen, sondern die Stärken festgestellt werden, die dann die Grundlage für unterrichtliches Handeln bilden. Für jede Stufe werden charakteristische Ziele gesteckt und methodische Kriterien genannt, die ganz individuell zusammengestellt werden. Der Klassenraum wird in drei Zentren aufgegliedert, die den Entwicklungsstufen zugeordnet sind, jedoch nicht eindeutig beschrieben werden:

- Vorbereitungszentrum

- Erkundungszentrum

- Leistungszentrum

Der schulische Weg des Kindes sollte nach diesem Konzept von einer starken Lehrerzentriertheit in den ersten Entwicklungsstufen über eine vermehrte Kindzentriertheit und Eigenaktivität zu relativer Eigenständigkeit und Stabilität führen.

Vernooij bemängelt an diesem Konzept die starke Verpflichtung, die dem funktions- und leistungsbezogenen Programm gegenüber besteht. Dennoch bieten ihres Erachtens die beiden genannten Konzepte eine Fülle von Anregungen für den schulischen Alltag (vgl. Vernooij 1992, Seite 141).

Das strukturiert (im Sinne von Lenkung) - schülerzentrierte Unterrichtsmodell nach Neukäter und Goetze

Neukäter und Goetze haben sich 1978/80 mit den Konzepten von Cruickshank und Hewett auseinandergesetzt und haben in ihrem Ansatz das beibehalten, was sich in empirischen Untersuchungen als gültig erwiesen hat. Nach Neukäter und Goetze sind folgende Strukturierungspunkte zu berücksichtigen:

- Veränderung der Lernumgebung durch Aufgliedern der Klasse in Lernzentren. Die Lernumgebung sollte stimulierend sein und die zwingende Raum- und Reizreduktion sollte vermieden werden.

- Reizkontrolle im Sinne von Reizanreicherung, sowohl des Lernmaterials als auch der Lern-umgebung.

- Strukturierung des Schulprogramms und des Lehrprogramms unter Beachtung des Lernstandes des einzelnen Schülers.

- Gestaltung der Unterrichtsmaterialien.

- Anwendung eines Bekräftigungssystems im Rahmen eines individuellen Belohnungssystems.

Da die Autoren die Verhaltensstörung als emotionale Störung verstehen, wird dem sozial-emotionalen Lernen eine erhebliche Bedeutung beigemessen. Die Raum- und Materialgestaltung, die Zeitstruktur sowie der Bekräftigungsmodus müssen vor diesem Hintergrund in den sozialen Kontext eingebunden sein. Außerdem muß der Reorganisation des kindlichen Selbst im Unterricht erhöhte Beachtung geschenkt werden, da Neukäter und Goetze von einem negativen Selbstbild der hyperaktiven Kinder ausgehen. Zur Veränderung der emotionalen Befindlichkeit des Kindes müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die eine Selbstfindung ermöglichen und eine Entwicklung zur Selbstverwirklichung in Gang setzen.

Das Modell gliedert sich in drei Phasen mit Grunddatenerhebung, experimenteller Phase 1 und experimenteller Phase 2.

Während der Grunddatenerhebung werden die bisher üblichen nicht-strukturierten Lernbedingungen ohne systematischen Einsatz von Bekräftigungsprogrammen, Lernzentren und Mate-rialstrukturierung beibehalten. Sie stellt eine stark fremdgesteuerte Phase dar, die die Entwicklung einer ausreichenden Aufnahmebasis für das kognitive und das soziale Lernen zum Ziel hat.

Der Unterricht in der ersten experimentellen Phase ist dadurch gekennzeichnet, daß die Reizstrukturierung in halbprogrammierter Form erfolgt, das Lernen in den Lernzentren stattfindet und ein systematisches Bekräftigungsprogramm eingeführt wird. Die Selbststeuerung der Schüler nimmt zu und sie können vermehrt auf die Prozesse der Unterrichtsplanung und -gestaltung Einfluß nehmen.

In der dritten Phase wird die systematische Bekräftigung zurückgenommen, während die Reizstrukturierung, die Materialstruktur und die eingeführten Lernzentren beibehalten werden. Ziel dieses Programms ist die bereits erwähnte emotionale Stabilität der Kinder und die Fähigkeit, Erfahrungen in allen Bereichen zu machen und in ihr Selbst zu integrieren.

Vernooij merkt zu diesem Konzept folgendes an: "Trotz angestrebter Ganzheitlichkeit bleibt eine funktions- und leistungsorientierte Ausrichtung vorherrschend. Die Beschreibung der Stadien, sowohl organisatorisch als auch methodisch-didaktisch, bleibt sehr vage; ebenso läßt die Darstellung eine klare Zielbeschreibung für die Phasen des Verlaufsmodells vermissen ... Die Erstellung eines Individualplanes ist offenbar keine Notwendigkeit, sondern nur eine Möglichkeit ... Aus meiner Sicht kann Verhaltensgestörtenpädagogik, und auch Pädagogik für hyperaktive Kinder, nur Einzelfallpädagogik sein, was Individualpläne nicht nur möglich, sondern notwendig macht" (Vernooij 1992, Seite 122 ff.).

Das Konzept der integralen Komplettierung nach Vernooij

Nachdem sich die Autorin Monika A. Vernooij kritisch mit den genannten Konzepten auseinandersetzte, legte sie das folgende Unterrichtskonzept auf individualpsychologischer Basis vor (vgl. Vernooij 1992, Seite 124 -138).

Unter "integrale Komplettierung" versteht die Autorin einen Unterricht, der sich durch eine ganzheitliche (integrale) Herangehensweise auszeichnet. Dabei muß die noch nicht voll entwickelte oder die fehlentwickelte Persönlichkeit des Kindes besonders beachtet werden, um sie dann zu vervollständigen, abzurunden, eben zu komplettieren. Die Komplettierung ist ein Prozeß der Weiterentwicklung im körperlichen, im geistigen und im seelischen Bereich, um soziale, kognitive und pragmatische Kompetenzen zu erlangen.

Die integrale Herangehensweise ist deshalb so wichtig, da alle Lebensäußerungen des Menschen in einem seelischen Gesamtzusammenhang zu verstehen und zu beeinflussen sind. Das Hyperkinetische Syndrom wird in diesem Konzept als ein, aufgrund psychischer Fehlentwicklung ausgebildetes Signalverhalten für psychische Probleme des Kindes verstanden.

Da dem Selbstwertgefühl die größte Bedeutung zugeschrieben wird, plädiert Vernooij für eine Neugewichtung der Zentralsymptome des HKS. Für sie sind die tatsächlichen Zentralsymptome folgende:

- Selbstwertprobleme, Minderwertigkeitsgefühle,

- Teilleistungsstörungen im Wahrnehmungs- und Erlebensbereich,

- Soziale Schwierigkeiten, mangelnde Gemeinschaftsfähigkeit.

Da die Autorin beim HKS von einer tiefgreifenden Störung im Rahmen der Persönlichkeitsentwicklung ausgeht, ergeben sich die Symptome Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsstörung, Impulsivität, emotionale Auffälligkeit und Lernstörungen aus den oben genannte Zentralsymptomen.

Der unterrichtliche Prozeß vollzieht sich in vier Hauptphasen und einer Abschlußphase:

- Beziehungsphase: Ziel ist die Herstellung einer tragfähigen Beziehung zwischen Schüler und Lehrer.

- Leistungsphase: Ziele sind die Aufhebung von Lernblockaden, die zunehmende Stabilisierung des Kindes hinsichtlich seines Selbstwertgefühles und die langsame Steigerung der schulisch relevanten Leistungen.

- Sozialisierungsphase: Ziel ist die Aufrechterhaltung und Förderung der Lernaktivitäten, Wahrnehmungsentzerrung, Stabilisierung der Selbstwertprobleme und Autonomiebestrebungen des Kindes.

- Individualisierungsphase: Ziel ist die Festigung des bisher Erreichten und die Erhaltung und Förderung der Entwicklungs-Eigendynamik, die das Kind zu einem autonomen Wesen werden läßt, das über eine eigene Identität verfügt.

- Nachbetreuungsphase: Ziel ist eine zusätzliche Absicherung und die Möglichkeit, Erfolge und auftretende Probleme noch im vertrauten Kreis bzw. mit vertrauten Personen besprechen zu können.

Die methodisch-didaktischen Vorüberlegungen sind an allgemeinen Komponenten der Persönlichkeitsentwicklung und der Identitätsbildung orientiert. Da das hyperkinetische Kind diesbezüglich Störungen aufweist, müssen folgende Kompetenzen zusätzlich erlernt werden:

- die Fähigkeit, eigene Bedürfnisse und Interessen zu entwickeln und wahrzunehmen,

- die Fähigkeit, eigene Zielsetzungen zu entwickeln,

- die Fähigkeit, selbständig und selbstbestimmt zu handeln,

- die Fähigkeit, innerhalb einer Gruppe Eigenständigkeit zu entwickeln und zu erhalten,

- die Möglichkeiten und Grenzen der eigenen Handlungsfähigkeit immer wieder zu erproben,

- die Fähigkeit, reale Gegebenheiten auf dem Hintergrund der eigenen Handlungsfähigkeit einzuschätzen.

Durch das Herausstellen besonderer Fähigkeiten des Kindes und durch die Gewährleistung von Erfolgserlebnisssen gelingt eine Stärkung des Selbstwertgefühls des Kindes. Wichtig sind auch Freiräume, in denen es selbstbestimmt spielen, forschen, Erfahrungen sammeln kann. Das Kind soll die Möglichkeit erhalten, in einer emotional sicheren Atmosphäre eigene Vorstellungen zu entwickeln und zu äußern. Angemessene Kritik und Widerspruch müssen trainiert und situa-tionsbezogen gefordert werden.

Die Beobachtung des Kindes in unterschiedlichen Situationen, sowie Gespräche, die Aufschluß über das Selbstbild des Kindes geben, haben große Bedeutung.

Wird das kindliche Verhalten, sprich seine motorische Unruhe, unter einer Zielperspektive betrachtet, d.h. das Kind möchte dadurch Beachtung und Hilfestellungen erlangen, kann auch das Lehrerverhalten dahingehend verändert werden. Nach Vernooij sollte der Lehrer die Ziele bestimmter Handlungsweisen mit dem Kind besprechen. "Erst wenn die Ziele bewußt gemacht sind, kann mit dem Kind gemeinsam nach alternativen Verhaltensformen zu deren Erreichung gesucht werden" (Vernooij 1992, Seite 133).

Der schulische Weg des Kindes zeichnet sich durch Leistungsentlastung und Beziehungsaufbau, durch langsame Leistungssteigerung bezogen auf schulisches Lernen zu umfänglicher Sozialisierung und Individualisierung aus. Für jede Phase gilt: "Soviel Lehrerzentriertheit und Fremdbestimmtheit wie vom Kind erwünscht, soviel Schülerzentriertheit und Selbstbestimmtheit wie möglich" (Vernooij 1992, Seite 142).

Die Beteiligung der Eltern an der Durchführung dieses Konzeptes in Form von Unterstützung des kindlichen Entwicklungsprozesses durch verändertes Erziehungsverhalten ist sinnvoll und notwendig.

Vernooij sieht den Unterschied ihres Konzeptes in der Bewältigung der kindlichen Probleme von den inneren Ursachen, und nicht von den äußeren Verhaltenssymptomen her. Sie ist überzeugt, daß die psychische Fehlentwicklung korrigiert werden kann, wenn es gelingt, das natürliche Streben des Kindes, von der Unzulänglichkeit zu mehr Vollkommenheit, wieder zu aktivieren.

Therapeutische Maßnahmen

Beim Durchlesen der Literatur zum Thema entsteht der Eindruck, als gäbe es eine Reihe von Möglichkeiten, um Kinder mit HKS erfolgreich zu therapieren. Sie reichen von der medikamentösen Therapie über Homöopathie, diätetische Maßnahmen, Provokations-/Neutralisationsmethode, Festhaltetherapie bis hin zu psychologisch orientierten Maßnahmen wie Verhaltens- und Familientherapie. Auch Musik- und Bewegungstherapien werden empfohlen.

Psychopharmakotherapie

Als zu Beginn der 80er Jahre unerwünschte und unangepaßte kindliche Verhaltensweisen als medizinisches Problem oder als Krankheit definiert wurden, wurde den Medizinern der Auftrag gegeben, eine Behandlungsmethode anzubieten. Da es jedoch keine klar abgrenzbare Definition der kindlichen Auffälligkeit gab (es gibt sie ja bis heute nicht), und da von einer (hirn-) organisch bedingten Auffälligkeit ausgegangen wurde, wurde die medikamentöse Therapie angeboten. Voss erklärt sich das folgendermaßen: "Daß man das, von dem man nicht genau weiß, was es ist, vorrangig mit Medikamenten, zumal mit Psychopharmaka behandelt, läßt sich allein vor dem Hintergrund konkreter Interessen und fachlicher Inkompetenz erklären" (Voss 1992, Seite 55).

Die Werbung vermittelt den hilflosen und alleingelassenen Eltern das Gefühl, durch die Einnahme von Medikamenten mit psychoaktiven Substanzen die Verhaltens- und Entwicklungsauffälligkeiten beheben zu können. So wird ihnen die Hoffnung auf eine heile Welt vorgegaukelt. Um diesen Zustand zu erlangen, sind sie gern bereit, ihr Kind mit Medikamenten vollzustopfen. Die Behandlung geschieht trotz einer Vielzahl von Warnungen, die auch auf folgenschwere Nebenwirkungen hinweisen. So werden

- Wachstumsstörungen,

- Schlafstörungen,

- Ruhelosigkeit,

- Schwindelgefühle,

- Appetitlosigkeit und

- paradoxe Wirkungen (eine Verstärkung der vorhandenen Aggressivität oder Hypermotorik)

durch Psychopharmaka genannt.

Auffällig sind auch die psychischen Veränderungen der Kinder. Viele Eltern erkennen nach Vergabe von Psychopharmaka ihr Kind nicht wieder (vgl. Voss 1990, Seite 35).

Für Eltern ist es eine regelrechte Erleichterung zu erfahren, daß die Verhaltensweise des Kindes krankhaft ist und medikamentös behandelt werden kann. Es wird ihnen das schlechte Gewissen genommen, versagt zu haben. Die Schuldzuweisungen stellen eines der größten Probleme für die Eltern dar. Dadurch, daß die Andersartigkeit der Kinder nicht akzeptiert wird, bedeutet das eine große Herausforderung für das betroffene Kind und für die Eltern. Immer wieder schreiben betroffene Eltern davon, wie das aggressive, gereizte, zappelige Verhalten hyperaktiver Kinder zuerst ihnen angelastet wird. Ihnen begegnet immer wieder massive Kritik an ihrer Erziehungskompetenz. Diese Schuldzuweisungen von außen haben einen tatsächlichen Zweifel an der Erziehungsfähigkeit zur Folge. Vor allem die Mütter leiden unter steigenden Schuld- und Versagensgefühlen. Zusätzlich müssen sie oft Tadel von Ihren Männern einstecken. So wird den Frauen vielfach Erziehungsunfähigkeit, zu wenig Strenge und inkonsequentes Verhalten von den Vätern ihrer Kinder vorgeworfen. Die wechselseitigen Schuldzuweisungen scheinen aber noch weitere Kreise zu ziehen. Eltern weisen die Schuld insbesondere den Lehrern zu, die sich zu wenig für ihre Kinder einsetzten, sie falsch oder ungerecht behandelten oder sie leichtfertig an andere Schulformen abschöben. Die Lehrer wiederum sehen die Probleme, die sie mit ihren verhaltensgestörten Kindern haben, im Elternhaus. Die Ärzte schließlich verweisen auf das Versagen beider Erziehungsinstitutionen, und auch die Politiker schieben die Verantwortung ausschließlich den Eltern in die Schuhe. Vor allem die Mütter werden so in eine verzweifelte, von Hoffnungslosigkeit und Resignation geprägte, Situation gedrängt. Zur Bewältigung dieser Situation greifen diese Mütter zu einem Erklärungsmuster, wonach die Verhaltensauffälligkeit organisch bedingt sei, womit die Ursache nicht mehr in der Familie, sondern in der Konstitution des Kindes liegt. "Rückzug auf die angeblich endogen bedingte Erkrankung des Kindes blendet alle möglichen gesellschaftlichen Bedingungsfaktoren auffälligen Verhalten aus und schützt die Mütter vor jener Schuld, die ihnen öffentliche Diskussionen zuschreibt. Die Übertragung der kindlichen Verhaltensstörung in das Aufgabengebiet des Arztes bewahrt sie aber auch vor den Fragen durch Psychologen oder andere Mitarbeiter von Beratungsstellen, die sie, zum Teil zu Recht, als einseitig, diskriminierend und als unberechtigtes Eindringen in ihre Privatsphäre empfinden" (Voss 1992, Seite 32).

Die gebräuchlichsten Psychopharmaka werden unterteilt in:

- Neuroleptika z.B. Atosil

- Antidepressiva z.B. Trofanil

- Stimulantien z.B. Methylpenidat im Ritalin, Amphetamine im AN 1, Fenethylinhydrochlorid im Captagon

- Tranquilizer z.B. Librium

Die Behandlung mit Stimulantien ist auf Bradley zurückzuführen, der bereits 1937 beobachtete, daß Amphetamine die motorische Aktivität bzw. Unruhe von Kindern mit Verhaltens- und/oder Lernschwierigkeiten reduzierte. Das am häufigsten verabreichte Psychopharmaka in Fällen von Hyperaktivität ist Ritalin, das Mitte der 50er Jahre erstmals produziert wurde. Es handelt sich um ein synthetisch hergestelltes Medikament, das, auf der Basis von Methylphenidat, ähnlich wie Amphetamine wirkte. Seit der Freigabe für die Behandlung von Kindern im Jahre 1961, wurden Schüler umfangreich mit diesen Psychostimulantien behandelt (vgl. Vernooij 1992, Seite 70). Die weitere Entwicklung der medikamentöse Therapie erklärt sich die Autorin Vernooij wie folgt: "Durch die medikamentöse Behandlung entstand ein verstärkter Druck, ein hirnorganisches Korrelat für deren auffälliges Verhalten zu finden. Da dies nicht eindeutig möglich war, erfolgt die begriffliche Veränderung von Hirnverletzung zu Hirnfehlfunktion, einer erweiterten medizinischen Kategorie, die eine medikamentöse Behandlung rechtfertigte" (Vernooij 1992, Seite 71).

Neben den bereits erwähnten Nebenwirkungen möchte ich an dieser Stelle die Gefahr physischer und psychischer Abhängigkeit betonen. Durch die regelmäßige Einnahme von Medikamenten lernen Kinder das Verhaltensmuster, in Problemsituationen zur Pille zu greifen, das Problem sozusagen wegzulutschen. Das Kind zieht seine eigenen Fähigkeiten zur Bewältigung des Konflikts gar nicht mehr in Betracht. Erwachsene Vorbilder tragen auch noch das Ihre bei, indem sie der eigentlichen Konfliktlösung über die Pille aus dem Weg gehen. Die modellhaften Handlungsmuster und Verhaltensweisen, die Kinder so aufbauen, können ihnen auf ihrem späteren Lebensweg zum Verhängnis werden (vgl. Voss/Wirtz 1990, Seite 38).

Interessenvertreter der medikamentösen Therapie

Der Familientherapeut Reinhard Voss nennt in seinem Buch "Anpassung auf Rezept" die wesentlichen Interessenvertreter der medikamentösen Therapie. Es ist nicht in seinem Sinn, den einzelnen Lobbyisten die Schuld zuzuweisen. Ihm geht es vielmehr darum, ökonomische oder politische Machtstrukturen aufzudecken (vgl. Voss 1992, Seite 66 - 72).

Die Pharmaindustrie

Den multinationalen Pharmakonzernen gelang es in kürzester Zeit, die MCD als eine anerkannte Kategorie zu festigen. Durch die aufwendigen, verkaufsorientierten Informationen, die an ärztliche Praxen verteilt wurden, wurden die Ärzte nahezu gedrängt, Kinder als hyperaktiv zu diagnostizieren und mit den angebotenen Medikamenten zu behandeln. Die Werbung trug ihren Teil bei, indem sie Eltern und Lehrer über die Diagnose der MCD in Kenntnis setzte. Dadurch stieg die Erwartungshaltung an die

Medikamententherapie.

Die medizinischen Institutionen ebneten also durch die "Entdeckung" der Hyperaktivität der Pharmaindustrie den Weg, welche heute sicher der größte Interessenvertreter der medikamentösen Therapie ist.

Die Krankenkassenbürokratie

"Die Einnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung, an denen die Bürokratie prozentual beteiligt ist, richten sich nach den Ausgaben der Ärzte und Pharmaindustrie. Die auf Gewinnmaximierung gerichtete Ausgabenpolitik der Ärzteschaft wird über steigende Beiträge der Versicherten finanziert. Damit sind die gesetzlichen Krankenversicherungen indirekt am Gewinnstreben der pharmazeutischen und medizinischen Lobby beteiligt ... Die Sozialversicherten finanzieren somit nicht nur die steigenden Gewinn der Pharmaindustrie, sondern in gleicher Weise die Expansion der gesetzlichen Krankenversicherungen und der kassenärztlichen Vereinigungen" (Voss 1992, Seite 69).

Die Ärzte

Für den in der Regel überlasteten Arzt stellt die medikamentöse Behandlung eine wenig arbeitsaufwendige und damit zeitsparende Form der Therapie dar, die eine nicht sachgemäße Anamnese zur Folge hat. Zudem entspricht diese Therapie seinen ökonomischen Interessen.

Aus Angst, den Patienten an einen Kollegen zu verlieren, greifen Ärzte oft lieber zum Rezeptblock. In vielen Fällen reicht sogar eine Information eines Elternteils über ihr "Sorgenkind" aus, damit er in Besitz des gewünschten Rezeptes kommt.

Die Eltern

Die Eltern entlasten sich durch eine medikamentöse Therapie selbst, da sie von einem "medizinisch erwiesenen" Problem ausgehen, das beim Kind liegt. Somit können sie einer Reflexion über eigene Einstellungen und Handlungen, sowie über mögliche Erziehungsdefizite aus dem Weg gehen. Das hohe Interesse der Eltern ist also in der enormen Entlastungsfunktion, die die Tablette besitzt, begründet.

Die Lehrer

Die Lehrer fühlen sich oft aufgrund ihrer mangelnden Ausbildung im Hinblick auf Problemkinder maßlos überfordert. So neigen sie aufgrund ihrer Verunsicherung und Ratlosigkeit dazu, die Kinder an andere Autoritäten wie Ärzte und Beratungsstellen abzuschieben. Damit werden sie der Notwendigkeit enthoben, über Störmomente in der Schule nachzudenken - die Ursachen für den Schul- und Unterrichtskonflikt liegen ihrer Meinung nach ja sowieso beim Kind.

Provokations-/Neutralisationsmethode

Die klinische Ökologin Doris Rapp geht davon aus, daß Hyperaktivität eine Folge einer nicht erkannten Allergie ist. Sie ist eine Verfechterin der Provokations-/Neutralisationsmethode, mit welcher sich Ihren Angaben zufolge rasch diejenigen Substanzen austesten lassen, die dem Patienten tatsächlich Schwierigkeiten bereiten. Bei dieser Methode spritzt der Arzt ein Tröpfchen der Testlösung in die obere Hautschicht des Patienten. Dabei benutzt er diese Lösung in verschiedenen Verdünnungen. Ruft der Test an der Einstichstelle eine Hautreaktion hervor, oder hat der Patient auf einmal die Beschwerden, an denen er leidet, in abgeschwächter Form, wird der Test als positiv betrachtet, und eine Allergie angenommen. Nachdem das Allergen ausfindig gemacht wurde, spritzt man dem Kind einen kleinen Tropfen derselben Lösung, nur in verstärkter Verdünnung. Das geschieht in Verdünnungsschritten von eins zu fünf, also zuerst 1:5, dann 1:25, dann 1:125 und so weiter. Jeder Test wird durch eine siebenminütige Pause unterbrochen. Jene Verdünnung, auf welche das Kind nicht mehr reagiert, ist dann die richtige, neutralisierende Dosis. Wird diese spezielle verdünnte Testlösung gespritzt, verschwinden die Beschwerden des Kindes. Aufgabe des Kindes ist es nun, dreimal täglich drei Tropfen der neutralisierenden Dosis der Testsubstanz unter die Zunge zu träufeln. Von dort aus kann die Substanz dann schnell durch die Schleimhäute in den Körper gelangen. Diese Therapieform ermöglicht laut Rapp den meisten Patienten, wieder fast alle Nahrungsmittel, gegen die sie allergisch sind, in einem Vier-Tages-Rhythmus zu essen. Eine genaue Erklärung dieser Methode kann Rapp nicht liefern; sie geht jedoch davon aus, daß der Mensch weit komplexer und komplizierter ist, als man erahnen könne. Dadurch, daß die klinischen Ökologen das akzeptieren, verwenden sie solche Test- und Behandlungsmethoden, "ohne bislang genau erklären zu können, wie oder warum sie funktionieren" (Rapp 1996, Seite 27).

Ein wesentlicher Bestandteil dieser Therapie ist die bereits erwähnte "Vier-Tages-Rotationskost", bei welcher jedes Nahrungsmittel nur in einem Vier-Tages-Rhythmus gegessen werden darf. So können Nahrungsmittel, welche Beschwerden auslösen, schnell herausgefunden werden. Weiters wird dadurch die Neigung des Einzelnen reduziert, neue Nahrungsmittelallergien zu entwickeln. Da es fast nicht möglich ist, die Rotationskost ein Leben lang einzunehmen, empfiehlt Rapp eine sechsmonatige bis einjährige Einhaltung. Nach dieser Zeit sollte aber weiterhin auf gesunde Ernährung geachtet werden. Zucker und Lebensmittelfarben sollten so weit als möglich vermieden werden. Die Autorin weist jedoch ausdrücklich darauf hin, daß bei extremen Allergien bestimmte Nahrungsmittel strikt gemieden werden müssen (vgl. Rapp 1996, Seite 95 - 97).

Diätetische Maßnahmen

Was diese Therapieform anbelangt, brachte der bereits in Kapitel 4.1.3 erwähnte amerikanische Allergologe Feingold den Stein ins Rollen, indem er 1973 die Diskussion um die Wirkung von Nahrungsmittelzusätzen und von organischen und anorganischen Phosphaten in Nahrungsmitteln auslöste. Seiner Hypothese zufolge, können die in Nahrungsmitteln enthaltenen künstlichen Aroma- und Farbstoffzusätze, sowie die als natürliche Substanzen in Gemüsen und Früchten vorkommenden Salicylate hyperkinetisches Verhalten auslösen.

Seine unter dem Namen "Kaiser-Permanent-Diät" bekannt gewordene Diät schreibt die Vermeidung einer großen Zahl von fabrikmäßig hergestellten, weiterverarbeiteten und/oder tiefgefrorenen Nahrungsmittel vor. Auch der Genuß von Früchten ist einzuschränken; Äpfel, Bananen, Blaubeeren, Erdbeeren, Pflaumen und Rhabarber sind ganz zu vermeiden. Besonders schädlich nennt er den roten, künstlichen Farbstoff "Erythrosin" und den ebenfalls künstlichen orangefarbenen Farbstoff "Tartrazin". Einen allgemeingültigen Ernährungsplan für jeden Allergiker liefert Feingold nicht, da er davon ausgeht, daß wir alle so verschieden sind, daß die Diät für jeden maßgeschneidert werden müsse (vgl. Vernooij 1995, Seite 81 - 84, Rapp 1996, Seite 105 -107).

In Anlehnung an die Farbstoff-Hypothese von Ben Feingold entwickelte die Pharmazeutin Hertha Hafer die phosphatreduzierte Diät. Nach ihrer Überzeugung, motorische Unruhe entstände aufgrund von zugesetzten oder natürlichen Phosphaten in der Nahrung, verbietet ihre Diät folgende Nahrungsmittel:

- Milch, Quark, Milchprodukte;

- Coca-Cola, die meisten Fruchtsäfte, Malzbier;

- Haferprodukte, einschließlich Müsli und Cornflakes;

- Nüsse und Nußprodukte;

- Popcorn, Marzipan, Nougat, alles aus Kakao, auch Schokolade und Nutella.

(vgl. Hafer 1984, Seite 90 -95)

Die Diplompädagogin Monika A. Vernooij bemängelt an den genannten Diätformen empirische Studien, die sichtbare Veränderungen bei hyperaktiven Kindern belegen. Auch weist sie bei feststellbaren Verhaltensänderungen auf die veränderte Situation, sowohl im Hinblick auf die Stellung des Kindes innerhalb der Familie als auch im Hinblick auf das Erziehungsverhalten der Eltern hin (vgl. auch Kap. 4.1.3). Sie warnt weiters vor Ernährungsdefiziten, die bei derart einseitigen Diäten auftreten können (vgl. Vernooij 1992, Seite 83 - 84).

Keine Übereinstimmung erhält Vernooij diesbezüglich vom Kinderarzt Ernst A. Stemmann, der ebenfalls von einer Nahrungsmittelallergie als Ursache für hyperaktives Verhalten ausgeht. Seinen Angaben zufolge sind davon bestimmte Persönlichkeiten betroffen, Atopiker genannt, welche in jeder Hinsicht überempfindlich reagieren, und sich deshalb vermehrt in Spannungssituationen befinden, die somatische Veränderungen hervorrufen. So kommt es zu einer vermehrten Durchblutung der Schleimhäute, die in der Folge anschwellen und für Fremdstoffe wie Allergene durchlässiger werden. Auch das sekretorische Immunglobulin A, das die Schleimhaut vor dem Eindringen von Fremdstoffen schützt, vermindert sich in Spannungssituationen, was eine Schwächung der Schleimhautabwehr bewirkt. Weiters reduzieren sich die T-Lymphozyten, welche Allergisierungsprozesse unterdrücken, so daß eine Allergie leichter entstehen kann. Die mangelnde Schleimhautabwehr und die erhöhte Durchlässigkeit der Schleimhaut verursachen eine vermehrte Aufnahme unverträglicher Stoffe, die dann das hyperkinetische Syndrom hervorrufen.

Seine Ernährung für Kinder mit hyperkinetischem Syndrom besteht vorwiegend aus Gemüsen und Salaten, die mit kalt gepreßten Pflanzenölen, Sauerrahmbutter oder Margarine zubereitet und größtenteils roh gegessen werden. Das weiße Mehl wird durch Vollkornmehl ersetzt. Das tägliche Müsli mit Getreide und frischem Obst ist ebenfalls ein unabdingbares Bestandteil des Speiseplanes.

Dieser umfaßt:

- "Gemüse: Erbsen; Möhren, Soja, Blumenkohl, Kohlrabi, Rosenkohl, Rotkohl, Weißkohl, Broccoli, Spinat, Bohnen, Schlangengurke

- Salat: Blattsalat, Endiviensalat, Eissalat

- Obst: Apfel, Birne, Banane

- Beilage: Kartoffel, Vollkornnudeln, ungeschälter Reis

- Getreide: Weizen, Roggen, Gerste, Hafer, Hirse, Leinsamen, Grünkern

- Brot: Weizen-, Roggenmischbrot milchfrei, Roggenbrot milchfrei

- Fett: Sauerrahmbutter, trinksauermilchfreie Margarine, kalt gepreßtes Pflanzenöl,

- Fleisch: Rindfleisch, Kalbfleisch, Geflügel, Fisch, Lamm 1(-2)mal pro Woche

- Getränk: Tee ungesüßt, stilles Wasser mit einem Natriumgehalt und 50 mg/kg

- Gewürz: jodiertes Salz

Gemieden werden:

- Obst, Fruchtsäfte, Früchtetees, die reich an Fruchtsäure sind

- tierisches Eiweiß in Form von Kuhmilch, Hühnerei, Wurst, Käse, Quark

- Fabrikzucker, industriell hergestellter Traubenzucker, Milchzucker, Ahornsirup, Birnendicksaft; ferner Honig und synthetische Süßstoffe

- Lebensmittelzusätze

- Kräuter zum Würzen"

(Stemmann in Voss 1995, Seite 74 - 75)

Stemmann empfiehlt eine vegetarische Ernährung, da diese Einfluß auf das Reaktionsmilieu des Körpers hat und es zum Basischen verändert, wo allergische Prozesse nicht mehr so gut ablaufen können. Da Gemüse und Salate basisch wirken, sind sie wichtige Nahrungsmittel für den Allergiker.

Neben dieser Diät empfiehl Stemmann eine physische und psychologische bzw. psychotherapeutische Therapie, da die Persönlichkeit des Atopikers das Erkrankungsbild mitbestimmt (vgl. Stemmann in Voss 1995, Seite 71 - 79).

Verhaltensmodifikation

Die Verhaltensmodifikation reduziert das Kind auf sein Verhalten, auf einen Reiz-Reaktions-Mechanismus und zielt auf eine von außen fremdbestimmte Anpassung. Durch individuell entwickelte Verstärkerprogramme wird versucht, erwünschtes Verhalten aufzubauen und unerwünschtes Verhalten zu eliminieren. Auffälliges Verhalten beruht im Sinne der Verhaltensmodifikation "auf fehlenden, unzureichenden oder fehlgeleiteten Lernprozessen, die durch Anwendung lerntechnologischer Forschungsergebnisse umgelernt bzw. neu gelernt werden müssen. Wenn aber die meisten Ursachen für auffällige Verhaltensweisen in unseren gesellschaftlichen, familiären oder schulischen Lebensbedingungen auszumachen sind, so können diese sicherlich nicht mit Mitteln der Verhaltensmodifikation verändert werden" (Voss 1992, Seite 59).

Die kognitive Wende innerhalb der Verhaltenstherapie hat eine Einbeziehung der Kognitionen des Menschen bewirkt. Laut Vernooij sind das Problemlösetraining und die Methode der Selbstinstruktion die beiden Techniken, die bei der Behandlung von Kindern mit HKS am häufigsten Anwendung finden.

Beim Problemlösetraining soll das Kind in spielerischer Form lernen, mit Hilfe neuer Strategien Problemsituationen rechtzeitig zu erkennen und sie in erfolgversprechender bzw. angemessener Weise anzugehen und zu bewältigen. So erlernt das Kind Sicherheit und Gelassenheit in kritischen Situationen und das Selbstvertrauen im Hinblick auf deren Bewältigung.

Die Methode der Selbstinstruktion geht auf Donald Meichenbaum zurück, welcher davon ausging, daß durch die Versprachlichung der Einzelkognitionen und der Handlungssequenzen eine Verbesserung im Problemlöseverhalten zu erreichen sei. Mit dem Therapeuten als positivem Modell soll das Kind lernen, sein Verhalten in Konfliktsituationen mit Hilfe einprägsamer Sätze effektiv zu steuern. Das individuell erarbeitete Selbstinstruktionsprogramm wird in Beispielsituationen spielerisch eingeübt (vgl. Vernooij, 1992, Seite 74 - 79).

Eindeutige Ergebnisse, daß kognitive Verhaltenstherapien allein eine dauerhafte Veränderung des Verhaltens oder eine Verbesserung der schulischen Leistungen erbracht hätten, liegen nicht vor.

Spieltherapie

Monika A. Vernooij stellt die beiden wichtigsten Formen humanistischer Spieltherapie dar. Diese sind:

  1. die Nicht-direktive Spieltherapie nach Virginia Axline,

  2. die Klientenzentrierte Spieltherapie nach Stefan Schmidtchen.

Zu 1

Diese Form der Spieltherapie geht davon aus, daß das Individuum sich selbst erhalten und entwickeln kann, und daß es selbst die Verantwortung für die Führung übernehmen kann. Das Kind hat sowohl die Fähigkeit, seine Probleme zufriedenstellend zu lösen, als auch die Tendenz, seinem "Wachstumsimpuls" zu folgen, der ihm ein reifes Verhalten suggeriert.

Diese Spieltherapie soll dem Kind die Möglichkeit geben, seine angesammelten Gefühle von Spannungen, Frustration, Unsicherheit, Angst, Aggression und Verwirrung auszuspielen. Das Kind kann also ohne Beeinflussung durch Erwachsene seine Gefühle an die Oberfläche kommen lassen, "und es lernt im Spiel, sich ihnen zu stellen, sie zu beherrschen oder sie zu überdenken und dann zu relativieren oder zu modifizieren" (Vernooij 1992, Seite 86).

Das handelnde Kind steht also im Mittelpunkt des Geschehens. In der Spielstunde kann das Kind seinen Interessen nachgehen, ohne daß die Handlungen bewertet oder gar sanktioniert würden. Es muß sich mit niemandem messen und muß keine Erwartungen von Erwachsenen erfüllen. Es entfallen sowohl Verbote und Zurechtweisungen, als auch Lenkung und Unterstützung. Sobald das Kind "eine psychische Druckentlastung erreicht hat, beginnt es, seine Fähigkeit zu entdecken, eine Eigenpersönlichkeit zu sein. Es lernt, selber zu denken, zu entscheiden, zu reifen und sich allmählich selbst zu verwirklichen" (Vernooij 1992, Seite 86).

Der Therapeut steckt zwar in einer nicht-direktiven Rolle, er ist dennoch nicht passiv. Er muß ständig sensibel und wachsam sein, muß sich akzeptierend verhalten und muß die Fähigkeit besitzen, kindliche Gefühle zu erkennen und zu reflektieren. Der Respekt vor dem Kind ist Voraussetzung, um sein Vertrauen zu gewinnen. "In der Nicht-direktiven Spieltherapie erhält das hyperkinetische Kind die Gelegenheit, sich ohne dirigistische Eingriffe von außen, aber mit vorbehaltlos akzeptierender Begleitung durch den Therapeuten, mit seinen Problemen auseinanderzusetzen.

Durch das verständnisvolle Reflektieren seiner Gefühle lernt das Kind sich selbst besser kennen ... " (Vernooij 1992, Seite 88). Es entwickelt eine positive Selbsteinschätzung und kann innerlich wachsen und reifen, was ein ruhigeres Verhalten zur Folge hat (vgl. Vernooij 1992, Seite 86 -88).

Zu 2

Das Konzept von Schmidtchen stellt eine Verknüpfung von Verhaltenstherapie, kognitivem Training und nicht-direktiver Spieltherapie dar.

Dadurch, daß sich nach Schmidtchen das Verhalten auf der

- aktionalen bzw. phänomenologischen,

- rationalen bzw. kognitiven,

- emotionalen bzw. affektiven Ebene vollzieht,

müssen bei einer angestrebten Verhaltensänderung Ziele für jede dieser Ebenen berücksichtigt werden.

Das Ziel der ersten Ebene ist der Abbau von hyperaktivem Verhalten, wobei er davon ausgeht, daß dieses Fehlverhalten durch Außeneinflüsse erlernt wurde.

Das Ziel der kognitiven Ebene ist die Vermittlung von Problemlösetechniken (vgl. Kap. 7.4), wobei das Problem die Unfähigkeit des Kindes ist, auf Verfahren oder Techniken zurückzugreifen, um das Ziel zu erreichen.

Die Veränderung von Vor- und Einstellungen, von Werthaltungen und Erwartungen, von Interessen und Wünschen ist das wesentliche Ziel für die dritte Ebene.

Der Therapeut hat folgende Aufgaben zu erfüllen:

- Er zeigt interessierte Aufmerksamkeit für das im Moment Wichtige beim Kind.

- Er muß ruhig und zuversichtlich sein.

- Er muß angemessen distanziert vom Kind sein.

- Er muß möglichst wenig lenkend und führend sein.

- Seine Verbalisierung sollte kurz, verständlich, treffend und inhaltlich positiv sein.

Vernooij kritisiert an der Klientenzentrierten Spieltherapie die partielle Behandlung des Kindes, obwohl die Therapieform ganzheitlich orientiert ist. Das Spiel findet ihres Erachtens kaum Beachtung, die Ziele könnten auch ohne Spiel erreicht werden.

Bezogen auf eine Therapie bei Kindern mit HKS scheint eine Spieltherapie nicht angebracht. Dieser Meinung von Vernooij scheinen sich auch andere Autoren anzuschließen, da sie diese Therapieform in ihren Büchern erst gar nicht aufgreifen.

Festhaltetherapie

Die Diplompsychologin Jirina Prekop kam zusammen mit der Kinderärztin Christel Schweizer zu dem Ergebnis, daß im Symptom der Hyperaktivität immer Streß zum Ausdruck kommt, der durch die Haltung der Eltern entstehen kann. Je verunsicherter die Eltern sind, um so mehr kommt das Kind in Streß und reagiert mit Hyperaktivität. Die Unruhe des Kindes hat also ihre tiefsten Wurzeln in der Beunruhigung der Eltern, deren tiefste Wurzeln wiederum in der Angst vor Fehlern begründet ist. Der Zwang der Eltern, fehlerfrei zu sein wird ihnen zum Verhängnis, da sie ihre elterliche Gelassenheit dafür opfern müssen. Sie verlieren so die innere Ruhe, die das Kind braucht, um bei den Eltern Halt und Sicherheit zu finden. Prekop und Schweizer wollen in ihrem Ratgeber für beunruhigte Eltern diesen die Angst vor der Fehlbarkeit nehmen und Gelassenheit einflößen, auf welche die Kinder angewiesen sind. Sie sprechen von der toleranten Liebe, in der man sich geliebt fühlt, obwohl man unvollkommen ist und von Gott, der alle liebt und hält, auch wenn wir gegen das Gute verstoßen.

Streß entsteht nach Auffassung der Autorinnen weiter dadurch, daß sich die Kinder nicht auf voraussagbare Reaktionen ihrer Umwelt verlassen können. Müssen Kinder solche Erfahrungen laufend machen, sind sie permanent auf der Hut und können sich nicht "fallenlassen" (Prekop/Schweizer 1993, Seite 71). Der so entstandene Streß kann chronisch werden, was ein Schwinden der Abwehrkräfte zur Folge hat. Das Kind kann sich nun gegen schädliche Stoffe, die in Nahrung, Luft und Medikamenten sind, nicht mehr wehren. Die Autorinnen sehen die Lösung dieses Streßproblems in der Wiederherstellung der "höheren Ordnung", der "schöpfungsbedingten Ordnung". Durch das Eingebundensein in diese Ordnung hat nämlich jeder sowohl den Halt als auch den Rückhalt. So rufen die Autorinnen die Eltern auf, sich getragen und gehalten von den guten Kräften dieser Welt zu fühlen. "Sie sind nicht alleine! Sie sind eingebunden in den großen Strom des Lebens, in den Strom, den viele von uns schon verlassen haben, und den Strom derer, die noch kommen werden" (Prekop/Schweizer 1993, Seite 90).

Kinder, die sich auf keine Ordnung verlassen können, holen sich auf destruktive Weise Sicherheit. Deshalb plädieren die Autorinnen für das göttliche Prinzip, wo Liebe, Achtung und Regeln einen Zusammenhang bilden. Ihre Theorie dazu lautet: "Wenn die Regeln nicht eingehalten werden, geht die Achtung verloren, und durch die verlorene Achtung wird die Liebe zerstört und kehrt sich in Haß-Liebe und Haß um" (Prekop/Schweizer 1993, Seite 104). Die Regeln werden als Verträge definiert, nach denen der Umgang miteinander gepflegt wird, und die ein Zusammenleben erleichtern, da sie die Handlungsfreiheit wie auch die Handlungsbeschränkung beschreiben, ohne daß die Liebe in Frage gestellt ist. Eltern müssen darauf achten, daß diese Regeln einfach und klar ausformuliert sind, und von allen Beteiligten eingehalten werden. Werden diese Voraussetzungen erfüllt ,und haben die Regeln den Zweck, daß man einander achtet und daß man aufeinander Rücksicht nimmt, ist einem die "wohltuende Wirkung der Regeln" (Prekop/Schweizer 1993, Seite 107) sicher. Das Kind braucht aber auf jeden Fall die Nähe der Eltern, die es körperlich spüren muß. Deshalb ist ein Ziel der Therapie, die mütterliche/väterliche Sicherheit und die Eindeutigkeit gegenüber dem Kind zu stärken. Zudem soll die Beziehung von Vater und Mutter nach den Ordnungen im familiären Beziehungssystem gestärkt werden, "damit das Kind die Eltern als Eltern erkennen kann und die Steuerung, die es durch die Eltern erfährt, als Hafen der Geborgenheit erlebt. Als Hafen der Geborgenheit, in dem man ruhig ankern, aber auch Kräfte tanken kann, um unter Selbststeuerung die Ausfahrt zu wagen" (Prekop/Schweizer 1993, Seite 164). Nachdem die Einsicht der Eltern geweckt worden ist, wird ihnen gezeigt, wie wichtig die Hand- und Körperführung im Umgang mit ihrem Kind ist. Eltern müssen demnach ihrer Aussage durch Körperkontakt Ausdruck verleihen und durch diesen Körperkontakt die Lebensenergie des Kindes in die richtige Richtung lenken, "und schon ist er willens - besten Willens!" (Prekop/Schweizer 1993, Seite 169).

Daß diese Therapieform auf vehemente Kritik stößt, zeigen zahlreiche Veröffentlichungen in Zeitschriften sowie diverse Bücher. So warnt auch der Autor Walter Bärsch in einem Artikel vor der Halte-Therapie, welche im englischen Sprachraum "force holding" genannt wird und mit "erzwungenem Halten" übersetzt werden müßte. Prekop geht davon aus, daß Kinder, denen in den ersten Lebensjahren von den Eltern keine Grenzen gesetzt wurden, die Grunderfahrung des Festgehalten-, Bestimmt-, Geschützt- und Geliebtwerdens fehlt. Durch körperliches Festhalten mit gleichzeitiger Liebesbeteuerung kann das Versäumnis seitens der Eltern nachgeholt werden und die negativen Gefühle des Kindes wandeln sich in Liebe und Harmonie um. Bärsch kritisiert die mangelnde theoretische Begründung dieser "Therapie" wie folgt: "Die Begründung ist ein wissenschaftlich unseriöses Sammelsurium von Einzelaussagen aus den verschiedenen einschlägigen Forschungsbereichen" (Bärsch 1988, Seite 3). Seines Erachtens läßt diese "Therapie" alles außer acht, was mittlerweile über die Entwicklung der Kinder und die Entstehung von Verhaltensstörungen bekannt ist. Stattdessen fordert sie die Eltern auf, Gewalt gegen ihre Kinder anzuwenden - denn "das ,erzwungene Halten' ist Gewalt" (Bärsch 1988, Seite 3) - , auch wenn dadurch die Würde des Kindes verletzt wird.

Bärsch zählt folgende psychische Auswirkungen durch das "erzwungene Halten" auf:

- Im Zustand des Festgehaltenwerdens sind die motorischen Reaktionen des Kindes weitgehend unterbunden. Das Kind erlebt seine Ohnmacht total. Entsprechend negativ sind seine Gefühle.

- Im Widerspruch zu dieser Gewaltanwendung wird verbal die liebende Zuwendung bezeugt und nach dem endgültigen Zusammenbruch der Trost.

- Damit erhält das Kind extrem widersprüchliche Informationen über den Erwachsenen: Er wendet Gewalt an, und gleichzeitig gibt er vor, das Kind zu lieben ...

- Das Kind muß erleben, daß es keinen anderen Weg gibt, aus seiner persönlichen Not herauszukommen, als sich den durch Gewaltakte demonstrierten Erwartungen der Erwachsenen zu beugen = erzwungene Anpassung des Kindes an die Erwartung der Erwachsenen. Es wird "ruhig", es wird "lieb", es ist "besten Willens", aber dies ist ein Verhaltenswandel im Stile einer Vermeidungsstrategie. Um die Qual zu beenden, gibt das Kind nach. Damit ist das neue Verhalten letztlich nur die Folge einer negativen Verstärkung, d.h. der Bestrafung des unerwünschten Verhaltens.

(vgl. Bärsch 1988, Seite 4)

Homöopathie - Naturheilkunde - Bioboom

Da sich das Krankheitsgeschehen bei jedem Menschen anders darstellt und ausprägt, gibt es in der Homöopathie keine Standardmedikationen. Die Behandlung ist stets am individuellen Einzelfall orientiert. Der Mensch wird als Ganzheit von Körper, Seele und Geist angesehen, die nicht getrennt voneinander funktionieren.

Homöopathische Substanzen werden aus Grundstoffen der Natur genommen und regen damit die Selbstregulation an. Unerwünschte Nebenwirkungen bleiben aus.

Kommt es nach Einnahme des homöopathischen Medikamentes zu einer sogenannten Erstverschlimmerung, ist das ein Zeichen dafür, daß der Organismus auf das Mittel reagiert. Der Selbstheilung steht also nichts mehr im Wege.

Die stark verdünnten homöopathischen Mittel erinnern die angesprochenen Körperzellen an ihre natürlichen Selbstheilungskräfte. Diese Erinnerung muß so oft geschehen, bis die Regulation wieder selbst funktioniert. Der Weg der Naturheilkunde darf jedoch nicht als Allheilmittel verstanden werden.

Homöopathische Arzneien wirken sich positiv auf die seelische Gestimmtheit des Kindes aus. So können Alltagsprobleme wie Unrast, Angst, schlechter Schlaf usw. wirksam beeinflußt werden. Sie helfen, die Reaktionen eines Kindes auf die Belastungen in seiner Umwelt auszugleichen - gegen diese Belastungen selbst sind sie natürlich nicht wirksam.

(vgl. Bernau 1995, Seite 135 - 149)

Genau dieses Bild, wonach Kinderprobleme mühelos zu beheben sind, und die Entlastung der gestreßten Eltern garantiert wird, vermittelt die Naturheilkunde den Eltern. Der Kinderpsychologe und Psychotherapeut Heinz Zangerle warnt in seinem Artikel "Edelstein statt Einmaleins" vor dem sogenannten Bioboom.

Seinen Erfahrungen zufolge blüht das Esoterik-Geschäft, da "gefragt ist, was suggeriert, störende Symptome von Kindern möglichst rasch zu beseitigen, als möglichst ,bio' gilt und gleichzeitig auf geheimnisvoll-esoterische Weise auf die kindliche Psyche wirkt. Einfache Rezepte gegen kindliche Symptome haben Konjunktur. Out dagegen sind Methoden, die sich zum meist mühsamen Erarbeiten kleiner (Lern)fortschritte, zu allmählicher Verbesserung der kindlichen Symptomatik und aktiver Mithilfe oder gar Veränderungsbereitschaft des Umfeldes (Elternhaus, Schule) bekennen" (Zangerle 1996, Seite 52).

Die Problematik der "alternativen" Therapien besteht darin, daß uralte Denk- und Erklärungsmodelle, die kindliche Lern- und Verhaltensstörungen als Krankheiten oder rein organische Defizite behandeln, wieder aufgegriffen werden. Dadurch, daß die Ursache der kindlichen Verhaltensstörung in einer körperlichen Funktionsstörung gesehen wird, kann sich die medizinisch-organische Sichtweise wieder durchsetzen. Das hat zur Folge, daß die Frage, wie und wodurch ein Symptom wie Hyperaktivität überhaupt entstanden ist, erst gar nicht gestellt wird. Sowohl für das Elternhaus als auch für die Schule ist es einfacher und entlastender, die Ursache für die Verhaltensauffälligkeit dem Kind zuzuschreiben (vgl. Zangerle 1996, Seite 55 - 56).

Der Kinderpsychologe rät dringend "von all jenen Behandlungsmethoden, die die Illusion erwecken, aus dem problembeladenen Kind könne der Therapeut mit einem kleinen, schnellen Eingriff oder durch Verabreichung eines Mittels ein glückliches Kind erzeugen" (Zangerle 1996, Seite 56) ab. Stattdessen sollte damit begonnen werden, das Verhalten als Ausdruck und als Signal für gestörte Beziehungen zu erkennen. Viele dieser Kinder bekommen zu wenig Zuwendung, ihnen fehlt die "stabile Einbettung in verläßliche und klare Beziehungen" (Zangerle 1996, Seite 57), die Eltern nehmen sich zu wenig Zeit für ihre Kinder. "Statt der emotional warmen (männlichen oder weiblichen) Bezugsperson erwartet sie nach der Schule das Friermenue vor der Mikrowelle, statt verständnisvoll-gelassener Eltern agieren TV und Computer als Kommunikationspartner" (Zangerle 1996, Seite 57).

Vor dem Hintergrund solcher Lebensbedingungen werden Kinder rasch zu Symptomträgern. Der Leistungsdruck und die hohe Erwartungshaltung der Eltern tragen zur Auffälligkeit des Kindes bei. Eltern verlangen, dem Zeitgeist entsprechend, nach schnellen Lösungen. Sie bevorzugen den teuren "Experten", der ihnen die Hoffnung macht, die Störung am Kind zu beheben, als nach Ursachen am eigenen Verhalten dem Kind gegenüber zu fragen. Dieser Egoismus der Erwachsenen geht auf Kosten der Kinder, denen das Gefühl vermittelt wird, Schuld an der Schwierigkeit zu sein. Ihnen wird nicht die Möglichkeit geboten, im Gespräch mit den Eltern gemeinsam nach den Ursachen zu suchen. Die gemeinsame Auseinandersetzung mit dem Problem und das Bemühen, sich gegenseitig zu verstehen, bleibt den Kindern verwehrt (vgl. Zangerle 1996, Seite 57).

Bevor ich eine Alternative zur Therapie aufzeige, möchte ich die 10 Ratschläge für Eltern in Hinblick auf Kindertherapie-Angebote von Heinz Zangerle anführen. Sie beziehen sich nicht nur auf die Naturheilkunde, sondern auf alle Therapieformen.

  1. "Die schnelle Therapie gibt es (fast) nie! Überversprechungen, was Wirksamkeit, Tempo, Intensität und Universalität der ,Therapie' betrifft, muß sehr skeptisch begegnet werden.

  2. Mißtrauen gegenüber Therapeuten oder Methoden, die sofort und vorrangig am Kind und seinen Symptomen ansetzen, und zwar auch dann, wenn sie das Kind gleich einer Testbatterie aussetzen oder ihm im Schnellverfahren eine Therapie überstülpen.

  3. Nicht jedes Störverhalten oder Symptom ist behandlungsbedürftig.

  4. Ohne gründliche Anamnese, also ohne Klärung der Vorgeschichte der kindlichen Problematik sowie vermutlicher Zusammenhänge, ist jede Intervention am Kind höchst problematisch.

  5. Besondere Vorsicht bei ,Experten', die Programme, Materialien, Geräte, aber auch teure Kurse und ähnliches anpreisen und suggerieren, Verhaltensänderungen würden sich immer rasch, lustvoll und spielerisch einstellen.

  6. Der schnelle Griff zu verschiedenen Kügelchen, Säftchen, Extrakten - auch dann, wenn diese als absolut ,bio' gelten - kann für das Kind eine Vorstufe zu Sucht und Abhängigkeit sein.

  7. Vorsicht gegenüber Helfern, die gleich mit einer Weltanschauung, Lebensdeutung oder Religion kommen und missionarisch auftreten.

  8. Sparsamer Umgang mit ,Untersuchungen' des Kindes bei Psychologen, Therapeuten, Psychiatern oder Beratungsstellen, da das Kind dadurch stigmatisiert und in seinem Selbstwertgefühl verletzt werden kann.

  9. Voraussetzung für das Gelingen einer Therapie ist das Gefühl, verstanden zu werden, den Therapeuten sympathisch zu finden und bei ihm den Eindruck von Qualifikation zu haben.

  10. Jede therapeutische Beziehung ist eine Arbeitsbeziehung. Ein guter Psychotherapeut verschleiert das nicht und läßt den ,Klienten' nicht darüber im Unklaren, daß die Wege zum Erfolg meist mühsam und mitunter beschwerlich sind und auch Rückschläge nicht auszuschließen sind"

(Zangerle 1996, Seite 55).

Begleitung statt Therapie

Der Kinderarzt und Psychotherapeut Hans von Lüpke schreibt, daß es neben therapeutischen Konzepten Möglichkeiten einer hilfreichen Einflußnahme gibt, die Begleitung der Familie nämlich. Der Unterschied zur Therapie liegt darin, daß es keine Methode oder Technik und damit auch nicht das im voraus definierte Therapieziel gibt. Der Begleiter vertraut vielmehr darauf, zusammen mit dem/den Begleiteten im Dialog einen Weg zu finden, der beiden vorher noch nicht bekannt war. Der Ausgangspunkt ist dabei das Ernstnehmen des Leidens an einem Zustand; zusammen wird dann nach Möglichkeiten gesucht, um mit diesem Leiden umgehen zu können. In der Begleitung gibt es im Gegensatz zur Therapie keine Heilsversprechung. Gelingt es in der Begleitung nicht, das Leiden zu mindern, so hilft sie doch, Trauer zu ertragen. Lüpke warnt vor der Mißachtung des Leidens und dem Zwang, alles in Harmonie verwandeln zu wollen, stattdessen räumt er sowohl der Wut als auch der Empörung ihren Platz und ihr Recht ein. So schreibt er von Situationen, in denen Empörung die einzig angemessene Reaktion bleiben muß. "Auffälligkeiten können nicht ersetzbare Stützen sein, die keinesfalls eliminiert werden dürfen, solange sie nicht durch andere, weniger kostspielige Elemente ersetzt werden. Oft kommt es nur darauf an, sie aus der sinnlosen Vereinzelung herauszuholen und ihnen durch den Kontext der Biographie eine Kontinuität zu geben" (Lüpke in Voss 1995, Seite 88). So entwickeln verhaltensauffällige Kinder oft Stereotypien und auch Strategien, um sich zu stabilisieren und um Bedrohungen zu entgehen. Die Auffälligkeit hat also eine stabilisierende und schützende Funktion.

Der Kinderarzt stellt fest, daß wir den Umgang mit menschlichen Extremzuständen verlernt haben. Dabei sind solche Zustände oft nur Wiederholungen von prä- und perinatalen Erfahrungen.

Nicht alle Familien sind für die Begleitung geeignet, da sie Beweglichkeit voraussetzt. Sind Familien erstarrt, kann nur mehr therapeutische Kunst Bewegung in sie bringen. An diesem Punkt wird deutlich, daß Lüpke die Therapie nicht grundsätzlich abwerten will; er warnt vielmehr vor einer Fixierung auf therapeutische Methoden, die andere Möglichkeiten verkümmern läßt.

Die sogenannten Professionellen sollten das Bindeglied sein zwischen Therapeuten und der Selbsthilfe von Eltern. Die Chance sieht der Familientherapeut jedoch in der Begleitung, in der Begleiter und Begleitete in ihrem Zusammensein ein Stück weit zu ihrer Identität finden (vgl. Lüpke in Voss 1995, Seite 80 - 92).

Das Reflecting Team

Die Praxis des Reflecting Teams ist innerhalb der systemischen Familientherapie von dem Norweger Tom Andersen und seinen Mitarbeitern entwickelt worden. Den Hintergrund bilden die Arbeiten zur Erkenntnistheorie von Bateson und Maturana. Menschliches Verhalten wird dadurch bestimmt, wie die jeweilige Umwelt von jedem einzelnen wahrgenommen wird. Dabei werden Reize aus der Umwelt aufgenommen, zu einem Bild zusammengesetzt und danach wird diesem Bild eine Erklärung gegeben.

Je nach Hintergrund entscheidet die Person darüber, welche Reize sie aufnimmt, wie sie sie zusammensetzt, und welche Erklärung sie dem entstandenen Bild gibt. So entstehen unterschiedliche Beschreibungen desselben Bildes. Maturana spricht deshalb vom Multiversum, statt vom Universum.

Die Bilder werden durch Kommunikation beeinflußt und verändert. Wenn die Differenz zweier unterschiedlicher Meinungen zu groß ist, geschieht es häufig, daß eine andere Meinung nicht mehr wahrgenommen wird.

Das Verständnis Maturanas von lebenden Systemen ist der zweite grundlegende Punkt des Reflecting Teams. Jedes "lebende System" ist in seinem Sinne als ein autonomes System organisiert, ist strukturell determiniert. Jedes "lebende System" bestimmt selbst, was es wie erkennt und welche Wirklichkeit es konstruiert. Nur das System selbst weiß und entscheidet darüber, wie und wann es bereit ist, seine Strukturen zu verändern. "Kommunikation" ist also bestimmt von der Beziehung zwischen zwei Menschen und deren Bereitschaft, sich in Beziehung zu setzen und den jeweils anderen zu respektieren. In einer sicheren Atmosphäre ist wechselseitiger Austausch möglich, es entstehen neue Handlungsmöglichkeiten.

Das therapeutische Team besteht aus einem Interviewer, der das Gespräch mit dem Klienten führt, und einem oder mehreren Therapeuten, die das Gespräch aus einer gewissen Distanz verfolgen und beobachten. Von Zeit zu Zeit unterbricht nun der beobachtende Teil des therapeutischen Teams das Gespräch und reflektiert vor allen Betroffenen darüber. Durch dieses Reden über das Gehörte eröffnen sich für die Klienten neue Sichtweisen, die von der alten "Entweder-Oder-Position" wegführen (vgl. Voss 1995, Seite 93 - 118).

Elternselbsthilfegruppen

Eltern hyperaktiver Kinder, die Beratung und Hilfe suchten, haben ihren Erzählungen (in der Literatur) zufolge einen langen Gang durch Institutionen mit den unterschiedlichsten Zuständigkeiten hinter sich. So sind sie von Arzt zu Arzt gelaufen, von Erziehungsberatung zu Erziehungsberatung, waren beim Schulpsychologen usw., aber nirgends haben sie die erwartete Hilfe bekommen; sie fühlen sich unverstanden, nicht ernstgenommen. Sie wurden von einer Fachkraft zur anderen gereicht, von der Logopädin über die Arbeits- und Beschäftigungstherapeutin hin zum Psychotherapeuten und endeten schließlich in der Musiktherapie oder ähnlichem. Deshalb haben sich besonders die Mütter häufig über Jahre selbst fortgebildet, haben sich zu Experten in eigener Sache gemacht und sind auf dem Gebiet des hyperkinetischen Syndroms manchmal sachkundiger als der behandelnde Arzt, dem die jahrelange Beobachtung und Erfahrung, wie sie Mütter haben, fehlt. Diese Kompetenz wird in Selbsthilfegruppen anerkannt, dennoch ist die Zusammenarbeit mit Fachleuten (Ärzte, Psychologen, Pädagogen, Lehrer, Erzieher, Sozialarbeiter, Psychiater, Heiltherapeuten) ein wichtiges Ziel dieser Zusammenschlüsse.

Eltern machen oft erst in den Selbsthilfegruppen die Erfahrung, daß sie mit ihrem Problem nicht alleine auf der Welt sind, und daß Erleichterung und Hoffnung auch für sie möglich ist. Selbsthilfegruppen bieten die Möglichkeit, die Betroffenen von den eigenen Sorgen abzulenken und eine Sichtweise zu erlangen, die über die Familie hinausgeht. Eltern schreiben davon, wie sie unter der Situation leiden, daß ihre Kinder als "krank" oder "verhaltensgestört" abgestempelt werden, und davon, wie die Sorgen und Ängste um die Zukunft der Kinder zur täglichen Belastung werden. In der Gruppe fühlen sich diese Eltern verstanden, die Gefühle und Erfahrungen werden geteilt. "Jeder kann nachvollziehen, was im anderen vorgeht, und das ist die Basis, die uns Kraft gibt, auf eine positive Lebenssituation hinzuarbeiten" (Voss/Wirtz 1990, Seite 106). Durch das gemeinsame Erleben und Berichten kann die Isolation, in welcher sich viele Familien befinden, aufgehoben werden. Das stellt für die Betroffenen eine enorme Entlastung und Ermutigung dar, eine Erfahrung, die ihnen professionelle Stellen nicht vermitteln. Durch die vielen Gespräche erkennen Eltern ihren Anteil an der familiären Problematik und erhalten Anstöße, um das eigene Verhalten zu verändern. Sie nehmen Abschied von unrealistischen Wünschen und versöhnen sich mit der Realität. Die Selbstreflexion hilft den Eltern, das Kind in seiner Eigenheit zu akzeptieren. Dies ist neben Hilfe, Stütze und Toleranz für alle Betroffenen ein wesentliches Ziel der Eltern, wie Roswitha Wirtz, eine betroffene Mutter und Gründerin einer Selbsthilfegruppe berichtet (vgl. Voss/Wirtz 1990, Seite 105 - 110).

Folgende Ziele sollten Eltern in Selbsthilfegruppen erarbeiten (vgl. Bernau 1995, Seite 151 - 153):

- Die ausreichende Information über die "Störung".

- Die Suche nach Möglichkeiten, um die Kinder im Alltag wirksam zu stützen und zu fördern.

- Die Entwicklung von Verständnis für die Handlungsweise ihres Kindes und das Lernen, ihre eigenen Erziehungsmaßnahmen kritisch zu durchleuchten.

- Die Entwicklung von Handlungsstrategien, um in der Schule ein Klima von Verständnis und Förderungswillen für ihr Kind zu schaffen.

- Die Suche nach Möglichkeiten, um mit den Lehrern vertrauensvoll zusammenzuarbeiten.

- Das Lernen, ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse nicht völlig zu vernachlässigen.

Der bereits angeführte Wunsch eines Zusammenwirkens mit Fachleuten unterschiedlichster Disziplinen bleibt den Eltern oft versagt. Die "gestörte Kommunikation" zwischen den betroffenen Eltern und den Vertretern der verschiedenen helfenden Berufe ist auch für Reinhard Voss ein wesentlicher Grund, "der einer Veränderung für die gemeinsame Lebenssituation mit dem auffälligen Kind im Wege steht" (Voss 1995, Seite 93).

Eltern fühlen sich allein gelassen, die Professionellen überfordert. Diese Situation verhindert aktives Zuhören, sich einfühlen und Verständnis für den anderen entwickeln. Das Miteinander ist jedoch Voraussetzung für einen anderen Umgang mit der kindlichen Auffälligkeit. Dieses Miteinander, diese Kommunikation wird im bereits beschriebenen Reflecting Team praktiziert.

Die Leiterin des Dachverbandes "Selbsthilfegruppe hyperaktive Kinder" in Innsbruck, Frau Steger, stellte mir ihre Unterlagen zur Verfügung, worunter auffallend viele Artikel mit praktischen Verhaltensregeln und Hilfen für den Umgang mit hyperaktiven Kindern zu finden waren. Sie erscheinen mir so wichtig, daß ich ihnen ein eigenes Kapitel widmen möchte.

Wichtige Tips im Umgang mit hyperaktiven Kindern

Die Schulpsychologische Beratung, eine Abteilung des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Sport, veröffentlichte die folgenden "10 Gebote im Umgang mit der Überaktivität":

  1. "Überaktive Kinder sind meist angespannt wie Stahlfedern - daher jede Möglichkeit zum Spannungsabbau und zur Entspannung nützen!

  2. Überaktive Kinder sind sehr stimmungsempfänglich - daher für ein positives, ausgewogenes und akzeptierendes Klima sorgen!

  3. Überaktive Kinder sind oft sehr strapaziös und provozieren oft Mahnungen, Strafen etc. Diese bewirken aber oft neuen Streß - daher den Teufelskreis aufbrechen, helfen statt tadeln!

  4. Überaktive Kinder sind sehr reizempfindsam - daher jede Reizüberflutung vermeiden!

  5. Überaktive Kinder haben einen unproduktiven Bewegungsdrang - daher sinnvolle Ventile für die Überaktivität finden!

  6. Überaktive Kinder sind leicht überfordert - daher öfters Pausen machen!

  7. Überaktive Kinder haben oft einen Erlebnishunger - daher intensives Erleben ermöglichen!

  8. Überaktivität kann manchmal durch eine unausgewogene Ernährung verursacht sein - daher überhaupt auf eine gesunde Lebensführung achten!

  9. Überaktive Kinder hinken oft in der Entwicklung nach und brauchen daher oft Lern- und Konzentrationshilfen!

  10. Überaktive Kinder haben Schwierigkeiten mit der Unterscheidung von ,Figur' und ,Hintergrund', d.h. von Wichtigem und Unwichtigem - daher Hinweise für Wichtiges und Unwichtiges bei Lernaufgaben und praktischen Problemen geben!"

(Sedlak)

Die Diplompsychologin Cornelia Neuhaus geht in ihrem Artikel "Praktische Tips für Pädagogen" auf die Probleme und Bedürfnisse des sogenannten "Hypie" während des Unterrichts ein.

  1. Demnach stört und zappelt das hyperkinetische Kind nicht mit Absicht, sondern es kann sich durch seine Ablenkbarkeit nur schwer steuern und ist immer auf einem höheren Erregungsniveau als andere Kinder.

  2. Es nützt nichts, wenn man das Kind ständig ermahnt. Entweder man bindet das Kind in den Unterricht kräftig mit ein, oder man ignoriert sein ständiges Hineinrufen. Bei deutlichem Stören sollte der/die LehrerIn zum Kind hingehen, Körperkontakt aufnehmen und mit kurzen, deutlichen, gelassenen Instruktionen beruhigen.

  3. Bei steigender Erregung, die durch moralisierendes Eingreifen des Erziehers hervorgerufen werden kann, kommt es oft zu scharf formulierten persönlichen Attacken. Diese darf der Erzieher nicht persönlich nehmen, stattdessen sollte er gelassen und direktiv das Kind unterbrechen und unter Umständen aus dem Raum entfernen.

  4. Mit Zureden ist der Hypie nicht zu motivieren.

  5. Ständiges Kritisieren provoziert ihn.

  6. Reagiert der Erzieher auf verbale Androhungen des Kindes mit Strafandrohungen, steigert er das Erregungsniveau des Kindes. Moralisches Ansinnen sollte vermieden werden, besser ist, wenn der Erzieher ignoriert.

  7. Kommt es dennoch zum Eklat, soll der Erzieher das Kind aus der Klasse nehmen. Nach wenigen Minuten soll er nach dem Kind schauen. Hat es sich beruhigt, soll er normal weitermachen, also zum Tageston übergehen. "Nachmoralisieren" ist kontraproduktiv.

  8. Strafarbeiten helfen nicht; sie stigmatisieren und verlagern den Schulkonflikt nach Hause.

  9. Anrufe zu Hause und Klagen über das Kind stressen nur bereits gestreßte Eltern. Sie wissen um das Problem, können aber in der Schulsituation nichts ändern.

  10. Je strukturierter ein Unterricht, desto besser ist das für den Hypie.

  11. In aufmerksamkeitsintensiven Situationen, z.B. während Klassenarbeiten, sollte der Hypie allein sitzen. Das ist keine Strafe, sondern eine Hilfe, und soll auch als solche erklärt werden.

  12. Feste Regeln im Schulalltag sind für den Hypie besonders wichtig.

  13. Da das aufmerksamkeitslabile Kind oft trödelt und stört, sollte mit ihm ein "Privatvertrag" abgeschlossen werden.

  14. Wenn der Hypie während der Pause stört, darf der Erzieher ein Verpetzen durch andere nicht zulassen, da das hyperaktive Kind dadurch provoziert wird und dann übermäßig reagiert.

  15. Der Hypie darf nie mit seinen Schwächen bloßgestellt werden.

  16. Im Sport steigert sich der Hypie via motorischem Agieren in die Erregung hinein. Am Ende der Stunde ist es daher sinnvoll, dem Hypie einen motorisch-aktiven Auftrag zu geben.

(vgl. Neuhaus, Seite 36 - 37)

Am Ende ihres Beitrages läßt Cornelia Neuhaus den Hypie dann noch selber sprechen.

"Liebe Eltern, Lehrer, Erzieher,

... ich bin eigentlich ein sehr netter Mensch und gar nicht dumm, (im Gegenteil, sonst wäre ich kein Hypie!)

... ich kriege wirklich sehr viel mit, sehe viel, rieche viel, spüre viel - muß es aber oft sagen, oft, ganz direkt - nicht böse sein! Zum Beispiel kriege ich sofort mit, wenn Du ,drauf' bist - und das auszutesten reizt mich dann!

... so kann ich sehr charmant, aber auch ,ätzend' sein ...

... ich kann viel gleichzeitig (lesen, malen, mit dem Fuß wippen, und mit der freien Hand Seiten knicken - dabei auch noch zuhören, natürlich nur, was mich interessiert), - werde ich gelangweilt, sorge ich für Abwechslung ...

... Spannendes bevorzuge ich und kann mich dann auch ganz prima konzentrieren - das muß aber nicht unbedingt etwas sein, was in Euren Augen gut ist.

... ich bin eigentlich wie Ihre ein sehr liebevolles, soziales Wesen, aber ich reagiere manchmal eben ,wie von der Tarantel gestochen', weil ich halt eigentlich immer überreizt bin.

... wart Ihr schon mal im Kaufhaus beim Winterschlußverkauf am verkaufsoffenen Samstag? So geht es in meinem Gehirn fast immer zu!

Bitte vergeßt nicht, daß die anderen mitkriegen wie ich bin und mich oft ,hochnehmen'. Dann gibt's Stunk - erwischt werd aber immer ich, oft bin ich tolpatschig.

... ich liebe Geschwindigkeit und Schnelligkeit in der ,Aufnahme', die ,Abgabe' ist aber eher schwierig - meine Gedanken schweifen ständig ab!

... ich will ja so sein wie die anderen Kinder - wenn ich es nur könnte!!

Euer Hypie"

(Neuhaus, Seite 37)

Der Münchner Kinderfacharzt Walter Eichlseder nennt in seinem Vortrag, den er im Rahmen einer Tagung über das Hyperkinetische Syndrom hielt, Empfehlungen für den Umgang mit hyperaktiven Kindern im täglichen Leben. Seinen Aussagen zufolge benötigen HKS-Kinder ein höheres Maß an Führung, Grenzsetzung und konsequenter Haltung. Feste Regeln sind insofern äußerst hilfreich, weil diese Kinder schwer in der Lage sind:

- bei der Sache zu bleiben,

- Zeit einzuhalten,

- zu ordnen, zu organisieren,

- eine Reihenfolge zu beachten,

- Informationen angemessen zu verarbeiten und zu reagieren,

- abzuwarten.

Seine verhaltenstherapeutischen Empfehlungen lauten:

  • "Regelmäßigkeit in den Tagesablauf bringen

  • Regeln und Zeiten nicht nach Belieben ändern

  • Informationen - Anweisungen gezielt und klar geben

  • Anweisungen nur 1 x, nach 5 Sekunden 1 x wiederholen

  • Forderungen gut strukturieren

  • Regeln mit Kind erarbeiten/absprechen und einhalten

  • das gilt für beide Vertragspartner (gilt für alle Familienmitglieder)

  • angestrebte Verhaltensmuster einzeln nacheinander anstreben

  • muß für das Kind überschaubar und machbar bleiben

  • Grenzen präzise und früh genug setzen

  • eigene Grenzen erkennen, um emotionelle Reaktionen zu vermeiden und um angemessen reagieren zu können

  • Dauerdiskussionen vermeiden - Kind hat längeren Atem

  • Machtkämpfe vermeiden - Kind hat größere Ausdauer

  • handeln statt reden (gilt für Eltern)

  • handeln statt versprechen (gilt für Kind)

  • kleinere Vergehen übersehen

  • bei größeren Vergehen müssen die dem Kind bekannten Konsequenzen sofort folgen

  • immer mit Rückfällen rechnen

  • das erkennbare Bemühen und der gute Wille muß anerkannt werden"

(Eichlseder 1990, Seite 5).

Konsequenzen müssen klar erkennbar sein, konstant bleiben und sofort folgen, d.h. das Kind muß erkennen, daß die Konsequenzen mit dem Vergehen in Verbindung stehen.

Eichlseder nennt weiters zahlreiche Empfehlungen für Schule und Lernen:

- "Lehrer sollten informiert sein

- Präsenz des Lehrers oder eines Elternteiles verleihen Struktur, Energie, Ermutigung

- regelmäßig verstärken

- schlechte Handschrift akzeptieren (neurologisch bedingt, wenn möglich mit Maschine tippen lassen)

- langsames Arbeiten akzeptieren (Zeitdruck für Kinder unerträglich)

- mündliche Wiedergabeleistung besser honorieren (kurze Aufmerksamkeitsspanne)

- Eintragungen der Hausaufgaben überprüfen (Kinder überhören die Anweisungen)

- nach vorne setzen (Kinder bekommen mehr mit)

- nicht üben, üben, üben, sondern ,Lernen' lernen

- planen

- Stoff nicht oberflächlich packen (Nachahmung), sondern tiefgründig strukturieren (Gedächtnis)

- Klasse wiederholen lassen (Kinder in ihrer Entwicklung verspätet)

- Schultyp wechseln (für höhere Schule reicht Intelligenz allein nicht aus, Aufmerksamkeit und Ausdauer sind notwendig)"

(Eichlseder 1990, Seite 5 - 6).

Auch die Abteilung Schulpsychologie - Bildungsberatung des Landesschulrates für Tirol veröffentlichte ein Rundschreiben mit dem Titel "Das hyperaktive Kind in der Schule". Nach einer allgemeinen Einleitung folgt der Versuch der Ursachenklärung, dann wird das Erscheinungsbild des hyperaktiven Kindes in der Schule aufgezeigt, und im dritten Teil der Mitteilung folgen Anregungen für Eltern und Lehrer im Umgang mit hyperaktiven Kindern.

  1. Hyperaktive Kinder fordern ihre Eltern immer wieder heraus, stellen sie auf die Probe und erzwingen Reaktionen, die oft unter Zeitdruck und mehr emotionell als überlegt erfolgen. Ein dauerhafter Erfolg ist ohne Durchleuchtung und Beeinflussung der Hintergründe nicht möglich, Ursachen und Zusammenhänge müssen demnach durchdacht werden.

  2. Kindliche Aktivität wird oft stark gehemmt und eingebremst, was gelegentlich Bewegungsstürme oder eine ständig erhöhte Unruhe bewirken kann. Ein Abbau der Unterdrückung und eine zunehmende Steuerung der Bewegungsimpulse, z.B. durch Sport, kann hier hilfreich sein.

  3. Die Unruhe kann oft auf Überforderung zurückgeführt werden. Ein Kind, das Erwartungen nicht erfüllen kann, steht in ständiger Aktionsbereitschaft, ohne daß es zu gezieltem Handeln fähig wäre. Eine Entschärfung der Überforderungsproblematik wird jedenfalls zur Beruhigung des Kindes beitragen.

  4. Fehlhaltungen von Erziehern wie Nervosität, Launenhaftigkeit, Jähzorn, Inkonsequenz, schwelende Konflikte zwischen den Eltern u.a. sind häufige Verstärker kindlicher Hyperaktivität. "Hier werden Eltern und Erzieher oft dringender der Hilfe eines Beraters bedürfen als das Kind selbst" (Müller/Thöny/Tursky, Seite 5).

  5. Mehr Ausgeglichenheit und gemeinsames Tun sowie eine Einschränkung der Reizüberflutung schaffen im Kind die seelischen Voraussetzungen, die es braucht, um seine Bewegungsimpulse zielgerichtet einsetzen zu können.

  6. Der Themenbereich des "Sozialen Lernens" mit seinen vielfältigen Möglichkeiten der Konfliktbearbeitung bietet sich auch im schulischen Bereich an, da Hyperaktivität auch mit Schwierigkeiten im Sozialkontakt verbunden ist.

  7. Hyperaktive Kinder sollten in der Schule vor Strafen aber auch vor Wettbewerbssituationen verschont bleiben.

  8. Jede Art von handwerklicher Tätigkeit ist geeignet, ein Verhalten einzuüben, das Selbständigkeit und Konzentration fördert und gleichzeitig Aktivität in geregelte Bahnen lenkt.

  9. Die Hausaufgaben sind ein probates Mittel, einerseits die oft problematische Mutter-Kind-Interaktion positiv zu beeinflussen, andererseits dem Kind Strategien zu geben, Leistungssituationen besser zu bewältigen.

  10. Die Freizeitgestaltung kann wichtige Einflußmöglichkeiten auf das Verhalten hyperaktiver Kinder geben. Wichtig ist die Auswahl von Tätigkeitsbereichen, die eine gewisse Vorausplanung verlangen und dem Kind helfen, seine Aufmerksamkeit anhaltender zu zentrieren.

  11. Alle Bemühungen um das hyperaktive Kind sollten letzten Endes zu einer Verbesserung seiner emotionalen Probleme führen, d.h. sowohl das Selbstvertrauen im Umgang mit anderen und im Leistungsbereich muß gestärkt werden, als auch das negative Selbstbild muß geändert werden.

(vgl. Müller/Thöny/Tursky; Seite 4 - 6)

Diese gutgemeinten Tips vermitteln sowohl den Eltern als auch den Lehrern das Gefühl, das sehr komplexe Problem durch das Einhalten der vorgegebenen Regeln auf einfache Art und Weise lösen zu können. Die Betroffenen werden sich in diesem Zusammenhang aber bald bewußt, daß das Verwirklichen solcher Ratschläge schwierig ist. In der Folge wächst die Enttäuschung, die Schuldgefühle, vor allem seitens der Mütter, nehmen zu. Die Nachfrage nach schnellen Lösungen bleibt aber aufrecht. Die Schwierigkeit und Komplexität solcher Auffälligkeiten versetzt viele Betroffene in Unsicherheit und Selbstzweifel, es ist daher verständlich, wenn sie sich in "schnelle" Patentrezepte flüchten, die ihnen vorgaukeln, durch einfache Handhabung goldener Regeln mit ihrer Situation besser umgehen zu können. Erst die langjährige Erfahrung zeigt den Betroffenen, daß es keine Patentrezepte im Umgang mit hyperaktiven Kindern gibt. Das Akzeptieren der Andersartigkeit des Kindes ist eine wichtige Voraussetzung, um mit der Situation umzugehen. Das kann durch die Selbsttherapie oder durch den Austausch mit anderen Betroffenen erreicht werden. Klar vorgegebene Regeln und eine liebevolle und geduldige Konsequenz sind hilfreich.

Die angeführten Tips können vielleicht Anregungen bieten, ersetzen aber in keinem Fall die Aufarbeitung der Situation und die Erarbeitung einer durchdachten, auf Langfristigkeit setzenden, Umgangsform mit der Auffälligkeit.

Persönliche Gedanken zum ersten Teil meiner Arbeit

Diesen Abschnitt möchte ich mit einem Zitat beginnen, das wie folgt lautet: "Es bleibt eine verhängnisvolle und traurige Tatsache, daß das Leben mit einem hyperaktiven Kind mit seiner komplexen Schwierigkeit in allen Lebensbereichen Außenstehenden kaum ausreichend darstellbar und glaubhaft zu machen ist. Wirklich zu verstehen ist es nur, wenn man diese Kinder erlebt - besser noch, mit ihnen gelebt hat. Der Alltag, der so extrem, verrückt, chaotisch und belastend für alle Familienmitglieder ist, läßt sich mit dürren Worten nicht schildern" (Bernau 1995, Seite 24).

Die Verzweiflung dieser Autorin, die angibt, selbst Mutter von drei hyperaktiven Kindern zu sein, ist wohl kaum zu übersehen. Es ist aber auch die Tatsache nicht zu übersehen - vor allem wenn man den gesamten Text gelesen hat -, daß die Ursache für das Verhalten ausschließlich bei den Kindern gesucht wird. Auf dieses sehr verbreitete Phänomen bin ich im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Thema meiner Diplomarbeit häufig gestoßen. Eltern suchen die Ursache im körperlichen Befund des Kindes, in seiner Vorgeschichte; sie suchen nach körperlich und seelisch schädigenden Ereignissen, die das Kind verändert, also krank gemacht haben. Sie suchen nach körperlichen und psychischen Befunden, mit denen sich das Kind von den anpassungsfähigeren und leistungsfähigeren Kindern unterscheidet. Durch die Fixierung auf das Kind bleibt den Eltern die Möglichkeit, auch andere Gründe für das hyperaktive Verhalten in Betracht zu ziehen, versagt. Mir ist es aber wichtig, auf die gesellschaftlichen Veränderungen hinzuweisen, die häufig Verhaltensauffälligkeiten verursachen. Die mangelnden Bewegungsmöglichkeiten, die kinderfeindliche Wohnungs- und Städteplanung, die Spiel- und Mediengewohnheiten sowie die Veränderung der Familienstrukturen und die Familiendynamik als solche tragen zu den steigenden Verhaltensauffälligkeiten bei.

Die Literatur vermittelt dem Leser das Gefühl der Hilflosigkeit der Betroffenen (Eltern, Ärzte, Therapeuten, Lehrer) im Umgang mit kindlicher Hyperaktivität. Diese Hilflosigkeit scheint sich in der Vielzahl der unterschiedlichen Theorien, Konzepte und Therapieformen, mit denen dieses Problem angegangen wird, widerzuspiegeln. Hat der/die LeserIn die Vorstellung, die Literatur vermittle ein klares Bild des "Hyperkinetischen Syndroms", dann wird er/sie enttäuscht und bleibt nach dem Lesen so klug wie zuvor. Es gibt nämlich weder eine einheitliche Defini-tion dieser Auffälligkeit - jeder definiert sie für sich, abhängig von der Position des Betroffenen - noch ein allzeit gültiges Patentrezept. Dennoch steigt die Nachfrage nach schnellen Lösungen. Weder die Eltern noch die Lehrer oder vielfach auch die Therapeuten nehmen sich genug Zeit, um mit dem Kind über sein Tun, sein Handeln und sein Erleben nachzudenken. Stattdessen werden die Kinder mit Begriffen wie Minimale Cerebrale Dysfunktion, Hyperkinetisches Syndrom oder Hyperaktivität beschrieben. Ein Satz, er ist mir während der Literatureinarbeitungsphase unter die Finger gekommen, trifft den Nagel auf den Kopf. Er lautet:

Wir müssen nicht über die Kinder reden, sondern mit den Kindern!

Die autochthone Vorstellung, wonach das Hyperkinetische Syndrom eine krankhafte Veränderung der Hirnstrukturen darstellt, scheint tief verankert zu sein. Auch die im vorhergehenden Kapitel angeführten Verhaltensregeln beziehen sich vielfach auf das "kranke Kind", das zwar gerne so wäre wie die sogenannten "Normalen", aber aufgrund eines neurologischen Problems nicht kann. Obwohl Forschungsergebnisse zeigen, daß es keine eindeutigen Beweise für den Zusammenhang von kindlicher Auffälligkeit und Minimaler Cerebraler Dysfunktion gibt, wird Hyperaktivität und MCD häufig gleichgesetzt. Dadurch werden auffällige Verhaltensweisen von Kindern als medizinisches Problem oder sogar als Krankheit definiert. Für Eltern, Lehrer, Ärzte und Therapeuten ist dann klar, daß das Kind behandelt werden muß. An dieser Stelle drängt sich mir die Frage auf, warum die genannten Personen vielfach bereit sind, das Kind mit bunten Pillen vollzustopfen oder mit therapeutischen Behandlungen zu stressen. Die Antwort darauf besteht aus einem einzigen Wort: Entlastungsfunktion. Sowohl die Pille als auch die Therapie am Kind entlastet nicht nur die Eltern, sondern auch Erzieher und Lehrer, die Ärzte, ja die ganze Gesellschaft. Durch das medizinische Problem des Kindes verlieren Eltern das Gefühl, mitschuldig an der Auffälligkeit ihres Kindes zu sein. Sie verlieren aber auch das Bedürfnis, die familiäre Situation unter die Lupe zu nehmen und über mögliche Erziehungsfehler nachzudenken. Vielleicht sollte ich an dieser Stelle nicht von Erziehungsfehlern schreiben, sondern ganz einfach von Erziehung. Eltern sollten über ihre Einstellungen, über ihre Beziehung zum Kind reflektieren. Vielleicht gelingt es ihnen, eine andere Sichtweise der Auffälligkeit zu erhalten, nämlich das problematische Verhalten als Signalverhalten zu verstehen. Die Spielräume unserer Kinder werden immer mehr eingeschränkt, innerhalb der Familien bleibt immer weniger Zeit für Kinder, immer mehr Beziehungen von Eltern sind gestört und die Kinder reagieren darauf mit ihrem auffälligen Verhalten. Sie senden sozusagen Notsignale aus, um auf Mißstände in ihrer aktuellen Lebenssituation hinzuweisen. Diese Schwierigkeiten müssen nicht unbedingt in der Familie liegen, sie ergeben sich für das Kind häufig im Kindergarten oder in der Schule. Sind Kindergärtnerinnen oder LehrerInnen davon überzeugt, daß das Problem im Kind liegt, sehen sie keinen Grund dafür, ihre Unterrichtsmethoden kritisch zu durchleuchten und eventuelle, pädagogisch sinnvolle, Maßnahmen zu setzen. Auch die Gesellschaft wählt den einfacheren Weg, indem sie ein soziales Problem zu einem medizinischen Problem macht. Das gesellschaftliche Problem wird zur Privatsache erklärt und der öffentlichen Diskussion entzogen. Störungsbegünstigende Umfeldbedingungen treten außerhalb des Blickfeldes, sie werden auf Kosten der Kinder verschleiert bzw. verharmlost.

Therapeuten dürfen nicht versäumen, bei der Betrachtung der Verhaltensweisen der Kinder die gesellschaftliche Ebene zu berücksichtigen. Sie müssen ihr Augenmerk auf die Umfeldverhältnisse des Kindes richten. Ziel einer Therapie darf meiner Ansicht nach nicht das perfekte, ruhige Kind sein, das den vorgegebenen Normen entspricht, sondern vielmehr das Streben nach einer besseren und stabileren Beziehung zwischen Eltern und Kindern. Die Aufhebung der Distanz zwischen Kindern und Eltern und die daraus resultierende Sprach-, Beziehungs- und Lieblosigkeit muß angestrebt werden. Deshalb lehne ich jene Therapieformen, die nur auf das Kind ausgerichtet sind und an denen sich Eltern nicht beteiligen müssen, ab. Gelingt es in der Therapie, Eltern zu motivieren, ihr Kind mit den Stärken und Schwächen zu akzeptieren, kann eine gute Basis für die Zukunft geschaffen werden. Es darf nicht die einseitige Beschäftigung mit dem Kind, die Fixierung auf die "Störung", auf das "Defizit" im Mittelpunkt stehen, sondern die Auseinandersetzung mit dem Kind und seiner Lebenssituation.

Abschließend möchte ich eine kleine Geschichte wiedergeben, die den genannten Aussagen Rechnung trägt:

"Daniel ist ein ,unerträgliches Kind' von knapp vier Jahren. Er hat schon verschiedene therapeutische Bemühungen über sich ergehen lassen, die ihn in seiner Widerborstigkeit und Fahrigkeit nur noch bestärkten. Er ist ,hyperaktiv' nicht nur, wenn er anwesend ist, sondern er hinterläßt auch überall überdeutliche Spuren seiner Aktivität. Er achtet nichts und niemand; bei alledem ist er todunglücklich über sich selbst, sein Zuhause uns seine ,Freunde'. Die meiste ,ruhige' Zeit verbringt er vor dem Fernseher. Dies wird geduldet, weil dann die berufstätigen Eltern bzw. die Oma ihre Ruhe vor ihm haben. Dabei mampft er unaufhörlich Süßigkeiten und Chips. Die Eltern enthalten ihm diese (phosphatreichen) Knabbereien vor, doch er ,besorgt' sie sich selbst.

Nach einem Beratungsgespräch erklärt sich der Vater bereit, nach Feierabend mit Daniel den ,Mist' fernzusehen und seinem Widerwillen zum Trotz die ,Menüs' mit ihm zu teilen. Dabei entwickelt sich nach einigen anstrengenden Wochen tatsächlich ein humorvolles (!) Ritual mit wechselseitiger Achtsamkeit: ,Du eins, ich eins'. Vater und Sohn blicken sich dabei in die Augen, der Inhalt des Fernsehens wird zum unbedeutenden Hintergrund. Es entwickelt sich eine ,Solidargemeinschaft des Knabberns', die immer weniger Spuren auf Tisch und Fußboden hinterläßt. Die Abscheu des Vaters und der Mutter sowie die Gleichgültigkeit der Oma werden geringer. Der Alltag der Familie hat, wenn auch eine zunächst bizarre, Grundlage gefunden, die ein Interesse des Sohnes an seinem Vater geweckt hat und ihn neugierig auf neue Gemeinsamkeiten macht.

Daß es manchmal eine Kunst ist, solche Situationen zu finden oder zu schaffen, möchte ich nicht verhehlen: die Kunst der Erziehung".

(Jetter 1996, Seite 4)

Mit diesem Kapitel schließe ich den theoretischen Teil meiner Arbeit ab und gehe nun zum empirischen Teil über. Ich bin gespannt, inwieweit meine persönlichen Gedanken durch die Gespräche und Interviews, die ich mit betroffenen Müttern führen durfte, aber auch durch das Zuhören der Gespräche in der Selbsthilfegruppe, beeinflußt oder sogar verändert werden.

Gespräche und Interviews

Interviewmethode

"Man muß die Subjekte selbst zur Sprache kommen lassen; sie selbst sind zunächst die Experten für ihre eigenen Bedeutungsgehalte" (Mayring 1990, Seite 45).

In Anlehnung an diese These entschied ich mich für eine Methode, die auf sprachlicher Basis arbeitet, das Interview.

Das offene Interview erschien mir passend, da es für den Befragten keine Antwortvorgaben gibt, er also frei antworten kann, bzw. das formulieren kann, was ihm in bezug auf das Thema bedeutsam scheint.

Für das halb-standardisierte Interview entschied ich mich, da die Befragung in diesem Fall weder nicht-standardisiert, d.h. "ohne Fragebogen oder festes Frageschema" (Lamnek 1993, Seite 43), noch standardisiert, d.h. mit detailliert ausgearbeitetem Fragekatalog ohne Abweichungsmöglichkeiten, ist. Die Fragen und Themen können also je nach Interviewsituation frei formuliert werden.

In bezug auf die Auswertung wählte ich die Methode des qualitativen Interviews, welches hierfür qualitativ-interpretative Techniken vorsieht.

Interviewleitfaden

Für die Interviews bereitete ich mir den folgenden Fragenkatalog vor, wobei ich die Fragen den verschiedenen Themenbereichen, die ich abdecken möchte, zugeteilt habe. Im Laufe der Interviews hielt ich mich jedoch nicht strikt an diesen, sondern ergänzte Fragen bzw. ließ solche entfallen, wenn sich gewisse Schwerpunkte ergaben, die mir wichtig erschienen. Nach der sogenannten Sondierungsfrage, bei welcher es sich um eine allgemein gehaltene Einstiegsfrage handelt, kam ich zu den eigentlichen Fragestellungen, den Leitfadenfragen.

Fragenkatalog

THEMENBEREICHE

FRAGEN

LEIDENSWEG

SYMPTOME

1. Können Sie mir etwas über die Schwierigkeiten ihres Kindes erzählen. Was sind das für Schwierigkeiten und wie haben sich diese entwickelt? (Symptome)

2. Ab wann war Ihr Kind so schwierig, daß Sie gedacht haben, daß Sie etwas tun müssen?

3. Was waren für Sie die größten Probleme, die sich Ihrer Familie im Umgang mit Ihrem Kind stellten?

ZUSCHREIBUNG/

DIAGNOSE

1. Welche Zuschreibungen sind passiert?

2. Welche Form der Beurteilung nahmen die Stellen vor?

Hat Ihr Kind eine bestimmt Diagnose bekommen?

4. Wenn ja: Welche?

5. Nachdem Ihr Kind die Beurteilung/Diagnose bekommen hat, was ist dann passiert?

INSTITUTIONEN

1. Eltern schreiben in der Literatur immer wieder vom mühseligen Gang durch die Institutionen wie Beratung, Klinik usw., in denen sie nicht das erwartete Verständnis erhielten. Wie erging es Ihnen diesbezüglich?

2. Hatten Sie als betroffene Mutter das Gefühl, von Ärzten, Therapeuten, Lehrern nicht ernst genommen zu werden?

URSACHE

1. Was hat man Ihnen gesagt, was die Ursache ist und was glauben Sie selbst, was die Ursache ist?

2. Suchten Sie die Ursache des Verhaltens im Kind, oder sahen Sie die Schwierigkeiten Ihres Kindes als Notsignal für andere Schwierigkeiten?

EIGENVERARBEITUNG

MUTTERROLLE/

VATERROLLE

1. Ein wichtiges Thema sind die Schuldgefühle. Wie war es bei Ihnen?

2. Entwickelten Sie von sich aus Schuldgefühle oder wurden Ihnen diese von außen auferlegt (Bekannte, Ärzte)?

SCHULE

1. Welche Reaktionen erhielten Sie und Ihr Kind vom Kindergarten bzw. von der Schule?

2. Hat Ihr Kind in der Schule die üblichen Schulleistungen erfüllt? Wenn nein: was für Probleme waren das für Sie und wie sind sie damit umgegangen?

3. Wie gut oder schlecht funktionieren Ihres Erachtens die Zusammenarbeit und die Gespräche zwischen Eltern und Lehrern bzw. zwischen Eltern und den sogenannten Professionellen?

THERAPIE/BERATUNG

1. Welche Möglichkeiten sind Ihnen bekannt, sich Hilfe zu holen? Wofür haben Sie sich entschieden?

2. Welche Erwartungen stellten Sie an die Therapie/Beratung/ Betreuung bzw. an den Therapeuten/Berater/Betreuer?

3. Hatten Sie das Gefühl, der Berater/Betreuer/Therapeut bot Ihnen eine Rückenstärkung und Halt?

4. Hat sich nach Ihrem Gefühl irgend etwas zu Ihrem Kind verändert, seit Sie eine Beratung/Therapie begonnen haben?

SELBSTHILFEGRUPPE

1. Haben Sie Erfahrungen in einer Selbsthilfegruppe gemacht?

2. Welchen Stellenwert hat die Selbsthilfegruppe für Sie?

3. Welche Veränderungen und Hilfen haben Sie dort erfahren?

Zur Durchführung der Interviews

Die Interviews waren Einzelbefragungen und dauerten zwischen 40 und 60 Minuten, wobei sich die Gespräche nach den eigentlichen Befragungen noch über längere Zeit ausdehnten. Das Interview mit dem Kinderpsychologen Heinz Zangerle fand in seiner Beratungsstelle statt, die anderen in den Wohnräumen der betroffenen Mütter. Die Forderung, Interviews "müssen immer möglichst in ihrem natürlichen, alltäglichen Umfeld" (Mayring 1990, Seite 11) durchgeführt werden, war somit erfüllt.

Das angeführte Interview mit dem Kinderpsychologen und Psychotherapeuten führte ich zusammen mit einer Kommilitonin bereits im Sommersemester 1996 durch. Wir verwendeten es im Rahmen des vorgeschriebenen Kernseminars des Theorie-Praxis-Bereichs zum Thema "Verhaltensschwierige Kinder - Hyperaktivität". Die Interviewfragen entsprechen deshalb nicht jenen meines, für die Diplomarbeit ausgearbeiteten, Fragenkataloges. Sie beziehen sich vielmehr auf die Begriffserklärung, die Symptome, die Ursachen und die Erfahrungen des Psychologen mit Eltern hyperaktiver Kinder.

Die restlichen drei Interviews führte ich mit Müttern hyperaktiver Kinder durch. Die Suche nach interviewbereiten Betroffenen gestaltete sich - wider meiner Erwartungen - ohne Probleme. Zwei Mütter erklärten sich mit einem Interview einverstanden, nachdem sie Herr Zangerle danach fragte; das dritte Interview verdanke ich Frau Steger, welche mir - nach Absprache mit einer Bekannten - deren Adresse gab.

Weiters protokollierte ich zwei Treffen der Selbsthilfegruppe "Hyperaktives Kind", welche jeweils am letzten Mittwoch des Monats in Innsbruck stattfinden. Beim Treffen im März erklärte sich die betroffene Mutter, die über meine Gegenwart keine Kenntnis hatte, mit meiner Anwesenheit einverstanden, wollte jedoch nicht, daß ich das Gespräch auf dem Diktiergerät aufzeichnete, da sie sich sonst wie "in einem Verhör vorkomme". Beim zweiten Treffen verzichtete ich deshalb von vornherein auf eine Aufzeichnung. Ich machte mir jeweils Notizen, die ich anschließend sofort zu den angeführten Protokollen verarbeitete.

Frau Steger und Herr Zangerle waren mit einer namentlichen Benennung einverstanden, den anderen Interviewpartnerinnen, sowie den beiden Müttern, die sich bei Frau Steger Hilfe holten, sicherte ich auf deren Wunsch hin absolute Anonymität zu. Um diese zu gewährleisten, änderte ich ihre Namen und verzichtete auf Ortsangaben. Alle erklärten sich bereit, die Aufzeichnungen für meine Publikation freizugeben.

Im Einverständnis mit den Befragten nahm ich die Interviews auf Tonband auf. Beim Transkribieren entschied ich mich für das Wortprotokoll, d.h. die wörtliche Wiedergabe der Tonbandaufzeichnungen, wobei ich eine Sprachform wählte, die in den einzelnen Wörtern den gesprochenen Dialekt durchaus erkennen läßt, sich aber der umgangssprachlichen Hochsprache annähert. Die Ausnahme bildet das Interview mit dem Kinderpsychologen Dr. Heinz Zangerle, welches sinngemäß transkribiert wurde.

Auswertung

Das auszuwertende Material bestand also aus Interviews mit drei betroffenen Müttern und einem Kinderpsychologen, sowie aus zwei Protokollen.

Bei der Auswertung entschied ich mich für die Analyse der Textinhalte mittels Kategorienbildung, wobei sich die Kategorien auf die einzelnen, in Kapitel 11.2 genannten, Themenbereiche beziehen. Diese sind:

- Aussagen hinsichtlich des Leidensweges,

- Aussagen hinsichtlich der Symptome,

- Aussagen hinsichtlich der Zuschreibungsprozesse sowie der Diagnose,

- Aussagen über die Institutionen,

- Aussagen hinsichtlich der Ursachen,

- Aussagen hinsichtlich der Eigenverarbeitung,

- Aussagen über die Schule,

- Aussagen über die Therapie bzw. Beratung,

- Aussagen über die Selbsthilfegruppe.

Der Themenbereich "Begriffserklärung" fehlt zwar in dem Fragenkatalog, ich habe ihn dennoch angeführt, da im Interview mit dem Kinderpsychologen einige Fragen diesen Bereich abdecken. Die Auswertung runde ich mit, mir wesentlich erscheinenden, Überlegungen der betroffener Mütter ab.

Allgemeines zur Inhaltsanalyse

Grundgedanken zur qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring:

Sie "will sprachliches Material, Texte systematisch analysieren,

- indem sie das Material zergliedert und schrittweise bearbeitet;

- indem sie im Kategoriensystem die Analyseaspekte vorher theoriegeleitet festlegt" (Mayring 1990, Seite 86).

Nach Mayring gibt es drei grundlegende Typen, inhaltsanalytisch zu verfahren: die Zusammenfassung, die Explikation und die Strukturierung (vgl. Mayring 1990, Seite 86).

Die Zusammenfassung verfolgt das Ziel, das Material so zu reduzieren, daß die wesentlichen Inhalte erhalten bleiben.

Die Explikation trägt zu einzelnen fraglichen Textteilen zusätzliches Material heran, um das Verständnis zu erweitern. Dabei unterscheidet man zwei Quellen:

- den engen Textkontext: direktes Textumfeld,

- den weiten Textkontext: Zusatzmaterial über den Text hinaus.

Ziel der Strukturierung ist es, "bestimmte Aspekte aus dem Material herauszufiltern, unter vorher festgelegten Ordnungskriterien einen Querschnitt durch das Material zu legen oder das Material aufgrund bestimmter Kriterien einzuschätzen" (Mayring 1190, Seite 86). Um diese Struktur zu finden, sind nach Jüttemann bestimmte "Strukturierungsgesichtspunkte" denkbar:

- formale Strukturierung: Gliederung nach äußeren Aspekten,

- skalierende Strukturierung: Gliederung, die bestimmte Aussagen nach Skalen erklärt,

typisierende Strukturierung: Gliederung, bei der einzelne typische Aussagen genauer beschrieben werden,

- inhaltliche Strukturierung: Das Material wird zu bestimmten Themen, zu bestimmten Inhaltsbereichen extrahiert und zusammengefaßt (vgl. Jüttemann 1985, Seite 198).

Meine Arbeit richtet sich nach der inhaltlichen Strukturierung: ich filterte wesentliche Aussagen aus dem Interviewmaterial heraus und faßte sie zu Themen zusammen. Wo es mir wirkungsvoll erschien, gab ich die Aussagen wörtlich wieder, wobei ich einzelne, kurze Aussagen meiner Interviewpartner nicht immer namentlich kennzeichnete, da ich dies für die Bedeutung der Angaben für den gesamten Kontext als nicht notwendig erachtete.

Schließlich folgt die Interpretation der Interviews und Protokolle im Sinne der Fragestellungen (vgl. Mayring 1990, Seite 33), welche durch mein theoretisches Vorverständnis natürlich beeinflußt sein mag; dies ist aber im Rahmen der qualitativen Sozialforschung gang und gäbe, und somit legitimiert.

Auswertung der Interviews und Protokolle mittels inhaltlicher Strukturierung

Die folgenden Ausführungen geben zentrale Aussagen zu den jeweiligen Themenbereichen wieder.

Begriffserklärung

Der Kinderpsychologe Heinz Zangerle erklärt den Begriff Hyperaktivität wie folgt: "Hyperaktivität ist ein Etikett, das, wie halt jeder Begriff im Bereich der Lern- und Verhaltensstörungen mit allen Vor- und Nachteilen fürs Kind ... dazu führt, daß es abgestempelt wird ... " Der Begriff "hyperaktiv" verbindet im Gegensatz zum Begriff "zappelig" das Pathologisieren. Es ist aber in den wenigsten Fällen Ausdruck von Krankheit, sondern ist meistens dem Bereich des Psycho-Sozialen zuzuordnen. Der Begriff "Hyperaktivität" ist "relativ unpräzise", außerdem gibt es DIE Definition für Hyperaktivität nicht. Sie ist vom jeweiligen Standpunkt der Person abhängig. Zangerle ist "mehr pragmatisch orientiert", er geht von zentralen Symptomen aus.

Leidensweg

Solange sich die Mütter alleine mit der Erziehung ihrer Kinder beschäftigen, wird die Andersartigkeit ihrer Zöglinge, die sie oft schon sehr früh feststellen, akzeptiert. Vielfach ist das Kind in den Augen der Mutter auch gar nicht so auffällig. "Gewisse Probleme nimmt man dann nicht so tragisch." Es sind dann zumeist externe Personen, die die Mütter auf die Auffälligkeit ihres Kindes hinweisen. So werden viele Mütter während der Kindergartenzeit erstmals mit dem Phänomen der Verhaltensschwierigkeit konfrontiert. Die Kindergärtnerinnen fühlen sich vielfach überfordert, als Folge werden die Kinder nur getadelt und beschimpft. Selten wird im Gespräch mit den Eltern gemeinsam nach einer Lösung für das Kind gesucht. Die Rücksprache mit der Kindergärtnerin kann jedoch für die Betroffenen eine wichtige Hilfe sein, um die richtige Stelle anzusteuern.

Die Kinder, deren Eltern sich bei Zangerle Hilfe holen, sind zwischen sechs und zehn Jahre alt.

Massive Probleme treten dann mit dem Eintritt in die Schule auf. Diese Zeit gestaltet sich für Kinder und Eltern sehr problematisch.

Die körperliche Unruhe schlägt während der Pubertät oft in eine totale Lethargie um, die Kinder sind dann sozusagen hypoaktiv.

Symptome

"Es gibt fast kein Symptom, das nicht in Folge einer Hyperaktivität oder in Abhängigkeit und gegenseitigem sich Hochschaukeln und Aufschaukeln auftreten kann." Die Leitsymptome, die meistens oder häufig auftreten, sind:

- rastlos, dauernd in Bewegung

- reizbar, impulsiv, kann sich schwer steuern

- stört andere Kinder

- kurze Aufmerksamkeit, beginnt vieles und führt wenig zu Ende

- zappelt dauernd

- leicht abzulenken

- kann schwer abwarten, ist rasch enttäuscht

- weint schnell

- Stimmung wechselt schnell und drastisch

- unberechenbar, explosiv, neigt zu Wutausbrüchen

- besondere Probleme bei Hausübungen und mit der Konzentration

Der Kinderpsychologe Zangerle führt diese Leitsymptome in einem Prospekt an. Weiters spricht er davon, daß die Steuerungsunfähigkeit im Motorischen, im Affektiven, im Sozialen, im Kognitiven usw. das zentralste Leitsymptom überhaupt ist. Die Leiterin der Selbsthilfegruppe, Frau Steger, verwendet diesbezüglich den Ausdruck Unzulänglichkeit. "Die Kinder können sich nicht auf zwei Seiten beherrschen. Sie sind manchmal nicht in der Lage, brav zu sein", da sie sich nicht im Griff haben. Wenn sich das Kind konzentrieren muß, um still zu sitzen, dann kann es sich nicht auch noch auf den Unterricht konzentrieren. Außerdem begreifen sie gewisse Dinge etwas später. Fordert die Lehrerin beispielsweise die Klasse auf, sofort ruhig zu sein, dann redet das hyperaktive Kind garantiert weiter. Frau Steger vergleicht dieses Kind mit "einem Wecker, den man aufzieht und der zuerst ablaufen muß", bevor er still ist.

Betroffene Mütter berichten, daß die Kinder auffallend unruhig sind, und daß sie sich oft nicht einmal auf eine Sache konzentrieren können. Unter Konzentrationsschwierigkeiten leiden viele hyperaktive Kinder.

Das "gravierendste Merkmal" einer Betroffenen ist, "daß sie überhaupt keine Arbeitshaltung hat". Obwohl sie mittlerweile volljährig ist, ist sie nicht bereit, von sich aus irgend etwas zu tun.

Eine Mutter beschreibt ihr Kind wie "drei Kinder in einem". "Ständig werden sie durch irgend etwas abgelenkt und sind so immer in Bewegung, am liebsten über dem Boden." Sie brauchen immer "action", sie sind sensationshungrig. Vielen mangelt es an Geduld, sie rennen von einem Spiel zum anderen, sie verlieren an allem sofort die Lust und werden dann zappelig. Die Ausdauer fehlt ihnen auch oft bei Freunden; Freundschaften sind deshalb oft nur von kurzer Dauer. Es ist nicht selten, daß sie andere Kinder angreifen.

Typisch für hyperaktive Kinder ist auch der sogenannte Rededurchfall. Vor allem, wenn sie aufgeregt sind, reden sie ununterbrochen; in der Schule wird das oft zum Problem.

Die ständige Unruhe läßt es vielfach nicht zu, daß die Mütter zu ihren Kindern wirklichen Kontakt finden. In Teilbereichen, wie beispielsweise beim Essen, sind viele extrem schwierig. Es ist ihnen nicht möglich, ruhig beim Mittagstisch zu sitzen. Die Nachtruhe gestaltet sich dann schwierig, wenn die Kinder nach dem Hinlegen immer wieder aufstehen, oft sind sie die ganze Nacht hindurch unruhig. Auch das typische Bild vom kreischenden, auf dem Boden liegenden Kind im Geschäft haben einige Mütter des öfteren erlebt.

Einige Kinder weisen Probleme im feinmotorischen Bereich auf, sind "extrem tolpatschig". Bei vielen Kindern funktioniert das soziale Verhalten äußerst schlecht.

"Hyperaktive Kinder sind hochsensibel, da sie andere Antennen haben." Sie sind oft "schrecklich ehrlich" und nehmen die ganze Schuld auf sich, "nur weil die anderen nicht erwischt werden". Häufig fragen sich diese Kinder auch, wieso sie brav sein sollen, wenn sie sowieso immer die Schuld zugesprochen bekommen. Sie haben oft das Gefühl, "daß sie eh keiner mag".

Die Aussage von Frau Steger, hyperaktive Kinder seien während einer Beschäftigung, die sie wirklich interessiert und begeistert, "unheimlich konsequent und konzentriert", wurde von allen Müttern bestätigt. Frau Steger fügt hinzu, daß das sicher keine Eigenschaft nur von hyperaktiven Kindern ist, daß diese aber durch ihre Sensibilität eher sagen: "Das interessiert mich nicht, das ist unwichtig, damit beschäftige ich mich nicht." Wenn sie etwas machen müssen, das gegen ihr Interesse geht, dann empfinden sie das als Zwang - ganz übersteigert - und versperren sich total. Deshalb sind sie vielfach so einseitig: ihr Interesse ist dann so stark, daß sie alles andere hinten anstellen.

Schule

Dadurch, daß "die Schule für das Kind ein Eintritt in eine Situation ist, wo es sich mit Leistungsnormen auseinandersetzen muß", kommt es gehäufter zu Schwierigkeiten.

Die Kinder treffen oft auf überforderte LehrerInnen, die schon nach wenigen Tagen vom "schwergestörten Kind" sprechen, das sie am liebsten in die Sonderschule abschieben würden, weil sie mit dem Problem offensichtlich nicht umgehen können. In regelmäßigen Schulsitzungen wird die Mutter mit der Situation vertraut gemacht. Es wird ihr sowohl von der Lehrkraft als auch vom Direktor nahegelegt, daß es ihre Aufgabe ist, sich bei einem Psychologen oder Kinderarzt Hilfe zu holen. Sie werfen den Müttern vor, daß das Kind dringend eine Therapie braucht. Eltern wie Kinder werden ständig auf "das schlimme und unerträgliche Verhalten" hingewiesen.

LehrerInnen sind vielfach verwirrt, sie stehen diesen Kindern hilflos gegenüber. Wie schon gesagt, können sie mit diesem Problem nicht umgehen, da sie vielfach während ihrer Ausbildung mit dem Thema Hyperaktivität nicht vertraut wurden. Nur sehr wenig LehrerInnen wissen wirklich Bescheid. Haben sie dennoch ein hyperaktives Kind in der Klasse, machen sich die wenigsten die Mühe, sich mit dieser Verhaltensschwierigkeit auseinanderzusetzen.

Durch das Einführen bestimmter Regeln nur für das betroffene Kind wird es in eine Sonderstellung gedrängt. Auch werden sogenannte Kinderstreiche oft überspitzt den Eltern berichtet. Bei Mißgeschicken wird sofort eine Absicht vermutet, wie das folgende Beispiel eines Schreibens an das Elternhaus zeigt: " ... hat den Uhu Stic von seinem Nachbar zerstört. Offensichtlich hat er keinen Respekt vor dem Eigentum des anderen."

Verständnisvolle Lehrer, die mit Liebe und Geduld arbeiten, sind nicht nur für die Kinder, sondern auch für die Mütter bzw. für die Eltern eine enorm große Hilfe.

Zu große Klassen, in denen es für die LehrerInnen nicht möglich ist, das einzelne Kind unter Kontrolle zu haben, sind für hyperaktive Kinder sehr nachteilig. So passiert es, daß es dem Unterrichtenden gar nicht auffällt, wenn das betroffene Kind wieder einmal durch irgend etwas abgelenkt ist.

Es ist für die Kinder unmöglich, eine Dreiviertelstunde lang still zu sitzen, deshalb gehen sie einfach in der Klasse herum. Durch die ständige Unruhe verschieben sie nicht nur ihr Pult, sondern ihnen fällt auch öfters irgend etwas hinunter. Nicht nur die Banknachbarn, sondern die ganze Klasse, und vor allem die LehrerInnen, fühlen sich gestört. Als Strafe werden die Kinder sodann von der Klasse verwiesen.

Sie sind der hohen Erwartungshaltung vielfach nicht gewachsen; Frustrationen und Aggressionen sind die Folge. Dadurch, daß sie sofort ausflippen, werden sie von Schulkollegen "oft massiv geärgert, gereizt und provoziert und werden so von den anderen zum Sündenbock gemacht". Um dennoch aufzufallen, lassen sie sich die unmöglichsten Dinge einfallen; so sind sie Klassenkaspar und Sündenbock in einem.

Die Aufgabe der Mütter ist es dann, zu Hause mit dem Kind das zu lernen, was es in der Schule versäumt hat. Die ständige Aufforderung zum Üben bewirkt oft das genaue Gegenteil. Die Kinder haben es satt, wenn andauernd Befehle auf sie einstürmen. Sie wissen dann auch gar nicht mehr, welchen Befehl sie eigentlich erfüllen sollen.

Das Schriftbild ist vielfach "sehr, sehr schlecht."

Die Kinder haben große Fähigkeiten, sie sind sehr intelligent. Die Tests, denen die Kinder meist unterzogen werden, bestätigen das. Das kommt aber in der Schule nicht so heraus, weil sie einfach nicht bei der Sache bleiben können. Die üblichen schulischen Leistungen können die Kinder größtenteils erbringen. Damit geben sich viele Eltern und Lehrer nicht zufrieden, da sie der Meinung sind, "daß in den Kindern viel mehr drin ist". Auffallend ist, daß sie die einfachsten Aufgaben oft nicht lösen können, während sie schwierige Aufgaben gut bewältigen. Die Mütter erklären sich das dadurch, daß sie die leichten Aufgaben einfach nicht interessieren. Bei leicht zu lösenden Aufgaben ist die Gefahr gegeben, daß sie unkonzentriert werden und dann beginnen, Unfug zu machen.

Probleme ergeben sich auch oft nach dem Turnunterricht. Die Auffassung, das Kind hätte sich ausgetobt und sei jetzt ruhig, ist leider oft nicht richtig. Um die Kinder zu beruhigen, sollte man sie zum Aufräumen und zum Wegräumen heranziehen. Also die Aufforderung: "Die Turnstunde ist aus, in die Klassen!" muß vermieden werden. Ein langsamer Übergang in die nächste Arbeitsphase ist sinnvoll.

Leider bestimmen die Noten die Laufbahn eines Schülers. Schlechtere Noten versperren den Kindern den Weg ins Gymnasium. So sind sie gezwungen, die Hauptschule zu besuchen. Eine Mutter drückt ihre Sorge diesbezüglich folgendermaßen aus: "Es ist einfach schade, daß er sich jetzt mit schlechten Noten praktisch die Zukunft verbaut."

Die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Lehrern funktioniert laut Aussagen betroffener Mütter nur in den wenigsten Fällen, aber auch zwischen den Beratern und Lehrern funktioniert sie schlecht. Schließen sich Mutter und Therapeut zusammen, um beim Klassenvorstand vorzusprechen, kommt es kaum zu produktiven Gesprächen. Diese Aussage steht wiederum im Widerspruch zum angeblichen Wunsch der Lehrer, vor allem mit Beratern zusammenarbeiten zu wollen.

Eigenverarbeitung Mutterrolle/Vaterrolle

Vorwürfe von allen Seiten sind die größte Belastung für die Familie, vor allem aber für die Mütter. Eltern, aber auch Großeltern von Mitschülern/innen verbünden sich gegen die Mütter und gegen die Kinder. Sie verbieten ihrem eigenen ganz einfach das Spielen mit dem "Schlimmen". Dadurch wird das Schließen von Freundschaften für betroffene Kinder sehr erschwert.

Frau Steger kommt zu dem Schluß, daß es nur auf das eigene Gefühl ankommt, "auf die Toleranz". "Einer toleriert es und sagt, das finde ich nett und die anderen sagen, um Gottes Willen, was haben Sie für ein Kind!"

Mütter müssen sich anhören, "daß das Kind eine Zumutung, ja eine Gefahr für alle anderen Kinder sei". In einigen Fällen erhielten Eltern sogar Drohungen. Erziehungsunfähigkeit wird vor allem den Müttern vorgeworfen. Die Frage, warum sie ihr Kind denn nicht anders erziehe, mußte sich wohl schon jede betroffene Mutter anhören. Mütter reagieren darauf vielfach mit Abkapselung und Isolation. Durch die ständigen Vorwürfe von außen verändern die Mütter oft ganz unbewußt ihr Verhalten dem Kind gegenüber.

Das inanspruchnehmende Verhalten ist ein Merkmal, das manche hyperaktive Kinder haben, und für Eltern schwer zu ertragen ist. Schwierig ist es für Mütter oft auch, bei aggressivem Verhalten der Kinder Geduld zu beweisen. Sie kommen in Versuchung, ebenfalls laut zu werden. In Situationen, in denen das Kind extrem aggressiv ist, versuchen es Mütter oft mit kleinen Erpressungen: "Entweder du hörst jetzt auf zu theatern, oder du machst deine Hausübung selber." Die permanente Spannung, in der sich viele Mütter befinden, macht sie nervös. Darauf reagieren sie dann vermehrt mit Schreien. Sie fühlen sich von ihren Kindern fertig gemacht. Folgende Aussage einer Mutter: "Es ist schwer, es ist wirklich schwer, mit diesem Kind auszukommen", bestätigt das. Es fällt ihnen dann zunehmend schwer, auf die Kinder einzugehen. Nach Erfahrungen Betroffener verschlimmert das Anschreien oder eine ungute Aussage die ganze Situation, der ganze Tag ist im Eimer.

Es für Mütter fast unentbehrlich, wenn sie die Kinder - vor allem kleinere - zeitweise vertrauten Personen überlassen können, damit sie "zwischendurch mal aufatmen können". Das Rezept der Selbsthilfegruppeleiterin für betroffene Mütter geht genau in diese Richtung, es ist das Rezept der eigenen Ruhe. Die erfahrene Leiterin rät allen Müttern, zunächst "selber zur Ruhe zu finden". Sie müssen versuchen, in der Zeit, wo sie alleine sind, die nötige Energie aufzutanken. Die permanente Beschäftigung mit dem Kind artet für einige Mütter in wirklichem Streß aus.

Die Männer werden von diesen Problemen weitgehend verschont, da die Frauen sie nicht belästigen wollen, wenn sie abends nach Hause kommen.

Eine weitere Belastung für die Eltern sind die fürchterlichen Prophezeiungen, daß hyperaktive Kinder "entweder Alkoholiker oder Rauschgiftsüchtige werden".

Schuldgefühle

"Das Leben ist ab dem Zeitpunkt, wo das Kind Probleme zu machen beginnt, nur mehr bestimmt von Schuldgefühlen."

Anfangs werden diese von außen auferlegt, indem die Mutter ständig mit der Kritik der schlechten Erziehung konfrontiert wird. Viele Frauen geben für ihre Kinder den Beruf auf, sie starten sozusagen eine neue Karriere. Bei Verhaltensproblemen ihrer Kinder haben sie oft das Gefühl, daß sie ihrer Rolle nicht gewachsen sind, daß sie versagt haben, daß sie Schuld sind, daß sie alles falsch gemacht haben. Mütter machen sich dann enorme Vorwürfe und hegen Schuldgefühle nicht nur gegenüber ihren Männern, sondern auch gegenüber den Lehrern, Verwandten, ja gegenüber der ganzen Umgebung. Erst später entwickeln die Mütter oft starke Schuldgefühle ihren Kindern gegenüber, indem sie sich bewußt werden, daß sie sich von allen Seiten beeinflussen ließen. Sie fragen sich, was sie ihrem Kind alles angetan haben, indem sie es von einer Stelle zur nächsten geschleppt haben. Dazu kommt noch, "daß alles kaum was genützt hat".

Diese Schuldgefühle sind für die Betroffenen das Erdrückendste, weil sie die Fehler dann ausschließlich bei sich suchen.

Der Hinweis, daß eine organische Mitbedingtheit vorliegt, wirkt sich vor allem auf das Schuldgefühl aus. Mütter fühlen sich dann nicht mehr ausschließlich verantwortlich für die Auffälligkeit, weil eben die Ursache teilweise im Kind drinnen liegt. Die Erleichterung ist groß.

Hat eine Mutter vor diesen Problemen bereits Kinder erzogen, die keine Verhaltensauffälligkeiten aufweisen, zweifelt sie nicht so stark an sich. Die Schuldgefühle spielen in diesem Fall eine nicht so tragische Rolle.

Zuschreibung/Diagnose

Schrecklich, unerzogen, verzogen, jähzornig, aggressiv, wild, unberechenbar, zu großzügig behandelt. Das sind die Attribute, die die unmittelbare Umgebung den Kindern, oder besser gesagt den "verwöhnten Fratzen" oder "den Monstern", wie sie auch betitelt werden, auferlegt.

Auch viele Männer sparen nicht mit Kritik an ihren Frauen. So werfen sie ihrer Frau vor, daß sie, obwohl sie den ganzen Tag mit dem Kind ist, dieses dennoch nicht "derbändigt", oder daß sie dem Kind "zu viel tun lassen würde", daß sie eben zu großzügig sei. Die Meinung, die Verantwortung liege vorwiegend bei den Frauen, scheint weit verbreitet zu sein. Viele Männer haben überhaupt kein Verständnis, oder sie wollen es nicht wahrhaben, daß ihr Kind Schwierigkeiten hat, und nicht nur böse oder eben schlecht erzogen ist.

Einige Mütter müssen sich sogar von ihren Angehörigen sagen lassen, daß eine ordentliche Tracht Prügel angemessen sei.

Kinderärzte bezeichnen das hyperaktive Kind als Zappelphilipp, "das ist ein gängiger Begriff sowohl bei Ärzten als auch bei Psychologen". Sie wissen zwar, daß es das unruhige, hyperaktive Kind gibt und raten zu viel Geduld. "Konkreteres konnten sie mir auch nicht sagen, und das kann man auch nicht."

Vielfach stellen Kinderärzte, Berater oder Therapeuten die Diagnose "Zappelphilipp". Es kommt aber auch vor, daß Familienangehörige selbst die Diagnose stellen.

Eine Mutter berichtet, daß sie in der Elternzeitschrift einen Artikel zum Thema "Zappelphilipp" gefunden hat. Sie erkannte so viele Parallelen zu ihrem Kind, daß sie sofort wußte, "an diesem Syndrom leidet mein Kind". Die Erleichterung war groß: " ... und ich war dann erst einmal ganz befreit zu wissen, daß da jetzt irgendwo nicht wir schuld sind, oder daß sie geisteskrank ist oder so irgendwas, sondern daß das einfach ein Syndrom ist."

Das große Verlangen nach einer klaren und eindeutigen Diagnose ist offensichtlich. Die Mütter geben sich mit vagen Aussagen nicht zufrieden, sie wollen eine genaue Diagnose, "damit das Kind endlich akzeptiert wird". Das geht manchmal so weit, daß sich Mütter wünschen, ihr Kind hätte eine Behinderung. Denn, hat die Schwierigkeit des Kindes einen Namen, stellt das eine Erleichterung vor allem für die Mütter dar. Selten ist die Diagnose aus Sicht der Mütter mit wirklichen Ratschlägen verbunden. Außenstehende bezeichnen die Diagnose oft schlechthin als Ausrede.

In der Literatur, vor allem in der neueren Literatur, wird vom Hyperkinetischen Syndrom gesprochen.

Nachdem die Mütter die Diagnose "Zappelphilipp" erhalten, wählen sie ganz unterschiedliche Wege. Vielen ist es zu wenig, da sie vergebens auf eine klare Definition und auf wichtige Ratschläge warten. Für sie beginnt ein langer Weg, auf dem sie nach Lösungen suchen. Erst im nachhinein verstehen sie, daß es im Prinzip nichts gibt, außer die "Selbsthilfe". Die zweite Gruppe gibt sich mit der Diagnose zufrieden. Sie meiden auch in Zukunft andere Anlaufstellen, da ihnen klar ist, daß sie nur den Rat bekommen, Geduld zu üben. "Es gibt auch kaum einen anderen Rat als Geduld, Geduld, und noch einmal Geduld."

Institutionen

Der Kinderarzt ist vielfach die erste Anlaufstelle für die besorgten Mütter. Zumeist werden sie mit der Aussage vertröstet, das Kind sei eben extrem zappelig. Nach Aufforderungen seitens der Kindergärtnerin oder später der LehrerInnen wird anschließend die Erziehungsberatung aufgesucht, oder ein Kinderpsychologe konsultiert. Sehen die Erziehenden keinen Erfolg, werden die Eltern erneut aufgefordert, weitere Stellen aufzusuchen. Das diesbezügliche Angebot ist vielseitig, so gibt es den Heilpädagogischen Verein, den Schulpsychologischen Dienst usw. Eltern sehen in dieser Aufforderung eine Art Anordnung, der sie weitgehend nachkommen.

Die Beratungsstellen versuchen vor allem den Müttern Mut zu machen und kleine Erfolge beiderseits, also bei Mutter und Kind, sichtbar zu machen. Dieser Aufruf zum Mut ist für die Mütter eine wichtige Unterstützung, zumal die Umgebung diesbezüglich wenig Hilfe leistet.

Vielfach muß sich das Kind in den verschiedenen Stellen einer Reihe von Tests unterziehen. Häufig zeigen positive Resultate, daß das Kind zwar keine wesentlichen Schwächen hat, daß es der vorgeschriebenen Schulnorm jedoch nicht entspricht. Eine Mutter reagiert darauf wie folgt: "Ja, ich kann damit leben, aber die Schule leider nicht!" Auf den Punkt gebracht heißt das, daß hyperaktive Kinder für unser Schulsystem nicht geeignet sind. Dieses wird natürlich nicht abgeändert, da es ja einfacher ist, die Kinder in die Sonderschule abzuschieben. Wenn sich nicht die Eltern dagegen wehren, wird dem Kind dadurch das ganze Leben verbaut.

Je nach Therapieorientierung wird entweder das Kind, oder die Mutter bzw. die Eltern, behandelt. Auch im zweiten Fall ist das Kind vor den verschiedensten Therapien dennoch nicht gefeit, sei es die Bachblütentherapie, die phosphatfreie Diät , die EDU-Kinestetik etc.

Deprimierend wird es für die Mütter, wenn sie in den verschiedenen Stellen nicht so richtig ernst genommen werden. Vor allem Ärzte trauen den Müttern wenig zu. Mütter haben das Gefühl, daß ihnen trotz intensiver Beschäftigung mit ihrem Kind, trotz Auseinandersetzung mit der vorhandenen Literatur, die Kompetenz nicht zugemutet wird. Außerdem haben erfahrene Mütter, deren Kinder inzwischen fast erwachsen sind, oft das Gefühl, daß Kinderärzte viel zu wenig über das hyperkinetische Syndrom wissen und deshalb wenig zu einer Unterstützung der Betroffenen beitragen.

Ursachen

Die Ursachen sind von Kind zu Kind verschieden. Beim einen Kind gibt man dem Fehlen des Vaters die Schuld, beim anderen den Geschwisterkindern, die nachkommen, beim dritten den körperlichen Problemen und den daraus resultierenden Operationen.

Die Eifersucht spielt oft eine große Rolle. Die Kinder verdauen sehr schlecht, daß sie plötzlich nicht mehr alleine da sind. Sie sehen ihre Position als "Thronprinzen" gefährdet.

Die Annahme, daß gewisse Stoffe in Nahrungsmitteln die Unruhe auslösen, wird zwar in Betracht gezogen, es wird ihr aber von Seiten der betroffenen Mütter keine größere Bedeutung beigemessen.

Eine konkrete Ursache konnte niemand angeben.

Zangerle sieht das hyperaktive Verhalten teilweise als Warnsignal für unseren Zeitgeist, für die Hektik. Eltern haben zu wenig Zeit für ihre Kinder, alles muß schnell gehen. Beide Eltern sind berufstätig, sie verbringen immer mehr Zeit außerhalb der Familie. Auch das Kind nimmt diese Hektik auf oder es verstärkt die energetisch vorhandene Disposition. Das Kind lebt dann nach folgendem Motto: "Ich muß alles sehr schnell machen, damit ich zu dem komme, was ich brauche." Nicht alle Interviewpartnerinnen schließen sich dieser Meinung an.

Seinen Erfahrungen zufolge sind aber auch "minimale cerebrale Paresen oder das POS (psycho-organische Grundsymptom), sprich Schwangerschaftsprobleme, Geburtsprobleme, Anfälle während der Kleinkindheit, häufige Krankheit oder häufige Penicillinbehandlung" oft die Ursache für hyperaktives Verhalten. Nach seiner "subjektiven Statistik" haben ca. zwei Drittel der "sogenannten Hyperaktiven" leichte Beeinträchtigungen, sogenannte Minimale cerebrale Dysfunktionen (MCD). Einen Zusammenhang zwischen MCD und Hyperaktivität im Sinne einer Gesetzmäßigkeit gibt es nach Dr. Zangerle allerdings nicht. Sie kommen nicht so stark zum Ausbruch, wenn es der Mutter gelingt, "dieses leichte organische Defizit durch richtiges Erziehungsverhalten abzufangen". Negativ ist, wenn die Mutter in diesem Fall "hyperprotektiv geworden ist und das Kind total verhätschelt".

Die Annahme, das Verhalten sei vererbt, hat sich ziemlich stark durchgesetzt. Betroffene glauben, es sei anlagebedingt, wobei sie davon ausgehen, daß die Anlage irgendwo in der Familie liegt und nicht bei jeder Generation zum Ausdruck kommt. Weisen Eltern hyperaktiver Kinder also die Symptome nicht auf, wird dies vordergründig darauf zurückgeführt. Forscht man also in der Familiengeschichte, dann findet man irgendwo jemanden - und wenn es irgendein Onkel ist -, der extrem unruhig war. Dennoch erkennt eine Mutter Symptome des hyperaktiven Verhaltens bei sich, eine andere erkennt große Parallelen zwischen Sohn und Vater, und die Adoptivmutter beschreibt, daß die leibliche Mutter ihrer Tochter, die sie nur von Erzählungen her kennt, ebenfalls extrem unruhig war.

Die Kinder haben heute vom ersten Tag an völlige Bewegungsfreiheit. Eine Mutter erzählt, daß sie nach der Geburt in den Wickelpolster gekommen ist und völlig zusammengeschnürt war. "Die Kinder sind heute von klein auf nicht mehr so eingeengt." Früher gab es innerhalb einer Familie noch klar definierte Regeln, die waren "selbstverständlich", da wurde kein "Terror" gemacht. Heute werden die Kinder schon sofort in die Erwachsenenwelt integriert, Grenzen oft erst zu spät gesetzt. Die Kinder rebellieren mit auffälligem Verhalten.

Die Ursachen dafür werden oft im Kind gesucht. Eine Mutter drückt sich da sehr direkt aus, wenn sie die Worte, die sie neulich ihrem Jungen sagte, wiederholt: " ..., wie du dich aufführst, du hast einen Dachschaden. Wenn du so weitermachst, dann landest du in der Klapsmühle." Dennoch sehen viele Mütter, vor allem wenn ihre Kinder schon etwas älter sind, das Verhalten ihrer Kinder als Hilfeschrei. Sie führen es auf eine Überforderung oder auch auf eine Unterforderung zurück. Die hohen Anforderungen an die Kinder können leicht zu Überforderungen werden. Bereits im Kindergarten werden die Sprößlinge auf die Volksschule vorbereitet, sie müssen schon zu diesem Zeitpunkt gewisse Voraussetzungen, sprich Vorschulmappe, erfüllen. "Man darf sich dann nicht wundern, wenn sie auf die hohen Anforderungen, vor allem auf den Leistungsdruck, so reagieren." "Die Kinder wehren sich dagegen, indem sie einfach zumachen und Konzentrationsschwierigkeiten haben oder sie öffnen sich sehr weit für Dinge, die sie lieben. Das, worauf sie sich eigentlich konzentrieren sollten, aber nicht wollen, weil sie das nicht interessiert, oder weil sie überfordert sind, für das verschließen sie sich und für das andere öffnen sie sich. Und das macht dann die Kinder so unerträglich." Betont muß an dieser Stelle auch werden, daß dieser Druck sehr wohl auch zu Hause ausgeübt wird. Vor allem, wenn die Noten nicht entsprechen, wird massiver Druck ausgeübt. Ein Beispiel hierfür ist folgende Aussage einer betroffenen Mutter: "Du ziehst dich jetzt an, reißt dich zusammen, paßt jetzt auf, machst das jetzt ordentlich , oder du machst die dritte Klasse noch einmal. So geht es nicht, so schaffst du die vierte Klasse nicht. Dann wirst du sitzenbleiben, und das ist eine Schande!"

Wichtige Einschnitte in das Leben des Kindes wie beispielsweise eine Übersiedelung können ebenfalls Anlaß zur Überforderung sein.

Stadtkinder, die in engen Wohnungen leben, haben oft zu wenig Bewegung und werden sehr unruhig.

Können die Kinder die Erwartungshaltung von außen nicht erfüllen, reagieren sie auch oft mit Fieberschüben oder diversen körperlichen Schmerzen, Bauchschmerzen zum Beispiel.

Therapie

Das Therapieangebot für hyperaktive Kinder ist äußerst vielseitig.

Mit der phosphatfreien Diät erreichen viele Mütter kurzfristig verblüffende Erfolge, andere merken wiederum überhaupt keine Veränderung. Im letzteren Fall wurde die Diät allerdings nur für sehr kurze Zeit ausprobiert. Mütter, die sehr wohl Erfolge erzielten, berichten, daß sich dadurch sogar die Noten gebessert haben. Durch die auffallende Veränderung können Eltern wie Lehrer erst mal aufatmen. Das Problem der Diät ist, daß sich die Mutter keine Diätfehler erlauben darf. Sobald das Kind wieder etwas unruhiger ist, wird der Verdacht, das Kind habe etwas falsches gegessen, laut. Dieser Umstand zehrt wiederum extrem an den Nerven der Mutter, zumal sie geraume Zeit in der Küche verbringt, um besondere Speisen anzufertigen. Auch der Einkauf gestaltet sich sehr schwierig, da die Etikette jedes einzelnen Produktes eingehend gelesen werden muß. Stellt sich dann nach einer gewissen Zeit dennoch heraus, daß das Kind nicht so ruhig ist, wie es sich die Mutter erwartet hat, ist die Enttäuschung groß. Sie muß dann erkennen, daß es nicht die besonderen Speisen waren, die das Kind so angenehm stimmten, sondern das Gefühl, "die Mutter steht nur meinetwegen in der Küche". Die Sonderbehandlung ruft also eine Reaktion bei den Kindern hervor. Sobald es jedoch wieder Alltag ist, sind die Veränderungen dahin. Die Mütter entscheiden sich dann, diesen Aufwand nicht mehr weiter auf sich zu nehmen; auf eine bewußte Ernährung wird aber zukünftig großer Wert gelegt. So werden vor allem Süßigkeiten und Getränke wie Coca-Cola vermieden.

Zangerle stellt fest, daß die Ernährung eine große Rolle spielt. Er verordnet zwar keine Diäten, hat aber erlebt, daß Kinder wesentlich ruhiger geworden sind, nachdem sie den Zuckerkonsum reduziert hatten. Angesichts der Freizeitgewohnheiten (viel sitzen, Computer und game-boy spielen, wenig Bewegung) vieler Kinder wird das ganze Problem durch die viele Energie - Zucker ist hoch energetisch - verschärft.

Die Möglichkeit der medikamentösen Therapie ist meinen Interviewpartnerinnen zwar bekannt, kommt aber für viele nicht in Frage. Eine Mutter hat sich an den Kinderarzt Eichelseder in München gewandt, der zahlreiche Bücher zum Thema "Hyperaktivität" veröffentlichte. Er vertritt die Meinung, "daß der einzige, wirkliche Erfolg bei sehr hyperaktiven Kindern eben die Behandlung mit Amphetaminen ist". Zudem ist er überzeugt, daß dieses Medikament überhaupt nicht süchtig mache - er beruft sich da auf Langzeitstudien in Amerika -, sondern einfach eine bessere Konzentration bewirke. Dadurch werden die Kinder ruhiger und können "was schaffen, kriegen Zutrauen zu sich selber, werden noch einmal ruhiger, zufriedener und werden fast normale Kinder im Verhalten, einfach, weil sie plötzlich das können, was andere auch können. Und vorher wollten sie es wohl, aber sie haben es einfach nicht können durch diese ungeheure Störung in der Konzentration". Wie man an diesen Worten erkennt, ist es dem Kinderarzt gelungen, seine Meinung auf die betroffene Mutter zu übertragen. Sie erzählt, daß es überhaupt keine Nebenwirkungen gäbe, sondern das Gegenteil der Fall sei, zumal sich sogar die Schlafstörungen eingestellt hätten. Erst durch Einnahme des DL Amphetamines, das übrigens jetzt auch in Österreich erhältlich ist, hat das Kind der Mutter "das erste Mal überhaupt richtig zugehört" und der Mutter war es möglich, es in den Arm zu nehmen. Die Mutter hat nicht eine einzige negative Auswirkung bemerkt. Sobald die heute Achtzehnjährige das Medikament wegläßt, ist sie wieder "extrem zappeliger und unkonzentrierter und kindischer, sie ist unheimlich laut, redet ununterbrochen und hat wieder schwere Verhaltensstörungen". Sie benimmt sich wie eine Sechsjährige. Sie selber findet es aber ganz lustig, wenn sie das Amphetamin mal vergißt, "weil sie dann übermütiger und fröhlicher ist". Ohne Amphetamin habe ihre Tochter überhaupt kein Pflichtbewußtsein. Die Mutter ist der festen Überzeugung, daß ihre Adoptivtochter - die ihres Erachtens "sicher ein schwerer Fall von Hyperaktivität ist" - nicht einmal die Volksschule ohne Medikamente geschafft hätte. Regelmäßige klinische Untersuchungen und Bluttests bestätigen, daß das Medikament auf die Gesundheit keine Auswirkungen zeigt. Die Mutter ist auch überzeugt, daß ihre Tochter durch die Einnahme der Amphetamine nicht ein Verhaltensmuster entwickelt, wonach sie bei Problemen sofort zur Pille greift.

Auch Zangerle erlebte Frauen, die es nervlich nicht mehr geschafft haben, und ihrem Kind eine Zeit lang Beruhigungsmittel gegeben hatten. Seinen Erfahrungen zufolge lehnen jedoch fast alle Mütter Medikamente ab. Nur wenn Eltern wirklich "fertig" sind, "und solche Fälle gibt es" greifen sie zu den Tabletten. Der Kinderpsychologe betont an dieser Stelle, daß das natürlich nicht sein Ansatz ist.

In Bezug auf die Abhängigkeit und Nebenwirkungen dieser Amphetamine gibt es die unterschiedlichsten Aussagen. So behaupten ärztliche Vereinigungen in Amerika, daß es kein Medikament gäbe, dessen Nebenwirkungen so gut erforscht seien. Nach ihnen gibt es weder Nebenwirkungen noch besteht die Gefahr der Abhängigkeit. Diese These ist natürlich sehr umstritten. Zangerle vertritt die Meinung, "daß das Kind lernen soll, mit seinem Problem umzugehen, aber nicht in der Weise, daß es sich einfach was einschiebt, sozusagen, und glaubt, dann ist die Welt o.k.". Der Gewöhnungseffekt führt nach dem Kinderpsychologen auf alle Fälle dazu, daß sich der Betroffene später nicht fragt, was mit ihm los ist, oder wie er seine "eigene Gebrauchsanweisung" besser erklären kann, sondern er nimmt eben schnell eine Tablette.

Bei Spieltherapien ist es enorm wichtig, daß das Kind gern mitmacht, was aber oftmals nicht der Fall ist. Die erfahrene Selbsthilfegruppeleiterin rät jedem ab, "mit dem Kind etwas zu machen, was es nicht gern tut". Durch den Zwang werden die Dinge nur noch verschlimmert.

Begonnene Therapien werden oft nicht abgebrochen, da die Eltern dafür ja schließlich viel Geld bezahlt haben. Angebotene "Gratistherapien" werden oft bis zum bitteren Ende durchgezogen, damit sich die Eltern ja nicht nachsagen lassen müssen, daß sie sich über das auffällige Verhalten nicht wundern müßten, wenn sie dem Angebot schon nicht nachgekommen seien.

Eine Lösung sieht Frau Steger vielmehr im Betreiben einer Sportart, damit das Kind ein Ventil findet und sich richtig entspannen kann. Schwimmen scheint sich dafür gut zu eignen. Die freie Natur eignet sich natürlich hervorragend, damit sich die Kinder körperlich so richtig austoben können. Spaziergänge oder Ausflüge in den Wald sind für hyperaktive Kinder der ideale Zeitvertreib. Auch eine Massage oder Streicheleinheiten können wesentlich zur Entspannung beitragen.

Die oft versprochene "Wundertherapie" gibt es nicht.

Wichtig ist, daß die Mutter eine kompetente Vertrauensperson findet, die ihr zuhört und ein Gefühl des Verständnisses vermittelt. Die Gesprächstherapie ist oft ein wichtiger Schritt, damit Mütter ihr Verhalten verändern und lernen, das Kind zu akzeptieren. Sowohl das Gespräch als auch das Sammeln von Unterlagen macht viele Mütter stark. So stark, daß sie für ihr Kind kämpfen können. Denn nur so ist es möglich, daß die Kinder nicht in eine Sonderschule abgeschoben werden, oder daß sie eben das Gymnasium besuchen können. Durch die Erlangung der eigenen Stärke kann die Mutter die Kraft auch an das Kind weitergeben. Die Phasen, in denen es der Mutter schlecht geht, gehen auch nicht spurlos an das Kind vorbei. Oft entwickeln die Kinder dann Schuldgefühle ihrer Mutter gegenüber, sie fühlen sich für das Leiden ihrer Mutti oder auch für den Streit innerhalb der Familie verantwortlich.

Die Therapieform des Kinderpsychologen Zangerle sieht folgendermaßen aus:

Er beginnt zunächst mit einer Anamneseerhebung, um Ursachen und Hintergründe des hyperaktiven Verhaltens herauszufinden. Sein Ansatz orientiert sich nicht am Kind, sondern an dessen Bezugspersonen. Im Gespräch mit den Müttern - Väter lassen sich seinen Erfahrungen zufolge sehr selten blicken - untersucht er, wie sich das Problem entwickelt hat - "sei es organisch oder psycho-sozial" - und wie damit umgegangen wird - "in der Schule, im Elternhaus, im Kindergarten, in der Verwandtschaft, im Bezugssystem". Die Kinder sind fast nie in seiner Praxis, da er - wie schon angeführt - Bezugspersonenarbeit leistet. Es entspricht nicht seinen Vorstellungen, den Eltern das Kind abzunehmen. Auch kritisiert er jene Kollegen, die der Ansicht sind, man könne das Kind "in einer Stunde pro Woche" therapieren. Voraussetzung ist, daß das ganze Bezugssystem mitspielt, sonst "bringt das Ganze überhaupt nichts".

Zangerle sieht seine Funktion als Katalysator, da er versucht, das Gespräch zwischen Schule und Elternhaus in Gang zu bringen. Durch den Umstand, daß sich Schule und Elternhaus bis dahin gegenseitig die Schuld zugeschoben haben, versucht der Kinderpsychologe nun, "gegenseitig ein bißchen füreinander die Position verständlich zu machen und aufeinander abzustimmen". Deshalb ist die Besprechung mit der Schule ein wesentliches Anliegen des Therapeuten.

Ein Gedankenaustausch mit den behandelnden Ärzten der Kinder findet nicht statt, da Zangerle nicht für eine medizinische Behandlung plädiert.

Ein positiver Therapieverlauf ist in den Augen des Kinderpsychologen - der sich mehr als Begleiter über einen längeren Zeitraum versteht - dann gegeben,

- wenn die Mutter die Schuldgefühle reduziert und einen neuen Zugang zum Kind findet,

- wenn sie ein besonders klares Maß an liebevoller und geduldiger Konsequenz bietet,

- wenn sie nach Möglichkeit eine Elterngruppe besucht,

- wenn sie Literatur liest,

- wenn sie selber draufkommt, daß sie mit dem Kind umgehen kann,

- wenn sie nicht alles persönlich nimmt und sich nicht betroffen machen läßt durch den Druck der Umgebung,

- wenn die Mutter nicht immer sofort zerknirscht ist und ihr Kind verdammt,

- wenn es ihr gelingt, Verständnis für ihr Kind aufzubringen und das Kind in seiner Grundart anzunehmen,

- wenn die Lehrerin im Kind nicht immer den aktiven Bösewicht sieht,

- wenn die Lehrerin erkennt, daß das Kind ein Getriebenes ist und dadurch mehr Verständnis entwickelt.

"Negativ verläuft es dann, wenn die Eltern auf zweiter Spur draußen parken und mir das Kind reinschieben und sagen: ,Machen Sie aus dem Philipp einen braven Buben, einen angepaßten Jungen, der schön ordentlich tut, der sein Zimmer aufräumt, eine schöne Schrift hat usw.' Wenn die Erwartungshaltung so hoch oben ist, und es mir nicht gelingt, dieselbe zu reduzieren, realistische Zielsetzungen einzubinden, dann verläuft die Therapie sicherlich negativ."

Mütter treten mit hohen Erwartungshaltungen an Ärzte, Berater, Therapeuten usw. heran. Durch das starke Vertrauen wird vielfach jede Therapieform akzeptiert, auch wenn es Medikamente sind, wie das angeführte Beispiel auf Seite 90 zeigt. Gelingt es den sogenannten Experten, den Müttern wirkliche Hilfe anzubieten, ist der Grundstein für eine Veränderung bzw. Verbesserung gelegt.

Selbsthilfegruppe

Die Auseinandersetzung mit dem Problem innerhalb der Selbsthilfegruppe ist für viele Mütter - ich spreche hier von Müttern, da sich fast ausschließlich Frauen in dieser Gruppe zusammenfinden - eine Art Selbsttherapie. Dort haben sie das Gefühl, daß sie mit ihren Problemen nicht allein auf weiter Flur sind. "In der Gruppe kann man sich den Rücken stärken", die Frauen bekommen die nötige Unterstützung, die sie oft nicht einmal von ihren Ehemännern erhalten. Sie können Erfahrungen austauschen und sich gegenseitig die Angst vor der Zukunft und vor der Entwicklung des Kindes nehmen. Weiters werden wichtige Tips ausgetauscht, was Mütter schon probiert und getan haben, ob das erfolgreich war oder nicht. Sie lernen auch, "daß man die Vorwürfe nicht so hinnehmen sollte". Mütter können ihre große Last ablegen. Außerdem können sie in den Gesprächen die nötige Stärke gewinnen, die sie brauchen, "um dem Umfeld alles zu erklären". Das ist nämlich ein ständiger Kampf. Die Selbsthilfegruppe ist für alle Mütter die größte Hilfe, die angeboten wird.

Viele Mütter erfahren erst in der Selbsthilfegruppe, daß sich Fachleute in diversen Büchern mit dem Problem beschäftigen.

Für die Leiterin ist es sehr wichtig, "daß man den Leuten schonend beibringt, daß es im Prinzip kein Allheilmittel gibt, daß es kein Patentrezept gibt". Frau Steger legt auch jeder Betroffenen ans Herz, zunächst abzuklären, ob es keine organischen Gründe für das auffällige Verhalten gibt. Sie empfiehlt einen HNO-Test, sowie einen Allergietest. Allergien sind ihren Erfahrungen zufolge jedoch nur selten Auslöser für hyperaktives Verhalten.

Ein großes Anliegen dieser Initiative ist es, die Bevölkerung zu informieren, daß hyperaktive Kinder keine sogenannten "unerzogenen Fratzen" sind, sondern daß diese Kinder sehr wohl Probleme haben. Über die Presse, durch Seminare und Elternabende wird der Öffentlichkeit mitgeteilt, daß diese Kinder gar nicht mitkriegen, "daß sie so unerträglich sind", und daß sie es auch nicht böse meinen. Ein großer Wunsch der Gruppe ist es auch, daß sowohl an der Pädagogischen Akademie als auch an der Universität "zur Sprache kommt, daß es so Kinder gibt".

Allgemeine Überlegungen der Interviewten

Auf die Frage, was sie anders machen würde, und was sie anderen Betroffenen rät, antwortet Frau Steger (selbst Betroffene, ihr Sohn ist heute siebzehn Jahre alt) wie folgt: "Also hauptsächlich würde ich mich nicht mehr von anderen, vor allem von den Lehrern, da hineintheatern lassen." Der permanenten Aufforderung, mit dem Kind mehr zu üben und "dies und jenes zu machen", würde sie nicht mehr nachkommen, da es einem Maßregeln der Kinder gleichkommt. Sie würde es auch vermeiden, mit dem Kind "von einer Institution zur anderen zu laufen". Auch Frau Gelb, deren Adoptivtochter heute achtzehn Jahre alt ist, rät allen Betroffenen, daß sie sich ja nicht von anderen irritieren lassen sollen. Es soll sich ja niemand einreden lassen, das Kind zu strafen oder gar zu schlagen. Wichtig ist auch, "daß man daran glaubt, daß es geht". Oft verlieren Mütter diesen Glauben, deshalb ist es wichtig, sich in Beratungsstellen Unterstützung zu holen. Dort werden die Mütter auch auf kleine Fortschritte aufmerksam gemacht, die sehr wichtig sind, da sie dazu neigen, nur das zu sehen, was nicht funktioniert.

Nach Frau Steger sollte jede Betroffene - "obwohl das natürlich jetzt leichter gesagt ist, nachdem mein Sohn siebzehn Jahre alt ist" - viel selbstbewußter auftreten und vor allem sollte sie das Kind annehmen. Die Liebe zu dem Kind - egal, was auch passiert - sollte stärker sein als alle Zweifel. "Mit Geduld und Liebe geht es am besten", das sind die Worte einer betroffenen Mutter.

Sehr wichtig für diese Kinder sind klar strukturierte Grenzen. Eltern sollten dem Kind "einen Rahmen und Regeln vorgeben, damit es weiß, was es darf und was nicht". "Strenge akzeptieren die Kinder sehr wohl." Eine "liebevolle Konsequenz" ist äußerst bedeutsam. Die Grenzen dürfen nicht negativ sein, "wie das Schimpfen zum Beispiel", denn es bringt nichts, wenn man das Kind immer nur anschreit und zurechtweist. Auch sollten die Betroffenen auf Blick- und Körperkontakt achten. Sehr hilfreich für hyperaktive Kinder kann es auch sein, wenn sie von der Mutter zu kleinen Hilfeleistungen herangezogen werden, damit sie nichts negatives machen müssen, um aufzufallen. Die ihnen gestellten Aufgaben sollten bewältigbar sein, da dadurch das oft angeknackste Selbstwertgefühl der Kinder erheblich gesteigert werden kann. Eine Belohnung - auch in Form von Zuwendung - muß, wenn, sofort kommen.

Die Mutter sollte sich Erleichterung durch Gespräche verschaffen, und sollte nicht versuchen, das Kind verändern zu wollen.

Es ist Aufgabe der Eltern, dem Kind positive Erlebnisse zu bieten. "Sie müssen ihren Kindern langsam lernen, wie sie mit ihren Unzulänglichkeiten umgehen können." Ihre Andersartigkeit soll dadurch kompensiert werden, indem sie das Kind lehren, damit umzugehen. "Man muß den Kindern den Weg zeigen, auch wenn es ein langer Weg ist!" Diese Kinder bleiben nämlich nicht stehen, man kann ihnen etwas beibringen. "Das ist nur sehr anstrengend", und es braucht viel Geduld, aber es geht.

Frau Steger legte großen Wert auf die Betonung der positiven Seiten dieser Kinder; sie besitzen die Eigenschaft "unendlicher Hilfsbereitschaft und dieses Verständnis für Unzulänglichkeiten anderer Kinder". Sie haben "die Gabe, anderen zu helfen und sie seelisch aufzubauen". Außerdem sind sie lustig und sehr kreativ, "und da sollte man aufpassen, daß man das nicht kaputtmacht". Jede Mutter sollte stolz sein, daß sie "so ein feinfühliges, hypersensibles Kind hat".

Frau Steger erzählt auch, daß sie von ihrem Kind wahnsinnig viel gelernt hat. Ihr Sohn hat sie in ihrem Denken und Fühlen "total geändert". Sie ist ihrem Sohn dankbar, daß sie sich so umgestellt hat, und sich nun auch Schwächeren in der Gesellschaft anders zuwendet. Sie ist toleranter geworden, was sie nicht mit "alles akzeptieren" verwechselt haben möchte.

Abschließend wünscht sie jedem hyperaktiven Kind, "daß es die vielen guten Eigenschaften nützen kann, beziehungsweise, daß es den Begleitern gelingt, diese Eigenschaften zu erhalten und auszubauen".

Inwieweit haben sich meine Annahmen bestätigt?

Die Auseinandersetzung mit der Thematik ergab teilweise eine Diskrepanz zwischen wissenschaftlicher Theorie und alltäglicher Praxis, die ich in diesem Kapitel ausführen möchte. Weiters habe ich versucht, gewisse Aspekte, die ich bereits im Kapitel 10 angeführt habe, eingehender darzustellen.

Bestätigen kann ich nach wie vor, daß es weder eine einheitliche Begrifflichkeit noch Übereinstimmung in Bezug auf die Ursachen für diese Auffälligkeit gibt. Die Begriffspalette reicht von Zuschreibungen wie "hyperaktiv", "zappelig", "extrem unruhig" bis zu Begriffen wie "Zappelphilipp", "Hyperkinetisches Syndrom" oder "MCD". Die Minimale Cerebrale Dysfunktion wird nicht von vornherein als Ursache für hyperaktives Verhalten angenommen, da es keinen Zusammenhang zwischen Hyperaktivität und MCD im Sinne einer Gesetzmäßigkeit gibt. Über die genauen Ursachen herrscht ebenfalls Uneinigkeit. Es werden sowohl Schwangerschaftsprobleme, Geburtsprobleme, häufige Krankheiten, Penicillinbehandlungen usw. als Ursache genannt, als auch die genetische Veranlagung. Große Bedeutung wird dem psychosozialen Bereich beigemessen. Das Kind reagiert auf wichtige Einschnitte in sein Leben, das kann sowohl eine Übersiedlung sein, als auch eine innerfamiliäre Veränderung, sprich Zuwachs oder Trennung der Eltern. Das hyperaktive Verhalten ist dann ein Hilfeschrei. Oft sendet das Kind auch Warnsignale für unseren kinderfeindlichen Zeitgeist, für die Hektik im allgemeinen. Kinder reagieren auf eine Über- bzw. Unterforderung, indem sie auffällig werden. Vor allem gegen den Leistungsdruck in der Schule und im Elternhaus und gegen die hohe Erwartungshaltung wehren sich viele Kinder, indem sie sich total verschließen und dann Konzentrationsprobleme aufweisen. Dafür öffnen sie sich um so mehr für Dinge, die sie wirklich interessieren. Während solcher Beschäftigungen, sind hyperaktive Kinder enorm begeistert und unheimlich konsequent und interessiert.

Ich habe mich im Kapitel 10 zu sehr auf das psychosoziale Verursachungsprinzip festgelegt und möchte diese einseitige Sichtweise nun durch das Prinzip der Multikausalität erweitern, wobei ich dieses nicht als reine Addition von möglichen Ursachen verstanden wissen möchte, sondern als systemisches Wechselspiel der verschiedenen Ursachen. In diesem Wechselspiel von organischen, psychischen, sozialen und gesellschaftspolitischen Faktoren können die Ursachen für die Auffälligkeit gesehen werden. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, daß Kinder oft allzuschnell mit dem Begriff "Hyperaktivität" etikettiert werden und in der Folge die Ursache in erster Linie im Kind gesucht wird.

Die Probleme der Kinder, die sich oft bereits im Kleinkindalter ankündigen, werden durch den Kontakt mit Kindergarten und Schule massiv. Durch die Auseinandersetzung mit Leistungsnormen kommt es gehäufter zu Schwierigkeiten. Aufgrund vielfacher Ratlosigkeit und oft auch Unwissenheit über die kindlichen Verhaltensweisen, fühlen sich viele Kindergärtnerinnen und LehrerInnen überfordert. Es fällt ihnen schwer, mit dem Problem umzugehen, was teilweise auf ihre ungenügende Ausbildung zurückzuführen ist. Selten machen sie sich die Mühe, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen, beziehungsweise auf das Kind einzugehen; stattdessen fordern sie die Mütter auf, sich bei anderen Stellen Hilfe zu holen. Der permanente Druck belastet die Mütter sehr und führt zu schweren Selbstvorwürfen.

Sowohl Aussagen in der Literatur als auch Äußerungen Betroffener in Hinblick auf die Intelligenz lassen den Schluß zu, daß hyperaktive Kinder generell sehr begabt sind, daß sie sich aber vor allem in der Schule schwer tun, ihre kognitiven Fähigkeiten in gute Schulleistungen umzusetzen. Dennoch erfüllen sie größtenteils die Lehrplanforderungen; nur: damit geben sich viele Eltern nicht zufrieden, da sie es vermeiden möchten, daß sich ihr Kind mit "schlechten" Noten praktisch die ganze Zukunft verbaut. Mit viel Zeit- und Nervenaufwand üben die Mütter deshalb an den Nachmittagen mit ihren Sprößlingen, auch wenn die Kinder durch die ständigen mütterlichen Gängelungen oft nicht mehr wissen, welchen der vielen, verschiedenen Anweisungen, die auf sie einströmen, sie letztendlich nachkommen sollen.

Es wurde deutlich, daß hyperaktive Kinder für unser Schulsystem nicht geschaffen sind, da die Institutionen unfähig sind, mit "Andersartigkeit" umzugehen.

Meine Aussage in Kapitel 10, wonach auffällige Verhaltensweisen oft als medizinisches Problem oder als Krankheit definiert und allzuschnell mit Medikamenten therapiert werden, kann ich nach meiner praktischen Erfahrung nur bedingt bestätigen. Der Großteil der Mütter lehnt eine medikamentöse Behandlung ab, wobei ich der Ansicht bin, daß eine Befürwortung seitens der Eltern für diese Therapieform sicher vom Behandlungsansatz des jeweiligen Therapeuten abhängig ist. Der Wunsch der Eltern nach einer effizienten Therapie für ihre hyperaktiven Kinder sickert dennoch stark durch. Sie bemühen sich, gehetzt durch ihre Mitmenschen und vor allem durch die Institutionen Kindergarten und Schule, einen geeigneten Therapieplatz für ihr Problemkind zu finden. Sie nehmen sogar das aufwendige Kochen einer phosphatfreien Kost in Kauf; die versprochene Wundertherapie gibt es aber nicht.

Erst durch eine Gesprächstherapie oder durch die Selbsthilfegruppe gelingt es vielen Müttern, die sich ja hauptsächlich für die Auffälligkeit ihrer Kinder verantwortlich fühlen, eine andere Sichtweise des Problems zu erarbeiten. In der Selbsthilfegruppe können sich die Mütter - die Väter entziehen sich anscheinend gerne ihrer Verantwortung und erschweren durch zusätzliche Vorwürfe und Schuldzuweisungen das Leben ihrer Frauen - den Rücken stärken und die nötige Kraft tanken, um mit dem Problem besser umgehen zu können. Außerdem wird den Müttern in der Selbsthilfegruppe nicht das Bild einer Wundertherapie vorgegaukelt, vielmehr wird ihnen

vermittelt, daß es mit Geduld und Liebe dem Kind gegenüber sowieso am besten geht. Auch wichtige Tips werden ausgetauscht. Es ist enorm wichtig für die Mütter, daß sie das nötige Selbstbewußtsein entwickeln, um sich nicht von allen Seiten verunsichern zu lassen.

In der Gesprächstherapie lernen die Mütter ihr eigenes Verhalten unter die Lupe zu nehmen und eventuell zu verändern. Wenn es dem Therapeuten gelingt, die Schuldgefühle der Mutter zu reduzieren, einen neuen Zugang der Mutter zum Kind zu ermöglichen, daß die Mutter also lernt, das Kind in seiner Grundart zu akzeptieren, daß sie nicht alles persönlich nimmt und sich nicht so betroffen machen läßt durch den Druck der Umgebung, daß sie dem Kind liebevolle und geduldige Konsequenz vorgibt, ist der Grundstein für eine Verbesserung der Situation gelegt.

Conclusio

Die Verwirrung in Bezug auf die Begrifflichkeit ist groß, wie die nachfolgende, breite Palette von Bezeichnungen zeigt: "Hyperkinetisches Syndrom", "Hyperkinetische Störung", "Hyperaktivität", "Attention Hyperactivity Disorder", "Attention Deficit Hyperactivity Disorder", "Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom", "Aufmerksamkeitsdefizit / Hyperaktivitätsstörung" etc. In Unkenntnis genauer Verursachungen, aber bei vielfältigen Vermutungen darüber, wurden die verschiedenen Diagnosebezeichnungen geprägt. Begriffe wie "Hyperkinetisches Syndrom", "Hyperaktivität" usw. betonen zunächst das ständige Zappeln und die exzessive Ruhelosigkeit. Die Kinder werden aber zu vorschnell mit solchen stigmatisierenden Begriffen bedacht. Etikettierungen, ständige Vorwurfshaltung und Ausgrenzung fördern die Symptomatik des hyperaktiven Kindes. Durch die Sammeltopfbegriffe wird eine gezielte Eingrenzung der tatsächlichen Problematik eines Kindes unmöglich.

Die Diagnose ist häufig erst einmal eine Entlastung für die Eltern nach langem Suchen danach, warum das Kind so schwierig ist. Vor allem Mütter werden vom Umfeld damit konfrontiert, daß sie selbst schuld seien am auffälligen Verhalten ihres Kindes, und daß sie die Diagnose nur als Entschuldigung benützen.

Die Suche nach dem richtigen Therapiekonzept wird für viele Kinder eine Odyssee; sie werden von einer Stelle zur nächsten geschleppt.

Die verwirrende Vielfalt unterschiedlicher Erklärungsansätze, sei es in Theorie oder Praxis, fördert die Unsicherheit all jener, die mit dem Problem konfrontiert sind.

Vor allem die Mütter, die ja vorwiegend mit der Erziehung beauftragt sind, werden von der Umgebung oft verunsichert. Permanente Schuldzuweisungen - jene vom eigenen Mann oft nicht ausgeschlossen - machen das Leben vieler betroffener Mütter zur Qual; die eigene Erziehungsfähigkeit wird angezweifelt. Viele ziehen sich zurück und fühlen sich dann erst recht isoliert. Sie brauchen unendlich viel Geduld und Kraft gegenüber dem Kind und einer verständnislosen Umwelt. Deshalb ist für viele Mütter eine Gesprächstherapie oder das Treffen in der Selbsthilfegruppe so bedeutend, da sie dort die notwendige Kraft tanken und Ruhe finden, die sie brauchen, um der Gefahr des Überreagierens besser entgegentreten zu können.

Eine völlige Überforderung stellt für viele hyperaktive Kinder das Bildungssystem dar. Sie sind den starren Leistungsanforderungen der Schule sowie des Elternhauses trotz durchschnittlich hoher Intelligenz oft nicht gewachsen und reagieren darauf mit vermehrter Unruhe und Unkonzentriertheit. Die mangelhafte Kenntnis der LehrerInnen über diese Auffälligkeit führt zu Etikettierungen, Vorwürfen, Moralisierungen und Abwertungen der betroffenen Kinder. Häufig werden hyperaktive Kinder von LehrerInnen, die total überfordert sind, zum Sündenbock gemacht. Mitschüler tragen ihren Teil dazu bei, da sie sehr bald heraushaben, wie man das hyperaktive Kind so ärgert, daß es zu Extremverhaltensweisen tendiert. Die Außenseiterposition des Kindes ist damit vorprogrammiert. Ist der/die LehrerIn in seiner Tätigkeit überfordert, stellt er/sie nicht selten die Überlegung an, das Kind in die Sonderschule abzuschieben. Die großen Begabungen und die durchschnittlich hohe Intelligenz hyperaktiver Kinder werden oft verkannt.

Die Thematik der Verhaltensauffälligkeiten wird während der Lehrerausbildung oft nicht ausreichend.

Das Kind braucht in der Schule klare Strukturen; die Grenzen müssen klar gezogen werden, damit sich das Kind besser orientieren kann. Aufgabe der Unterrichtenden ist es, die Bedürfnisse ihrer ABC-Schützen zu erkennen und zu betreuen. Eine gezielte Förderung sollte angestrebt werden.

Das Zusammenwirken von Eltern, Lehrern, Beratern und Therapeuten bleibt Utopie. Stattdessen werden vor allem Eltern durch ständige Anrufe und Klagen der Lehrer zusätzlich belastet.

Irritiert durch die vielen unterschiedlichen Therapiemethoden, tendieren verzweifelte Eltern oft zu Angeboten, die eine schnelle Heilung versprechen. Wichtig ist, daß den Eltern in einer Therapie mit viel Geduld aufgezeigt wird, daß sie lernen müssen, mit der Problematik des Kindes zu leben und nicht dagegen zu kämpfen. Wesentliche Einstellungsänderungen bei den Eltern sind notwendig, um Erziehungsratschläge nützen zu können.

Therapieziel soll sein, das Kind kompetent zu machen im Umgang mit sich selbst und die erziehende Umgebung kompetent zu machen im Umgang mit dem Kind. Es soll nicht Ziel einer Therapie sein, daß der Sprößling in ein blind-normgerechtes Kind verwandelt wird.

Das Setzen von Grenzen, die dem Kind erläutert werden müssen, ist enorm wichtig, da eine grenzenlose Erziehung die Kinder alleine läßt. Durch die Grenzen erfährt das Kind Halt, Vertrauen, Orientierung und Persönlichkeiten, an denen es sich reiben kann. Ein klar strukturierter Tagesablauf und feste Regeln erleichtern dem hyperaktiven Kind seinen Alltag. Durch langatmige Vorträge und permanentes Schreien erreicht man bei hyperaktiven Kindern keine Einsicht. Ein übereinstimmendes Erziehungskonzept beider Elternteile ist wesentlich.

Sportliche Freizeitaktivitäten sind für viele hyperaktive Kinder sehr hilfreich.

Wie bereits ausgeführt, erhalten viele Mütter in der Selbsthilfegruppe ausführliche Informationen und können sich dadurch besser mit der Thematik auseinandersetzen. Sie lernen mit oft ungerechtfertigten Schuldzuweisungen umzugehen. Durch den Austausch gelingt es den Müttern vielfach, die positiven Seiten ihrer Kinder wahrzunehmen.

Ich möchte meine Arbeit mit dem Aufzeigen einiger Stärken dieser Kinder beenden. Nicht nur in der Literatur, sondern vor allem im Austausch mit betroffenen Müttern stieß ich auf viele positive Eigenschaften. So besitzen viele hyperaktive Kinder eine spontane und ausgeprägte Hilfsbereitschaft und Fürsorglichkeit, wenn sie die Hilfsbedürftigkeit eines anderen Menschen sehen. Sie haben einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere. Verblüffend sind oft ihre Kreativität und der Erfindungsgeist. Auch gelingt es den Kindern oft, ihre unmittelbare Umgebung für Probleme anderer zu sensibilisieren. Den positiven Anteil der Wesensmerkmale eines hyperaktiven Kindes zu sehen ist wesentlich, um es in unsere Gesellschaft zu integrieren.

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ZANGERLE Heinz, Edelstein statt Einmaleins, Zeitschrift: Psychologie heute, Seite 52 - 57, Dezember 1996.

Anhang

  1. Interview mit dem Kinderpsychologen/Psychotherapeuten Dr. Heinz Zangerle, am 15.06.1996

  2. Protokoll des Treffens der Selbsthilfegruppe, am 26.03.1997

  3. Interview mit Frau Steger, am 14.04.1997

  4. Interview mit Frau Grün, am 29.04.1997

  5. Protokoll des Treffens der Selbsthilfegruppe, am 30.04.1997

  6. Interview mit Frau Gelb, am 14.05.1997

1. Interview mit dem Kinderpsychologen/Psychotherapeuten Dr. Heinz Zangerle, am 15.06.1996

Was halten Sie vom Begriff Hyperaktivität? Welche Erfahrungen machen Sie in Ihrer Arbeit?

Z.: Hyperaktivität ist ein Etikett, das, wie halt jeder Begriff im Bereich der Lern- und Verhaltensstörungen mit allen Vor- und Nachteilen fürs Kind, bekanntlich eben, unreflektiert verwendet wird, und im Kind dazu führt, daß es etikettiert wird durch die Eltern. Früher hat man gesagt, es ist ein zappeliges Kind, und es wurde wohlwollend akzeptiert. Wenn man aber sagt, es ist hyperaktiv, dann verbindet der Begriff möglicherweise das Pathologisieren: es ist krank, hat ein Krankheitssymptom, und das ist sicher falsch. Es ist in den wenigsten Fällen Ausdruck von Krankheit oder der Medizin zuzuordnen, sondern meistens dem Bereich des Psycho-Sozialen. Man braucht Begriffe, aber "Hyperaktivität" ist relativ unpräzise und umfaßt ein riesiges Gebiet von Konzentrationsstörungen, Schulschwierigkeiten bis hin zum guten, alten Zappelphilipp, wie man ihn im Struwwelpeterbuch findet.

Kann man aus Ihrer Sicht Hyperaktivität überhaupt definieren?

Z.:Jeder kann es für sich definieren, die Mutter kann für sich den Zappelphilipp definieren, aber es gibt nicht DIE Definition der Hyperaktivität, genauso, wie es die Definition der Legasthenie nicht gibt. Je mehr man sich damit beschäftigt, desto mehr merkt man, daß es verschiedene Ansätze gibt, je nachdem welchen theoretischen Standpunkt der jeweilige Forscher hat. Ich bin mehr pragmatisch orientiert, als Berater muß ich das ja sein, wie könnte ich den Eltern sonst Definitionen liefern. Ich gehe schon von zentralen Symptomen aus. Es gibt auch Skalen, wo man schaut, wieviele Symptome vorhanden sind und dann Punkte ausrechnet. Davon halte ich relativ wenig. Ich gehe mehr vom Problem der Eltern aus und schaue, in welche Richtung das geht, und dann sage ich: "Sie haben ein zappeliges Kind, ein sogenanntes hyperaktives Kind."

Sprechen Sie im Zusammenhang mit dem Störungsbild von Hyperaktivität oder schon vom erweiterten Begriff, dem Hyperkinetischen Syndrom?

Z.:Das Hyperkinetische Syndrom ist natürlich die Weiterführung des symptomorientierten Begriffes hin zum Syndrom, wo es darum geht, daß die einzelnen Symptome, die damit in Zusammenhang stehen, zum Beispiel Selbstwertproblematik, Angst, Unsicherheit, Konzentrationsstörungen, Schulschwierigkeiten, sich wie in einem Teufelskreis bewegen. Dann spricht man vom hyperkinetischen Syndrom oder vom Hyperaktivitätssyndrom.

Welche Symptome gehören Ihrer Ansicht nach zum Hyperkinetischen Syndrom, zur Hyperaktivität?

Z.:Die Symptome gehen quer durch den kinderpsychologischen Gemüsegarten, angefangen von kleinen Symptomen, wie Nägel beißen, bis zu Problemen in der Schule, wie Rechtschreibschwierigkeiten und Speicherschwächen. Da ist praktisch alles drinnen. Es gibt fast kein Symptom, das nicht in Folge einer Hyperaktivität oder in Abhängigkeit und gegenseitigem sich Hochschaukeln und Aufschaukeln auftreten kann.

Dann kann man praktisch auch die am häufigsten auftretenden Symptome nicht nennen?

Z.:Es gibt schon einige Leitsymptome, die wir auch auf unserem Prospekt angeführt haben: diese sind ( laut Prospekt)

- rastlos, dauernd in Bewegung

- reizbar, impulsiv, kann sich schwer steuern

- stört andere Kinder

- kurze Aufmerksamkeit, beginnt vieles und führt wenig zu Ende

- zappelt dauernd

- leicht abzulenken

- kann schwer abwarten, ist rasch enttäuscht

- weint schnell

- Stimmung wechselt schnell und drastisch

- unberechenbar, explosiv, neigt zu Wutausbrüchen

- besondere Probleme bei Hausübungen und mit der Konzentration

Das sind Leitsymptome, die meistens oder häufig auftreten. Eins der zentralsten Leitsymptome überhaupt ist die Schwierigkeit mit der Selbststeuerung. Die Steuerungsunfähigkeit im Motorischen, im Affektiven, im Sozialen, im Kognitiven usw. ist eins der Grund-elemente des hyperaktiven Kindes. Das Zentrale ist für mich also das Steuerungsproblem, das nicht nur im motorischen, sondern auch im affektiven Bereich auftritt: wenn ein Kind beispielsweise schnelle Hochs und Tiefs hat, von einer Minute auf die andere, was ja vorkommen kann; oder Leistungsschwankungen hat, an einem Tag kann es das Einmaleins und am nächsten Tag ist es wie weggeblasen; oder, wenn es in der Schule gut geht, zu Hause aber schlecht; oder, wenn Probleme im Sozialbereich auftreten, wie schnell wechselnde Freundschaften, ziemlich bizarre Freundschaftsverhältnisse. All diese Dinge weisen darauf hin, daß das Kind einfach noch Schwierigkeiten hat, sich zu steuern und dann hin und her geworfen wird. So entstehen Bilder, fast wie von einem wilden Tier, das einfach noch ungesteuert in der Welt herumsaust. Ich will, daß das Kind in der Therapie lernt, mit Metaphern sich selber zu verstehen. Früher gab es die Metapher: "du bist ein kleiner Teufel", heute sagt man eher: "du bist ein wilder Tiger, der erst lernen muß, mit seinen Krallen umzugehen." Wichtig ist, daß man den Kindern die Schuld nimmt.

Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen Hyperaktivität und Minimaler Cerebraler Dysfunktion?

Z.:Den gibt es sehr häufig, weil Hyperaktivität - wenn ich fragen muß, woher das kommt - nicht nur psycho-sozial bedingt ist, sondern es gibt natürlich auch organische Ursachen bei diesen Kindern, sehr häufig sogar nach meiner Erfahrung. Ich würde sagen, zwei Drittel der sogenannten Hyperaktiven, wobei das wiederum eine Definitionsfrage ist, haben minimale cerebrale Paresen oder POS (psycho-organisches Grundsymptom), sprich Schwangerschaftsprobleme, Geburtsprobleme, Anfälle während der Kleinkindheit, häufige Krankheit oder häufige Penicillinbehandlung. Das spielt sicher eine große Rolle und ist auch wichtig für die Therapie.

Kann man davon ausgehen, daß ein Kind mit MCD hyperaktiv ist?

Z.:Nicht unbedingt. Es kann dazu führen, doch es kommt natürlich darauf an, wie auf dieses MCD eingegangen worden ist: ob die Mutter Schuldgefühle entwickelt hat, und hyperprotektiv geworden ist, und das Kind total verhätschelt hat und es ängstlich gemacht hat, oder ob die Mutter dieses leichte organische Defizit durch richtiges Erziehungsverhalten abgefangen hat. Dann kommt es nicht so stark zum Ausbruch, aber meistens zeigen sich natürlich Störungen aufgrund eines MCD.

Also ist ein Zusammenhang nicht unbedingt erforderlich? Wenn ein Kind hyperaktiv ist, darf man nicht davon ausgehen, daß eine MCD vorhanden ist.

Z.:Das stimmt. Es können auch andere Faktoren vorliegen, aber es ist häufig der Fall. Nach meiner subjektiven Statistik, also die Untersuchungen, die ich kenne, liegt so etwas sicher bei zwei Dritteln dieser sogenannten Hyperaktiven - grob gesprochen - vor, wobei es natürlich keinen Zusammenhang im Sinne von Gesetzmäßigkeit gibt: wenn - dann. Das Ganze ist also nicht umkehrbar.

Laut Literatur wird Hyperaktivität vorwiegend erst im Schulalter diagnostiziert. Welche Erfahrungen machen Sie diesbezüglich?

Z.:Das stimmt überhaupt nicht, es ist halt so, daß die Schule für das Kind ein Eintritt in eine Situation ist, wo es sich mit Leistungsnormen auseinandersetzen muß, und da kommt es natürlich gehäufter zu Schwierigkeiten. Beobachtbar ist es ja schon vorher, und zwar im Sozialverhalten, wenn z. B. jemand zu Besuch kommt und das Kind besonders überdreht ist und niemand sich erklären kann, warum es plötzlich so wild ist; oder bei Lärmempfindlichkeit. Auch motorischer Überschuß, den die Kinder haben, tritt schon vor der Schule auf.

Wie alt sind durchschnittlich die betroffenen Kinder, die Sie therapieren?

Z.:Der Großteil der Kinder, die ich hier betreue, bzw. deren Eltern betreue ich meistens, die Kinder selber eh nicht, sind zwischen 6 und 10.

Auf welchem Weg kommen Eltern zu Ihnen? Ergreifen sie meist Eigeninitiative oder werden sie von Lehrern bzw. Ärzten an Sie weitergeleitet?

Z.:Der größte Teil ergreift Eigeninitiative aufgrund von Medienarbeit, ein weiterer großer Teil kommt durch die Schule und durch Ärzte, oder durch Referate, die ich halte.

Wir haben noch einige Fragen zur Therapie: Wie ist Ihre Therapieform orientiert?

Z.:Ausgehend von dem Ansatz, den ich Ihnen skizziert habe, beginnt man mit einer Anamneseerhebung: was sind die Ursachen und Hintergründe. Der erste Grundsatz ist nicht der Ansatz am Kind, sondern immer an den Bezugspersonen. Wenn die Eltern, am besten beide, zu diesem Gespräch bereit sind - leider kommen meistens nur die Mütter - dann ist grundsätzlich zu schauen, wie sich das Problem entwickelt hat, sei es organisch oder psycho-sozial, und wie damit umgegangen wird - in Schule, Elternhaus, Kindergarten, Verwandtschaft, Bezugssystem. Und dann muß man schauen, daß man Wege finden kann, das Problem in den Griff zu bekommen.

Therapieren Sie die Kinder einzeln oder in der Gruppe?

Z.:Ich hab die Kinder fast nie da, ich hab zwar eine Notausrüstung für Kinder, ich leiste aber fast nur Bezugspersonenarbeit. Es geht darum, daß ich den Leuten die Kinder nicht abnehme. Es ist auch vermessen zu glauben - das machen manche Kollegen und das muß man sicher kritisieren - daß man "in einer Stunde pro Woche" ein Kind therapieren kann. Also wenn die Mutter, der Vater, das Bezugssystem, manchmal auch die Schule, nicht mitspielt, dann bringt das Ganze überhaupt nichts, das ist der Schwerpunkt.

Dann sind Sie praktisch schon daran interessiert, alle zusammen an einen Tisch zu bekommen, ich meine Lehrer, Ärzte, Eltern?

Z.:Es muß nicht der gemeinsame Tisch sein, ich bin sozusagen der Katalysator, der versucht, das Gespräch in Gang zu bringen, weil es manchmal zwischen Schule und Elternhaus eben nicht funktioniert, weil sie sich gegenseitig die Schuld zuschieben, warum das Kind so ist. In der Einzelsituation zu Hause ist das Kind ruhig und kann "es" und in der Schule kann das Kind "es" wieder nicht, wenn es unter Druck gerät. Da versucht man halt, gegenseitig ein bißchen füreinander die Positionen verständlich zu machen und aufeinander abzustimmen. Die Besprechung mit der Schule ist ein wesentlicher Punkt, die Besprechung mit Ärzten weniger. Ich brauche die Ärzte fast nicht, weil es meistens organisch, rein medizinisch, nicht behandelbar ist - es ist schon behandelbar -, aber es ist aus meiner Sicht nicht optimal, mit Ritalin oder mit sonstigen Beruhigungsmitteln zu arbeiten, obwohl es manchmal passiert.

Wie Sie uns bei unserem letzten Gespräch mitgeteilt haben, haben Sie eine Elterngruppe gegründet. Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?

Z.:Die Erfahrung, daß die Eltern einfach jeweils aus ihrem eigenen Bereich herauskommen und sehen, daß andere Eltern auch solche Probleme haben, Erfahrungen austauschen können und sich gegenseitig die Angst abnehmen vor der Zukunft und vor der Entwicklung dieser Kinder, sich gegenseitig informieren können, auch manchmal Tips geben können, was sie schon probiert und getan haben, ob sie erfolgreich waren oder nicht.

Gerade die Schuldfrage, die Sie vorher schon angesprochen haben, ist ein viel diskutiertes Thema in der Literatur. Können Sie dem zustimmen, daß Eltern häufig die Schuld bei sich selbst suchen?

Z.:Ja natürlich. Die Mütter kommen meistens in der Meinung, sie haben versagt, sie seien Schuld, sie haben was falsch gemacht. Vor allem die Mütter sind da sehr sensibel und geben sich selber die Schuld, und sie bemühen sich, und sagen, alles haben sie schon probiert und nichts hat was genützt. Vielfach kann schon allein der Hinweis, daß es eine organische Mitbedingtheit des Problems gibt, viel bewirken. Quasi: "Es bin nicht nur ich Schuld, sondern es liegt auch was am Kind sozusagen, im Kind drinnen." Und man muß wirklich sagen, daß es meistens oder sehr häufig ist, daß die Kinder leichte Beeinträchtigungen haben. Es sind nicht grobe Behinderungen, sondern man spricht von MCD oder wie die Begriffe alle heißen. Das zu wissen ist für die Eltern erleichternd.

Wie ist der Stellenwert der Medikamente in Ihrer Therapie?

Z.:In meiner Therapie ist er fast null, außer in extremsten Fällen habe ich schon erlebt, daß die Mutter es einfach nervlich nicht mehr geschafft hat, und das Kind eine Zeitlang Beruhigungsmittel genommen hat. Aber das ist natürlich nicht mein Ansatz.

Man findet in der Literatur sehr oft, daß die Medikamente, diese Stimulantien, abhängig machen. Auf der anderen Seite beschreibt die Autorin Bernau, daß keine Gefahr der Abhängigkeit besteht. Wie sehen Sie das?

Z.:Da gibt es unterschiedliche Untersuchungen, die einen schreiben so, die anderen so. Gerade in Amerika ist es ja viel mehr üblich, den Kindern Ritalin zu geben, es ist schon ein Modemedikament, dort gibt es auch ärztliche Vereinigungen, die in Zeitschriften publizieren, die behaupten, es gäbe kein Medikament, dessen Nebenwirkungen so gut erforscht seien, und es gäbe keine Abhängigkeit. Andere wiederum behaupten das Gegenteil, Voss zum Beispiel; aber ich bin halt eher der Meinung, ein Kind soll lernen, mit seinem Problem umzugehen, aber nicht in der Weise, daß es sich einfach was einschiebt, sozusagen, und glaubt, dann ist die Welt o.k.. Auch wenn es nicht direkt körperlich abhängig macht, führt der Gewohnheitseffekt dennoch dazu, daß man später nicht mehr fragt, was ist mit mir los und was sind die Umstände und wie kann ich besser meine eigene Gebrauchsanleitung erklären, sondern, daß man sich schnell was gibt.

Voss schreibt ja davon, daß man "Probleme einfach weglutscht".

Voss schreibt auch vom Medikament als Bestrafungsmittel. Machen Sie solche Erfahrungen, daß die Dosis erhöht wird, falls sich das Kind nicht anpaßt?

Z.:Das habe ich noch nie gehört, ehrlich gesagt. Das ist mir neu. Vielleicht gibt es so was, aber ich glaube, daß die Mütter oder die Väter die Drohung so einsetzen, weil es für sie meistens die letzte Hilfe ist, weil sie sich überfordert fühlen und in ihrer Not zum Medikament greifen. Ich mache die Erfahrung, daß die Mütter fast alle sagen, nein bitte kein Medikament, und wir versuchen das so in den Griff zu kriegen. Medikamente in letzter Not nur, wenn die Eltern wirklich fertig sind, solche Fälle gibt es. Die Kinder haben unheimlich viel Kraft, eine ungeheure Vitalität, und wenn manche Eltern es nicht schaffen, ist es verständlich, daß sie Medikamente probieren.

Kinder können direkt Psychoterror ausüben.

Z.:Ja, den ganzen Tag. Dieses inanspruchnehmende Verhalten ist ein Merkmal, das manche Kindern haben, und für Eltern schwer zu ertragen ist.

Was halten Sie von Hyperaktivität als Warnsignal des Kindes?

Z : Als Warnsignal wofür?

Dafür, daß das Kind auf etwaige Mißstände aufmerksam macht, zum Beispiel auf Eheprobleme.

Z.:Aber auch in anderer Weise. Die vielen hyperaktiven Kinder werden ja manchmal als Warnsignal gesehen für unseren Zeitgeist, für die Hektik - keine Zeit haben -, alles muß schnell gehen, immer mehr Zeit auch aus der Familie raus, beide Elternteile sind berufstätig, und dann muß es schnell schnell gehen und dann reagiert das Kind natürlich, indem es diese Hektik auch aufnimmt oder indem diese möglicherweise energetisch vorhandene Disposition verstärkt wird. Und so gesehen ist es natürlich schon ein Warnsignal, das ein Kind setzt, so ungefähr: ich muß alles sehr schnell machen, damit ich zu dem komme, was ich brauche. So kann man es natürlich auch verstehen.

Ein weiteres Thema ist die Ernährung und Hyperaktivität, also, daß Diäten sehr wohl eine Verminderung der Hyperaktivität bewirken. Auf der anderen Seite schreibt Vernooij davon, daß es keinen Kausalzusammenhang gibt, sondern daß einfach die Verstärkung der Mittelpunktposition des Kindes die Hyperaktivität vermindert.

Z.:Dem stimme ich nicht ganz zu. Ich habe selber festgestellt, daß die Ernährung sehr wohl eine Rolle spielt. Ich bin kein Purist in der Weise, daß ich den Leuten Diäten verordne, aber ich habe schon die Erfahrung gemacht, daß zum Beispiel die Reduktion von Zucker eine große Rolle spielt. Vor allem die gefärbten Bonbons, die ganzen Gummibärchen und Kaugummis, gefärbten Joghurts mit der Bezeichnung Fruchtjoghurt, das Zeug, welches gefärbt und behandelt ist bis zum Exzeß, das alles wird wohl eine große Rolle spielen. Ich habe erlebt, daß Kinder, die den Zuckerkonsum reduziert haben, ruhiger geworden sind. Damit sage ich nicht eindeutig, es ist die Ernährung, aber diese spielt auch mit hinein. Zucker ist etwas hoch Energetisches, und wenn man weiß, welche Freizeitgewohnheiten Kinder manchmal haben, zum Beispiel viel sitzen, Computer und game-boy spielen und so weiter, wenig Bewegung und dann viel Energie, dann kann man verstehen, daß es das ganze Problem verschärft.

Gibt es Ihrer Ansicht nach einen Zusammenhang zwischen Teilleistungsstörungen und Hyperaktivität?

Z.: Da müssen wir zuerst den Begriff Teilleistungsstörungen erläutern.

Teilleistungsstörungen im Sinne von Wahrnehmungs-, Orientierungs-, und Koordinationsstörungen.

Z.: Es gibt sicher Zusammenhänge, weil natürlich die reduzierte Selbststeuerung des Kindes zu verschiedensten Realitätsstörungen und Raumorientierungsstörungen und so weiter führen kann, aber nicht muß. Diese Kinder sind oft teilleistungsgestört und haben Ausfälle, die sich beispielsweise besonders beim Rechtschreiben bemerkbar machen.

Am Ende möchte ich Sie noch bitten, uns ein Beispiel einer erfolgreichen sowie einer mißlungenen Behandlung zu schildern.

Z.: Fallbeispiele schildere ich äußerst ungern.

Wenn es gelingt, all die besprochenen Dinge umzusetzen, dann kann man von einem positiven Therapieverlauf sprechen. Wenn also die Mutter die Schuldgefühle reduziert, einen neuen Zugang zum Kind findet, wenn sie nach Möglichkeit eine Elterngruppe besucht, und Literatur liest und selber draufkommt, daß sie mit dem Kind umgehen kann. Sie soll nicht alles zu persönlich nehmen, und sich nicht so betroffen machen lassen durch den Druck der Umgebung, der manchmal da ist, wenn das Kind draußen spielt, und die Nachbarin anruft, weil es die Sandburg zerstört oder das Nachbarskind gebissen hat. Wenn die Mutter nicht sofort zerknirscht ist und ihr Kind verdammt, und wenn es ihr gelingt, Verständnis für ihr Kind aufzubringen, und das Kind in seiner Grundart anzunehmen. Das sind viele Dinge, die da passieren müssen. Auch in der Schule soll die Lehrerin in dem Kind nicht den aktiven Bösewicht sehen, sondern erkennen, daß das Kind ein Getriebenes ist und dadurch mehr Verständnis entwickeln, dann geht das in Richtung eines positiven Therapieverlaufs. Aber eine schöne, positive Therapie kann ich nicht schildern, weil es im allgemeinen sehr langwierige Sachen sind, und man die Kinder nicht von heute auf morgen umdrehen kann, denn sie sind in ihrer Grundart so; was nicht heißt, daß man sie total gehen läßt, und daß es keine Normen und Regeln braucht, ganz im Gegenteil, sie brauchen ein besonders klares Maß an liebevoller und geduldiger Konsequenz. Das umzusetzen wäre positiv, aber ist oft erst in zwei bis drei Jahren möglich und ist nicht eine Arbeit von zwei oder drei Wochen. Es ist mehr eine Begleitung über einen längeren Zeitraum als eine punktuelle Therapie.

Negativ verläuft es dann, wenn die Eltern auf zweiter Spur draußen parken und mir das Kind reinschieben wollen und sagen: "Machen Sie aus dem Philipp einen braven Buben, einen angepaßten Jungen, der schön ordentlich tut, der sein Zimmer aufräumt, eine schöne Schrift hat usw." Wenn die Erwartungshaltung so hoch oben ist, und es mir nicht gelingt, dieselbe zu reduzieren, realistische Zielsetzungen einzubinden, dann verläuft die Therapie sicherlich negativ. So habe ich schon erlebt, daß Eltern glauben in zwei Gesprächen läuft's.

2. Protokoll des Treffens der Selbsthilfegruppe, am 26. 03.1997

Heute, Mittwoch den 26 März, findet das monatliche Treffen der Selbsthilfegruppe "Hyperaktives Kind" in Innsbruck statt. Die Leiterin derselben, Frau Steger, erklärte sich mit meiner Anwesenheit einverstanden, sofern die Mutter, die sich für den heutigen Termin angemeldet hat, zustimmt. Frau Steger ist es ein Anliegen, vor allem Studenten mit dem Thema zu vertrauen, da ihres Erachtens die Problematik des hyperaktiven Kindes viel zu wenig bekannt ist. Daher erklärte sie sich auch bereit, mir zu einem späteren Zeitpunkt ein ausführliches Interview zu geben.

Nachdem ich der Mutter - ich nenne sie Frau Blau - die totale Anonymität zusicherte, akzeptierte sie meine Gegenwart, wollte jedoch nicht, daß ich das Gespräch auf dem Diktiergerät aufzeichnete, weil sie sich sonst "wie in einem Verhör" vorkomme. So machte ich mir, soweit es möglich war, folgende Notizen:

Frau Blau spricht über ihre Verzweiflung und davon, daß sie keinen Ausweg mehr sieht. In ihrer Ratlosigkeit konsultierte sie bereits einen Kinderpsychologen, der in Teilbereichen Symptome des HKS feststellte. Das ist ihr zu vage und so ist sie auf der Suche nach einer genauen Diagnose, "damit das Kind endlich akzeptiert wird". Das große Verlangen nach einer genauen Diagnose betont Frau Blau besonders. Sie weiß, daß ihr Kind schwierig, aber normal ist, da die "Ärzte keine organischen Schäden" finden konnten. Trotzdem sucht sie einen Namen für die Schwierigkeit ihres Buben.

Das Kind ist achteinhalb Jahre alt und besucht die Grundschule in einer ländlichen Gegend. Bereits mit zwei Jahren und drei Monaten hat der Bub "super gesprochen", er schlief schon damals nicht länger als acht bis neun Stunden pro Tag. Der Junge ist wie "drei Kinder in einem". Er ist immer in Bewegung; seine Vorliebe gilt den Türstöcken, an denen er hinaufklettert. Ist er aufgeregt, so spricht er zwei Stunden ununterbrochen. Er schimpft auch "extrem viel mit kräftigen Ausdrücken". Wenn er seine Ausbrüche hat, schimpft und schreit er wie wild. Er ärgert sich sehr schnell, "flippt auch sofort aus und hat immer das letzte Wort". Gerade deshalb wird er von seinen Schulkollegen oft massiv geärgert, gereizt und provoziert und wird so "von den anderen zum Sündenbock gemacht". Wird er dann beschimpft, ist er sofort frustriert.

Der Junge ist oft verspannt und hat Probleme im feinmotorischen Bereich; "er ist extrem tolpatschig". "Er rückt dauernd mit dem Sessel, und der Radiergummi fällt ihm zwanzigmal runter". Vor allem im Turnunterricht hat er große Probleme. Die schulischen Leistungen erbringt er einwandfrei, lediglich im Schreiben hat er Schwierigkeiten. Schreibt er klein, trifft er die Zeile, schreibt er groß, purzeln die Buchstaben auf der ganzen Seite. Die einfachsten Aufgaben kann er oft nicht lösen, während er schwierige Aufgaben gut bewältigt. "Der Junge hat eine durchschnittlich hohe Intelligenz".

Er ist extrem hilfsbereit und "hat die Gabe, anderen zu helfen und sie seelisch aufzubauen".

Massive Probleme gibt es erst, seit der Junge in der Schule ist. Bereits drei Tage nach Schulbeginn spricht die Lehrerin vom "schwergestörten Kind". "Er wird in keinster Weise getröstet, stattdessen wird er regelmäßig von der Klasse verwiesen." Obwohl er die schulischen Leistungen erbringt, "möchte seine Lehrerin hören, daß das Kind verhaltensgestört ist". Der Bub hat als einziger seiner Klasse ein Punkteheft, "wodurch er wieder in eine Sonderstellung gedrängt wird". Große Schwierigkeiten hatte Frau Blau auch mit dem Pfarrer, der das Kind während des Unterrichts filmen wollte, um aufzuzeigen, daß der Junge verhaltensgestört ist. Der Streit ging so weit, daß das Kind jetzt nicht zur Kommunion geht. Die Lehrerin, die seit zwanzig Jahren ausschließlich frontal unterrichtet, ist natürlich auf der Seite des Pfarrers und macht der Mutter Vorwürfe.

Vorwürfe bekommen Frau Blau und ihr Mann auch von den Eltern der Mitschüler, die sich gegen sie verbünden. Sie erhalten oft "anonyme Vorwürfe", in denen ihnen gesagt wird, "daß das Kind eine Zumutung, ja eine Gefahr für alle anderen Kinder sei". Auch Erziehungsunfähigkeit wird der Mutter oft vorgeworfen; so wird sie des öfteren gefragt, warum sie ihr Kind denn nicht anders erziehe. Durch die Vorwürfe von außen, die für sie "sehr schlimm" sind, verändert auch Frau Blau ihr Verhalten dem Kind gegenüber und kommt oft in Versuchung, den Jungen anzuschreien. Überhaupt ist es oft schwierig, Geduld zu beweisen. Wenn der Junge schimpft und schreit, dann wird auch die Mutter oft lauter und schreit ebenfalls.

Ähnliche Erfahrungen machte auch Frau Steger, selbst Mutter eines ehemals hyperaktiven Jungen. Immer wieder bekam sie zu Ohren, daß ihr Kind anders sei. Mit drei Jahren hat er jedes Kind gebissen, ohne daß es dafür einen ersichtlichen Grund gab. In der Grundschule konnte ihr Junge nie still sitzenbleiben, ständig wechselte der Lehrer seine Banknachbarn. "Sobald er in eine Streßsituation kam, hatte er ein Brett vor dem Kopf". Er war kein guter Schüler; gute Leistungen erzielte er nur in Mathematik und in Deutsch. Außerdem sahen seine Hefte immer fürchterlich aus; sie waren voller Eselsohren und er konnte den Heftrand nicht einhalten. Die Lehrerin sagte immer wieder, wie unerträglich ihr Kind sei. Frau Steger wurde alle vierzehn Tage in die Schule vorgeladen. Dort mußte sie immer wieder hören, daß sie, die Lehrerin, unter diesen Umständen keinen Unterricht halten könne, und daß sie, Frau Steger, etwas machen müsse.

Auch Eltern und Großeltern von Mitschülern haben sich telefonisch beschwert und Frau Steger extreme Vorwürfe gemacht. An folgende Situation kann sich die Mutter noch genau erinnern: Die Oma eines Mitschülers erzählte ihr beim Telefon, daß ihr Mann bereits einen Herzinfarkt hatte und sagte, daß Frau Steger's Junge ihn zum zweiten bringen würde.

Der Junge hatte dann auch Phasen, in denen er depressiv war. "In der Pubertät war er hypoaktiv, sein Selbstwertgefühl war total runtergesackt.". Er hatte folgende Einstellung: "Ihr traut mir nichts zu und ich traue mir nichts zu." "Im Gymnasium hat er dann gelernt, mit der Situation umzugehen."

Frau Steger hatte kurzfristig verblüffende Erfolge mit der phosphatfreien Diät. Ihren Erfahrungen zufolge bilden Allergien bei hyperaktiven Kindern jedoch die Ausnahme.

Heute ist ihr Junge ein "ungemein lustiges Kind"; der Weg bis dahin war jedoch mühsam.

Nach ihren persönlichen Erfahrungen sowie jenen in der Selbsthilfegruppe sind "viele hyperaktive Kinder dünn, blaß und blond; sie sind lebhaft und trotzdem tolpatschig". Hyperaktive Kinder sind "hochsensibel, da sie andere Antennen haben". Sie sind oft "schrecklich ehrlich" und nehmen die ganze Schuld auf sich, "nur weil die anderen nicht erwischt werden". Häufig fragen sich diese Kinder auch, wieso sie brav sein sollen, wenn sie sowieso immer die Schuld zugesprochen bekommen. Sie haben oft das Gefühl, "daß sie eh keiner mag". Hyperaktive Kinder sind während einer Beschäftigung, die sie wirklich interessiert und begeistert, "unheimlich konsequent und konzentriert".

Frau Steger spricht davon, daß "diese Kinder oft Unzulänglichkeiten haben. Sie können sich nicht auf zwei Seiten beherrschen." Wenn sich das Kind konzentrieren muß, um still zu sitzen, dann kann es sich nicht auch noch auf den Unterricht konzentrieren. "Diese Kinder sind manchmal nicht in der Lage, brav zu sein."

Im nachhinein würde Frau Steger vieles nicht mehr machen, vor allem würde sie nicht mehr von einer Institution zur anderen laufen. Viel wichtiger ist, daß man dem Kind einen Rahmen und Regeln vorgibt, damit es weiß, was es darf und was nicht. "Strenge akzeptieren die Kinder sehr wohl. Die Grenzen dürfen aber nicht negativ sein, wie das Schimpfen zum Beispiel." Wichtig ist auch eine liebevolle Konsequenz. Es bringt nichts, wenn man das Kind immer nur anschreit und zurechtweist. Mütter sollten vielmehr den Körper- und Blickkontakt zu ihrem Kind suchen. Da sich hyperaktive Kinder oft unter Druck gesetzt fühlen, brauchen sie immer bewältigbare Aufgaben, "da sie das Selbstwertgefühl erheblich steigern". "Die Belohnung muß, wenn, sofort kommen"; sie kann auch in Form der Zuwendung sein.

Ein Rezept gibt die Leiterin der Selbsthilfegruppe der betroffenen Mutter mit auf den Weg, das Rezept der eigenen Ruhe. Frau Steger rät allen Müttern zunächst "selber zur Ruhe zu finden". Einen hohen Stellenwert hat ihres Erachtens das Gespräch in der Selbsthilfegruppe, da die Mütter die Erfahrung machen, daß sie nicht allein auf weiter Flur sind. Zudem kann man im Gespräch "Stärke gewinnen", die man braucht, um dem Umfeld alles zu erklären. Dieses Erklären ist nämlich ein ständiger Kampf.

Es ist die Aufgabe der Eltern, dem Kind positive Erlebnisse zu bieten. Sie sollten dem Kind das Gefühl vermitteln, daß es zwar anders ist, daß es aber dennoch versuchen müsse, mit dem fertigzuwerden. "Eltern müssen ihren Kindern langsam lernen, wie sie mit ihren Unzulänglichkeiten umgehen können." Diese Kinder brauchen vor allem viel Kraft für ihr Wohlverhalten. "Man muß den Kindern den Weg zeigen, auch wenn es ein langer Weg ist."

Das Gespräch endet mit der Aufforderung, die positiven Seiten und den Humor der Kinder zu schätzen.

3 Interview mit Frau Steger, am 14.04.1997

Sohn Stefan, 17 Jahre alt

Können Sie mir etwas über die Schwierigkeiten, die Ihr Kind hatte, erzählen. Was waren das für Schwierigkeiten, wann haben diese begonnen und wie haben sich diese entwickelt?

S.: Ich hab nicht begriffen, daß er hyperaktiv ist, weil ich hab gesagt, ich hab ein normales Kind und in der Schule dann, er ist nicht sitzengeblieben, er ist einfach in der Klasse herumgegangen. Das war die Schwierigkeit. Und hat durch seine Unruhe einmal den Platz verschoben, das Pult, und die neben ihm gesessen sind, die haben sich dann halt beschwert. Und es ist ihm halt immer alles heruntergefallen. Er war halt mehr am Boden, und dann ist er wieder zum Fenster gegangen. Und so hat es halt angefangen. Die Lehrerin hat dann gesagt, er solle sitzenbleiben. Und das war dann so, daß er vorne am Pult gesessen ist, also neben ihr und hat in die Klasse geschaut. Sie ist hinter ihm gestanden und hat ihn festgehalten. Und dann sind wir übersiedelt da aufs Land und ich hab dann das Problem gehabt, sag ich jetzt was oder sag ich nichts. Und ich hab mich dann entschlossen, nichts zu sagen. Die sind dann von selber draufgekommen, haben aber gesagt, die Lehrerin in Innsbruck wäre eine schlechte Pädagogin, was sie wirklich nicht war. Sie war menschlich gesehen eine sehr liebe Frau, nur hat sie mit dem Problem nicht umgehen können. Sie hat es dann auf ihre Art gelöst, indem sie ihn gehalten hat. Sie hat mir dann auch nahegelegt, einen Psychologen und einen Arzt aufzusuchen, damit man die Ursachen findet. Und da am Land ... Das Stichwort Sonderschule ist gefallen. Er ist halt immer versetzt worden, bis man sich entschlossen hat, ihn alleine sitzen zu lassen, ohne Nachbar, und das ist dann ganz gut gegangen. Und eben die Konzentrationsschwierigkeiten, daß er die Leistungen nicht so gebracht hat und die Lehrerin hat gesagt, man muß ihn da fördern und da Teilleistungsschwäche und pipapo. Unten in Innsbruck war es schlimmer, daß man abgekapselt ist, wenn man das Kind abholt in der Stadt. Wir haben relativ weit weg gewohnt, daß man dann alleine steht und irgendwo steht eine Gruppe anderer Frauen oder Eltern und die tuscheln dann, ah das ist die Mutter von dem Kind. Und irgendwo ist man dann schon sehr isoliert. Sie haben auch zum Teil nicht wollen, daß die Kinder mit ihm spielen. Der Ortswechsel war für ihn dann überhaupt kein Problem, weil er ja keine Freundschaften in dem Sinne hatte. Ein einziger Bub ist dann mit seiner Familie hier hinaufgekommen, es war ganz eine nette Familie und denen hat es unheimlich gut gefallen, daß der Stefan so lebhaft ist, sie hatten so brave Buben. Es kommt wirklich auf das eigene Gefühl an, auf die Toleranz. Einer toleriert es und sagt, das finde ich nett und die anderen sagen, um Gottes Willen, was haben Sie für ein Kind.

Die Symptome waren also die Konzentrationsschwäche und die Teilleistungsstörungen?

S.: Ich denk jetzt ganz anders über die Teilleistungsschwäche. Die kann man feststellen. Freilich, eine Rechtschreibschwäche hatte er. Hier heroben hat dann die Volksschullehrerin Legasthenie vermutet. Der Schulpsychologische Dienst hat aber festgestellt, er sei kein Legastheniker. Im Prinzip ist nichts herausgekommen. Er hat Aufgaben gelöst, die eigentlich für wesentlich ältere Kinder gedacht sind, die hat er spielend gelöst. Schwierige Aufgaben löst er überhaupt viel besser als wie leichte. Er konnte also total leichte Aufgaben nicht lösen und die haben ihn auch nicht interessiert. Da ist er dann unkonzentriert geworden und hat angefangen, am Boden herumzusuchen, irgend etwas hat er immer gesucht, es ist ihm auch immer irgend etwas heruntergefallen. Das ist auch symptomatisch. Ja die Schulschwierigkeiten, indem er zu wenig aufgepaßt hat, dann die Rechtschreibschwäche, wobei ich nicht weiß, ob das nicht altersbedingt war. Die haben halt so Phasen, wo sie sich schwer tun mit der Rechtschreibung.

Was sind die gängigsten Symptome nach ihren Erfahrungen mit anderen hyperaktiven Kindern?

S.: Ja eben, daß sie gewisse Dinge zu spät begreifen. Wenn jetzt die Lehrerin sagt, es ist Ruhe und alle anderen sind ruhig, nur er redet weiter. So wie ein Motor, oder besser wie ein Wecker, den man aufzieht und der zuerst ablaufen muß. Vorher kann er nicht still sein. Oder wie wir es auch schon mal definiert haben, da ist ein total tolles Mountainbike, nur die Bremsen funktionieren nicht richtig. Also, wenn du sagst, so und jetzt schalt die Bremse und es geht einfach weiter, weil die Bremsen funktionieren halt so schlecht. Dieses Aufziehen, und darum ist auch diese Problematik, wo viele gesagt haben, das Kind hat zu wenig Bewegung. Manchmal hat sich das dann auch noch gesteigert, also da ist der Mechanismus des Aufziehens gekommen. Da gibt es ja ganz interessante Empfehlungen auch in den Zeitungen, daß - also in diesen Artikeln - daß man die Kinder gerade nach dem Turnunterricht, wo man meint, das Kind hätte sich jetzt ausgetobt und ist jetzt ruhig. Also, das Gegenteil ist dann meistens der Fall. Man sollte das Kind zum Aufräumen und zum Wegräumen heranziehen, daß es sich beruhigt. Also nicht sagen: "Die Turnstunde ist aus, in die Klassen!" Diese Kinder müßten ein bißchen beruhigt werden. Bei heftigen Bewegungen hyperventilieren viele, es wird also gerade das Gegenteil erzeugt. Was aber nicht heißt, man soll sie ruhigstellen. Es ist eine Bewegung sinnvoll, wo sie wirklich eine ausgleichende Bewegung ... anstrengen sollten sie sich auch nicht, also so überbeanspruchen. Es sollte ein langsamer Übergang in die nächste Arbeitsphase sein.

Wie hat sich das Verhalten vom Stefan entwickelt, welche Phasen hat er durchlaufen?

S.: Die Volksschule war leicht horribel, wie man so schön sagt. Man hat uns dann empfohlen, ihn eher in die Hauptschule zu schicken. Leider wurde uns aber die Übungshauptschule vergrausigt, gestört haben mich vor allem die Leistungsgruppen, wo ich gemeint hab, daß er dann den Weg des geringsten Widerstandes geht. Sie sind nicht ehrgeizig, sie wollen dann irgendwo ihre Ruhe haben, weil eben so viel auf sie einstürmt. Und ich immer sag: "Mach das, und üb, und du müßtest das besser machen, und sei endlich ruhig." Also es stürmen immer nur Befehle auf sie ein, und sie wissen dann gar nicht mehr, was sie eigentlich erfüllen sollen. Und ich war davon überzeugt, daß er eine normale Intelligenz hat. Ich wage nicht zu behaupten eine etwas höhere, aber er hat eine normale Intelligenz. Und dann haben wir uns entschlossen, ihn ins Gymnasium zu geben, und da waren halt hauptsächlich disziplinäre Probleme. Das ist ja auch ein Problem dieser Kinder, daß es andere Kinder gibt, die genau wissen, daß diese Kinder leicht reizbar sind, und die das ausnützen. Die wollen dann ein bißchen Unterhaltung haben und wissen genau, wenn wir, nennen wir ihn jetzt den Hippi reizen, der geht auf hundertachtzig und macht dann so richtig schön Druck, und der Lehrer kommt und bestraft dann dieses Kind, er ist schon der Sündenbock, oder Klassenkaspar, also das ist meistens in einem. Er ist Sündenbock und Klassenkaspar.

Und wie hat sich sein Verhalten entwickelt?

S.: Im Gymnasium ist er dann zum Teil sehr aggressiv geworden als Reaktion auf die Kinder, und irgendwann hat diese körperliche Unruhe dann ganz plötzlich in die totale Lethargie umgeschlagen. Er wollte dann nicht mehr raus, ist nicht mehr mit dem Rad gefahren, hat keinen Sport mehr betrieben, sondern ist nur mehr auf der Couch gelegen und hat sich seine Gedanken gemacht. Das war die Phase, die mich dann eher im Innersten beunruhigte, weil er total hypoaktiv war. Da hab ich mir dann mehr Sorgen gemacht, als wenn mein Kind dauernd herumrannte, weil daran hat man sich in der Familie gewöhnt. Das war also die Phase der Pubertät, wo er ruhiger wurde. Jetzt, mit siebzehn, ist er ein ganz normaler, normal unter Anführungszeichen, ja normal auch nicht, weil er sich doch abhebt von den anderen, weil er sich vieles bewahrt hat, was die anderen nicht mehr haben. Diese fürchterlichen Prophezeiungen, daß sie entweder Alkoholiker oder Rauschgiftsüchtige werden, wobei ich das nun nicht von mir weisen möchte, daß es meinem Kind nicht passiert, denn das kann immer noch passieren, denn das kann jedem passieren, aber diese fürchterlichen Zukunftsaussichten sind zumindest in unserem Fall Gott sei Dank nicht eingetroffen. Diese Kinder leben sehr bewußt und sie wissen schon, was ihnen gut tut und was nicht. Unser Kind hat einfach gelernt, mit seinen Schwierigkeiten umzugehen. Es gibt auch keine Probleme mehr in der Schule, was die Disziplin betrifft. Er hat voriges Jahr das erste Mal ein zufriedenstellend im Betragen im Zeugnis gehabt. Die Betragensnote war früher wenig zufriedenstellend, was mich überhaupt nicht gestört hat. Ich wurde aber deshalb oft in die Schule zitiert, habe den Lehrern jedoch gesagt, daß mir die Betragensnote egal ist. Wenn die Lehrer meinen, sein Betragen ist wenig zufriedenstellend, dann müssen sie das eben ins Zeugnis hineinschreiben. Ich geh nämlich nicht betteln, damit er eine bessere Betragensnote bekommt, und zudem sieht das Zeugnis eh niemand außer der Familie. Jetzt ist er selbst verwundert, daß seine Betragensnote sehr zufriedenstellend ist, weil er bestimmt nicht einer ist, der ruhig in der Bank sitzt. Er schwätzt sicherlich nach wie vor und ist vorlaut. Wenn ich mir andere Kinder anschaue, sage ich mir - klar ist einem das eigene Kind immer das liebste - nur diese Wunschträume, die man früher mal hatte, eben diese große Schwierigkeiten wünscht man sich wirklich nicht, man wünscht sich ein unter Anführungszeichen normales Kind, wo der Lehrer nicht immer anruft oder in das Mitteilungsheft hineinschreibt, daß er um ein Gespräch bittet. Ich kann Ihnen Mitteilungshefte zeigen, die sind von hinten bis vorne voll solcher Aufforderungen. In solchen Momenten wünscht man sich sehnlichst ein normales Kind, das keine Schwierigkeiten hat, oder man wünscht sich eine Diagnose, wo man hingehen kann und sagen, daß das Kind nicht in der Lage ist ...

Welche Zuschreibungen sind von den verschiedenen Seiten passiert? Wie wurde Ihr Kind bezeichnet?

S.: Als unerzogen, als verzogen, zu großzügig behandelt. Mein Mann hat mir immer vorgeworfen, ich wäre zu großzügig und würde ihm zu viel tun lassen.

Also zu wenig Grenzen setzen?

S.: Nein, weil das habe ich sehr bald begriffen, daß das Kind Grenzen braucht. Nur wenn das Kind am Tisch sitzt und mit seinem Glas spielt und jeder schreit, nimm ihm das Glas weg, weil es sonst runterfällt, finde ich das leicht übertrieben, weil das Kind muß ja auch etwas lernen. Das begann auch schon bei Dingen, wo ich gesagt hab, man kann ihn nicht sofort einschränken. Ich habe mir gedacht, der Junge braucht seinen Spielraum und ich habe das dann schon gespürt, weil man hat ihn an einem gewissen Punkt erwischen müssen, denn sonst gab es kein Halten mehr, also, da mußte er sein Rädchen abdrehen. Und ich hab mir eingebildet zu wissen, wann ich ihn abfangen muß, weil ich kann ihn nicht schon bei Punkt null oder eins abfangen und sagen: "Jetzt ist aus!" Das geht nicht. Dieses typische Toben und Schreien bei der Kasse hatte ich nie, weil mein Kind keine Süßigkeiten bekommen hat. Ich war immer schon strikt dagegen, ohne zu wissen, daß es dem Kind nicht gut tut. Wenn jemand das Kind fragte: "Willst a Zuckerl?", dann hat er so geschaut und die Person hat sich gewundert, weil es kein Zuckerl wollte. Ich hab dann gesagt: "Das Kind weiß nicht, was das ist und wie das schmeckt." Also gab es diese Probleme nicht. Aber er hat sich vielleicht aus einem anderen Grund auf den Boden geworfen und geschrien. Ich hab ihn schreien lassen, weil ich gemerkt hab, wenn man ihn sofort beruhigt, bringt das nichts, weil er eh von selbst aufhört. Aber diese typische Szene, wo der Mutter geraten wird, sie soll sich auf den Boden werfen und soll schreien, haben wir nie erlebt. Er war auch in Situationen, wo andere Kinder ausgeflippt sind, ein total braves Kind. Also beim Arzt war er immer total brav, auch wenn wir warten mußten. Ich war viel mit ihm unterwegs, und in Situationen, in denen andere lästig waren, war er immer sehr geduldig. In der Nacht gab es auch nie Probleme, da hat er immer brav geschlafen.

Konnte er sich mit Dingen alleine beschäftigen?

S.: Ja schon, aber nur wenn es ihn interessiert hat. Das ist heute noch, alles was ihn interessiert, also ich finde das hat mit Hyperaktivität überhaupt nichts zu tun, bei den Kindern ist es vielleicht ausgeprägt, das hat aber nichts mit Hyperaktivität zu tun, sondern mit ihrer Sensibilität, daß sie sagen, das interessiert mich nicht, das ist unwichtig, mit dem beschäftige ich mich nicht. Und das, was sie interessiert, mit dem beschäftigen sie sich um so mehr. Diese Kinder haben eine andere Wertverteilung. Typisch ist auch dieser Rededurchfall, er hat ununterbrochen gesprochen, und das war dann auch in der Schule ein Problem, weil er ständig den Mund offen hatte.

Welche Form der Beurteilung nahmen die verschiedenen Stellen vor?

S.: Der Kinderarzt sprach vom Zappelphilipp, das war einfach der Tenor. Auch der Dr. Zangerle sprach vom Zappelphilipp. Zappelphilipp ist ein gängiger Begriff sowohl bei Ärzten als auch bei Psychologen. Einen anderen Begriff gab es damals auch nicht. Den Begriff Hyperkinetisches Syndrom hab ich dann eigentlich erst aus der Literatur, den gab es damals eigentlich noch nicht. Den Ärzten ist durchaus bekannt, daß es die unruhigen, hyperaktiven Kinder gibt. Er wurde von den Ärzten auf seine Schilddrüse untersucht. Wir sind dann erst viel später zum Homöopathen gegangen. Der hat das dann so dargestellt, daß diese Kinder auch gesundheitliche Probleme haben. Auch dieses Bild vom blonden, schlanken, blauäugigen Kind wird immer so dargestellt, obwohl ich auch schon braune hyperaktive Kinder kennengelernt hab. Paul Wender hat diesen Typ ganz drastisch beschrieben. Ihre Bronchien sind oft anfällig. Unserer hatte Probleme mit den Ohren. Wir sind dann auch draufgekommen, daß er schwerhörig war, und das ist dann repariert worden. Und diese Kinder haben oft leichte gesundheitliche Probleme im Lungenbereich oder mit den Ohren. Aber das hat sich dann alles ausgewachsen. Es wird auch oft dargestellt, daß diese gesundheitlichen Probleme Schuld daran sind, daß das Kind so wird. Das glaube ich allerdings nicht.

Eltern schreiben in der Literatur immer wieder vom mühseligen Gang durch die Institutionen, in denen sie nicht die erwartete Hilfe bekamen. Wie erging es Ihnen diesbezüglich?

S.: Jeder sagte, das ist unabänderlich. Der Kinderpsychologe Zangerle hat halt dann gesagt, ich soll schauen, daß es mir gut geht. Weil am Kind kann man sozusagen nichts ändern, und wenn es mir gut geht, dann habe ich auch die nötige Kraft, Grenzen zu setzen, was einem sonst nicht immer gelingt. Wie wir vorhin gesprochen haben von dem tobenden Kind, wenn er manchmal etwas nicht erreicht hat, ... wenn man den Punkt übersehen hat, daß man ihn früh genug beruhigt, ihn ein bißchen festhält und zeigt, ich tu dir nicht weh, aber du mußt jetzt aufhören. Er hat zwar nie etwas kaputtgemacht, aber oft hat man gemerkt, so jetzt fehlt nicht mehr viel, und er zertrümmert irgend etwas. Die Mutter oder der Mensch, der mit dem Kind umgeht, sind sehr gefordert. Das bestreitet auch niemand. Ich beneide weder einen Lehrer, der so ein Kind in seiner Klasse hat, noch eine Kindergärtnerin, aber man muß genug Kraft haben, um mit dem umzugehen. Und wenn du als Mutter schon so strapaziert bist, ist es wirklich das Wichtigste, daß du dich gut fühlst und dann auch die Kraft hast, das durchzustehen und es ein bißchen mit Humor nehmen oder mit genügend Ruhe und es eingestehen können: "Er ist so." Und wie ich immer sage, ich schicke mein Kind ja nicht in die Schule und sage, bitte sekkiere den Lehrer, und schwätz, und lach, zwicke die Kinder in der Pause und nimm ihnen was weiß ich was weg. Das tut man ja nicht. Aber ich hab genau gewußt, wenn ich sag: "Bitte sei in der Schule brav", das geht bei einem Ohr rein und beim anderen wieder raus.

Hat man Ihnen irgendwelche ruhigstellende Medikamente geraten oder verschrieben?

S.: Nein, eigentlich nicht. Ich hab die Möglichkeit der Behandlung in den Büchern gelesen, hab mich dann auch erkundigt, obwohl ich sie meinem Kind nie gegeben hätte, außer es hätte wirklich massive Probleme gegeben. Ich kenne ein Ritalin-Kind, das ist inzwischen siebzehn Jahre alt.

Lebt es hier in Tirol? Der Doktor Zangerle hat mir nämlich gesagt, daß Ritalin hier in Tirol überhaupt nicht erhältlich ist.

S.: Angefangen hat es mit dem Doktor Eichelseder in München, das war ein bekannter Arzt, der sich mit dem beschäftigt hat. Er ist inzwischen so alt geworden, daß diese Mutter gesagt hat, daß er einfach nicht mehr so mitkommt und er hat eben seine auch sehr veralteten Ansichten, die nicht mehr so gültig sind. Und so war das Ritalin so diese Wunderdroge für diese Kinder. Und es gibt ja kaum Ärzte...,das Ritalin muß man ja sehr genau einstellen. Und die Nebenwirkungen sind auch ziemlich groß. Solange es ein Kind ohne dem schafft, und für uns waren die Problem zu bewältigen - für beide Teile - für mich wie für das Kind. Und von dem Kind, das Ritalin nimmt weiß ich, daß es massive Probleme mit der Umwelt hat. Die Mutter meint - ich kann Sie gern mit der Frau, sie ist sehr offen und redet gern darüber, bekannt machen - ihr Kind hätte die schulischen Leistungen nicht erbringen können, wenn es die Medikamente nicht genommen hätte. Aber das muß jeder für sich selber bestimmen. Und sie sagt, daß das Kind das Medikament gar nicht so gerne nimmt. Weil es heißt ja auch in der Literatur, daß es Gefahr mit sich bringt. Also ich hätte es meinem Kind vielleicht im äußersten Notfall gegeben, wenn ich merk, also da gibt es so massive Probleme, aber das war Gott sei Dank nie soweit.

Was hat man Ihnen gesagt, was die Ursache ist oder die Ursachen sind und was glauben Sie selbst speziell beim Stefan und vielleicht auch ganz allgemein?

S.: Ja, das ist von Kind zu Kind verschieden. Ich habe ja schon viele kennengelernt, Kinder persönlich eher wenig, aber durch die Selbsthilfegruppe die Eltern. In letzter Zeit ist die Anzahl der unruhigen Kinder gestiegen, weil die Toleranz vielleicht gesunken ist und man stellt andere Erwartungen an Kinder. Zum Teil, also ich fange jetzt von vorne an, ist es bei vielen auch das Milieu. Nur muß ich dazu sagen, ich hab mich am Anfang sehr gewehrt, weil jede Mutter tut das Beste für ihr Kind. Ich glaub, es gibt zwar Mütter, die ihre Kinder vernachlässigen, das ist einfach ein Unvermögen, manche haben die Zeit nicht ... Die Vorwürfe, die man hört, daß man sein Kind falsch erzieht, beim einen sagt man, weil der Vater fehlt und bei mir hat man dann gesagt, die Geschwisterkinder, die dann nachgekommen sind. Aber ich sag auf der Welt gibt es so viele Erstgeborene, also kann das sicher nicht die Ursache sein. Ich sag beim Stefan ist es vererbt, also ich, und das hat mir Doktor Zangerle gesagt, sei ja selber hyperaktiv (Frau Steger lacht). Ich glaube also vererbt, und ich glaube, wo man die Diagnose erstellen kann, das ist ein hyperaktives Kind, ohne daß es einen wirklich meßbaren geistigen Schaden hat, auch wenn es nur ein MCD ist, ist es sicherlich ein Stoffwechselproblem im Gehirn - also ganz ein minimales - oder eine Reifeverzögerung, die einfach nicht meßbar ist. Wie man eben sagt der Stoffwechsel mit der Bauchspeicheldrüse, das ist auch nicht erforscht, das müßte man vielleicht noch näher erforschen. Die Ansätze mit der Diät, daß gewisse Stoffe die Unruhe auslösen, mag sein. Ich tendiere schon in die Richtung, daß ich sag, es gibt irgend etwas, was das Kind einfach reagieren läßt beziehungsweise sind die Kinder sicher sensibler, weil es - wie er jünger war - auffällig war, daß bei Wetterumschwung, Föhn, Vollmond vielleicht - obwohl zuviel darf man dem nicht beimessen - es gab dennoch Tage, wo das sehr auffällig war, aber das sind, glaube ich, andere Kinder auch, an so Vorföhntagen unruhig. Nur daß es bei den anderen eben stärker herauskommt.

Das heißt, daß die Ursache für das Verhalten eigentlich immer im Kind gesucht wird. Vielleicht sollte man das Verhalten des Kindes auch als Notsignal betrachten, um auf irgendwelche Schwierigkeiten hinzuweisen.

S.: Ja, das sicher. Das habe ich ja am Anfang gemeint, daß das Milieu eine wesentliche Rolle spielt. Da bin ich ganz Ihrer Meinung. Daß es ein Hilfeschrei ist und vielleicht war das auch bei meinem Kind. Vielleicht war er überfordert, vielleicht auch unterfordert in der Schule, wo das dramatisch geworden ist, weil davor haben wir alle mit dem leben können.

Es ist auch bezeichnend, daß viele Kinder erst mit Schuleintritt die Diagnose "Hyperaktivität" erhalten. Zuvor kann mit der Problematik umgegangen werden, sowohl seitens der Eltern als auch seitens der Kindergärtnerinnen.

S.: Im Kindergarten hat das sehr gut funktioniert, das war eine verständnisvolle Kindergärtnerin. Er wurde, genauso wie andere Kinder auch, manchmal in die Garderobe hinuntergeschickt, weil er lästig war. Aber er wurde nie als Außenseiter abgestempelt oder als extrem unruhiges Kind. Und dann stürmen ja auf das Kind in der Schule so viele neue Sachen ein, mit denen es vielleicht nicht lernt umzugehen, wie zum Beispiel das ruhig Sitzen, weil das ist ja nie so notwendig. Im Kindergarten gibt es schon die Jausezeit, und wenn man daheim nicht so großen Wert darauf legt; man gewöhnt sich halt an bestimmte Dinge, daß er immer mit dem Stuhl rückt, und daß ihm immer etwas hinunterfällt. Ich kann nicht sagen, laß es nicht runterfallen, wenn es trotzdem runterfällt. Und es fällt halt runter, er steht auf und hebt es auf und keiner sagt irgend etwas. Und in der Schule sehen diese Kinder, die so rege sind, die Fliege am Fenster, und hören, daß draußen der Straßenkehrer (Frau Steger lacht) ist, oder sie hören einen Bohrer oder Bagger oder sonst was. Die hören, glaube ich, und sehen mehr als andere. Sie sind extrem ablenkbar. Aber sehen wir das einmal positiv, für das Kind in der Schule ist es natürlich negativ. Weil, wenn die Lehrerin sagt, ich habe euch da alle Wörter mit ß aufgeschrieben, aber es tut sich vielleicht irgend etwas draußen auf der Straße, dann muß er abwägen. Und das hat er noch nicht herausen, daß das natürlich für ihn und nicht für die Frau Lehrerin wichtiger ist, was sie gerade lehrt.

Es wurde wahrscheinlich nur Frontalunterricht praktiziert, oder?

S.: Ja. Und die hohen Anforderungen an die Kinder, die ja heutzutage sehr großzügig aufwachsen. Ich vergleiche das immer, weil wir, 1950 geboren, sind in den Wickelpolster gekommen. Wir waren also völlig zusammengeschnürt. Strampelhosen gab es erst für 5 Monate alte Kinder. Die Kinder sind heute von klein auf nicht mehr so eingeengt. Auch von den ganzen Kinderwägen und Wippen und so. Die Kinder sehen alles und hören alles. Früher gab es Erwachsenengespräche und Kindergespräche. Da mußten die Kinder einfach gehen, das war aber selbstverständlich, das war nicht irgendein Terror. Heutzutage sind die Kinder ja schon sofort integriert in diese Erwachsenenwelt. Im Kindergarten werden sie auf die Volksschule vorbereitet, ohne Vorschulmappe keine Einschulung. Gewisse Voraussetzungen müssen die Kinder bringen. In der Volksschule werden die Kinder auf das Gymnasium vorbereitet. In unserem Fall war es so, da wurde der Stoff des ersten Jahres Gymnasium in der vierten Klasse Volksschule unterrichtet. Das ist eine Tatsache. Das wird nicht überall gemacht, aber großteils. Im Gymnasium werden die Schüler dann wie kleine Erwachsene behandelt. Es werden viel zu hohe Anforderungen an die Kinder gestellt. Das hat aber alles nichts mit Hyperaktivität zu tun, daß Kinder mit gewissen Dingen überfordert sind. Das finde ich unfair. Daß dann manche Kinder so reagieren, da darf man sich nicht wundern. Auch durch den Leistungsdruck werden die Kinder überfordert. Die Kinder werden also von klein auf ruiniert, weil sie sollen ja ihren Spieltrieb und ihre Lebhaftigkeit ausleben. Auch ihre Kreativität, die jedes Kind hat. Und da wird viel kaputtgemacht. Und gerade die Kinder wehren sich dagegen, indem sie einfach zumachen und Konzentrationsschwierigkeiten haben oder sie öffnen sich so weit für Dinge, die sie lieben. Das, worauf sie sich eigentlich konzentrieren sollten, aber nicht wollen, weil sie das nicht interessiert, oder weil sie überfordert sind, für das verschließen sie sich und für das andere öffnen sie sich. Und das macht dann die Kinder so unerträglich.

Der Leistungsdruck ist nicht nur in der Schule, sondern auch zu Hause.

S.: Das stimmt schon. Dieser Druck wird daheim auch ausgeübt, wenn die Noten nicht entsprechen. Im Gymnasium ist es schon manchmal schlimm, wie sie behandelt werden, nicht nur vom Lehrstoff her, sondern auch menschlich. Zu fünfzig Prozent werden die Kinder derart schlecht behandelt. Da muß mal was passieren.

Ein wichtiges Thema sind die Schuldgefühle. Wie war es bei Ihnen?

S.: Große Schuldgefühle, es fängt halt dann an mit dem, wenn sie sagen, sie haben ihr Kind schlecht erzogen. Du suchst, angefangen von: weck ich mein Kind in der Früh zu früh auf, oder weck ich es zu spät auf? Da fängt es schon an. War ich wirklich zu großzügig, hab ich mein Kind zu sehr eingeengt? Du hast sogar Schuldgefühle, wenn dir einer sagt, ja kein Wunder, das Kind war vier Jahre alleine - wie es in unserem Fall war - dann kam die kleine Schwester. Du hast wirklich Schuldgefühle, obwohl man nicht denken kann, hätte ich das zweite Kind früher auf die Welt bringen sollen, denn es kommt wie es kommt. Und dann denkst du nach und fragst: "Hab ich ihn vernachlässigt?" Das Leben ist ab dem Zeitpunkt, wo er Probleme zu machen beginnt, nur mehr bestimmt von Schuldgefühlen. Du hast dann auch Schuldgefühle deinem Mann gegenüber, der sagt: "Jetzt bist Du den ganzen Tag mit dem Kind und derbändigst ihn nicht." Dann eben: Du bist zu großzügig, du bist zu wenig großzügig. Dann, wenn das so aufkommt: Wie die Mutter so das Kind. Ja um Gottes Willen, ich hab da sozusagen ein Abbild von mir geschaffen, was hab ich dem Kind angetan. Oder warum hat er gerade meine Anlagen und nicht die vom Vater? Auch wenn man das verfolgt, mein Vater war auch hyperaktiv. Nur früher hatte man dieses Bild nicht, wenn man dann die Literatur durchackert, sieht man dann, daß es doch verfolgbar ist.

Entwickelten Sie von sich aus Schuldgefühle, oder wurden Ihnen diese von außen auferlegt?

S.: Anfangs natürlich von außen, wenn die Lehrer gesagt haben: "Ja sorgen Sie dafür, daß sich das Kind einordnet!" Du als Mutter hast dafür zu sorgen. Und du wirst zum Schulpsychologen geschickt und dir wird nahegelegt ... und irgendwo ist das ganz typisch, daß man dann ... Ich glaube jede Mutter hat Schuldgefühle und die hat man schon massiv. Weil ich hab mir oft Vorwürfe gemacht. Und jetzt nicht mehr so. Das hat sich sehr beruhigt. Dann kam die Zeit - beginnende Pubertät - wo das Kind dann so lethargisch wurde und auch leicht depressiv und dieses verminderte Selbstwertgefühl hatte. Ich hab das dann total auf mich bezogen. Hab ich mich zu viel von der Umwelt, von den Erziehern beeinflussen lassen, sprich von den Lehrern, von meinem Mann, von den Großeltern, die immer wieder sagten: "Was für ein Monster wird da herangezogen!" Da hatte ich wieder Schuldgefühle meinem Kind gegenüber. Was habe ich ihm angetan. Ich habe ihn eben geschleppt zum Arzt, zum Psychologen zur EDU-Kinestetik-Trainingsstunde, ich hab ihn Bachblüten schlucken lassen, ich hab alles mögliche versucht mit ihm und herausgestellt hat sich, daß das kaum was genützt hat. Daß du halt ein paar Tage deine Ruhe hattest und das Gewissen beruhigt hast und vielleicht nützt es was. Die Schuldgefühle meinem Kind gegenüber waren bei mir ganz stark. In was hab ich mich da reinreiten lassen, ich hab mein Kind schlecht behandelt, und jetzt hat die Lehrerin schon geschimpft und daheim hab ich ihn üben lassen, obwohl ich genau gewußt hab, es nützt nichts. Und wenn er dann so dagelegen ist und hatte null Bock auf nichts, dann kommen diese Ängste, was wird aus ihm. Aber Gott sei Dank hat sich das Kind dann so entwickelt, daß es dann wieder aufwärts gegangen ist, und er wirklich gelernt hat, mit dem umzugehen. Das war auch mein Wunsch, ihm das beizubringen. Wenn du dann diese schlimme Phase überwunden hast, war es zumindest bei mir so, mein ganzes Sinnen und Trachten ist dahin gegangen, ihm zu lehren, mit dem Leben zurechtzukommen, mit denen, die ihm schlecht gesinnt sind, aber auch das ausnützen, wenn es einer gut mit ihm meint. Es ist schwer einer Mutter, die diese Phase noch vor sich hat, zu sagen: "Bitte bau deine Schuldgefühle ab!" Man würde sich da viel ersparen. Die Mütter, die ich kennengelernt habe, haben alle Schuldgefühle und das ist, glaube ich, das Erdrückendste. Weil man die Fehler immer bei sich sucht, und weil die meisten sagen: "Ist ja kein Wunder bei der Mutter." Und man macht auch viel falsch. Ich hab auch gemerkt, daß ich bei den anderen Kindern Fehlern gemacht hab, nur hat es sich da anders geäußert. Komisch, daran hat niemand was gefunden. Was mich dann auch getroffen hat war bei meiner mittleren Tochter ihr unstillbares Erbrechen. Da hat man auch gesagt, es kommt von psychischen Problemen. Das war ganz entsetzlich, denn sie war immer so ein ruhiges, braves, angepaßtes Kind. Warum war sie die Ruhige, Angepaßte? Als sie dieses unstillbare Erbrechen hatte, mußte sie dann ins Krankenhaus, damit sie nicht austrocknete. Und da sitzt du dann auch am Bett und fragst: "Warum?" Aber da hat komischerweise niemand etwas gefunden am Kind, weil sie eben das brave und liebe Kind war. Das war jedem wurst, ja bricht sie halt. Nur mein Sohn, nur weil er geschwätzt hat, das wurde dann so aufgebauscht. Alles was im Stillen passiert, das wird akzeptiert. Obwohl es für mich ganz schlimm war, weil du kannst dem Kind ja auch nicht helfen. Das hat alles so zwei Seiten. Aber das hat die Umwelt total akzeptiert, obwohl da sogar das Leben des Kindes gefährdet war.

Zur Therapie: Welche Möglichkeiten sind Ihnen bekannt, sich Hilfe zu holen und wofür haben sie sich entschieden?

S.: Angeboten wird einem ja vieles. Gerade jetzt gibt es sogar Apparate, wo du dein Kind anschließen kannst. Und da gibt es ja von Bachblüten angefangen, über Edelsteine, Mond, Medikamente, auch homöopathische. Da hat er so Kügelchen bekommen, wo man sagt, die beruhigen die Kinder, aber davon hab ich nichts bemerkt. Die Diät war für mich damals ein großer Strohhalm, weil sie bei ihm verblüffend gewirkt hat, anfangs. Im nachhinein kann ich das beurteilen, durch die Übersiedlung war er schon überfordert. Die neue Umgebung und die neue Klasse, die ihn aber sehr herzlich aufgenommen hat. Mit den Kindern gab es da kaum Probleme, muß ich sagen. Das war in der Stadt ein Problem, aber hier heroben nicht mehr. Er ist ganz herzlich in der zweiten Klasse aufgenommen worden und dazu kam dann der Kommunionsunterricht, wo die Kinder natürlich auch sehr brav sein müssen, und er hat dann mit Fieberschüben reagiert. Diese Fieberschübe findet man auch in der Literatur sehr oft, wo sie dann total ruhig sind. Ich definiere es als ein Ausrasten, daß das Kind so ist wie man es sich wünscht. Ich habe genau gewußt, wenn er brav war, dann hatte er Fieber. Da sind sie die sogenannten Wunsch-Traum-Kinder. Diesen Preis wollte ich natürlich nicht bezahlen, da bin ich schon sehr schnell draufgekommen. Er hat dann auch mit starken Bauchschmerzen reagiert, wo ich ihn dann fast täglich von der Schule habe abholen müssen. Und am Heimwärtsweg hat er mir dann die ganze Einkaufstasche leer gegessen und da wußte ich, daß ihm viel nicht fehlen konnte. Das war sicher eine Reaktion auf diese Überforderung, und da haben wir dann angefangen mit der Diät. Ich hab Unterlagen über die phosphatfreie Ernährung bekommen und der Kinderarzt hat mir geraten, wenn er krank ist oder krank spielt, wie mir dann auch wieder die Schule vorgeworfen hat, wenn sie mir telefonisch mitteilten: "Sie können ihren Sohn wieder abholen, er windet sich wieder in Krämpfen." Genauso, er hat ja eh nichts, das hört man ja. Der Kinderarzt, der sehr viel Verständnis für das Problem hatte und vor allem auch für mich, hat dann gesagt, das Kind kann man nicht ändern, er ist wie er ist. Er hat mir dann gesagt: "Wenn das Kind krank spielt, bitte behandeln sie ihn auch so." Also sprich Diät, Zwieback, wenn er Bauchweh hat, darf er auch nichts Normales essen. Und dann hat er natürlich sehr reduzierte Kost bekommen. Wir sind dann voll in diese phosphatfreie Ernährung eingestiegen, und das war verblüffend. Seine Noten sind dann auf einmal besser geworden, und die Lehrerin hat mich sogar gefragt, was ich mit dem Kind gemacht hab. Er war total verändert, nur laut Buch dürfte man sich keine Diätfehler erlauben. Kaum war das Kind wieder unruhig, hab ich sofort gefragt: "Was hast du schon wieder gegessen? Hast du etwas Falsches gegessen?" Und das ist dann genauso nervig. Du stehst den ganzen Tag in der Küche, um irgendwelche besonderen Speisen zuzubereiten ohne gefährliche Zutaten zu verwenden und bist dann den Rest des Tages unterwegs, um irgendetwas zu kaufen, Etiketten lesen, daß nichts drinnen ist und dann merkst du, daß das Kind doch unruhig ist, und daß es doch nicht so geht wie man es sich erwartet. Irgendwie, und das ist das große Plus dieser Kinder, haben sie sofort herausen, worum es da geht. Und das hat mir auch Doktor Zangerle gesagt, das Kind fühlt sich total wohl, weil er ja merkt, die Mutter steht nur seinetwegen in der Küche. Die anderen essen das Übliche und er kriegt da seine Sonderportionen. Es ist eine Sonderbehandlung, dieses Sinnen, nur für ihn da zu sein mag schon eine Reaktion bei Kindern hervorrufen. Und dann ist das Ganze schon wieder Alltag und dann geht es schon wieder dahin. Und diese ständigen Fragen: " Hast du schon wieder eine Schokolade gegessen?" und die Unsicherheit, lügt er dich jetzt an oder nicht, aber das ist auch völlig gleich. Und dann hab ich mir gedacht, das Kasperltheater mach ich nicht mehr mit. Wir haben die Dinge, wo wir genau gewußt haben, er reagiert darauf, die haben wir gestrichen und seither haben wir eine sehr gesunde Ernährung. So wie bei der Weltraumforschung, die ja total übertechnisiert ist, sind diese Produkte, die dann daraus entstehen, die dann irgend jemand helfen. Und so ähnlich kommt mir das bei uns vor, wir haben unsere Ernährung umgestellt und essen bewußter und leben bewußter und das ist wirklich sehr positiv. Ich muß auch sagen, ich hab von meinem Kind wahnsinnig viel gelernt (Frau Steger ist ganz gerührt). Er hat mich sicher in meinem Denken und meinem Fühlen total geändert. Und dafür bin ich meinem Sohn schon sehr dankbar, daß man sich da komplett umstellt und sich auch Schwächeren in der Gesellschaft anders zuwendet. Und viele Dinge anders sieht und was man mir zwar schon immer vorgeworfen hat - meine Toleranz - aber ich bin noch toleranter geworden. Aber Toleranz sollte man ja positiv sehen, das heißt ja nicht alles akzeptieren. Manche verwechseln das. Und ich hab dann gesagt, dem Kind tu ich das nicht mehr an, und wir haben uns dann auf gewisse Dinge geeinigt, so trinken meine Kinder heute noch keine Coca Cola. Vielleicht trinkt der Stefan jetzt auch Coca Cola und ißt Sachen, die ihm nicht gut tun, aber zu Hause kriegt er Sachen, die gut sind und alles andere, mit dem muß er selber zurechtkommen. Es steht mir auch - glaube ich - nicht mehr zu, ihm da Vorschriften zu machen. Aber damals war er halt noch ein Kind zwischen acht und zehn Jahren, als wir diese extreme Diätphase hatten. Irgendwo hat es uns schon genützt, weil wir alle durchatmen konnten, auch die Lehrer. Es war halt einfach wieder so ein Meilenstein auf unserem Weg und die Erkenntnis, man soll halt nichts übertreiben. Man soll halt immer den goldenen Mittelweg finden. Und die anderen Therapien, Ritalin haben wir eh schon abgehakt, das kam für uns nicht in Frage. Und vielen Kindern wird dann eine Spieltherapie angeboten, aber wichtig ist, daß das Kind das gern macht. Wie wir damals die EDU-Kinestetik mit ihm gemacht haben, das hat er nicht sehr geliebt, da ist er nicht gern hingegangen und das hab ich gemerkt und hab es dann auch nicht mehr gemacht. Er nimmt sich heute noch gewisse Bücher her, zum Beispiel gibt es die Lerngymnastikbücher, daß beide Gehirnhälften aktiviert werden. Da gibt es ganz gute Tips und die Kinder nehmen das ganz gern an. Zum Teil wird es auch in der Schule praktiziert. Ich würde jedem abraten mit dem Kind etwas zu machen, was es nicht gern tut. Da kann man die Dinge noch verschlimmern. Und so Wundertherapien mit irgendwelchen Apparaten, die zudem viel kosten - ich möchte nicht sagen, das ist mir mein Kind nicht wert - aber da wird viel Schindluder getrieben. Außer man findet irgend etwas, daß sich das Kind in einer Spielgruppe entspannen kann oder beim Sport. Das muß ja nicht Tennis sein, sondern beim Fußball oder beim Schwimmen. Schwimmen hat er gern gemacht, und es hat ihm auch sehr gut getan. Nur wollten sie, daß er das dann wettkampfmäßig macht, und das liegt ihm nicht, da so viel Ehrgeiz reinzusetzen und dann war das immer schwieriger und dann hab ich auch gesagt, besser lassen wir das. Aber es hat ihm sehr gut getan, er schwimmt jetzt auch noch sehr gern. Jetzt findet er halt selbst die Dinge, wie Mountainbike fahren. Wenn er frustriert heimkommt, schmeißt er sich auf das Rad und baut so seinen ganzen Frust ab. Jetzt kann er sich dabei abreagieren und es kommt nicht zu dieser Hyperventilation. Es entspannt ihn jetzt. Aber das hat er sich selbst gesucht. Aber in dem Alter von neun oder zehn Jahren sind die Kinder noch nicht so weit, das zu finden, was ihnen gut tut. Sie haben auch nicht die Möglichkeit.

Hatten Sie das Gefühl Ihr Berater Doktor Zangerle oder auch die Ärzte boten ihnen Halt und Rückenstärkung?

S.: Ja schon, weil er sich das einmal angehört hat, wo andere gesagt haben, die spinnt. Selbst die beste Freundin sagt, die spinnt halt oder soll lernen, besser mit ihrem Kind umzugehen. Und der Rat vom Doktor Zangerle, daß es mir gut gehen soll, ist nach wie vor wichtig. Dieses Reden, weil man hat ja dann irgendwann auch einmal andere Probleme, aber das ist vielleicht ganz etwas Persönliches, daß für mich eine Gesprächstherapie etwas Feines ist. Das ist aber ganz ein persönliches Empfinden, daß mir die Gespräche unheimlich gut getan haben und auch das Sammeln dieser Unterlagen. Und irgendwann findest du dann wie beim Voss zum Beispiel, wo du sagst, ja warum müssen wir immer alle in diese Laden hineinpassen. Und dieses Rebellieren gegen gewisse Dinge, das ich also schon immer in mir gehabt habe, das ist dann Gott sei Dank wieder herausgekommen und dieses Wehren für mein Kind. Und wozu Sonderschule, und warum nicht Gymnasium. Herausnehmen kann ich mein Kind immer aus einer Schule. Das kann man nie voraussagen, was für ein Kind fürchterlicher ist. Wenn man meint, es ist gut für das Kind und ich kann es ihm zutrauen, soll man ihm diese Chance auch bieten. Also, es ist schon wichtig, daß man selber gestärkt ist und kann die Kraft dann an das Kind weitergeben. Weil das Kind merkt ja, daß es dir unheimlich schlecht geht. Und die Phasen, wo es mir schlecht gegangen ist, waren bestimmt auch schlechte Phasen für das Kind. Weil er hat dann ja auch Schuldgefühle, glaube ich. Um Gottes Willen, und das ist dann auch herausgekommen, ich tu das meiner Mutter an und ich bin Schuld an dem Leid oder an dem Streit, der innerhalb der Familie stattfindet. Der Schulpsychologische Dienst hat das Kind dann getestet und hat festgestellt, daß er zwar kein Legastheniker ist, daß er aber unkonzentriert ist, aber das haben wir eh vorher gewußt. Also Empfehlungen kommen da keine, Hilfe muß man sich selber suchen, wird aber kaum angeboten. Wenn man dann aber merkt, das ist nichts, dann haben die Wenigsten den Mut zu sagen, das mach ich nicht mehr. Weil dann ist da die finanzielle Seite, das habe ich jetzt bezahlt, oder, wenn die mir das schon anbieten, dann muß ich das konsumieren. Weil wenn ich sag: "Das ist nichts.", dann hört man: "Ja, dann dürfen Sie sich nicht wundern, Sie sind zu ungeduldig." Ich kenne das von anderen Kindern, die andere Probleme haben, was die alles anfangen und auch zu Ende bringen, im Endeffekt bringt es wenig.

Noch eine Frage zur Selbsthilfegruppe, welchen Stellenwert hatte diese für Sie?

S.: Für mich war es irgendwo eine Selbsttherapie. Das Beschäftigen mit dem Problem. Und es war mir schon ein großes Anliegen, Leuten zu sagen, ihr seid nicht alleine und wir kennen das Problem und das und jenes gibt es, und wir haben diese Erfahrung auch gemacht. Wir waren am Anfang ein paar mehr, die sich da zusammengefunden haben, und schon Erfahrungen gemacht haben. Und auch die Arbeit in der Bevölkerung ein bißchen bekannter zu machen, daß das eben keine Fratzen sind, sondern daß diese sogenannten unerzogenen Kinder Probleme haben, die ihnen zwar nicht bewußt sind, also ich spreche da die kleineren Kinder an, denen das nicht bewußt ist und die dann sehr erstaunt sind, wenn sie immer geschimpft werden. Das ist schon etwas, und das haben die Leute, die ein Herz für Kinder haben, viele Gott sei Dank gesagt, also Erzieher, die da in seinem Umfeld sind, sind ja auch die Betreuer in Turnvereinen, die also merken das Kind ist lebhafter. Denen bin ich heute noch dankbar, die mir auf diesem Weg immer gesagt haben, ich weiß, das Kind meint es nicht böse. Oder irgendwie kriegt er gar nicht mit, daß er so unerträglich ist. Und wir haben versucht, das in der Gruppe, über die Presse und Seminare und Elternabende, und der Doktor Zangerle war da sehr aktiv, da er auch mehr Möglichkeiten hatte, es an die Volkshochschule und so weiter weiterzugeben. Und vor allem auch, daß das in der Lehrerausbildung oder auf der Pädagogik jetzt auch wirklich zur Sprache kommt, daß es so Kinder gibt. Auf der Pädagogischen Akademie gibt es eigene Lehrgänge, wo das intensiv besprochen wird und viele Studenten der Pädak beschäftigen sich in ihren Arbeiten damit. Und darüber sind wir schon sehr froh, das war uns ein großes Anliegen. Wenn so ein Kind in der Klasse sitzt, daß der Lehrer von sich aus zur Mutter sagt, da gibt es eine Selbsthilfegruppe, an die sie sich wenden können. Also Lehrer sind da schon sehr entgegenkommend, weil damals sagten sie nur: "Gott sei Dank habt ihr jetzt eine Ausrede gefunden für eure schlimmen Kinder." Dieser Tenor hat schon sehr oft geherrscht.

Welche Veränderungen und Hilfen haben Sie in der Selbsthilfegruppe erfahren?

S.: Man erfährt, daß es Menschen gibt, die sich mit dem Problem ernstlich beschäftigen. Viele wissen ja gar nicht, daß es darüber Bücher gibt. Und daß sich Fachleute mit dem beschäftigen, und daß man die Vorwürfe nicht so hinnehmen sollte. In der Gruppe kann man so den Rücken stärken.

Wichtig ist wahrscheinlich einfach dieser Erfahrungsaustausch, Tips und Ratschläge werden weitergegeben und es wird den Müttern die Möglichkeit geboten, daß ihnen jemand zuhorcht. Genau dieses Gefühl hatte ich beim letzten Treffen.

S.: Ja, das Abladen dieser großen Last. Die Frage: " Wohin soll und kann ich mich wenden?" kann geklärt werden. Wichtig ist auch, daß man den Leuten schonend beibringt, daß es im Prinzip kein Allheilmittel gibt; es gibt kein Patentrezept. Obwohl ich allen Betroffenen immer wieder sag, es gibt sicher Ursachen, die man vielleicht beseitigen kann. So hatten wir ein Kind, das eine Weizenallergie hatte und es ist behandelt worden und das Kind, hat die Mutter gesagt, war tatsächlich - ich mag den Ausdruck nicht - ein normales Kind, ein nicht mehr hyperaktives Kind. Es gibt sicherlich so Fälle. Oder mit der Ernährung, daß Kinder wirklich auf Zitrusfrüchte oder auf Kuhmilch allergisch sind. Es gibt schon Stoffe, die so was auslösen bei den Kindern. Wenn man die wegläßt, wird das Kind ruhiger. Und ich wünsche jedem, daß er eine Ursache findet. Vor allem bei Stadtkindern kann es die enge Wohnung sein. Durch einen Schwimmkurs oder durch den Turnverein kann das Kind ein Ventil finden. Diese Kinder sind dann nicht hyperaktiv in dem Sinn, sondern haben nur zu wenig Bewegung.

Wenn Sie die Diagnose "Zappelphilipp" bekommen haben, war das für Sie eine Erleichterung? Also dieser konkrete Namen für die Auffälligkeit.

S.: Mir war das zu wenig. Wenn einer sagt, Ihr Kind hat Diabetes, dann erklärt er mir im nächsten Atemzug, was ich da machen muß.

Die Frage hab ich deshalb gestellt, weil ich das Gefühl habe, daß Eltern eine genaue Diagnose suchen, damit das Kind endlich akzeptiert wird.

S.: Ich weiß nicht, wie es jetzt ist, die Leute reagieren ganz verschieden. Was ich zuerst schon gesagt habe, jetzt haben sie endlich eine Ausrede. Mir ist das fast auf den Kopf gefallen. Wie der Boom dann war, und es gab wirklich aufgrund unserer Arbeit in der Selbsthilfegruppe einen Boom, da waren wir manchmal zu fünfzig bei diesen Treffen. Aber das war so ein Strohhalm für viele. Irgendwann hat sich das dann als Bumerang erwiesen, und jede hatte dann ein hyperaktives Kind. Ich habe mir auch oft die Frage gestellt: "Warum hilft mir keiner?" Jetzt weiß ich, daß ich einen Zappelphilipp habe, aber keiner hilft mir. Und dann habe ich gehört, es gibt das und jenes und dann hab ich dem Arzt beziehungsweise dem Erziehungsberater fast Vorwürfe gemacht, weil sie mir nicht früher gesagt haben, daß man dagegen etwas unternehmen kann. Dabei hatten die schon das Wissen, im Prinzip gibt es nichts, nur eben die Selbsthilfe, auf einen Nenner gebracht.

Eine letzte Frage noch: Was würden Sie ganz konkret anders machen und was raten Sie anderen Eltern?

S.: Also hauptsächlich würde ich mich nicht mehr von anderen, vor allem von den Lehrern da hineintheatern lassen. Und mir nicht sagen lassen, ja du mußt mit dem Kind mehr üben und dies und jenes machen, das Kind maßregeln also. Also viel selbstbewußter auftreten, das ist natürlich leichter gesagt nach so vielen Jahren. Und das Kind viel mehr annehmen! Ich habe auch manchmal gezweifelt, und dieser Gedanke, den viele Mütter Gott sei Dank aussprechen, ich habe es nicht gewagt auszusprechen und es ist auch schrecklich. Gerade letzthin hat eine Mutter wieder gesagt: "Ich wünsche mir, daß mein Kind echt behindert wäre, dann hätten wir es viel leichter." Und das finde ich arg. Solche Gedanken, wenn man sie hat, sollte man sie auch nicht unterdrücken, sind ganz was Schlimmes. Man soll froh sein, daß man ein Kind hat, das gesund ist und soll sich nicht wünschen, es wäre kränker oder behindert oder hätte wirklich einen Schaden. Deshalb sollte man eben viel selbstbewußter auftreten und sich Erleichterung durch Gespräche verschaffen und nicht versuchen, das Kind verändern zu wollen. Die Leute sollen froh sein, daß sie solche Kinder haben, sag ich mal so jetzt im nachhinein. Darum verteile ich auch die positiven Gedanken, diese Kinder haben so viele positive Seiten. Leider sind wir im Interview gar nicht darauf eingegangen, was das Positive an diesen Kindern ist. Diese unendliche Hilfsbereitschaft, und dieses Verständnis für Unzulänglichkeiten anderer Kinder. Für Kinder, die vielleicht wirklich behindert sind, haben sie ein unheimliches Verständnis. Oder für Kinder, die Schwächen haben, die sich nicht getrauen auf die Sprossenwand zu klettern; da sind sie unheimlich verständnisvoll und hilfsbereit. Unserer ist heute noch so, daß er gerne hilft. Diese Kinder sind auch total lustig. Den Klassenkaspar sollte man nicht negativ sehen, für den Lehrer ist es natürlich negativ, denn er ist eine Bereicherung. Und auch diese Kreativität, die sie in sich haben, da sollte man aufpassen, daß man die nicht kaputtmacht. Stolz sein, daß man so ein feinfühliges, hypersensibles Kind hat. Und dieser extreme Bewegungsdrang ist halt da ... Viele Schauspieler, Kabarettisten und so weiter sind eigentlich hyperaktive Leute. Und gerade die, die sich durchsetzen dann und auffallen, jetzt nicht negativ, sondern positiv, haben diese guten Eigenschaften und konnten sie nützen, und das wünsche ich jedem hyperaktiven Kind, daß es die vielen guten Eigenschaften nützen kann, beziehungsweise, daß es den Begleitern gelingt, diese Eigenschaften zu erhalten und auszubauen. Und insofern würde ich einiges anders machen. Ich bin jetzt einfach froh, daß so viel erhalten geblieben ist und wieder aufgetaucht ist und nicht verschüttet worden ist. Das ist ganz wichtig. Es ist aber nicht einfach, das ist alles leicht gesagt, nachdem das Kind siebzehn Jahre alt ist. Und halt fest lieb haben das Kind und nie dran zweifeln, und immer dahinter stehen und sagen, ich steh zu meinem Kind, ganz gleich was passiert. Und es passieren sicher oft Dinge, die einem nicht ganz in den Kopf wollen. Gerade wenn man für viele Dinge gerade stehen muß, die einem dann wieder zurückwerfen und sagen, was wird da mal. Aber es geht alles vorüber und es ist jedem zu wünschen, daß er dann heil aus dieser Phase herauskommt.

4. Interview mit Frau Grün, am 29.04.1997

Sohn Simon, 9 Jahre alt

Vielleicht beginnen wir damit, daß Sie mir etwas über die Schwierigkeiten erzählen. Wie haben sie begonnen und wie haben sie sich entwickelt?

G.: Ich habe mit dem Simon von Geburt an Ärger gehabt. Der Simon ist mit einem Klumpfuß auf die Welt gekommen, und er hat dann das erste halbe Jahr einen Gips gehabt und zwar Tag und Nacht. Am Sonntag durfte ich ihn runterschneiden, dann baden und am Montag wieder rauf. Mit einem halben Jahr ist er operiert geworden, mit Erfolg, dann hätte er sollen bis zur Pubertät eine Nachtschiene tragen. Und da war ich wirklich konsequent, das Kind hat jede Nacht die Schiene getragen. Egal, was da war. Mit viereinhalb Jahren haben wir sie weggeschmissen. Er hat heut nur mehr einen Senkfuß. Und das ist alles, was geblieben ist. Der Fuß ist etwas dünner als der andere; und dann war eines nach dem anderen. Mit zweieinhalb Jahren hat er einen Fieberkrampf gekriegt, da war er auch eine Zeit ohne Atmung, da war er blau. Da mußten wir ihn beatmen; bis der Notarzt dann da war, war er aber schon wieder voll einsatzfähig. Und wir waren darauf dann eine ganze Woche im Krankenhaus, in der Kinderklinik. Der Professor Maier, er hat dann auch ein EEG gemacht, es ist nichts rausgekommen, man mißt ja praktisch nur die äußersten Hirnströme, was ganz drinnen ist, das weiß man nicht; meine Schwägerin ist zum Beispiel auch der Auffassung. Der Simon hat dann auch gleich darauf die Neurodermitis gekriegt, und zwar ziemlich intensiv. Also, er ist sauber geworden durch die Neurodermitis. Er hat gesagt: "Mama lulu", nur damit er die Hose runterkriegt, damit er kratzen kann. Er war offen von oben bis unten. Ich habe nicht mehr gewußt was tun. Tue ich ihm die Schiene weg, damit er nicht mehr so leidet; aber dann habe ich mir gedacht, die Neurodermitis bekommst du vielleicht weg, aber das mit der Schiene muß bleiben. Das ist dann gut eineinhalb bis zwei Jahre gegangen, bis ich es weggekriegt habe mit Gummieiweiß. Der Vorteil war, daß der Mann mittags nicht zu Hause ist, und die Kleine war ja da noch nicht auf der Welt, und dadurch konnte ich strikt die Allergenkarrenz einhalten, ein halbes Jahr, und mit Bioresonanz habe ich es dann weggekriegt. Aber man sagt ja, da schreit die Seele. Ich habe mir von verschiedenen Ärzten sagen lassen, sie haben halt eine schlechte Schwangerschaft gehabt oder ihre Ehe ist nicht in Ordnung. Alles mögliche war's. Auf der Klinik hat man ihn getestet. Er wurde vollgespritzt mit allem Möglichen - und das Kind ist nicht allergisch. Die haben mich hingestellt wie einen Sozialschmarotzer, weil ich erhöhte Familienbeihilfe wollte, weil das ja sehr teuer war. Ich habe im Reformhaus Stutenmilch, Ziegenkäse und alles so was gekauft, habe nur mit Sojamilch gekocht, selber Brot gebacken, er hat ja alles gekannt, er hat Schokolade gekannt, er hat alles gekannt mit dem Alter und durfte von heute auf morgen nichts mehr haben. Ich habe ihm selber Zuckerln gemacht mit Karamel in der Pfanne. Das war sicher arg auch für das Kind. Ich meine mit zweieinhalb, drei Jahren artikuliert sich ein Kind ja nicht so. Ich weiß ja noch gut, von meiner Freundin der Sohn ist ein Jahr älter als der meine, und sie hat zu mir einmal gesagt: "Na, weißt du was, dein Bub ist ja so brav, das ist ja nicht normal." Der Simon hat sich hauen lassen, hat sich Spielzeug wegnehmen lassen, er hat sich nie gewehrt. Er hat ja gewußt, die Mama ist da. Er war ein typisches Einzelkind, der Thronprinz und plötzlich war da noch eine da, die blöde Kuh, wie er immer sagt. Also, daß er eine Schwester hat, das hat er nicht ganz verdaut. Er sagt das auch, er drückt sich da sehr direkt aus: "Wieso hast du die noch gekriegt?" Und das hat dann schon so angefangen, mit einem halben, dreiviertel Jahr, wo die Evi angefangen hat, ihm die Spielsachen wegzunehmen oder seine Legotürme umzuschmeißen. Da ist es eigentlich losgegangen. Früher war sie das liebe Baby, sie war auch ganz eine charmante, gleich wie der Simon, einen jeden anstrahlen, nie gefremdelt, die hat einen jeden angelacht und jeder sagte dann: "Das ist ja ganz eine Süße, eine Schwarze, ganz wie der Papa." Und das war für ihn ja schon schwer verdaulich. Das kann ich mir schon vorstellen. Die Eifersucht war da massiv. Und das letzte Jahr im Kindergarten hat die Tante zwei- dreimal eine Bemerkung gemacht: "Also der Simon war heute schlimm." Aber bis zu dem Zeitpunkt, er ist drei Jahre Kindergarten gegangen, gab's nie Reklamationen. Die ersten zwei Jahre war er ein ausgesprochen braves Kind, er hat nie gestört, er war glücklich, wenn er in der Ecke sitzen konnte und mit seinem Lego spielen oder sonst was. Er hat sich immer alleine beschäftigt. Wenn andere Spiele gemacht haben, hat er sie nie gemacht. Der Tante war das egal, das ist der nicht aufgefallen, weil der Kindergarten total überfüllt war, und sie war um jedes Kind dankbar, das nicht gestört hat und um das sie sich nicht kümmern mußte. Ja, und dann kam's immer dicker, am dicksten dann in der Schule. Da ist gleich am Anfang rausgekommen; ja beim Schultest, beim Einschreiben hat der Direktor gemeint, er habe eine Schwäche, was die Aufmerksamkeit anbelangt. Und dann habe ich gesagt: "Das weiß ich, das hat man mir im Kindergarten gesagt. Aber er ist ja im September geboren, praktisch ist er am dreißigsten September schon sieben geworden." Dann sagt er: "Wenn er jetzt Vorschule geht ..., vielleicht doch in die erste Klasse, denn von Juni bis September kann sich ja noch viel tun, die Kinder entwickeln sich sehr stark in dem Alter, ja, schreiben wir ihn in die erste Klasse ein." Ja ist in Ordnung, der erste Schultag. Simon steht nicht auf der Liste, da stand er auf der Vorschulliste. Dann bin ich zum Direktor und hab gesagt: "Jetzt kenne ich mich überhaupt nicht mehr aus. Wir haben ja darüber gesprochen, und es hat dann geheißen, er kommt doch in die erste Klasse, weil er schon so alt ist." Ach ja genau, macht nichts; da (in die Vorschule) kommt er rein und fertig. Heute tut es mir leid, oder auch nicht. Ja, ich habe es jetzt ein paar Mal bereut, denn vielleicht hätte es ihm wirklich etwas gebracht, dieses Jahr. Aber andererseits, wie gesagt, ist es beim Simon nicht die Intelligenz, sondern wenn jede Unterrichtsstunde nur eine Viertelstunde dauern würde, dann wäre es kein Problem, kein Problem. Und was er jetzt halt hat, er ist sehr aggressiv. Ja, auch mir gegenüber ist er frech und schreit gleich. Da kommt man in eine Mühle rein. Er hat in der ersten Klasse für fünf Sätze: Mimmi ist im ... und dann war ein Haus gezeichnet, für fünf solche Sätze hat er drei Stunden gebraucht, locker. Und ich war dann auch so, daß ich dann gesagt habe, wenn er so geschmiert hat, das radieren wir aus, das ist schlampig, das machst du noch einmal. Weil ich habe mir gedacht, das mußt du ihm gleich beibringen. Weil der Simon hat Chaos im Kopf, das hat er. Wenn ich zu ihm am Samstag sag: "Räume dein Zimmer auf, sonst gibt es kein Taschengeld", dann kommt er nach zehn Minuten und sagt: "Mama, jetzt habe ich aufgeräumt." Dann schiebt er es einfach irgendwo rein, alles auf einen Haufen. Aber wenn ich jetzt mit ihm sage: "Schau, nimm jetzt deinen Werkzeugkoffer, unten gehört das rein, und das und das und das", dann verzweifelt er. Das kann er nicht, und der Papa auch nicht. Und das ist mir eigentlich nie aufgefallen. Mein Mann ist ganz derselbe. Wir sitzen beim Abendessen und wir unterhalten uns, und plötzlich beginnt er irgend etwas vom Labor zu erzählen, was überhaupt nicht zum Thema paßt. Oder ich frage ihn was, und er gibt mir meistens eine Antwort: ja und dann - wenn ich etwas erzählt habe. Bis ich irgendwann draufgekommen bin, der hört mich gar nicht. Er sagt ja und dann, damit ich weiter rede, daß er meine Stimme hört, aber er war mit den Gedanken irgendwo weit weg - bei einem seiner Experimente. Und das kommt jetzt immer stärker heraus. Früher habe ich meinen Mann so akzeptiert wie er ist. Aber plötzlich sind ja jetzt zwei da und ich sehe immer mehr Parallelen, immer mehr. Aber mein Mann ist bestimmt in seinem Fach ein As, aber er ist, wie man so böse sagt, ein Fachidiot, wobei ich das jetzt überhaupt nicht böse meine. Hammer und Nagel verwechselt er garantiert. Er schlägt den Hammer in die Wand, nicht den Nagel. Das kann er nicht, das will er nicht, fertig. Und der Simon ist da irgendwie ganz derselbe. Und wenn er dann eben etwas machen muß, das gegen sein Interesse geht, dann sperrt er sich schon von vornherein. Eben zum Beispiel Gedichte aufsagen. Da sagt er: "Das kann ich nicht, und so ein Scheiß, was interessiert mich das." Also da wird er ganz massiv. Und dann eben die Vorwürfe von der Lehrerin, ja das Kind braucht dringend eine Therapie. Und der Doktor Zangerle sagt ja auch, die Therapie ist ja gut, aber die gibt es ja überhaupt nicht. Was soll ich mit meinem Kind machen, zur Psychologin gehen? Bringt nichts. Ich war ja bei der Frau Doktor Hämmerle. Die hat mich weiter verwiesen an diesen Heilpädagogischen Verein. Weil sie sagt auch: "So wie Sie mir das schildern, kommt mir das sehr vor, daß der Simon einseitig ist." Das ist bei diesem Test aber nicht herausgekommen, also, er ist bei den ganzen Sachen, die sie mit ihm gemacht haben - ich war nicht dabei - er hat das einfach alleine gemacht, er war zwei Stunden dort. Es kam heraus, daß er ganz ein durchschnittliches Kind ist, wobei sein Schwerpunkt in der Sprache liegt. Von null bis zwanzig gibt es da diese Reihe, und bei der Sprache - Sprachschatz, Wortschatz, Allgemeinbildung - ist er auf sechzehn bis siebzehn Punkte gekommen, und das ist sehr viel. Schwach war er, also unter zehn, ich glaube sechs oder sieben Punkte, war er beim Zahlenreihen Merken. Da hat er sich schwer getan. Das optische Gedächtnis ist sehr gut bei ihm. Das ist also rausgekommen. Aber wie gesagt, die Begleitlehrerin, die er dreimal die Woche hat, die sagt auch, es kommt immer stärker heraus, daß er sehr wohl ziemlich einseitig tendiert. Daß er einfach so eine Stärke hat, ja das Interesse so stark ist, daß er alles andere hinten anstellt. Und bei meinem Mann ist es eigentlich ganz dasselbe, der interessiert sich für seine Mikrobiologie und für die Politik, aber dann ist fertig. Ja eben, auch natürlich immer die Angst, "ich will es mir mit der Schule ja nicht ganz vertun", und vor allem ständig dieser Streß. Es sind ständig Streitereien. In der Früh, wenn er aufstehen soll, fängt es schon an. Dreimal wecke ich ihn, bis er daherkommt. Und wir frühstücken allein, der Simon und ich, die Evi schläft noch, aber wenn sie einmal wach ist und auch zum Frühstück dazukommt, dann wird schon gemotzt: "Was macht die da?" Dann weiß ich genau, er braucht das in der Früh, mit mir alleine zu sein. Da reden wir zwar kaum, weil ich bin ein Morgenmuffel und er auch, aber einfach, daß ich ihn da alleine habe, daß er da mir gehört, das braucht er. Er geht auch jeden Tag fröhlich aus dem Haus: "Pfiati Mama", und a Busserl. Und ich sage natürlich: Ich wünsche dir heute alles Gute bei der Ansage" und so. Ja, Ansage, das ist so ein Thema. Noch wissen sie ja was kommt. Das lernt er, das schreiben wir einmal, vielleicht zweimal, und dann hat er drei bis vier Fehler, und dann sage ich: "Du Simon schau, also merk dir das, zum Beispiel der Einstellknopf schreibt man doch groß, das kannst du ja anfassen, denk an den Geschirrspüler." Oder "einmal ist ein Wort, merk dir das einfach einmal - ein Wort." Das haut dann hin, aber dafür kommt er mit zehn anderen Fehlern heim. Viel mehr als er zu Hause jemals gemacht hätte. Und heute, zum ersten Mal, daß er mir heute erklärt: "Mama ich bin da immer so aufgeregt, so nervös." Und die Lehrerin sagt aber, das versteht sie nicht, weil diese Ansage geht ganz streßfrei runter. Erstens einmal wissen sie ja schon was kommt. Sie macht es auch ganz langsam, sie wiederholt es wirklich, sie wartet wirklich auf den Allerletzten. Manche, die malen ja richtig mit Schreiben. Das können Sie sich eigentlich nicht vorstellen. Er macht auch nicht den Eindruck, daß er nervös wäre oder so. Und ein großes Problem ist zum Beispiel das Abschreiben. Der Simon kann nicht abschreiben. Er schaut rauf, dann wird er unsicher, also daß er sich einen halben Satz oder einen ganzen Satz merkt, das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Und das kann ich mit ihm zu Hause trainieren, so viel ich will; und ich kann nicht jeden Tag zu ihm sagen, jetzt schreiben wir noch zehn Sätze, der dreht mir durch. Dann ist er zwei Stunden für die Hausübung brav, und wenn ich dann sag, jetzt üben wir noch, das geht einfach nicht. Das will ich auch nicht, weil ich habe ja noch ein anderes Kind, die dann irgendwo mit ihren Puppen oder mit dem Fernseher abgeschoben wird, sie kommt sowieso viel zu kurz, ist da wirklich großzügig, daß sie da nicht rebelliert. Aber, wie gesagt, dann kommt halt, da sind drei Sätze, und dreimal ist das Wort Vater und dann ist er komplett in einer anderen Zeile. Er merkt das nicht. Also er hat Sätze drin, da steht nur mehr drin: "mehr gesagt." Heißen sollte es zum Beispiel: "Daraufhin hat die Mutter nichts mehr gesagt." Das merkt er gar nicht. Und das ist natürlich das, wo die Lehrerin dann Druck ausübt, der kann nicht abschreiben. Gerade im Sachunterricht, wenn sie drei Fehler haben, dann müssen sie es neu schreiben, verständlich, in der dritten Klasse muß das drin sein, aber bei meinem Sohn geht das nicht.

Aber durchschnittlich erfüllt er ja die Schulleistungen?

G.: Ja, aber die Lehrerin sagt, im Simon ist viel mehr drin. Er wäre durchaus imstande, heute ein Zeugnis zu kriegen, daß er ins Gymnasium kommt. Weil der Simon sagt seit seinem dritten Lebensjahr: "Ich werde Architekt." Nur wie das jetzt aussieht, wäre ich zufrieden, wenn er zumindest in Mathe mit einem Zweier abschneidet, daß er in die technische Hauptschule kommt, da kann er danach immer HTL gehen und danach immer noch seinen Architekten machen, wenn er will. Weil so groß gefragt sind die Architekten heute auch nicht mehr. Aber wer weiß, vielleicht tendiert er einmal ganz irgendwo anders hin. Immerhin, andere sagen, ich werde Feuerwehrmann oder Schauspieler. Aber die Lehrerin sagt: "In dem Kind ist viel mehr drin", und da ist es einfach schade, daß er sich jetzt einfach mit schlechten Noten praktisch die Zukunft verbaut. Und das ist wirklich ganz hart, was Noten anbelangt, um in eine höhere Schule zu kommen, weil alle in die Gymnasien drängen. Es ist ganz massiv. Und immer wieder das Thema vom freiwillig Wiederholen, ja und jetzt wissen wir es wieder nicht. Das ist in der dritten Klasse die letzte Chance, in der vierten gibt es das nicht mehr. Entweder er steigt auf, oder er bleibt sitzen. Und es ist auch ein Problem, ob er es seelisch verkraftet. Er hat seit der Erstkommunion eine Menge Freunde, die hatte er früher nicht. Er hatte nur einen Nachbarsbub als Freund, aber jetzt vergeht kein Tag, wo nicht einer oder zwei Mitschüler läuten und ihn zum Spielen holen. Oder wir haben halt wieder das Haus voll, ja ich bin sowieso für andere Kinder die Über-Muttter. Nur mein Sohn sagt, ich bin die Böse, und so eine strenge, aber alle anderen lieben mich. Weil, wenn sie zu mir kommen, gibt es eine Jause. Die Sibylle, die Freundin vom Simon, hat auch gesagt: "Bei dir ist es irgendwie anders. Das ist wie mein zweites Zuhause. Du hast immer Zeit, dich kann man immer alles fragen." Das ist natürlich ein tolles Kompliment für mich, aber wie gesagt, wenn die jetzt alle aufsteigen, wie die Sibylle zum Beispiel, seine Freundin, sie ist eine gute Schülerin, und ihre zwei anderen Verehrer auch. Und wenn er dann noch in der dritten bleibt, da geniert er sich, und die Angst, daß er die Sibylle verliert, das klingt jetzt ganz dumm, aber er hat Schmetterlinge im Bauch, wenn die Sibylle da ist. Er hat mir erklärt, da fängt es an zu kribbeln, und die Hände werden naß. Unglaublich eigentlich mit dem Alter, aber das ist jetzt wirklich seine erste Schwärmerei, und sie tut ihm gut. Wenn sie da ist, ist er wie ausgewechselt. Da haut er nicht mal seine Schwester.

Was sind seine typischen Symptome?

G.: Ja, er ist eigentlich nicht unbedingt ein Zappelphilipp, aber er verliert schnell an allem die Lust. Der Simon ist sensationshungrig bis runter. Also, er wünscht sich etwas ganz, ganz stark, dann kriegt er es, und dann ist es auch schon vergessen, und dann ist schon wieder das nächste, und das nächste. Und mein Mann ist im Urlaub, und spricht im Urlaub davon, wo wir das nächste Jahr hinfahren. Der ist auch so. Der hat letztes Jahr vier Dissertationen geschrieben, und davon zwei gleichzeitig. Die eine war noch nicht ganz fertig, da hat er die nächste schon angefangen. Und zwei davon sind noch nicht einmal erschienen. Der überschlägt sich da auch so, immer höher, immer weiter; sie setzen sich selber ganz massiv unter Druck. Mein Mann ist ein richtiger Workaholic, der im Urlaub in den ersten Tagen krank wird, weil ihm der Streß fehlt, und der Simon ist irgendwie auch so. Spazieren gehen, aber das wollen sie in dem Alter sowieso nicht mehr, aber egal, was man mit ihm macht, so nach einer halben bis ganzen Stunde fängt er an, wirklich zappelig zu werden. Er jammert: "Mir ist fad, mir ist langweilig." Es müßte immer irgend etwas los sein, immer Sensationen. Daß er sich einmal hinlegt und ein Buch liest, von vorne bis hinten, das geht nicht - außer Lexika. Und daher hat er seinen Wortschatz, seine Allgemeinbildung. Wenn er in den Poesiealben von seinen Mitschülern schreibt - da gibt es diese Bücher "Tolle Typen" - unter "Mein Lieblingsbuch" schreibt er Lexika. Am ehesten liest er "Tom Turbo", aber die ganzen Bücher, die er sich auch ausleiht von der Schule, das ist ja alles schon wieder über Technik und Wissenschaft für die vierte Klasse. Das geht ja noch. Er hat einen Physikbaukasten, Elektronikbaukasten und Solar, das fasziniert ihn überhaupt, denn er baut einmal ein Auto, welches mit Wasserstoff fährt, aber nicht explodiert, damit die Stinker von der Straße kommen. Er hat überall nur eine Ahnung, er kann es ja auch noch nicht verstehen, ich kann es ihm auch nicht beibringen. Aber das Wenige, was er sich aus den Büchern aneignet, da kombiniert er einfach und probiert alles aus, denn mehr als stinken oder etwas durchbrennen kann nicht.

Welche Zuschreibungen, ganz allgemein, sind passiert, sowohl in der Schule als auch allgemein? Oder war ihr Kind immer eher unauffällig, oder machte die Kindergärtnerin ihrerseits schon gewisse Zuschreibungen?

G.: Wie schon gesagt, er war immer ein braver Junge, ein ruhiger, ein lieber, sie haben ihn immer alle gern gehabt, bis zu viereinhalb Jahren. Da hat er dann gemerkt, erstens einmal seine eigene Kraft, daß er sehr wohl zurückhauen kann, die Eifersucht spielte eine große Rolle und das Trotzalter. Das war bei ihm erst ziemlich spät, erst mit vier bis fünf Jahren, wo er wirklich widersprochen hat und bockig war. Aber wie so manche Kinder mit zwei, zweieinhalb anfangen zu trotzen, das hat er nie gemacht. Dafür kommt es jetzt um so dicker. Schwierig war es für meine Schwägerin, weil er ihr Lieblingsneffe ist, der einzige, und weil sie Psychologie gemacht hat. Sie beschäftigte sich sehr viel nebenbei mit diesem Thema, sie besorgte mir Unterlagen, in welchen die These von einem vertreten wird, daß sehr wohl ein Zusammenhang bestehen kann, zwischen Hyperaktivität und Neurodermitis. Also das ist rein hypothetisch, das ist nicht erwiesen und nichts, aber es ist schon auffällig, daß beim Simon mit drei Jahren die Neurodermitis ganz massiv ausgebrochen ist, und da hat er wirklich sehr darunter gelitten, und immer wenn er etwas gesehen hat, hat man immer sagen müssen: "Das darfst du nicht haben und jenes darfst du nicht haben." Da hat er es noch geschluckt, da hat er es noch akzeptiert. Aber ich glaube, um so reifer er geworden ist, je mehr er das verstanden hat, daß er eigentlich anders ist als andere, um so ärger ist er geworden. Er war ganz stolz, denn mit fünf Jahren war er im Schikurs, da hat er Schi fahren dürfen. Da war er ganz stolz und sagte: "Mama, ein Foto lassen wir nachmachen, und das bringe ich dem Doktor Maier." Das war der, der ihm den Klumpfuß operiert hat, und der war auch ganz gerührt: "Simon, auf dich bin ich wirklich stolz, weil das hat noch keiner vor dir geschafft." Mir kommt vor, da ist das dann alles ausgebrochen. Dieses Kind hat wirklich viel gelitten, und vor allem als Baby. Das Kind hat am zweiten Tag einen Gips gekriegt, er kennt nichts anderes. Aber im nachhinein wußte er sehr wohl, was ihm entgangen war. Er war geistig immer weiter, als er sich bewegen konnte. Er ist erst mit fünfzehn Monaten gelaufen, nicht weil er faul war, sondern weil er nicht durfte. Wenn er anfing - mit fünf bis sechs Monaten - in der Gehschule sich hochzuziehen, spätestens nach zwei bis drei Minuten habe ich ihn geschnappt und habe ihn wieder hingesetzt, damit er es vergißt, weil ich Angst hatte, weil er recht schwer war. Er war rund wie ein Ringer, ich hatte am Anfang auch immer wieder Angst, daß die Sehne reißt, weil nach der Operation hatte er ja nur eine halbe Sehne. Seine Sehne wurde in der Mitte geteilt und somit verlängert. Die Sehne erneuert sich, aber das dauert natürlich eine Weile. Und da hatte ich natürlich schon Angst, daß das reißt. Verse und Knöchel, das war ja alles nicht vorhanden. Der Fuß als solcher war ja nicht vorhanden, da war so eine Masse, welche dann geformt wurde. Und ich habe da natürlich seelisch sehr darunter gelitten. Wenn das Kind geweint hat, wußte ich nicht, ob die Hose voll war, oder ob er hungrig war, oder ob ihm der Fuß weh tat. Ihm hat sicher mal das Beinchen unter dem Gips gejuckt, aber er konnte nichts sagen und konnte sich nicht wehren. Und ich glaube, daß das schon irgendwie alles zusammenhängt. Die Neurodermitis kam über Nacht, und es hat lange gedauert, bis man draufgekommen ist, auf was er reagiert. Man hat mich bei den Hautärzten mit Cortison abgeschoben, und wenn es arg war, dann haben sie ihm sogar das Cortison gespritzt.

Hat eigentlich jemand die Diagnose "Hyperaktivität" gestellt?

G.: Das hat niemand, offiziell nicht, aber meine Schwägerin. Weil sie war öfter hier, und sie hat sich natürlich damit befaßt: "Das ist so, wie du den Simon beschreibst, was er alles in der Schule macht und so, sind das Merkmale eines hyperaktiven Kindes." Da wurde ich erst mal stutzig, denn ich kenne ein hyperaktives Kind, und zwar aus der Nachbarschaft. Das Mädchen geht mittlerweile ins Gymnasium und hat lauter Einser. Die war im Kindergarten und in der ersten Klasse eine Katastrophe. Die ist nach zehn Minuten aufgestanden und ist raus aus der Klasse. Sie hat getobt und geschrien. Wenn die Mutter mit ihr zum Arzt gegangen ist, war das Mädchen gleich hinten drin. Sie hat die Schubladen aufgemacht. Ich will damit sagen, das Kind hatte einfach keine Erziehung, weil das hat der Simon nicht gemacht. Ganz im Gegenteil. Er war immer sehr brav und alles.

Hat ihre Schwägerin aufgrund der Aufmerksamkeitsprobleme die Diagnose "Hyperaktivität" gestellt?

G: Wahrscheinlich.

Es gibt eine Reihe von Symptomen, die auf hyperaktives Verhalten hinweisen, das ständige Zappeln beispielsweise.

G.: Es kommt beim Simon nicht vor, daß er ständig überall oben ist. Aber er braucht immer etwas. Für ihn ist es nicht die Bewegung aus sich heraus, sondern eher visuell. Er kann stundenlang vor dem Fernseher sitzen, aber nicht irgendeinen Spielfilm anschauen. Zeichentrickfilme gehen gerade für eine Viertelstunde, dann kommt aber das nächste, das nächste, das taugt ihm. Ich könnte ihn den ganzen Tag das Kinderprogramm schauen lassen, weil da immer etwas Neues ist. Er braucht diese Sensationen. Das ist auch im Unterricht, wenn da heute etwas kommt wie die Mondphasen, die sie gelernt haben, das hat ihn interessiert, das hat er nicht lernen müssen, das konnte er. Von dem, was er schon gewußt hat und von dem, was die Lehrerin an der Tafel erklärt hat, das hat gepaßt. Aber nicht die Römer. Da sagt er: "Was interessiert mich das. So ein Scheiß. Die gibt es ja schon lange nicht mehr." Das sieht er nicht ein, da sperrt er sich total. Da läßt er auch niemanden an sich heran. Und er ist auch irgendwie verschlossen. Er ist sonst aufgeschlossen und er fragt mich sonst viele Sachen. Er hat auch überhaupt keine Scheu, mich etwas zu fragen. Jetzt kommt er schon daher mit den dreckigen Witzen und so: "Du Mama gell, jetzt weiß ich, wozu das Kondom da ist. Damit man keine Babys kriegt." "Ja genau, und daß man sich keine schlimmen Krankheiten wie Aids holt." "Aber gell bei Aids, da stirbt man, da gibt es noch nichts dagegen." Und ich habe gesagt: "Das ist richtig." "Ja aber die Babys bekommen doch die Frauen, und das Kondom ist für den Mann." Da habe ich ihn dann abgewimmelt: "Wenn du etwas genau wissen willst, da habe ich so ein schlaues Buch, das heißt ,Antworten auf tausend schlaue Kinderfragen' und da setzen wir uns dann am Abend ruhig hin und schauen uns das an. Wir lesen es gemeinsam und dann erkläre ich dir das ganz genau." Das Thema war damit für ihn erledigt, und ich hoffe, es dauert noch eine Weile. Und da hat er überhaupt keine Scheu und da merk ich schon, daß er Vertrauen hat. Aber heute hat ihn die Lehrerin extra gelobt, und das erfahre ich von anderen, das sagt er mir nicht. Aber er hat mir auch nicht gesagt, daß er in der Ansage heute sechseinhalb Fehler geschrieben hat, und daß das eine Drei war - obwohl ich ihn nicht schimpfe - weil das bringt überhaupt nichts. Also mit fünf Jahren, da hat er wirklich alle Tage gehaust. Ich habe ihn dann in das Zimmer gesperrt, ich bin wirklich massiv geworden. Dann habe ich einmal geschrien wie blöd. Und wo dann die Streitereien mit der Evi angefangen haben, da hat er dann überhaupt nicht mehr gehorcht, da habe ich dann alles zehnmal sagen müssen. Aber wenn der Simon alle Schaltjahre einmal eine runterkriegt, ich weiß das ist feig, und mit Schlagen kann man ein Kind ja nicht erziehen. Aber manchmal ist mir dann einfach wohler. Weil, ich sag, es ist auch feige, was das Kind mit mir macht. Weil er so hilflos ist, weil er ein so kleiner Wicht ist, und er macht mich fertig. Insgeheim lacht er sich einen, "habe ich's der Alten wieder einmal gezeigt". Und das höre ich immer wieder: "Wenn ich noch klein war, da hast du mich immer wieder gehauen, und die Evi, die haust du nie." Aber wenn die Kinder so aggressiv werden, wenn er schreit, dann schreie ich zurück, ganz automatisch. Und das kostet so viel Kraft, das zu unterbinden, und ich laß mich nicht provozieren. Es ist schwer, es ist wirklich schwer, mit diesem Kind auszukommen. Weil man weiß, daß er ja ganz anders kann. Wenn jemand da ist, auch die Nachbarn, dann glaubt das ja keiner. Denn der Simon ist einer der wenigen Schüler da im Haus, die grüßen, wenn sie bei einem Nachbarn vorbeikommen. Er weiß sehr wohl, wo er die Bremse ziehen muß. Oder wenn er bei der Oma ist, da ist ein Hotelbetrieb, da müssen sich die Kinder einfach benehmen, und höflich den Gästen gegenüber sein. Er kommt jedesmal mit einen Haufen Geschenke daher. Unsere Dauergäste beschenken ihn alle. "Nein Simon, bist du wieder groß geworden. Kommst du mit uns Schi fahren?" Er ist überall das Schätzchen.

Welche Erfahrungen haben sie mit den verschiedenen Institutionen gemacht? Waren Sie beim Kinderpsychologen?

G.: Ja, Institutionen insofern, ich bin zum Doktor Zangerle gekommen über die Schule. Weil da hat man mich runtergeholt, "das Kind ist aggressiv in der Schule, ist tückisch". Vor allem, er würde nie mit Mitschülern raufen oder schlägern, aber er tut es hinten herum. Mädels bei den Haaren ziehen, Schultaschen umschmeißen, vor allem geht er immer auf die Kleinen, auf die Mädchen. Die erinnern ihn alle an die nicht gewollte Schwester. Jedenfalls war ich dann halt da unten. In der Mitte, da die Lehrerin, da der Direktor, dann gingen sie auf mich los. Und ich habe halt nur noch geheult und habe mich geniert. Der Direktor hat mir dann gesagt, daß er ja weiß, aus welcher Familie der Simon kommt. Aber das Kind braucht einfach dringend eine Therapie. Ja das höre ich immer wieder, aber wo soll ich hin, woher soll ich das wissen. "Ja, gehen Sie zur Erziehungsberatung." Dann bin ich beim Doktor Zangerle gelandet. Dann haben wir auch versucht, eine Selbsthilfegruppe zu gründen. Dabei, daß aber nicht alles hyperaktive Kinder waren, sondern einfach gestörte Kinder - was heißt gestört, verhaltensauffällig. Die eine hat Zoff gemacht im Kindergarten, obwohl sie die Kleinste war, hat sie sie alle tyrannisiert. Das andere Kind hat die Scheidung nicht verdaut, der klaut und läuft weg. Man kann ihn stundenlang suchen, und er versteckt sich irgendwo und lacht sich tot, wenn die Polizei kommt. Der Simon mit seinen Auffälligkeiten, dieses "nicht lernen wollen", dieser Druck jeden Tag. Das hat sich dann aber, nachdem wir Damen alleine waren, ganz schnell wieder aufgelöst, weil die - meiner Meinung nach - alle die Wahrheit nicht vertragen haben. Es hat eine jede erzählt, und da hört man heraus, daß gleich nach dem Essen die Hausaufgabe gemacht werden muß, und wenn das dann nicht schön war, dann hat sie halt die Seite herausgerissen und das kann sie doch nicht machen. Vor allem das Kind nach dem Essen, oft sind sie halt müde, da macht man die Aufgabe halt erst um zwei statt um eins. Gerade im Winter, da ist es ja ganz egal, wenn das Wetter draußen eh schlecht ist. Aber dann denkt man sich, ich mache das ja auch. Und man hat es denen dann auch gesagt. Jede hat ihre Meinung kundgetan, und dann sind von Mal zu Mal weniger geworden und zum Schluß waren wir nur noch zu dritt. Es hat dann eigentlich keinen Sinn mehr ergeben, die ganze Sache, und mittlerweile bin ich inzwischen bei diesem Heilpädagogischen Verein gelandet, weil mir die Lehrerin noch einmal ganz massiv gesagt hat: "Ja, das mit dem Doktor Zangerle bringt nichts", sie sieht da keinen Erfolg. Das Kind brauche dringend einen Psychologen. Sie hat sich klar und deutlich ausgesprochen. Das, wovor ich mich eigentlich immer gescheut habe: mein Kind hat ja keinen Dachschaden, wofür braucht er dann einen Psychiater? Schaust du einmal hin, und wenn er mir dann bescheinigt, mein Kind ist rundherum normal, dann werde ich triumphierend mit dem Attest zur Lehrerin gehen, und werde sagen: "Ätsch, dem war aber nicht so!" Und ich bin dann eben bei diesem Heilpädagogischen Verein gelandet, wo dann herauskam, mein Kind ist doch normal, entspricht aber nicht der vorgeschriebenen Schulnorm. Er weicht irgendwo leicht ab. Ja, ich kann damit leben, aber die Schule leider nicht. Über das Sozialamt - da mußte ich dann hingehen - denen habe ich das noch einmal erzählt, und die haben mir jetzt diese Lehrerin zur Verfügung gestellt. Diese behauptet, sie merkt es sehr. Ich glaube weniger, ich mache dem Simon schon massiv Druck, daß entweder: "Du ziehst dich jetzt an, reißt dich zusammen, paßt jetzt auf, machst das jetzt ordentlich, oder du machst die dritte Klasse noch einmal. So geht es nicht, so schaffst du die vierte Klasse nicht. Dann wirst du sitzenbleiben, und das ist eine Schande!" Und das versteht er dann auch sehr wohl, würde ich sagen, weil sonst ist er auch gescheit genug. Aber für mich ist einfach der Mittwoch und der Freitag wie Urlaub, einfach eine Erholung. Ich weiß, das Kind ist in seinem Zimmer, er lernt, er macht seine Hausübung und ohne daß ich den Streß habe. Es ist eigentlich mehr eine Entlastung für mich als für das Kind.

In der Literatur sind die Schuldgefühle ein ganz zentrales Thema, vor allem bei den Müttern.

G.: Natürlich, das ist ja klar, ich habe das auch. Es ist ganz logisch, daß man sich das einredet. Früher war ich eine Power-Frau, ich habe zeitweise mehr verdient als mein Mann. Und dann habe ich gesagt: "Paß auf, jetzt bin ich dreißig, entweder eine Familie, oder wir lassen es." Und der Simon war wirklich ein Wunschkind, und die Kleine genauso. Und dann war ich plötzlich vom Mann abhängig, mußte mich einschränken und auf vieles verzichten. Ich verzichte sowieso auf alles, ich gehe das ganze Jahr nicht aus, habe auch gar kein Interesse daran gehabt. Ich bin wie eine Glucke, der Mann kümmert sich null. Er ist der Meinung: "Ich bringe die Brötchen heim, ich trage die Geldtasche, und du die Verantwortung" - so ungefähr. Ich habe mich da hineingekniet und wollte sozusagen eine neue Karriere starten. Ich bin eine gute Köchin und habe an und für sich die Wohnung tip top in Ordnung. Das hat aber seit dem zweiten Kind schon stark nachgelassen. Es vergeht einem das sauber Aufräumen, wir wollen da ja wohnen und nicht nur anschauen. Aber irgendwo ist da schon der Ehrgeiz da, du hast keinen Beruf mehr, jetzt mußt du wenigstens da bestehen. Und da ist schon das Gefühl da, das kannst du nicht, da hast du versagt. Andere haben da die Vorzugsschüler, die netten, braven Kinder, und du hast so einen Fratz. Ständig beschwert sich irgend jemand, weil er wieder ein Mädchen ins Gebüsch geschubst hat, oder ihn oder sie mit einem Stock bedroht hat oder sonst was. Reue ist schon da.

Werden diese Schuldgefühle von außen auferlegt, durch andere Eltern beispielsweise, oder durch den Mann, oder erlegt man sie sich selber auf?

G.: Die erlegt man sich hauptsächlich schon selber auf. Sicher, wenn jetzt wieder eine Mutter zu einem kommt und erzählt, der Simon hätte jemandem wieder ein Brett nachgeschmissen, oder er hat sie in das Gebüsch geschubst oder so, da kommt es natürlich rüber, was hast du für ein Kind. Aber das ist alles eine Gewöhnungssache, denn mittlerweile mache ich mir da lange nicht mehr so viel daraus. Es wird vieles überspitzt, zum Beispiel im Religionsunterricht hat er einmal Flieger geschossen. Aber die Stunde vorher, da war die Lehrerin nicht da, da war der Direktor da, und er hat den Kindern gezeigt, wie man so eine richtig tolle Concorde faltet, die so richtig schön segelt. Und die hat er dann danach ausprobiert, und dann ist ein enormer Brief gekommen. Ich habe dann zufällig mittags den Doktor Zangerle getroffen und gesagt, daß ich heute wieder einen Brief bekommen hab. Ich habe ihm alles erzählt. Dann sagt er: "Und, haben wir das nicht auch gemacht?" Klar, haben wir auch gemacht, und noch schlimmere Sachen zum Teil. Man hat ein kurzes Gedächtnis, und ich bin draufgekommen, daß die Lehrerin da sehr genau ist, oft ist sie sogar richtig kleinlich. Zum Beispiel, der Simon hat den Kleber vergessen und hat den vom Nachbarjungen genommen, und hat den Kleber abgebrochen. Ich bin mir nicht sicher, ob das überhaupt absichtlich war. Jedenfalls kommt da von der Schule ein Schrieb heim: Simon hat den Uhu Stic von seinem Nachbar zerstört. Offensichtlich hat er keinen Respekt vor dem Eigentum des anderen. Dieses Überspitzte, diese Tonart, sie ist eine Wienerin, oder hat in Wien studiert, was weiß ich. Sie hat die Bücherei über, sie hat die Lektorenprüfung gemacht, sie ist da ein bißchen über drüber. Von der Parallelklasse die Lehrerin, das ist ein bißchen eine andere. Die redet so wie wir. Aber durch das habe ich heillosen Respekt vor ihr, da kriege ich so ein Flattern. Sie hat so ein bißchen das Schulmeisterische, und das ist mir von meiner Erinnerung her immer noch ein Greuel. Wir hatten auch so einen Lehrer, einen Oberstudienrat, ein widerlicher Kerl, der hat irgendwie nicht hineingepaßt. Wenn ich ihn vergleiche mit anderen Lehrern, die einfach hineingekommen sind und sagten: "So Burschen, jetzt hockt's euch nieder und jetzt machen wir das", der hat immer so: " Setzen!!" geschrien, der hat noch so nach Monarchie gestunken. Es ist wahrscheinlich schon sensibilisiert bei manchen Kindern wie zum Beispiel beim Simon, "schon wieder der".

Dann sind Sie praktisch gleich zum Doktor Zangerle gegangen?

G: Ja.

Und was hat er Ihnen gesagt, was die Ursachen sind?

G.: Ja, schwierig, zum Beispiel hat er mir einmal vorgehalten, ich rede zuviel. Da bin ich heute noch stuff, weil das ist eigentlich nur, wenn ich bei ihm war, da ist alles rausgekommen. Aber ich bin zu Hause eigentlich ganz anders, im Gegenteil. Mir ist jetzt schon ein paar Mal aufgefallen, daß die Kleine mich gefragt hat: "Mama, bist du traurig oder so?", denn ich kann stundenlang nichts reden. Ich fresse eigentlich so ziemlich viel in mich hinein. Aber er sagte zum Beispiel nach den ersten Gesprächen: "Sie machen es ja eh gut, was wollen Sie?" Ich habe ihm einfach erzählt, wie mein Tagesablauf ist oder wie ich meine Kinder erziehe, was ich für Vorstellungen habe, was es für Regeln bei uns zu Hause gibt, sei das jetzt fernsehen oder was es für Strafen gibt, oder wieviel Taschengeld und so, und da hat er eigentlich nichts zum Aussetzen gefunden bei mir, oder er hat es mir zumindest nicht gesagt, und das hätte er ja wahrscheinlich.

Die meisten Mütter neigen dazu, die Ursache beim Kind zu suchen.

G.: Nein, man sucht eigentlich schon bei sich, man sucht Erziehungsfehler, daß man sich denkt, was machst du falsch, zum Teil sind es Erziehungsfehler. Daß der Simon so unselbständig ist, ist auf jeden Fall ein Erziehungsfehler. Das hat aber die Schwiegermutter meinem Mann mitgegeben, und mein Mann hat das auf mich suggeriert. Beispiel: Wir gehen spazieren, der kleine Stöpsel mit drei Jahren findet einen Stock und schreit: "Mama" und fuchtelt mit dem herum. Und mein Mann sagt dann - er ist ja der liebe Vater, und ich bin die böse Mutti: "Nimm ihm den Stock weg!" Und ich frage ihn: "Wieso?" "Wenn er stolpert, kann er sich ein Auge damit ausstechen. Ich mach dich dafür verantwortlich!" Und dann habe ich momentan gestutzt, und dann habe ich ihm den Stock weggenommen. "Schatzi, komm laß, sonst kannst du dir weh tun!" Weil, wenn ihm wirklich etwas passiert wäre, dann wäre Feuer am Dach gewesen. So ist das, das ist irgendwie so ein Bumerang-effekt. Meine Schwägerin hat kurz vor Weihnachten beim Fax hineingeschrieben, heute sieht sie, wieviel Vitalität und Mut ihnen eigentlich die Mutter genommen hat. Nur, ist sie in ... einfach ganz anders aufgewachsen, behütet in Ganztagsschulen, rund um die Uhr, denn die Frauen sind ja nur da, um die Kinder zu erziehen und um zu kochen; ja, und die haben das irgendwie weitergegeben. Weil der letzte, der Schwager, der jüngere, der ist ganz anders, einfach, weil die Mutter viel mehr dazugelernt hatte, und weil er einen großen Bruder und eine große Schwester hatte, die haben ihn mitgenommen, er wurde nicht allein von der Mutter erzogen. Er hat auch von seinen Geschwistern dazugelernt, und ich sehe das bei mir ganz genauso. Ich erziehe die Kleine gleich wie den Simon, aber ich nehme es viel lockerer. Die ist mit ein eineinhalb Jahren bei uns vorne über die Rutsche hinunter. Wenn das mein Mann gesehen hätte, den hätte der Schlag getroffen. Ich habe es auch nicht gesehen, ich bin da gesessen und habe geplaudert, und plötzlich da höre ich "Mama", und da ist sie unten gelegen. Und weil sie sich nicht weh getan hat, ist sie rauf und hat es noch einmal probiert. Und seitdem kann sie es. Der Simon hat sich mit vier noch nicht getraut, eine Rolle zu machen, wahrscheinlich aus dem heraus. Ich bin aber heute so, sicher wenn er da mit Strom und Akkus herumspielt, ganz wohl ist mir dabei nicht, aber ich denk mir, wir sind sowieso ziemlich gut versichert, viel wird ja nicht passieren, denn es ist ja kein Starkstrom. Aber mein Mann ist dann wieder derjenige, der sagt: "Stell dir vor, was da passieren könnte. Jeder kleine Stromschlag, der schädigt sein Hirn", und dann ist mir das auch oft zu hart, und dann sag ich mit dem Simon: "Laß es, mach es, wenn der Papa weg ist." Da machen wir dann schon massiv Front gegen den Papi. Es ist mir einfach zu lästig, daß ich da lang rumdiskutiere, und schon aus der Angst heraus, weil er mir ja die Verantwortung zuschanzt. Letztendlich bin ich diejenige, die auf's Dach kriegt, wenn etwas passiert.

Sie haben vorher ganz toll ausgedrückt, daß Sie einen Unterschied sehen zwischen Konzentration und Aufmerksamkeit. Könnten Sie das bitte wiederholen?

G.: Ja, wie soll ich das erklären? Wie gesagt, wenn der Simon heute mit dem Papa Halma oder Dame spielt, da schlägt er ihn voll. Da kann sich mein Mann nicht konzentrieren. Der schaut dann nebenbei die Nachrichten, oder er sieht die runden Dinger und denkt schon wieder an irgendeine Platte, die er da belegt, garantiert. Und der Simon wird unruhig und sagt: "Papa, tu weiter!" Der ist mit den Gedanken immer woanders. Das taugt ihm natürlich auch, das gibt ihm Auftrieb. Aber wie gesagt, er kann nicht abschreiben. Drei Sätze von der Tafel, da fehlt die Hälfte. Es ist jetzt schon besser geworden, einfach aus Erfahrung, weil er so oft etwas neu schreiben muß, aber es hängt bei ihm viel mit dem Interesse zusammen. Alles was zu seinen Interessen hin tendiert, das kann er, das will er, das macht er, und der Rest ist Geschichte. Und er empfindet das alles als Zwang, und zwar ganz übersteigert. Ich meine, es ist ja auch ein Zwang. "Mama, wieso müssen wir in die Schule gehen?", das müssen Sie sich mal vorstellen. Sie müssen sich vorstellen, ich muß an das Parlament schreiben, "die sollen die Schulpflicht wieder abschaffen. Wahrscheinlich weil die Maria Theresia so viele Kinder hatte, die war natürlich froh, daß die alle in der Schule waren", das hat er mit acht Jahren gesagt. Weil ich ihm mal erklärte, daß die Maria Theresia die Schulpflicht eingeführt hat. Dann wird er sich das so vorgestellt haben, alle sechzehn Kinder in die Schule, dann hat die Maria Theresia ihre Ruhe. Er kann sich vor allem auch so toll ausdrücken. Die Lehrerin und auch der Direktor - wenn sie krank ist, springt er ein - sagen, manchmal gibt er Antworten, wo sie sprachlos sind. Und dann funktionieren oft die primitivsten Sachen nicht, zum Beispiel Stäbchen häkeln. Wenn wir mit hundert Maschen beginnen, nach der zwanzigsten Reihen hat er nur mehr siebenundvierzig, das kann er sich irgendwie nicht erklären, wie das funktioniert. Zum Beispiel die Luftmaschen, wenn wir da so die langen Schnüre gemacht haben, leidenschaftlich machte er das, die hätte man um den ganzen Block wickeln können. Das ist so locker gegangen, so nebenbei. Und da hat er sich auch nichts vertun können. Aber beim anderen mußte er aufpassen, denn bei zehn Zentimetern häkeln, da mußte er sich schon ganz schön konzentrieren, damit er nicht mal ein Loch ausläßt, weil dann sind's ja wieder weniger, und dann ist Pause. "Aber das mußt du machen, das brauchst du bis morgen", und dann ist Pause. Alles, was ihn nicht interessiert, empfindet er als Zwang, aber so übersteigert gleich. "Ich will das nicht, ich mag das nicht, mich interessiert das nicht!" Und wenn er nicht will, dann kann er es wirklich nicht. Das ist schon hart, aber da muß er durch. Ich sag mit ihm immer wieder: "Die Grundschule, die mußt du schaffen, danach von mir aus gehst du zur Müllabfuhr." Und das will er dann auch wieder nicht. Er will in das Gymnasium.

Aber das Problem ist das, daß er die Fähigkeiten hat - und gerade im technischen Bereich - und daß ihm die Note den Gymnasiumbesuch verwehrt.

G.: Also, mein Kind ist für dieses Schulsystem absolut ungeeignet. Also, was tust du, ich habe Sendungen im Deutschen geschaut, wo solche Kinder in der Sonderschule gelandet sind aufgrund ihres Benehmens, welches sie an den Tag gelegt haben, daß sie wirklich nicht still sitzen, und Dummheiten machen, den Kaspar spielen, und dabei hochintelligent sind. Und so wird ihnen das ganze Leben verbaut. Das tut mir einfach weh, und ich versuch mich, mit allen Mitteln zu wehren.

Noch einmal zur Therapie und zum Therapeuten. Funktioniert Ihres Erachtens die Zusammenarbeit zwischen Therapeut und Schule oder zwischen Schule und Elternhaus?

G.: Ja, wobei ich mich nur mehr zu den offiziellen Sprechtagen blicken lasse, weil ich sowieso immer nur dasselbe höre, das reicht mir, das ist für mich so deprimierend. Ich schicke jetzt immer die Ilse (Stützlehrerin). Vor allem sieht sie das anders. Sie ist ja diplomierte Pädagogin und sie arbeitet mit ihm in diesen zwei Stunden sehr intensiv. Sie sieht ihn ja ganz anders als ich. Denn ich sehe meine eigenen Fehler ja nicht. Wenn ich das alles wüßte, dann hätte ich ja nicht diese Probleme. Aber die Kommunikation zwischen Lehrerin und Therapeutin funktioniert sehr gut.

Werden Ihnen von Seiten der Schule nicht Vorwürfe gemacht. Oder ist es nicht so, daß aufgrund der Vorwürfe die Zusammenarbeit gar nicht funktionieren kann?

G.: Ja natürlich, das stimmt schon. Ja, die Lehrerin weiß, ich tu mein Bestes. Ich hab alles getan, was sie verlangt hat, und mehr kann ich nicht. Aber ich bin auch nach wie vor der Meinung, ich erzieh mein Kind, aber Vormittag in der Schule ist das ihr Bier. Weil sonst muß ich mich zu ihm in die Schulbank setzen.

Einerseits ist es auch einfacher für die Lehrerin, wenn sie die Probleme abwälzt.

G.: Also, wie ich schon gesagt habe, sie ist die Lehrerin, der man die Problemkinder unterschiebt, weil sie anscheinend wirklich die stärksten Nerven von allen hat. Sie hat dann wirklich vier bis fünf in der Klasse, die dann massiv Schwierigkeiten haben. Nicht nur der Simon, sondern auch andere, da hat der eine dem anderen die Nase blutig geschlagen. Und die Klasse ist sehr groß, sechsundzwanzig Schüler. Und in der zweiten Klasse sind zweiundzwanzig Kinder. Wenn der Simon freiwillig wiederholt, würde ich schauen, daß er in diese Klasse kommt, weil nämlich ab zwanzig macht jeder einzelne Schüler Gewicht. Und die kleinste Klasse ist einfach für den Simon die beste. Ich bin auch der Meinung, wenn der Simon heute in einer Klasse wäre mit zehn, fünfzehn Schülern; er braucht wirklich eine Lehrerin, die ihn ständig unter Kontrolle hat. Und wenn die merkt, daß er wieder zum Fenster hinausschaut, dann muß sie sagen: "He Simon, da sind wir!" Er kann sich nicht selber wecken, ich sehe das bei meinem Mann. Der hat seinen Weg gemacht, er hat seinen Doktor und alles, aber der ist ganz genauso. Nur, ich kann mit meiner Schwiegermutter leider nicht kommunizieren, weil sie nur ... spricht. Aber ich habe zu meinem Mann gesagt: "Rede mit ihr, frag deine Mama." "Jetzt, weil du mich fragst, ja das war schon so." Nur, die Hausübungen hat mein Mann immer ganz schnell gemacht, weil er wollte so schnell wie möglich wieder in die Gasse hinaus. Es war auch der Lehrstoff ganz anders. Und vor allem, mein Mann war auf einer Eliteschule, der hat kaum eine Hausübung gehabt. Die waren den ganzen Tag praktisch in der Schule, da hat sich praktisch niemand mehr zu ihm hinsetzen müssen und "jetzt mach das", er hat zu Hause einfach nur üben müssen, und das war alles.

Wie funktioniert die Zusammenarbeit zwischen Doktor Zangerle und Schule?

G.: Ja, einmal war er mit mir unten und hat mir da die Stange gehalten, weil wir gesagt haben: "Nichts, das Kind wiederholt die erste Klasse nicht, dazu ist er zu gescheit." Und das hat ihm die Lehrerin, glaube ich, übel genommen. Aber ich muß sagen, ich war schon lange nicht mehr beim Doktor Zangerle, weil ich wüßte nicht wozu. Ich werde mal zu ihm gehen auf einen Kaffee. Die Ilse hat auch gesagt, sie geht jetzt mal zu ihm, weil sie hat eben ein Referat gemacht. Aber, im Moment kann er mir eigentlich nicht viel helfen.

Und wie war das früher? War der Doktor Zangerle ständig im Gespräch mit den Lehrern?

G.: Nein, und das ist das, was die Lehrer auch bemängeln.

Glauben Sie, daß Lehrer wollen, daß Außenstehende da etwas sagen?

G.: Die Lehrerin vom Simon schon, ich glaube, daß das von Lehrer zu Lehrer verschieden ist. Andererseits denkt man sich dann oft wieder, wie der Direktor gesagt hat, wie die Evi jetzt zum Schuleinschreiben gekommen ist, sie ist halt auch so ein reizendes Mädchen, sie ist gleich hübsch wie der Simon. Das hat mir irgendwie so wohl getan. Weil, er hat einen Haufen Schüler, aber er kennt sie wirklich alle beim Namen, den Simon natürlich, weil er war ja des öfteren bei ihm zu Besuch ist, wenn er wieder etwas angestellt hat. Aber er sagt auch, der Simon kann so charmant sein, und der kann sich so von seiner besten Seite präsentieren, also er kann sich wunderbar verkaufen, nur, ja, wenn er will. Je mehr sich der Bekanntheitsgrad steigert, desto mehr verliert er auch an Respekt, das ist schon klar. Das ist eigentlich überall so. Jetzt hat er die Lehrerin drei Jahre, jetzt kennt er auch ihre Mucken und Tücken, und hat wahrscheinlich nicht mehr so einen Spund wie in der ersten Klasse. Wobei, den Spundus, mir kommt vor, hat er eigentlich heute mehr, ich glaube, er ist einfach vernünftiger geworden. Er ist dann oft schon auch der Meinung, er kann viel mit seinem Charme hinbiegen. Er weiß es ganz genau. Gerade wie er mich gegen den Papa ausspielt, das ist manchmal erstaunlich. Wenn ich mal auf eine Sitzung vom Mieterverein muß, dann komm ich nach Hause, der Papa liegt da und schläft und der Bub schaut sich irgendeinen Krimi an. "Papi, darf ich noch zehn Minuten zu dir kuscheln, du hast nie Zeit zum Schmusen." Da hab ich mal zugehorcht, ich hab geglaubt, ich würg ihn. Der Papi nützt das natürlich aus.

Warum sind Sie mit dem Jungen nicht in Therapie gegangen?

G.: Der Simon hat schon so viel mitgemacht. Dem Buben können sie Spritzen geben, zehn hintereinander. Wenn er krank ist, dann macht er keinen Muxer. Er ist wirklich schon so leidensfähig, er hat alles hingenommen. Aber ich glaube, daß er sich einfach irgendwann gesagt hat, "so, und jetzt reicht's mir". Manchmal habe ich schon so den Eindruck. Aber ich bin ja keine Psychologin. Aber gerade das mit der Therapie, ich habe jetzt den Faden verloren. Er muß regelmäßig wegen seines Fußes zur Kontrolle, weil er eben Einlagen hat. Das mit der Neurodermitis, das war ja ein Theater. Wir waren zum Teil ja täglich beim Arzt. Dann hatte er so viele Mittelohrentzündungen. Der Bub hat ja gehabt: Klumpfußoperation, dann mit eineinhalb Jahren Fimose, weil die Vorhaut zu eng war, Mittelohrentzündungen am laufenden Band - vier in einem Winter -, dann hat er die Polypen operiert, dann hat er die Mandeln operiert, und dann hat er noch eine Narkose bekommen, wie sie ihm nach der Klumpfußoperation den Gips runtergeschnitten haben. Ich kann mir auch vorstellen, daß da etwas bleibt, so viele Narkosen als kleines Kind. Ich bin zwar kein Arzt und kein Neurologe.

Aber Sie haben sich nie gedacht, daß es vielleicht mit dem Kopf zusammmenhängen könnte?

G.: Doch, schon. Neulich habe ich sogar gesagt: "Simon, wie du dich aufführst, du hast einen Dachschaden. Wenn du so weitermachst, dann landest du in der Klapsmühle." Dann wird er so hysterisch, dann fängt er so zu heulen an. Heute hat er geplärrt, da hat er in einem Wort - bei der Verbesserung - x Fehler gemacht. Und dann halt wieder löschen, und noch einmal löschen, und dann nach dem Tintentod geht ja nichts mehr. Dann hab ich gesagt: "Jetzt mußt du es einfach durchstreichen." Dann hat er gleich weitere zwei Wörter mit durchgestrichen. Und dann fängt er an zu heulen, zuerst ist er ganz aggressiv, und dann kommt mir vor, dann kommt die Erleichterung. Dann weint er, und dann kann er sich nicht mehr halten. Und wenn er dann so spinnt, ich schrei dann auch oft, was heißt schreien, ich red dann einfach: "Komm Simon, hör jetzt auf, du gehst mir auf die Nerven. Entweder hörst du jetzt auf zu theatern, oder du machst deine Hausübung selber." Dann denk ich mir, bevor ich ihm eine schmiere, gehe ich eine rauchen. Und dann kommt er aber wieder an: "Hilfst du mir jetzt nicht?", oder: "Mama, bleib bei mir, dann bin ich schneller, dann kann ich mich besser konzentrieren." Dann beruhigt er sich wieder. Oder oft ist es so, daß ich hergehe und fange an, ihn zu massieren, oder zu streicheln. Dann wird er wie eine Katze, dann fängt er an zu schnurren. Dann sagt er aber schon: "Jetzt tust du wieder so scheinheilig mit mir, gell?" Also er spielt sich, er spielt sich wirklich. Er weiß also ganz genau, wie er uns alle nehmen muß. Auf der anderen Seite finde ich es ja toll, er muß sich ja auch einmal durch das Leben schlagen, aber es ist halt ein ewiger Kampf. Ich hab gesagt, wenn das neun Schuljahre so weitergeht, dann bin ich kaputt. Ich muß auch sagen, ich weiß nicht, wie das bei anderen ist, aber mein Mann steht auf dem Standpunkt - sicher, was soll er machen, wenn er um sechs Uhr nach Hause kommt, total müde, und vor allem ist er geistig müde, er kann einfach nicht mehr. Und er ist auch oft grantig und überreizt, wenn ihm wieder irgend etwas danebengegangen ist. Wenn er dann heim kommt, dann ist besser, wenn ich nicht viel mit ihm rede, das überträgt sich natürlich auch. Und was soll ich ihm vorjammern am Abend noch, wenn der Bub müde ist, und die ganze Katastrophe eh schon gelaufen ist. Das noch einmal von vorne aufwärmen, wobei der Mann dann einer ist, der nicht mehr aufhört, der dann immer wieder nachhakt, und beim Essen dann auch noch "und warum hast du das gemacht, und warum hast du da nicht, und warum hast du da schon". Es bringt nichts, es bringt nichts mehr. Und mein Mann ist so - muß ich ehrlich sagen - "das ist deine Sache", so ungefähr. Aber andererseits, er kann ja wirklich nicht viel machen. Bei den meisten Lehrern funktioniert es. Wir kennen einige, da sind beide Lehrer, da geht es ganz gut. Aber da ist das anders, da hat sie nur eine halbe Lehrverpflichtung, und sie muß dafür am Abend zu Konzerten gehen. Da war der Mann von Anfang an verpflichtet, daß er die Kinder füttert, und wickelt, und badet, weil sie einfach nicht da war. Vielleicht hätte ich das auch machen sollen, aber da hätten mir die Kinder erbarmt.

5. Protokoll des Treffens der Selbsthilfegruppe, am 30.04.1997

Heute, Mittwoch den 30. April, hat Frau Steger wieder ein offenes Ohr für Fragen betroffener Mütter. Frau Blau bringt die geliehenen Bücher zurück, sie scheint sichtlich erleichtert zu sein, zumal sie sich die Ratschläge sehr zu Herzen genommen hat.

Der heutige Termin ist für eine junge Frau reserviert. Meine Anwesenheit stört sie nicht.

Sie verzweifelt mit ihrem dreijährigen Sohn. Bevor sie den Jungen beschreibt, betont sie, daß die Familie weder einen Wohnungswechsel hinter sich hat, noch daß es Partnerprobleme gibt. Die Mutter ist nicht berufstätig, deshalb ist sie immer zu Hause bei ihren beiden Kindern.

Der Junge ist für seine drei Jahre sehr groß. Er kann überhaupt nicht ruhig sitzen; er braucht immer "action". Er war immer schon extrem beweglich. Andere sagten zur Mutter, "der Junge sei kein typisches Baby". "Er kann nicht normal gehen, immer hüpft, springt oder tänzelt er; alle drei Meter fällt er hin." Auch kennt er keine Gefahren, er macht immer wieder dasselbe. Dauernd wirft er Stühle um, stupst Leute an und kein Bild ist vor ihm sicher. Er schaut aber gar nicht nach, was er angestellt hat. In der Nacht ist der Junge oft unruhig. An seinen Nägeln beißt er, bis die Finger bluten. Er hat überhaupt keine Geduld und rennt von einem Spiel zum anderen. "Immer muß er mit seinen Füßen herumhauen, und das geht so ganz nebenher." Es hilft nichts, wenn die Mutter ihm gut zuredet, es hilft aber auch nichts, wenn sie schimpft.

Frau Steger fragt nach, wie sich die Mutter in solch prekären Situationen verhält. Diese erzählt, daß sie den Jungen auffordere, die Situation wieder in Ordnung zu bringen, eben beispielsweise den Stuhl wieder aufzustellen.

Auf die Aussage hin, der Junge habe auch Probleme mit dem Reden, da er keine vollständigen Sätze sprechen könne, empfiehlt Frau Steger, einen Kinderarzt zu konsultieren, um festzustellen, ob es organische Gründe für das Verhalten des Kindes gibt. Zudem schlägt Frau Steger vor, einen HNO-Test zu machen. Die Mutter ist zunächst jedoch überzeugt, daß das Gehör des Kindes in Ordnung ist. Erst nachdem sich Frau Steger informiert, ob er auf das Rufen vielleicht oft nicht reagiere, fällt der Mutter auf, daß er das oft nicht hört. Frau Steger weist auf die Wichtigkeit hin, diese Dinge zunächst abzuklären.

Das Hauptproblem der Mutter ist, daß sie sich total abkapselt. Sie ist nicht gern im Mittelpunkt, aber ihr Kind bringt sie immer wieder in solche Situationen. Aus Angst, der Junge könnte etwas anstellen, mied sie bisher sogar die Treffen beim Kinderarzt. Sie weiß sich nicht mehr zu helfen, da er so "wild und unberechenbar" ist. Die Frau berichtet, daß sie immer in Spannung ist, und daß sie dann oft schreit. Die ständige Unruhe macht sie total nervös. Sie ist schon so weit, daß sie auf ihre beiden Kinder nicht mehr eingeht. Sie weiß nicht mehr, was sie übersehen soll und kann und was nicht. Der einzige "Lichtblick" ist, daß er in den Kindergarten kommt. Ihren Mann möchte sie nicht dauernd belästigen, da er den Kopf voll hat, wenn er abends nach Hause kommt.

Während des Treffens mit Frau Steger ist der Junge in der Krabbelstube. Dort ist er sehr aufgeschlossen und verhält sich auch gar nicht so auffällig. Große Gruppen sind für ihn kein Problem, "denn je größer, je lauter, desto wohler fühlt er sich". Frau Steger betont die Wichtigkeit, daß die Frau schauen müsse, daß es ihr besser ginge. Sie soll versuchen in der Zeit, in der der Junge in der Krabbelstube ist, Energie aufzutanken. Frau Steger spricht außerdem von der Wichtigkeit der Grenzen; auch Blick- und Körperkontakt empfiehlt sie der verzweifelten Mutter. Sie schlägt auch vor, den Jungen zu kleinen Hilfeleistungen heranzuziehen, damit er nichts negatives machen muß, um aufzufallen. Auch bietet sie der Mutter diverse Bücher über hyperaktives Verhalten an, diese lehnt das Angebot jedoch ab, da sie sich nicht auch noch während ihrer freien Zeit mit dem Thema auseinandersetzen möchte.

Frau Steger und die betroffene Mutter wollen weiterhin in Kontakt bleiben, um auch die Ergebnisse der Untersuchungen auszutauschen. Die Mutter hat sich aber in den kommenden Monaten nicht gemeldet.

7.Interview mit Frau Gelb, am 14.05.1997

Tochter Jasmin, 18 Jahre alt

Vielleicht beginnen wir damit, daß Sie mir einfach etwas über die Schwierigkeiten Ihrer Adoptivtochter erzählen. Was sind beziehungsweise waren es für Schwierigkeiten, wann haben sie begonnen, und wie haben sie sich entwickelt?

G.: Ja, also gemerkt habe ich es schon wie ich sie das erste Mal gesehen hab im Kinderheim - da war sie ein Jahr alt - da sie auffallend unruhig war, daß sie dauernd hin und her ist, und sich auf keine Sache konzentriert hat, einen hat auch nicht anschauen können, immer wieder in die Ecke und in jene Ecke geschaut. Dann haben wir sie ab und zu am Wochenende mit heim genommen, da ist mir das verstärkt bewußt geworden, daß sie eben irgend eine Störung haben muß. Aber ich hab das zunächst, weil ich ja von Hyperaktivität nichts gewußt hab, darauf zurückgeführt, daß sie halt ein Heimkind ist, und einige Defizite sicher dadurch hat. Und hab mir dann gedacht, wenn sie mal länger in der Familie ist, wird sie sicher ruhiger werden. Und hab dann eben gefragt, ob ich sie vielleicht in Pflege nehmen könnte. Da war aber die Mutter dagegen zunächst. Und erst ein halbes Jahr später hat die Mutter dann eingewilligt, nachdem sie nochmals mit der Schwester gesprochen hat - im Kinderheim - , daß sie sie in Pflege gibt. Ich hab das dann erfahren, daß sie sie jetzt in Pflege gibt und bin sofort ins Kinderheim gegangen, und die Schwester hat gesagt, daß ich sie in Pflege nehmen kann, weil sie schon oft bei uns war, und schon ein bißchen eingewöhnt war. Und ich habe sie dann mit eineinhalb Jahren aus dem Heim geholt. Ich kann mich noch erinnern, wie ich sie da auf dem Arm gehabt hab. Ich wollte sie ein bißchen auf dem Arm halten, ein bißchen an mich lehnen, und das war schon gar nicht möglich, weil sie ständig irgend etwas gesehen hat, die Lampe, und hat dann raufgreifen wollen; und ist man beim Vorhang vorbeigegangen, hat sie den Vorhang genommen. Und es war eine so ständige Unruhe, daß man überhaupt keinen wirklichen Kontakt gefunden hat zum Kind. Natürlich habe ich mir weiterhin gedacht, jetzt kommt sie ja in eine Familie, dann wird sie sich wohl fühlen, dann wird alles besser. Das war dann so, ich hab noch vier größere Töchter, wir haben uns alle um sie gekümmert, jeder war lieb und nett zu ihr. Jeder hat gewußt, sie war jetzt eineinhalb Jahre im Heim und braucht viel Liebe, und jeder hat sich ihr mit Liebe zugewandt. Das war auch so - wie kann man sagen - ein liebes Kind, nur eben ganz unruhig und in Teilbereichen schwierig, sagen wir beim Essen. Sie wollte manchmal einfach überhaupt nicht essen. Das war ihr zu fad, oder sie hat einen Bissen gegessen und ist dann wieder weggelaufen. Und dann haben wir gesagt, manche Kinder sind einfach so, zum Beispiel er da (Enkelkind, das spielt). Und der von meiner ältesten Tochter ist auch so einer. Dem ist es zu fad zum Essen. Das nimmt man dann nicht so tragisch. Das war halt ein Problem. Mit dem Schlafen hatten wir anfangs überhaupt keine Probleme, das war sie vom Kinderheim gewöhnt. Da war halt zu einer gewissen Zeit Schlafenszeit, und dann hat sie geschlafen. Das ist erst später ein bißchen schwieriger geworden, wo sie dann größer war und einfach wieder aufgestanden ist, und einfach nicht mehr ins Bett gegangen ist; wenn man sie hingelegt hat wieder aufgestanden ist. Und da ist sie oft sehr lange aufgewesen. Man kann ja ein Kind nicht fesseln. Wenn man sie zehn mal ins Bett legt, und sie steht zehn mal wieder auf, da kann man ihr was vorlesen, oder sich ein bißchen zu ihr legen und sie beruhigen, weil sie aufgeregt ist oder was. Aber wenn sie dann wieder aufsteht, dann kann man auch nichts machen; also, das war dann auch ein Problem. Mit dem Sauberwerden haben wir eigentlich kaum Probleme gehabt, außer daß sie sich eine Zeitlang geweigert hat, auf den Topf zu gehen. Sie hätte es dann schon im Griff gehabt, aber sie wollte einfach nicht. Das hat sich dann aber auch gelegt, und sie ist eigentlich mit zweieinhalb Jahren sauber gewesen - und dann find ich das schon unproblematisch. Ja, weiter ist es gegangen, immer ein bißchen schwierig, also man hat nicht gut irgendwo mit ihr hingehen können, weil sie oft irgend etwas gesehen hat, was sie haben wollte oder tun wollte, und wenn das nicht möglich war - man hat versucht, sie daran zu hindern - dann hat sie sich auf den Boden gelegt und gekreischt. Ja, da sagt man dann wieder: gut, Trotzphase. Ja, das in dem Alter, da haben manche Kinder, daß sie extreme Trotzphasen haben, nur hat das bei ihr überhaupt nie aufgehört. Also das ist mit drei, vier, fünf Jahren immer noch das gleiche gewesen, aber sie hat da so enorm geschrien, daß man es ganz weit gehört hat, daß man gemeint hat, es passiert dem Kind weiß Gott was, sie hat so fürchterlich geschrien. Ich weiß noch, einmal wollte ich mir was kaufen, und hab sie mitgenommen in das Geschäft, und sie wollte ständig die ganzen Regale ausräumen, und das ist nicht gegangen. Und dann hat mir die Verkäuferin was gezeigt, und ich hab sie dann halten müssen, damit sie nicht alles ausräumt, und mein Mann wollte mich im Geschäft abholen. Und dadurch, daß ich sie gehalten habe, hat sie derart gekreischt, daß mein Mann sie schon ganz am Ende der Straße schreien gehört hat. Irgendwo oben war das Geschäft, und er hat genau gewußt, aha, da sind sie drinnen. Nur weil ich sie gehalten hab, damit sie nicht die ganzen Regale ausräumt. Und so war es einfach mit allem. Auch wenn man mit ihr irgendwo spaziert ist, man hat aufpassen müssen. Sie hat eine Zeitlang so ein Geschirr gehabt mit einer Leine, weil sie ständig irgendwo rechts, links weg, und an der Hand wollte sie auch nicht. Spazierengehen mit ihr war ganz schwierig. Im Wagen wollte sie dann auch nicht mehr sitzen, sobald sie ein bißchen größer war. Man mußte sie immer halten, damit sie keinen Unfug macht, und sich nicht selber verletzt. Und das Halten andererseits hat sie wieder gar nicht ausgehalten. Es war dann so, daß von meinen Kindern nur noch eine war, die mit ihr fertig geworden ist, weil es einfach immer schwieriger geworden ist, je größer sie war, je mehr Kraft sie auch gehabt hat, je schneller sie weg war und so. Und die hat sich dann überhaupt sehr intensiv und liebevoll mit ihr befaßt und auch mehr Geduld gehabt als ich. Für mich war es doch das fünfte Kind, und jung war ich auch nicht mehr. Und der hab ich sie dann manchmal ein bißchen überlassen können, sodaß ich auch zwischendurch mal hab aufatmen können. Ansonsten war es einfach den ganzen Tag ein Streß, man war einfach immer beschäftigt mit dem Kind. Es haben sie trotzdem alle gern gehabt und haben versucht, das Beste daraus zu machen. In den Kindergarten habe ich sie dann schon zum frühstmöglichen Zeitpunkt gegeben, weil sie ja selber nur sehr viel ältere Geschwister hatte, also meine Kinder waren damals zwischen fünfzehn und zehn Jahre alt, und sie war ganz klein. Ja, wie sie drei Jahre alt war, waren sie schon zwischen achtzehn und dreizehn. Die älteste Schwester sozusagen war ziemlich älter als sie. Dann habe ich mir gedacht, daß sie mehr unter Gleichaltrigen ist, gebe ich sie möglichst bald in den Kindergarten. Und vielleicht lernt sie da auch ein bißchen das soziale Verhalten, was zu Hause überhaupt nicht funktioniert hat. Das war natürlich dann im Kindergarten für die Tanten auch sehr schwierig. Solange sie sehr klein war, hat man es akzeptiert im Kindergarten. Aber im Laufe der Zeit haben die Tanten dann auch erwartet, daß sie sich einfügt und ähnliches, und das hat sie einfach nicht fertiggebracht. Das ist nicht gegangen, wenn sie was einräumen hätte sollen, schon den guten Willen gezeigt, ein Stückl genommen, dann hat ihr das aber gefallen und hat damit angefangen zu spielen. Sie hat es einfach sofort wieder vergessen. So ist es auch gegangen, wenn sie sich selber hätte anziehen oder ausziehen sollen. Da hat sie schon angefangen, oftmals mit der Strumpfhose, mit einem Bein war sie drinnen, dann hat sie irgendein Spielzeug entdeckt und ist dahin gegangen und hat ein Buch rausgeholt und ist dann mit der halb angezogenen Strumpfhose herumgelaufen, das hat sie gar nicht mehr beachtet. Das hat sie einfach vergessen. Sie hat sich also nicht auf eine Sache konzentrieren können, das ist mir dann schon klar geworden. Und ich hab dann herumgerätselt, was das sein könnte, da hat mir aber auch niemand sagen können, was das sein könnte. Mein Gott, jeder hat gesagt, auch die Ärzte haben gesagt, sie ist halt recht unruhig und die eineinhalb Jahre im Heim spielen sicher auch eine Rolle, und wie war denn die Mutter. Da habe ich gesagt, die war auch sehr unruhig. Ja, mein Gott, dann hat sie das halt geerbt. Und mir war schon klar, irgend etwas Besonderes muß da sein, weil sonst kein Kind, dem man so viel Zuwendung gibt, und mit dem man so versucht, es auch einmal auf eine Sache zu konzentrieren, und immer wieder in Ruhe alles macht, und daß es trotzdem so überhaupt nicht geht. Ich habe mir gedacht, irgend etwas muß sein, aber ich habe doch nicht gewußt was. Das letzte Kindergartenjahr ist sie dann überhaupt nicht hingegangen, weil sie dort massive Schwierigkeiten gehabt hat, weil die Tanten dann angefangen haben, mit ihr zu schimpfen; natürlich, alle anderen Kinder waren scheinbar ..., da war kein hyperaktives, sie haben darüber auch nichts gewußt. Das ist jetzt auch schon - sie ist jetzt achtzehn - schon ziemlich lange her. Da haben die Tanten das auch noch nicht gewußt, was das sein kann, und da waren dann zuletzt die Schwierigkeiten so groß, daß sie gar nicht mehr hingehen wollte in den Kindergarten. Und die Tanten haben dann nichts weiter gesagt, die waren, glaube ich, ganz froh, daß sie nicht mehr gekommen ist. Ich habe sie dann das letzte Kindergartenjahr zu Hause gehabt, hab dann wieder relativ viel selber mit ihr unternommen. Das hat ihr, glaube ich, recht gut getan, weil ich dann viel spazieren gegangen bin mit ihr. Ich hab gemerkt in der Natur, und wo sie so richtig laufen kann, und sich körperlich mehr austoben, da ist es besser. Wenn sie die Möglichkeit hat, sich richtig auszutoben und anzustrengen, überhaupt nach großer Anstrengung, wenn sie da ein bißchen erschöpft war, dann war sie ruhiger und dann war es leichter, irgendwas zu tun, oder auch nur ein Gespräch zu führen, ohne daß sie gleich wieder weggelaufen ist. Und das hab ich dann auch sehr viel gemacht mit ihr, ich bin dann auch ins Hallenbad schwimmen gegangen mit ihr. Dort hat sie in kurzer Zeit, und von alleine schwimmen gelernt, weil sie sich einfach gern bewegt hat. Und da war meistens irgendwo so ein Schwimmkurs, und da hat sie dann zugeschaut, was der Lehrer so gesagt hat, und was die Kinder so gemacht haben, und hat das ganz für sich probiert. Und auf einmal ist sie ins Große reingegangen und hat gesagt: "Mutti, ich kann schwimmen." Und es ist wirklich gegangen, es war ganz erstaunlich. Ich hab gemerkt, sie hat große Fähigkeiten, ich hab auch so gemerkt, daß sie sehr intelligent ist, aber das gar nicht herauskommt, weil sie einfach nicht bei einer Sache bleibt. Dann natürlich in der Schule ist das Problem ganz massiv geworden, da hätt sie auf ihrer Bank eine dreiviertel Stunde still sitzen sollen, das war ihr natürlich völlig unmöglich. Erst hat sie einmal versucht, einfach in der Klasse herumzugehen, und ein paarmal in die Hand zu nehmen, was da rumliegt. Sie hat halt nur gestört, sie hat dann einen sehr verständnisvollen Lehrer gehabt, es war damals der Direktor von der Schule. Ich bin natürlich sofort mit ihm in Kontakt gewesen, hab ihm erzählt, was los ist mit ihr, und der hat wirklich Geduld gehabt.

Bevor sie in die Schule kam?

G.: Ja, sofort am Anfang, sagen wir die ersten zwei, drei Wochen. Weil ich hab ja dann gesehen, als sie die Lernhefte heim gebracht hat, daß sie überhaupt nichts geschrieben hat. Und bin dann sofort hingegangen und hab ein bißchen mit ihm gesprochen und war sehr froh, daß ich einen sehr geduldigen Menschen erwischt hab, der auch nicht gewußt hat, was das für ein Syndrom ist, aber der mit Liebe und Geduld versucht hat, und mir dann immer berichtet hat, was los ist. Also, er hat gesagt, sie geht immer nur herum, und wenn sie dann zu sehr gestört hat, dann muß er sie rausschicken. Das findet sie aber nur ganz lustig, da geht sie draußen herum, und in andere Klassen hinein, und alles mögliche. Das hat sie nicht weiter gestört. Wenn sie in der Klasse war, und er hat gesagt, sie muß jetzt auf ihren Platz bleiben, dann ist sie kurz gesessen, hat aber nicht mitgearbeitet, ist dann einmal unter den Tisch gekrochen. Mit der Zeit ist es aber dann so schwierig geworden, weil sie gemerkt hat, da wird jetzt etwas von mir erwartet, was ich nicht bringen kann. Sie sieht da zwanzig Kinder, die das können, die da sitzen und schreiben und alles mögliche tun, und ihr war das einfach nicht möglich. Und das hat sie dann schon sehr frustriert. Dann ist sie auch aggressiv geworden, weil sie einfach so verwirrt war, weil ihr das nicht gelingt. Sie hat dann manchmal, wenn sie in der Schule unter ihren Tisch gesessen ist - hat mir der Lehrer dann gesagt - angefangen, Papier zu essen und alle möglichen auffälligen Sachen halt. Und es war dann so, damit sie in der Schule mitkommt, habe ich dann versucht, zu Hause mit ihr das zu lernen. Ich habe mir dann immer vom Schulkollegen das Heftl ausgeliehen und hab mich dann nachmittags mit ihr hingesetzt und hab das dann eben zu Hause mit ihr gemacht, was in der Schule war, damit sie ein bißchen mitkommt. Und sie ist dann wenigstens ein bißchen mitgekommen, so ist das die ersten zwei Jahre gegangen. Sie hat natürlich nicht den Stand gehabt von den anderen, aber sie hat einigermaßen was schreiben können. Die Schrift war natürlich sehr, sehr schlecht, aber sie hat es verstanden, und sie hat dann auch ein bißchen lesen können, wobei ihr das Lautlesen sehr schwergefallen ist, und heute noch schwerfällt, jetzt mit achtzehn Jahren noch. Also laut lesen ist für sie immer noch ein Problem. Nach eineinhalb Schuljahren hat mich eine Tochter einmal angerufen und hat gesagt: "Du, ich hab in der Elternzeitschrift einen Artikel gelesen - Zappelphilipp, oder wie das geheißen hat - und da ist ein Kind geschildert, ich hab gedacht, ich träum. Ganz, ganz genau wie die Jasmin, aber so genau, daß es fast unwahrscheinlich ist, das muß ganz was Bestimmtes sein. Und es steht auch allerhand drinnen. Ich bring dir die Zeitung." Und ich hab das dann gelesen und war dann erst einmal ganz befreit zu wissen, daß da jetzt irgendwo nicht wir schuld sind, oder daß sie geisteskrank ist oder so irgendwas, sondern daß das einfach ein Syndrom ist. Da war ich erst einmal ganz befreit, und dann hab ich mir gedacht, was tun? Da standen dann einige Adressen von Ärzten, die sich damit befassen, oder stand da vielleicht nur die eine, das weiß ich jetzt nicht mehr, auf alle Fälle stand da der Doktor Eichelseder in München - haben Sie schon davon gehört?

Ja, ich kenn den Titel seines Buch "Unkonzentriertes Kind" oder so, ich hab es aber nicht gelesen.

G.: Aber was er da an Symptomen schildert ist total aktuell, muß ich sagen. Ich hab es jetzt danach auch noch einmal gelesen, er hat das ganz richtig gesehen, nur er selber ist jetzt, glaube ich, in Pension. Und er war auch jetzt die letzte Zeit, wenn wir ihn besucht haben, schon ein bißchen abwesend. Ich weiß nicht, hat er Alzheimer gehabt oder was, er ist ganz schwierig geworden. Jedenfalls, dort am Anfang hab ich gleich einmal gesagt, ich fahr dahin zu dem Doktor, weil, ich brauch jetzt irgendwas, ich weiß nicht mehr, was ich tun soll mit dem Kind.

Waren Sie vorher schon beim Kinderarzt?

G.: Ja, das Interessante war, ich war da hier in Innsbruck bei einem Kinderarzt, also zuerst bei einem normalen, der sich keinen Rat gewußt hat, dann bin ich zu einem gegangen, der nur Privatpatienten hat, weil ich gehört hab, der sei halt so besonders gut. Und bin dann dort hingekommen, und hab von dem erfahren, daß er selber ein hyperaktives adoptiertes Kind hat. Und daß er da auch selber bei seinem Kind andere alternative Methoden, Homöopathie und alles mögliche, ausprobiert hat, kein Erfolg, es ist alles noch beim alten. Und der ist selber auch zum Doktor Eichelseder gegangen. Dann hab ich mir gedacht, wenn der keinen anderen Weg weiß, dann ist das sicher nicht falsch. Nein, das hab ich jetzt falsch erzählt, ich hab dann die Adresse, und daß er dieses Kind hat, über den Doktor Eichels-eder eigentlich erfahren. Ich war dann schon vorher in München beim Doktor Eichelseder, der hat sie getestet, und hat dann gesagt, er ist viel in Amerika gewesen, wo man schon länger darüber Bescheid weiß, und hat das alles studiert. Und er hat eben gesehen, daß der einzige, wirkliche Erfolg bei sehr hyperaktiven Kindern eben die Behandlung mit Amphetaminen ist. Das hat mich natürlich am Anfang ein bißchen erschreckt, um Gottes Willen, Drogen und so weiter. Und dann hat er gesagt: "Nein, in Amerika haben sie schon Langzeitstudien, daß diese hyperaktiven Kinder erstens einmal überhaupt nicht süchtig werden, sondern im Gegenteil." Wenn sie größer sind - und das habe ich auch jetzt gemerkt - versuchen sie eher, es wegzulassen, weil sie sich da irgendwie ein bißchen freier fühlen. Es bewirkt bei den hyperaktiven Kindern einfach nur, daß sie sich besser konzentrieren können. Und in dem Moment, wo sie sich konzentrieren können, werden sie ruhiger, dann sind sie nicht mehr so unruhig, dann können sie was schaffen, dann sehen sie auch, daß sie was schaffen können, kriegen Zutrauen zu sich selber, werden noch einmal ruhiger, zufriedener und werden fast normale Kinder im Verhalten, einfach, weil sie plötzlich das können, was andere auch können. Und vorher wollten sie es wohl, aber sie haben es einfach nicht können durch diese ungeheure Störung in der Konzentration.

Und Nebenwirkungen gab es da keine?

G.: Überhaupt nicht, im Gegenteil. Die Schlafstörungen, die sie hatte, waren eigentlich nur Einschlafstörungen, einfach hervorgerufen dadurch, weil sie immer aktiv war. Und jetzt, wo sie sich konzentrieren konnte, und ich ihr gesagt habe: "Jetzt lesen wir noch dies, und dann legst du dich hin, und dann ist Schlafenszeit", dann hat sie das auch mal eingesehen und hat mir zugehört, wenn ich mal was gesagt habe. Wenn ich ihr gesagt hab: "Sonst bist du morgen ja ganz müde, und wir wollen morgen ja einen Ausflug machen", das war das erste Mal, daß sie mir überhaupt richtig zugehört hat. Weil sonst ist sie im halben Satz schon wieder weggelaufen. Und dadurch ist sie dann auch liegengeblieben. Und dann hatten wir diese Einschlafstörungen nicht mehr. Das Gegenteil, was man eigentlich glaubt vom Amphetamin war eigentlich der Fall. Ich hab nicht eine einzige negative Wirkung bemerkt. Und ich muß sagen, sie nimmt sie jetzt noch, uns sie ist jetzt achtzehn Jahre und benimmt sich wie eine Fünfzehnjährige. Sie ist schon so ein bißchen kindischer. Aber wenn ich jetzt das Medikament weglasse, dann ist sie wieder extrem zappeliger und unkonzentrierter und kindischer. Also sie tut danach wie eine Sechsjährige. Sie ist unheimlich laut, redet ununterbrochen, sie hat schon wieder schwerere Verhaltensstörungen, wenn ich das weglasse. Ich hab sie auch immer wieder klinisch untersuchen lassen, körperlich, ob sie irgendwelche Nebenwirkungen zeigt, ob sie gesund ist - Blutuntersuchungen und alles mögliche - es war immer alles in Ordnung. Also sie ist völlig gesund, und sie nimmt es weiter.

Und wie heißt das Medikament ganz genau?

G.: DL Amphetamine. Sie hat 0,005 g Kapseln. Ich hab das anfangs nur in Deutschland bekommen und kriegs jetzt auch in Innsbruck. Das sind Kapseln, also wo sie mir das auch sehr gut mischen, damit auch nur ganz wenig drin ist in jeder. Und dann nimmt sie in der Früh zwei, mittags meistens nur eine, manchmal auch gar keine, das geht dann schon, aber wenn sie in der Früh gar keine hat, ist es schon schwierig. Und ich muß ihr da helfen, weil sie in der Schule trotz allem immer noch Schwierigkeiten hat.

Was besucht sie jetzt für eine Schule?

G.: Sie ist nach der Volksschule zunächst einmal in die Hauptschule gegangen, weil ich mich wegen ihrer Schwierigkeiten nicht getraut habe - trotz der Intelligenz - sie gleich ins Gymnasium zu schicken. Sie hat sich dort aber überhaupt nicht wohl gefühlt, da hat's dann vom Verhalten her ganz große Probleme gegeben. Irgendwann ist sie dann so zum Sündenbock geworden, dann sind sie alle bös gewesen mit ihr; das passiert meistens mit hyperaktiven Kindern. Und es ist trotz Medikamenten passiert. Es ist dann so ausgeartet, daß die Kinder so bös waren mit ihr, daß ich mir überlegt hab, sie irgendwo anders hinzugeben. Ich habe mir aber gedacht, in einer anderen Hauptschule wird es bald genauso sein, vielleicht ist es in einem Gymnasium besser, wo das ganze nicht so auf brutale, ordinäre Weise abläuft. Weil sie mir erzählt hat, was die Kinder teilweise so mit ihr gesagt haben, das war so häßlich teilweise, daß ich mich oft gewundert habe, wie sie den Mut aufbringt, überhaupt noch in die Schule zu gehen. Das war ganz, ganz schlimm, ich hab sogar mit dem Lehrer gesprochen, ich hab sogar mit der Klasse gesprochen. Da war es vierzehn Tage ein bißchen besser, und dann war alles wieder beim alten. Also es hilft im Grunde gar nichts. In der Nachbarschaft haben wir ein Mädchen, das bei den Ursulinen ins Gymnasium geht, dann hab ich mir angeschaut, was die da so machen, und hab mir gedacht, von der Leistung würde sie das schaffen, und hab sie dann bei den Ursulinen angemeldet. Sie hat dann allerdings die zweite Klasse noch einmal gemacht, sie hat die zweite Klasse Hauptschule gemacht, dann die zweite Klasse Ursulinen, hat die aber mit gutem Erfolg abgeschlossen und hat dann bis zur vierten Klasse bei den Ursulinen das Gymnasium gemacht, dann wollt sie dort aber nicht bleiben, da hat das dann auch schon wieder ein bißchen angefangen - nicht die ganze Klasse - da hatte sie dann schon ein paar, die zu ihr gehalten hätten, aber andere in der Klasse haben sie dann wieder sehr traktiert. Die haben sie echt auch körperlich traktiert, zum Beispiel in einem Unterricht, wo hinter ihr die Bank ein bißchen frei war, daß sie ihr ständig den Rücken gestupst haben, richtig weh getan auch. Dann hab ich sie in Volders im Gymnasium angemeldet, im biologischen Zweig, und dort geht sie jetzt in die sechste Klasse. Es ist nicht unproblematisch, muß ich schon sagen. Aber ich bin wahnsinnig froh, daß sie überhaupt so weit gekommen ist. Denn so wie das am Anfang ausgeschaut hat, habe ich gedacht, sie muß in die Sonderschule gehen, weil sie hätte die Volksschule ohne Medikament überhaupt nicht geschafft. Es war in der Hauptschule auch so, daß sie ein bißchen verhaltensauffällig war, und natürlich auch zornig geworden ist, wenn sie gesehen hat, daß die anderen alle gegen sie sind und so, daß mir der Hauptschuldirektor geraten hat, ich soll sie in die Sonderschule geben, und das wollte ich ihr natürlich überhaupt nicht antun, weil sie ja voll intelligent war. Und aus dem Grund bin ich jetzt wirklich froh, daß sie jetzt so weit ist. Nur, natürlich, auch dort gibt es Schwierigkeiten, sie hat keine gute ARBEITSHALTUNG. Es gibt faule Kinder, die lernen nur, wenn's sein muß. Bei ihr kommt aber noch das Verhalten dazu, sodaß das die Lehrer noch um so mehr ärgert, wenn sie nichts tut, und daß das dann natürlich gleich große Schwierigkeiten sind.

Aber sagen wir einmal, die üblichen Schulleistungen hat sie erfüllt?

G.: Ja, die fünfte Klasse ist sie durchgekommen ohne allzu große Probleme. Jetzt ist sie in der sechsten, sie hat im Halbjahr nur in Latein einen Fünfer gehabt, was aber nicht sehr gravierend war, weil da haben sie einen Lehrer gehabt, gegen den jetzt sowieso die ganzen Eltern vorgegangen sind, weil der so unmöglich war. Und sie hat eigentlich den Fünfer nicht verdient gehabt, drum finde ich das eigentlich nicht so schlimm. Jetzt hat sie allerdings in Mathematik auch einen Fünfer geschrieben. Ich weiß, daß sie überhaupt nichts getan hat, also es ist nur das. Es ist sehr schwierig, ein achtzehnjähriges Kind zu kontrollieren und zu sagen: "Das mußt du mir jetzt zeigen", und dann sagt sie: "Das mach ich alleine, ich hab das im Griff", und ähnliches. Also es ist jetzt für mich immer schwieriger, sie zu kontrollieren, und dadurch macht sie sehr viel alleine und sehr viel alleine nicht. Jetzt hab ich blöderweise auch grad einen Brief gekriegt, daß sie in Biologie auch auf nicht genügend steht, wobei sie in den Lernfächern immer hervorragend war, weil sie aufgepaßt hat. Sie hat wohl nicht gelernt, aber sie hat ein unheimliches Merkvermögen, ganz unheimlich. Und wenn sie aufpaßt, dann kommt sie immer durch. Entweder sie hat jetzt nicht aufgepaßt, oder er wollte doch mehr als das, was so hängengeblieben ist. Auf alle Fälle steht sie jetzt da auf nicht genügend, da muß ich nächste Woche in die Sprechstunde gehen, und da wird er mir wahrscheinlich sagen, sie hätte das und das machen sollen und bringt das nicht. Und die Probleme haben wir halt immer. Voriges Jahr hat mich mal der Deutschlehrer in die Schule gerufen und gesagt, seit zwei Monaten sagt er ihr, sie muß ihre Aufgabenmappe bringen, und sie bringt sie einfach nicht. Und dann hab ich sie gefragt: "Warum bringst du das nicht?", und dann sind wir dahintergekommen, daß sie sie überhaupt nicht gehabt hat. Und dann hat sie dann angefangen, zusammenzuschreiben - innerhalb einer Woche - was möglich war. Und dann ist sie dann auch so, dann vergißt sie das wirklich wieder. Dann soll sie ihm das bringen, dann kommt sie von der Schule, dann sag ich: "Hast du's ihm gegeben?", dann sagt sie: "Hab ich vergessen." Es ist schon aufregend mit ihr, auch jetzt noch. Wenn sie dann endlich was hat, dann vergißt sie's zu geben. Oder auch das erst vom Biologiefünfer, das hätte sie mir auch schon früher bringen sollen. Das bringt sie mir einen Monat zu spät, wo er dann gesagt hat: "Was ist los, warum kommt deine Mutter nicht?" Und so geht das halt.

Und wie funktioniert die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Lehrern, und ganz allgemein, zwischen Eltern und Ärzten, oder zwischen Ärzten und Lehrern?

G.: Also Ärzte und Lehrer haben eigentlich wenig Kontakt, muß ich sagen. Zwischen den Ärzten und der Jasmin geht es eigentlich recht gut, obwohl die Ärzte von ihrem Verhalten nicht viel mitbekommen, weil sie ja nicht als hyperaktives Kind in Behandlung ist. Zum Doktor Eichelseder fahren wir nicht mehr seit er eben zuletzt entweder senil ist oder Alzheimer hat, ich weiß es nicht. Auf alle Fälle, er hat dann so seltsam reagiert, und auch die Frau von dem Kinderarzt hat das gesagt. Er ist irgendwie komisch geworden. Und hier in Innsbruck weiß ich keinen Arzt, der sich wirklich auskennt mit hyperaktiven Kindern und andererseits denk ich mir, es kann ein Arzt auch gar nicht mehr Erfahrung haben mit so einem Kind als ich selber. Ich seh selber was los ist, und was ich tun kann, und was speziell für das Kind schlecht oder gut ist, sodaß sie eigentlich nur körperlich - wenn sie was hat - beim Arzt ist. Sie ist körperlich so weit gesund.

Und eine Therapie in Form einer Spieltherapie oder Verhaltenstherapie, hat Jasmin so etwas gemacht?

G.: Sie hat in der Klinik a Zeit lang Therapie gehabt. Sie war sogar einmal drei Monate in der psychologischen Ambulanz, also zuerst in der Ambulanz, und dann drei Monate stationär, und da ist überhaupt nichts weitergegangen, im Gegenteil, das war eher ein Rückschritt, weil die dort gesagt haben, wir müssen das ohne Medikamente in den Griff bekommen. Da war sie dann drei Monate stationär und ohne Medikament. Sie haben ja dort auch eine Schule, da hat sie mit der Lehrerin nur Krach gehabt. Sie hätt eine Aufgabe machen sollen, da ist der Betreuer - wenn ich mal dort war in der Klinik - zu mir gekommen und hat mich ganz leise gefragt: "Was tun denn Sie, daß sie die Aufgabe macht?" Die sind überhaupt nicht mit ihr zurechtgekommen, überhaupt nicht. Das hat gar nichts gebracht, außer daß sie in der Schule sehr viel versäumt hat. Ich hab sie dann auf das hin, sie war damals in der vierten Klasse Volksschule, da hab ich dann beantragt - sie hat wohl positiv abgeschlossen - aber ich hab gemerkt, daß ihr sehr viel Wissen fehlt, hab ich beantragt, daß sie die vierte Klasse Volksschule noch einmal machen darf wegen längeren Krankenhausaufenthalts, und das durfte sie, und dann hatte sie ein sehr gutes Volksschulzeugnis, einen Zweier, und sonst hatte sie alles Einser in der vierten Volksschule. Deswegen wurde sie auch - mit diesem Zeugnis - bei den Ursulinen genommen. Die wollten das Volksschulzeugnis sehen, und da war ich dann sehr froh, daß sie das gemacht hat. Sie war damals sehr böse, daß sie die Vierte nochmal hat machen müssen, aber heut sieht sie es natürlich auch ein, sonst hätt sie nie in ein Gymnasium gehen können.

Vielleicht kommen wir noch einmal auf die Zusammenarbeit zwischen Lehrern und Eltern zurück. Haben Sie von Seiten der Lehrer Verständnis bekommen?

G.: Ja, in der Volksschule sehr viel Verständnis, aber natürlich auch Verwirrung bei den Lehrern. Die wußten nichts damit anzufangen, mit diesem Syndrom. Sie hatten alle keine Erfahrung mit hyperaktiven Kindern, standen irgendwie a bißchen hilflos davor. Aber sie haben sich bemüht, muß ich sagen, waren nett zu ihr, so viel ich das weiß. Sie haben sie sicher manchmal nicht verstanden. Der Volksschullehrer hat manchmal gesagt: "Ich versteh das nicht, im Turnen, da rast sie herum, wenn sie gar nicht rasen muß. Und dann steht sie da und sagt, oh, bin ich jetzt gelaufen, und sie hätt's gar nicht müssen." Dazwischen würde jetzt noch gehören, jetzt sind wir bei der Schulzeit schon etwas weit. Noch vor der Schulzeit hab ich angefangen zur Erziehungsberatung zu gehen. Wobei ich sagen muß, daß an ihr nicht viel hängengeblieben ist. Nur hat's mir in dem Sinn geholfen, daß man mir immer wieder Mut gemacht hat, und mir auch ganz kleine Erfolge sichtbar gemacht hat. Also da war ein Mann - mir fällt der Name jetzt nicht mehr ein - der immer wieder gesagt hat: "Schauen Sie, das letzte Mal, wo Sie da waren, da hat sie das Spielzeug einfach nicht mehr hergegeben, da haben wir's ihr mit Gewalt entreißen müssen, und sie hat gekreischt. Heut haben sie's ihr aus der Hand genommen, sie hat es zwar doch noch festgehalten, aber es ging schon ohne kreischen." Also, so ganz kleine Fortschritte hat er mir immer wieder gezeigt und immer wieder Mut gemacht. Das war das, was mir dabei geholfen hat, weil sonst - die Umgebung - hat mir eigentlich keinen Mut gemacht. Speziell meine eigene Familie, außer meine eigenen Kinder - meine Kinder schon - aber mein Mann hatte überhaupt kein Verständnis. Ich bin auch mittlerweile geschieden von ihm, der hat das überhaupt nicht wahrhaben wollen, wenn ich gesagt hab: "Das Kind ist weder bös noch dumm, sie hat einfach Schwierigkeiten; und man kann ihr nicht helfen, wenn man sie haut, oder schimpft oder was, das macht's nur schlechter", aber das hat er nicht verstanden. Also, da hab ich dann mit meinem Mann noch Probleme gekriegt, aber die hätt ich sowieso irgendwann mit ihm bekommen. Das war dann vielleicht nur die Sichtbarmachung unserer Probleme, daß es dann da halt ganz schiefgegangen ist. Ja, aber auch so, meine Eltern, die haben das überhaupt nicht verstanden: "Wie kannst du so blöd sein und dich so für das Kind engagieren?"; Nachbarn und so weiter: "Wahnsinnig, wie kannst du nur?" So zum Beispiel wie er (Enkel) jetzt da gespielt hat, das war bei der Jasmin völlig unmöglich. Die hätt höchstens mal die Schachtel komplett ausgeleert, und dann wär sie da drin herumgestiegen, und dann hätt sie was anderes gemacht. Also in Ruhe spielen, das war ihr einfach nicht möglich, auch wenn man sich mit ihr dann hingesetzt hat und so. Dann muß ich auch sagen, die Volksschulzeit, also die ersten eineinhalb Jahre, wo ich da so mit ihr gearbeitet habe, da ist es auch nicht so gegangen, daß ich mich nachmittags mit ihr hingesetzt habe und mit ihr dann geschrieben hätt. Das war dann erst mal so, daß ich gesagt hab: "Jetzt setzen wir uns daher, jetzt probieren wir das", und dann war sie weg. Dann hat sie sich erst einmal im Badezimmer eingeschlossen, und dann haben wir alle Schlüssel verräumt, daß sie das nicht mehr kann, dann hat sie gesagt, sie kann nicht, sie muß jetzt auf dem Klo sitzen. Dann hab ich sie eine Weile sitzen lassen, und wie ich gesehen hab, jetzt kann nichts mehr passieren, dann hab ich sie geholt. Sie hat sich natürlich erst geweigert, und dann hat sie gesagt, sie hat Hunger, und sie hat Durst. Also es hat oft eine Stunde gedauert, bis sie erst am Tisch gesessen ist. Und dann hat sie den Bleistift genommen und hat ihn abgebrochen, dann wollt ich ihn spitzen, oder ihr einen anderen geben. Na, sie muß den jetzt spitzen. Dann hat sie ihn gespitzt, dann ist der Spitzer runtergefallen und alles rausgefallen. Und wie ich das zusammenkehren wollte, nein, das muß sie jetzt zusammenkehren. Also das hat sich hinausgezögert bis zu zwei Stunden, bis überhaupt der erste Strich im Heft war. Es war unheimlich aufreibend immer, und ich hab gemerkt, in dem Moment, wo ich die Geduld verloren hab, und sie vielleicht auch angeschrien hab oder was, oder irgendwas Ungutes gesagt hab, da war's ganz aus. Dann hab ich den Tag abschreiben können. Solange ich die Geduld behalten habe, ist es dann irgendwann soweit gewesen, daß sie einmal einen Strich gemacht hat, oder einen zweiten dazu. Und so haben wir halt die ersten eineinhalb Jahre gearbeitet. Also, das war schon sehr anstrengend, und mir kommt manchmal vor - also jetzt wo sie achtzehn ist - wenn sie dann auch so Blödsinn macht oder so, oder für die Schule überhaupt nichts tut, da habe ich oft dann nicht mehr die Geduld, daß ich sag, na komm Jasmin, schauen wir uns das miteinander an, weil sie will das dann auch gar nicht. Sie tut dann immer so, wie wenn sie alles hätte, und dann verlier ich schon manchmal die Geduld, und straf sie oder schrei sie an. Und ich merk jetzt schon, ich bin jetzt siebenundfünfzig, noch einmal so ein Kind, das würd ich nicht schaffen, also da hätte ich einfach nicht mehr die Nerven. Ich bin froh, daß sie jetzt achtzehn ist, und daß sie sicher einmal selbständig arbeiten muß, auch auf die Gefahr hin, daß zwischendurch wieder mal was schiefläuft, daß sie in der siebten wiederholen muß. Sie ist jetzt ja schon praktisch zwei Jahre hinten mit der Schule, weil sie eben die vierte Volksschule zweimal gemacht hat, und dann von der zweiten Hauptschule in die zweite Gymnasium. Aber ich mein, ein negatives Zeugnis hat sie nie gehabt. Und das finde ich einfach ganz toll, daß es so weit gegangen ist.

Hatten Sie das Gefühl, die Lehrer verstehen die Jasmin und gehen auch auf sie ein?

G.: Ja, zumindest haben sie's versucht. Sie hatten alle den guten Willen, in der Volksschule. Sie haben es versucht, aber sie haben natürlich schneller als ich die Nerven verloren, logisch, weil die haben ja da eine ganze Klasse, wo mehrere unruhige Kinder wahrscheinlich waren, und wenn sie dann dauernd Lärm gemacht hat. Sie waren für das ja alle nicht geschult. Sie haben wirklich alle den guten Willen gehabt, das muß ich sagen. Während jetzt im Gymnasium, da hab ich das Gefühl gehabt, sie ist nicht so auffällig gewesen vom Verhalten her, und wenn sie dann irgendwo nicht mitgetan hat, weil ihr das zu anstrengend oder zu stressig war, dann haben die Lehrer das eigentlich weniger akzeptiert. Und wenn ich gesagt hab, sie ist hyperaktiv oder ähnliches, dann haben sie gesagt, ja, es gibt halt so unruhige Kinder. Also, ich hab nie einen Lehrer erwischt, der wirklich Bescheid wußte. Ich hab dann teilweise auch den Lehrern Unterlagen gebracht darüber, aber das hat auch wenig gebracht. "Ja, sie ist halt zappelig, aber sie muß sich halt zusammenreißen in der Schule." Also, ab der Hauptschule ist es zunehmend schwieriger geworden mit den Lehrern. Ja, ich hab sogar in der Klinik damals, wo ich klarmachen wollte, daß das Amphetamin ihr so unheimlich hilft, kein Verständnis gefunden. Ich hab ihnen dann auch das Buch vom Eichelseder gebracht in die Klinik, die haben das natürlich nicht gelesen. Die haben ihr Wissen gehabt, und haben mich eigentlich nicht ernst genommen. Ich hab damals mit dem Leiter gesprochen in der Klinik und hab ihm das alles geschildert, was ich Ihnen jetzt gesagt hab. Ich kenn sie genau, ich hab alles versucht - wirklich - alles was sie auch jetzt versuchen, und das war ohne Erfolg. Man kann bei ihr überhaupt nur weiterkommen mit Hilfe des Amphetamins. Auch dann ist sie ja noch schwierig. Auch da war sie ja noch so schwierig, daß ich sie in die Klinik gebracht hab. Aber wenn sie jetzt das Amphetamin weggeben, dann können sie mit ihr machen was sie wollen, dann kommen sie nicht weiter. Und das haben sie nach drei Monaten dann auch zugegeben, daß sie mit ihr überhaupt nicht weitergekommen sind. Aber wie ich ihnen das vorher gesagt habe, das haben sie mir nicht geglaubt. Also, ich muß schon sagen, daß vielleicht Ärzte den Müttern zu wenig trauen auf dem Gebiet. Vielleicht manchmal mit Recht, aber andererseits sollten sie vielleicht schon die Ohren ein bißchen weiter aufmachen. Weil, wenn ich jahrelang mit dem Kind arbeite, und wirklich mit viel Geduld arbeite, bei allen Stellen und allen Ärzten war, und alle Literatur gelesen hab, und alles gemacht hab, was nur möglich war, dann müssen sie sich schon erwarten, daß ich ihnen was sagen kann über das Kind. Und das haben sie nicht ernst genommen.

Welche Zuschreibungen sind passiert, ganz allgemein, von den verschiedenen Seiten?

G.: Ja, sicher, also am schlimmsten war eigentlich meine eigene Mutter, die immer gesagt hat, wie kannst du nur, die gehört ja ordentlich verhaut, wirst sehen, die macht dir noch einmal auf dem Kopf und lauter solche Ausdrücke. Und, ich weiß vor allen Dingen, wie sie zu anderen Leuten darüber geredet hat, und ich dann gehört hab: "Na, wie blöd du bist, und das schreckliche Kind" und so weiter. Und ich weiß dann auch von meiner Schwägerin, daß die gesagt hat - wie sie's halt von meinem Bruder gehört hat - das Kind ist nur deshalb so unmöglich, weil die Nadja - das bin ich - ihrem Mann verboten hat, das Kind zu hauen; und die gehört halt einmal ordentlich verprügelt und dann geht es schon. Also, das war so der Tenor rundherum, den ich gekriegt hab. Das war das häufigste eigentlich, die gehört einmal ordentlich verhaut, dann tut sie schon.

Und die verschiedenen Stellen, welche Form der Beurteilung nahmen die vor?

G.: Ja, also bei der Erziehungsberatung damals haben sie gesagt, sie ist halt extrem hyperaktiv, und die haben mir schon gesagt, man muß halt Geduld haben, und noch einmal Geduld, dann wird's schon besser werden. Die haben schon gewußt, daß es eben das hyperaktive Syndrom ist, und haben mir halt Geduld geraten. Konkretes konnten sie mir auch nicht sagen, und das kann man auch nicht. Man kann nicht sagen, mach das mit dem Kind so oder so. Da kann man nur in der jeweiligen Situation reagieren, und halt Geduld haben, und Grenzen setzen, wobei das Einhalten dann ganz, ganz schwierig ist, zum Beispiel mit dem Fernsehen. Die Jasmin ist total fernsehwütig, und wenn ich nicht daheim bin, dann sitzt sie nur vor dem Fernseher, also da bleibt alles liegen, da kann ich sie vorher bitten, um was ich will, auch jetzt. Sie ist früher, das muß ich dazu sagen, viel mit mir auf den Berg gegangen. Das habe ich mir angewöhnt, weil ich gemerkt hab, daß ihr das sehr gut tut. Aber seit sie zwölf Jahr alt ist, mag sie nicht mehr berggehen und geht nicht mehr mit. Jetzt geh ich manchmal am Sonntag allein auf den Berg, und sie ist dann zu Hause und ich sag dann: "Mach wenigstens dein Zimmer und räum den Tisch ab, wenn du was gegessen hast" und so Sachen. Und dann komm ich dann nach Stunden zurück und nix, nix. "Na, das hab ich jetzt ganz vergessen", springt sie dann auf, wobei ich heut - mit achtzehn - nimmer glaub, daß sie's wirklich vergessen hat. Sie nützt es einfach aus, nur fernzusehen, wenn ich nicht da bin. Das sind schon Sachen, wo man sich sagt, mit achtzehn Jahr könnt sie wenigstens eine Kleinigkeit machen; oder auch für die Schule. Wenn ich nicht da bin, dann tut sie einfach nix, gar nix. Ich muß so dahinter sein, und das ist schon schlimm, weil ich mir denk, wenn sie einmal allein was tun müßt, dann würd einfach nix mehr gehen, oder fast nix. Und andererseits, wenn sie aber jetzt von der Schule weggeht, und ich sag, sie soll arbeiten gehen, weil sie nicht lernt; ich denk mir bei der Arbeit wär's ja das gleiche. Die würd ja auch, wenn niemand hinschaut, nichts mehr tun, und da könnt sie kaum a Stelle behalten. Weil sie ist auch so, wenn sie in der Küche was hilft, wenn ich ihr einen tollen Ansporn geb und sag: "So jetzt komm, jetzt machen wir das schnell miteinander, und dann machen wir das" und so. Sie muß ganz was Schönes als Belohnung schon sehen, daß sie sich aufrafft, irgendwas zu tun. Es ist ganz, ganz hart.

Wer hat effektiv die Diagnose gestellt, hyperaktives Kind?

G.: Das war der Doktor Eichelseder in München. Und ich hab's dann in der Erziehungsberatung in Innsbruck aber schon auch bestätigt bekommen, und auch von dem Arzt eben, der selber so ein Kind gehabt hat, der auch gesagt hat, er hat auch wirklich alles probiert, auch mit Homöopathie, und dann hat er so - ich weiß nimmer wie es heißt, das hat er mit der Jasmin auch versucht - Bioresonanz, und was es alles gibt. Und es ändert einfach überhaupt nichts, zumindest bei der Jasmin, und auch bei diesem Kind war das ohne jedes erkennbare Zeichen.

Ja, Eltern berichten eben auch in der Literatur immer wieder vom mühseligen Gang durch die Institutionen, in denen sie eben nicht die erwartete Hilfe bekamen. Wie erging es Ihnen diesbezüglich?

G.: Ich bin dann eigentlich nirgends mehr hingegangen. Ich hab gewußt, sie ist hyperaktiv, und der einzige Rat, den ich bekomme, ist Geduld. Und Geduld versuche ich täglich neu, und einen anderen Rat hab ich eigentlich nicht bekommen. Ich weiß auch nicht, was sie mir hätten raten können, es gibt da kaum einen anderen Rat als Geduld, Geduld, und noch einmal Geduld.

Hatten sie auch oft das Gefühl, von Ärzten, von Therapeuten oder auch von den Beratern nicht ernst genommen zu werden?

G.: Ja, ich muß sagen, der Doktor Eichelseder natürlich, der hat es völlig ernst genommen, in der Erziehungsberatung auch, und sonst bin ich ja wegen der Hyperaktivität mit ihr nirgends mehr hingegangen, weil, wenn ich so zum Hausarzt gegangen bin, dann ging's eigentlich immer nur um körperliche Dinge. Und sie war dann auch nicht mehr so auffällig, daß der Arzt gesagt hätt, was ist los mit ihr oder so. Ich hab mir gedacht, ich hab Literatur, ich hab den Doktor Eichelseder, ich hab die Erziehungsberatung und eben dann auch die Selbsthilfegruppe. Und ich hab nicht das Gefühl gehabt, daß ich irgendwo mehr Hilfe bekommen kann. Und in der Klinik war's ja so, daß sie eben - das habe ich Ihnen gesagt - da bin ich überhaupt nicht ernst genommen worden. Die haben zwar versucht, ihr zu helfen, aber was ich ihnen dazu gesagt habe, haben sie nicht ernst genommen, und daher war auch keine Hilfe möglich.

Und was hat man Ihnen jetzt ganz konkret gesagt, was die Ursache ist, und auf der anderen Seiten, was glauben Sie selber, was die Ursache für dieses Verhalten ist?

G.: Konkret konnte mir das niemand sagen, weil's auch - soviel ich bis jetzt weiß - keine konkreten Ursachen gibt. Es sind oft ganz verschiedene Familien, aus denen diese Kinder kommen. Es muß nicht sein, daß es unruhig ist; wobei mir immer vorgekommen ist, daß zum Beispiel der Doktor Zangerle sehr häufig davon redet, daß eben das Leben heute dazu beiträgt, und vielleicht auch die Unruhe im Elternhaus und ähnliches, wovon ich nichts halte, das muß ich ehrlich sagen. Erstens hab ich mit Müttern geredet, wo ich weiß, da ist alles in Ruhe abgelaufen, und auch aus der Literatur, ein ruhiges Familienhaus, und keinen Streß, und ohne Fernseher. Wir waren auch lang ohne Fernseher, weil ich erstens keine Fernseherin bin und zweitens gedacht hab, fernsehen ist gar nicht gut für die Jasmin. Da sieht sie wieder so viel, was wieder auf sie einwirkt. Wir hatten lange Zeit keinen Fernseher, also sie war acht Jahre, wo ich das erste Mal da einen Fernseher hergestellt hab. Also, sie hat es ruhig gehabt, und nicht stressig, und ihre Geschwister haben Geduld gehabt mit ihr. Also von Unruhe war da nichts. Gut, ich hab sie ja schon so bekommen, diese Unruhe war ja da. Das Kinderheim war bestimmt aber auch nicht so, daß es zur Hyperaktivität beigetragen hätte, das glaub ich sicher nicht. Da waren mehrere Kinder im Zimmer, und die waren ja alle nicht hyperaktiv. Ja, ich glaub schon, daß es sehr anlagebedingt ist. Vor allem die Erzählungen über ihre Mutter haben mich darin sehr bestärkt. Wobei ich dann aber auch wieder Familien kenn, wo die Mutter eher ruhig ist. Aber wenn man denkt, das kann ja irgendwo in der Familie gewesen sein, es kommt ja nicht jede Krankheit bei jedem so zum Ausbruch, oder jede Anlage. Das kann ja auch Generationen überspringen, oder einmal irgend eine entfernte Tante gewesen sein, bei der man das gar nicht so mitgekriegt hat. Und das hat der Doktor Eichelseder auch sehr untersucht, und er hat das schon auch festgestellt, daß immer, wenn man da ein bißchen nachgeforscht hat in der Familiengeschichte, daß da irgendwo jemand war, der extrem unruhig war, zum Beispiel irgendein Onkel, der ständig die Stelle wechselt und ähnliches, daß da schon eine gewisse Unruhe drinnen war, und daß da schon vom Erblichen her ganz sicher was dabeisein muß, zumindest dabeisein.

Vielleicht können Sie mir etwas über die leibliche Mutter von der Jasmin erzählen.

G.: Ja, ich erinnere mich da an eine Erzählung, wo mein Mann sich mit der Kinderschwester unterhalten hat in dem Heim, wo die Jasmin war, und die erzählt hat, ja die Ingrid - oben (im Kinderheim) haben sie sie genannt a wilde Henne - die war dauernd auf Gaudee, und dauernd dahin, und immer etwas Neues. Sie hat sie schon betreut, wo sie noch Jugendliche war, weil sie damals eben Jugendliche betreut hat, und erst später in das Kinderheim gekommen ist, diese Schwester. Sie hat gesagt, einmal hat man sie auch irgendwo wieder gefunden, weil sie ausgerissen ist aus dem Heim die Ingrid, und sie (Schwester) hat dann mit der Polizei zusammen das Kind (Ingrid) wieder in ein anderes Heim gebracht und hat dort mit dem Leiter verhandelt, und während sie noch verhandelt haben, da ist sie auf's Klo gegangen oder was, auf alle Fälle war sie schon wieder weg, ist durch's Klo schon wieder entwischt und war schon wieder dahin. Also, die war in x Heimen und ist immer davongelaufen, weil dort hat man natürlich versucht, sie irgendwo in einen Zwang zu bringen, und das hat sie nie ausgehalten und ist überall und immer wieder davongelaufen. Sie hat dann eben im Gastgewerbe als Küchenhilfe gearbeitet, ich weiß nicht, ob sie einen Schulabschluß oder was gehabt hat, das war ihr Beruf - Küchenhilfe. Sie hat dann immer im Gastgewerbe gearbeitet, und dort hat sie auch den Vater von der Jasmin kennengelernt, der war auch im Gastgewerbe. Und ich hab aber leider gar keinen Kontakt mehr zu ihr, denn an dem Tag, wo ich sie vom Heim geholt hab, ist die Mutter von der Jasmin nach Deutschland gegangen, um eine Stelle anzutreten und ist von da an verschollen. Also, an der Stelle - wie wir Kontakt aufnehmen wollten - war sie nicht mehr, da haben wir die Auskunft bekommen, sie ist dort auch nur ganz kurz gewesen und wieder woanders hin, und sie wissen nicht wo, und wir haben sie überhaupt nicht mehr gefunden. Sogar das Jugendamt hat sie dann gesucht, in Deutschland bis Holland hinauf, und hat sie überhaupt nicht mehr gefunden. Also, wir haben jetzt überhaupt keine Ahnung, was mit ihr ist. Und das ist auch hart für's Kind. Also, ich hab's ihr immer so gesagt: "Ich glaub, daß deine Mama nicht mehr lebt, weil sonst hätt sie sich sicher einmal gemeldet." Ich weiß überhaupt nichts von ihr. Ich weiß nur eben ihre Vergangenheit, daß die Familie schon mit ihr nicht fertig geworden ist, daß die Familie sie schon in ein Heim gegeben hat, und daß sie dann von einer Erziehungsanstalt in die andere gekommen ist, weil sie immer wieder ausgerissen ist. Das ist das, was ich weiß.

Ganz ein zentrales Thema in der Literatur sind die Schuldgefühle der Mütter. Wie war es da bei Ihnen?

G.: Ja, ist bei mir natürlich in einer Weise leichter, weil ich nicht die leibliche Mutter bin. Jetzt, wenn ich die leibliche Mutter gewesen wäre, aber ich glaub nicht, daß ich mir Schuldgefühle gemacht hätt, weil ich ja vier Kinder gehabt hab, die normal waren und sich normal verhalten haben. Ich glaube nicht, daß ich mir da viele Schuldgefühle gemacht hätt. Aber angenommen, das wäre mein einziges Kind, da tät ich mir schon sagen, mein Gott vielleicht hab ich sie völlig falsch erzogen und ähnliches, und das wird einem oft suggeriert, sehr. Und vor allem von der nächsten Umgebung, "daß die so ist, na. die tät bei mir schon anders."

Genau das wollt ich wissen, ob Ihnen die Schuldgefühle nicht von außen auferlegt wurden?

G.: Das passiert ganz sicher, nur war ich dafür nicht so anfällig. Ja, ich hab das nicht so aufgenommen, wenn man mir das gesagt hat. Weil ich gewußt hab, ich hab jetzt vier Kinder erzogen, und ich weiß, was los ist, und sie ist einfach anders. Daß das nicht an mir liegt, das war mir schon klar. Und dadurch hab ich auch mehr Ruhe gehabt, vielleicht. Eine Mutter, die sich da nicht so klar ist, wird dann vielleicht selber unsicher und tut sich dann noch schwerer. Das kann ich mir gut vorstellen.

Jetzt ganz eine allgemeine Frage. Welche Möglichkeiten sind Ihnen bekannt, sich Hilfe zu holen - ganz speziell für hyperaktive Kinder - . Möglichkeiten, die sie in der Literatur gelesen haben, oder von anderen Eltern erfahren haben?

G.: Ja, die Selbsthilfegruppe eben. Das ist das, was am meisten hilft, weil da die Eltern untereinander reden können. Das ist erstens einmal schon die Erleichterung, aha, der geht's genauso. Gerade wenn man ein spezielles Problem hat und denkt, das müßt jetzt nicht sein, und die andere erzählt ganz das Gleiche, dann weiß man, aha, es hängt auch wieder damit zusammen. Also die größte Hilfe ist mir die Selbsthilfegruppe gewesen, das muß ich schon sagen. Ich find immer, daß Selbsthilfegruppen gut sind. Ja, die Ärzte, ich glaub, daß in Tirol wenige Ärzte sich wirklich mit hyperaktiven Kindern auseinandersetzen und wirklich sehr viel darüber wissen. Ich weiß nicht, ob Sie vielleicht Ärzte kennen.

Eigentlich nicht, ich weiß nur, daß die Frau Doktor Hackelsberger auf der Klinik sich mit hyperaktiven Kindern beschäftigt.

G.: Da hat man eigentlich von Ärzten her überhaupt keine Unterstützung. Aber ich muß auch sagen, wie soll ein Arzt unterstützen, er kann einem höchstens Mut machen. Dazu brauch ich aber gar keinen Arzt. Mut machen, Geduld predigen, das ist das einzige, was hilft, und da kann der Arzt eigentlich auch nicht mehr sagen. Das Schlimme ist nur, wenn vielleicht ein Arzt - das ist mir nicht passiert - aber, wenn ein Arzt dann sagt, ja, weiß Gott, was das Kind vielleicht hat und alles mögliche andere dann vermutet, und man streßt sich da, und in Wirklichkeit ist es nur einfach das hyperaktive Syndrom.

Welche Erwartungen stellten sie ganz konkret an den Doktor Eichelseder?

G.: Ja, ich war sehr positiv eingestellt, weil ich ja die Artikel in der Zeitung gelesen hab, wo er ein Kind schildert, das wie ein Zwillingskind von meinem Kind war. Da hab ich mir gedacht, der hat das wirklich einmal ganz genau gesehen, wie die Kinder sind, und darum hab ich ihm auch vertraut, wie er mir das Medikament verschrieben hat. Und ich hab auch vom ersten Moment an, also, ich hab zuerst nur Tropfen gekriegt, nur ganz, ganz wenig, wir mußten ganz, ganz langsam anfangen, aber vom ersten Moment an hab ich gesehen, ja, nur so kann ich dem Kind überhaupt wieder weiterhelfen, weil so hab ich jetzt erstens einmal die Chance, daß sie mir zuhört, so bleibt sie einmal sitzen, und schreibt wirklich ein ganzes Wort. Das war wirklich, als wenn ich das Kind zum zweiten Mal geschenkt bekommen hätte. Das war wirklich ein ganz, ganz großes Geschenk für mich. Daß ich mit dem Kind jetzt überhaupt in Ruhe über etwas reden kann, daß das möglich war, daß ich sie in den Arm nehmen konnte, weil das war auch nicht möglich. Diese Kinder haben gar nicht die Ruhe, sich einmal an jemanden anzuschmiegen oder was. Die zappeln nur herum, und dies und das, die können sich auch auf Liebe nicht einstellen, und das ist ja das Allerfurchtbarste für ein Kind, wenn sie Liebe und Zuwendung gar nicht verstehen können. Und da war's das erste Mal möglich, das Kind an der Hand zu nehmen, drum hab ich ja, wenn ich spazieren war, müssen einen Gurt nehmen und eine Leine, weil an der Hand wollt sie höchstens ein paar Sekunden sein, dann hat sie sich wieder losgerissen. Und da war es das erste Mal möglich, daß ich sie vielleicht auf den Schoß genommen und kurz gehalten hab und ähnliches. Wir haben wohl Fotos, wo ich sie auf dem Schoß hab, aber ich weiß genau, das war immer der Moment zum Fotografieren, und wusch war sie schon wieder weg. Jetzt bin ich ein wenig vom Thema abgekommen.

Ja, wir waren bei den Erwartungen an den Doktor Eichelseder.

G.: Ja, ich war dann natürlich ganz glücklich und bin immer wieder zu ihm gegangen. Das war aber dann nur noch so eigentlich, daß wir darüber gesprochen haben, wie's jetzt geht, wie sie reagiert, ist es besser, weniger, könnten wir ein bißchen mehr geben und so. Da haben wir uns dann auf ein gewisses Quantum eingespielt, wo er sagt, das ist noch nicht die Höchstdosis, aber wenn es so geht, können wir bei dem bleiben. Und ich hab dann sogar später, wo ich nicht mehr zu ihm gegangen bin, die Dosis ein bißchen reduzieren können, weil ich gesehen hab, so geht's. Ich hab doch immer irgendwie ein bißchen Angst, da macht einem auch ein jeder Angst - was, Amphetamin, um Gottes Willen - aber ich hab einfach die Erfahrung gemacht, daß das Amphetamin ihr so hilft, und daß ich keine Nebenwirkungen seh, und daß sie, wenn ich nicht zu Hause bin, es nicht nimmt. Weil dann, erstens vergißt sie's, sie vergißt alles ohne Amphetamin, sie vergißt sowieso, und sie findet's auch ganz lustig, weil sie ist dann übermütiger, und fröhlicher. Es ist, als würde sie kein schlechtes Gewissen haben ohne Amphetamin. Sie vergißt alles so, sodaß sie auch, wenn sie alles falsch gemacht hat, oder überhaupt nichts macht, gar kein schlechtes Gewissen hat. Sie ist das vergnügteste Kind der Welt. Aber so kann man einfach nicht leben, wenn sie überhaupt kein Pflichtbewußtsein hat und nix tut.

Dann ist sie durch die Medikamente eher gedämpft?

G.: Ich würd gar nicht sagen gedämpft, sie ist nur nicht so pflichtvergessen. Sie weiß dann, irgendwo im Hintergrund, ja eigentlich hätt ich doch was tun sollen. Das ist das Einzige, daß sie's zumindest in ihrem Kopf drinnen hat, ich hätt was tun sollen. Und daß sie ab und zu eben danach was tut. Es ist vielleicht die Jasmin so - wie ich's gehört hab und vielleicht auch aus der Literatur - schon ein sehr schwerer Fall von Hyperaktivität, weil ich sicher bin, ohne Amphetamin hätt ich sie auch durch die Hauptschule nicht durchgebracht. Ich weiß nicht, ob ich die Nerven gehabt hätt, oder ich hätt sie müssen ich weiß nicht wo hingeben. Es gibt ja keine Stelle, wo man sich speziell mit hyperaktiven Kindern dann in einer Schule oder so abgibt, das gibt's gar nicht. Sie hätt höchstens in die Sonderschule gehen können, und da sind Kinder, die eher langsam sind, und die sich was sagen lassen, wenn man sagt, jetzt machst du es noch einmal oder was. Aber sie ist ja das Gegenteil, sie könnte es, sie bringt's nur nicht, das zu tun. Und sie hätte ja auch in der Sonderschule eine Klasse höchstens durcheinandergebracht und die Lehrer zur Verzweiflung gebracht. Ich glaub nicht, daß in der Sonderschule ihr irgend jemand wirklich hätt helfen können; und das kann auch niemand. Ich meine, wenn es eine Sonderschulklasse gäbe nur mit hyperaktiven Kindern, das haltet ja kein Lehrer aus, das ging ja gar nicht. Sie braucht wirklich eine Person, die speziell mit ihr arbeitet, anders geht es gar nicht. Sie ist dann nach ihrem Klinikaufenthalt noch ambulant eine Weile hingegangen und hat Spieltherapie gemacht, aber eines Tages wollt sie dann nicht mehr. Und ich hab dann dort angerufen und der gesagt, zwingen kann man sie nicht, und dann müssen wir es halt leider lassen. Dann bin ich selber noch ab und zu hingegangen, hab über meine Probleme dort gesprochen mit ihr und mir noch Rat und Hilfe geholt. Das ist auch ganz gut gegangen, aber letzten Endes hab ich gesehn, also ich seh die Situationen, und was los ist, und ich weiß eigentlich jetzt selber am besten, wie ich damit fertig werde. Ich hab mit Grenzensetzen natürlich ganz große Schwierigkeiten mit ihr gehabt, weil, wenn ich gesagt hab, du darfst das und das nicht, dann hat sie's trotzdem getan. Wenn sie zum Beispiel stundenlang Micki Maus Heftchen gelesen hat, anstatt Aufgabe zu machen, dann hab ich gesagt: "Du, ich muß dir die wegnehmen", dann hat sie sich die nicht wegnehmen lassen, und dann hab ich sie weggesperrt, und dann hat sie mir sämtliche Schränke durchwühlt, bis sie sie gefunden hat. Dann hab ich sie, die Micki Maus Hefte, in den Keller runtergesperrt, dann hat sie mir das Kellerabteil aufgebrochen, und hat sie wieder geholt. Also, so ist sie ja unheimlich hartnäckig und hat einen Tatendrang; wenn sie was tun will, dann tut sie das. Also, mein Kellerabteil ist noch beschädigt, das hab ich gar nicht mehr richtig reparieren können. Ich hab auch mal den Fernseher in den Keller runtergestellt damals, aber den hat sie nicht raufderschleppt, weil der Spalt, wo sie da durchgeschlüpft ist, nicht so groß ist, daß sie ihn durchkriegt. Aber früher, so mit Fernsehverbot und so, solange ich es ihr noch verbieten konnte, wie sie kleiner war, da hab ich dann erreicht, daß ich gesagt hab, du darfst einfach nicht aufschalten, bevor du jetzt nicht das gemacht hast. Und weil sie ja so gern geschaut hat, also, ich hab immer irgendwas, was sie wirklich gern getan hat, hab ich ihr müssen in Aussicht stellen, damit sie bereit war, irgend eine Arbeit zu machen - ohne dem war einfach nichts. Und jetzt ist es ja so, sie darf auch nicht schauen, aber sie schaut halt dann, wenn ich nicht da bin - und ab und zu bin ich halt nicht da - und dann schaut sie halt von früh bis spät. Ich hab mich voriges Jahr getraut, sie das erste Mal alleine zu lassen - da war sie siebzehn - im Sommer, da bin ich mit meiner vierten Tochter nach Berlin gereist und hab ihr genau aufgeschrieben, was sie halt zu tun hat: Blumen gießen, Katzenkiste ausleeren, das eigene Geschirr halt möglichst oft abwaschen, damit es nicht so antrocknet, sonst brauchte sie nix zu tun. Meine dritte Tochter ist dann, kurz bevor ich zurückgekommen bin, hergekommen, um zu schauen, wie's geht, damit ich nicht gar so einen Schock krieg. Und die hat mir dann erzählt, also es war die ganze Küche voll mit dreckigem Geschirr vom ersten Tag an. Sie ist überhaupt am ersten Tag, das hat sie mir selber erzählt, einkaufen gegangen, hat sich so einen Berg Fertiggerichte gekauft - Tiefkühlgerichte - und so eine Batterie Colaflaschen, damit sie dann nicht mehr einkaufen gehen braucht, und dann hat sie ihr Bett hier (im Wohnzimmer) eingerichtet und ist den ganzen Tag nur vor dem Fernseher gelegen. Beim Katzenkistl hat sie nur ab und zu die Gageln hinausgetan, und ein bißchen Sägemehl darüber - hinuntergetragen hat sie es nicht. Es war dann ganz schwer, und alles voll. Und das Geschirr hat sie sich gedacht, das macht sie dann vielleicht am letzten Tag, aber das hat sie dann mit Hilfe meiner anderen Tochter gemacht, beziehungsweise sie hat nicht viel gemacht. Also da war sie überhaupt nicht bereit, weil da hat sie sowieso fernsehen können. Sie ist andererseits dann wieder - es ist nicht so, daß sie nicht lieb ist. Wenn sie was kriegt, oder wenn's ihr gut geht, dann kommt sie jetzt und umarmt mich, und ist nett und freundlich; und wenn es gar nicht mehr geht in der Schule, dann sagt sie: "Mama, hilfst du mir, ich muß da was machen." Und wir machen dann halt manches zusammen - ich helf ihr dann - daß sie's halt doch letzten Endes hat, und dann hat sie schon eine Freude, und dann ist sie manchmal ganz glücklich. Aber, und das haben sie schon auf der Klinik als gravierendstes Merkmal festgestellt, daß sie überhaupt keine Arbeitshaltung hat. Sie ist nicht bereit, von sich aus irgend etwas zu tun. Und da weiß ich auch nicht, wer mir da jetzt helfen könnte, daß sie das lernt. Und das ist auch das, was mir Angst für die Zukunft macht. Weil ich denk mir, wie will sie einmal irgendwo arbeiten. Kann auch sein, wenn sie einmal irgendwo im Arbeitsprozeß ist - vielleicht eine Arbeit, die sie gerne macht. Darum hab ich mir gesagt, ich geb ihr eine Ausbildung, soviel wie möglich, daß sie einmal das tun kann, was sie mag. Weil, wenn ich sie heut irgendwo in die Lehre schick, und das ist irgend etwas, was sie nicht mag, dann bin ich sicher, daß sie am dritten Tag wieder daheim ist.

Hat die Jasmin ein Ziel vor Augen?

G.: Ja, sie will zur Polizei, wobei ich natürlich da - ich sag's ihr nicht - ganz große Probleme seh, weil man so einem psychisch labilen Menschen ja schon gar keine Waffe in die Hand geben kann. Das sind Sachen, die ich ihr jetzt einmal nicht sag, weil ich froh bin, daß sie ein Ziel hat, und auf das Ziel arbeitet sie jetzt einmal, deshalb will sie auch die Schule fertig machen. Und sie möchte nach Amerika und weiß Gott was alles, also sie hat ganz tolle Ideen, aber was es dann wirklich wird letztendlich.

Und wie schaut's mit Freundschaften aus?

G.: Auch schwierig, weil sie eben für nichts eine Geduld hat, und man muß immer auf sie eingehen. Es ist ihr nicht gelungen, auf einen anderen Menschen einzugehen. Das kann sie allerdings jetzt etwas besser. Sie hat jetzt eine ganz, ganz liebe Freundin, eben die, mit der sie bei den Ursulinen in die Schule gegangen ist, die ist auch sehr oft da, die mag sie, also die Freundin mag sie auch - Gott sei dank - und darum haltet sie sie aus. Sie sagt ihr dann schon auch einmal: "Mei, jetzt hör auf, das brauchst du nicht so genau zu erzählen, jetzt hör einmal auf." Weil sie oft zuviel erzählt, und sie haltet es auch von der Freundin aus, daß die ihr das sagt. Also das ist ganz, ganz fein, daß sie die Freundin hat. In der Schule hat sie nicht viele Freundschaften, muß ich sagen. Sie hat in ihrer Klasse noch drei Mädchen, sonst alles Buben. Mit den Mädchen kommt sie nicht besonders gut aus, die mögen sie nicht sehr gern - eben sie ist anders, man merkt das gleich einmal - aber mit den Buben hat sie's recht lustig. Die necken sie zwar und machen Witze, aber das ist nicht alles ernst gemeint, aber das macht ihr irgendwie Spaß. Mit den Buben kommt sie da irgendwie besser zurecht.

Haben Sie's mit einer Diät einmal versucht; haben Sie Erfahrungen diesbezüglich gemacht?

G.: Ja, mit phosphatarmer Diät und ähnliches. Also, das hab ich, wie sie klein war, einmal eine Weile durchgezogen, hab aber überhaupt keine Veränderung gemerkt. Ich hab's dann später noch einmal probiert, wie sie größer war, spezielle Sachen; so Cola sollen sie ja nicht haben, Vollmilch soll angeblich schlecht sein und so weiter. Wenn ich ihr das jetzt sag, dann sagt sie: "Ohne mich." Das ist überhaupt so ein Spruch von ihr. Sie trinkt Cola in Mengen, also da bin ich echt, auch wenn sie nicht hyperaktiv wäre, schon besorgt. Ich kauf ihr keines, aber sie hat natürlich Taschengeld, und davon kauft sie sich ständig Cola. Und das paßt ihr unheimlich das Colatrinken, ich weiß nicht warum, ob ihr das jetzt wirklich irgendwie gut tut, ob's nur der Geschmack ist, ob's sie vielleicht ein bißchen aufputscht und ihr das gefällt, ich hab keine Ahnung, was es ist, aber sie trinkt sehr viel Cola. Sie mag auch Vollmilch unheimlich gern, sie trinkt viel Cola und viel Milch. Und ansonsten mit der Ernährung ist es auch so, daß sie sich meistens selber kocht, weil ich koch relativ gesund. Ich versuch, mich gesund zu ernähren, und das ist nicht das, was sie mag, obwohl ich gut koch. Aber sie weigert sich auch bei den besten Sachen oft, das zu essen. Sie mag ganz gern Fleisch - ein Schnitzel, das ißt sie - und, wenn's von ihr ausgeht - ach, ich mein, das ist psychologisch - was von ihr kommt, wenn ich nichts sag. Ich hab dann bald einmal gesehen, daß es am besten ist, ich sag überhaupt nichts. Ich koch mir was, und ich hab zu ihr gesagt: "Du, wenn's dir gefällt, kannst du mitessen, wenn's dir nicht gefällt, brauchst du gar nichts sagen." Und auf die Weise hab ich sie dazu gebracht, daß sie jetzt relativ viel Salat ißt. Ich mach immer sehr gute Salate, und da hat sie einmal angefangen: "Mei, laß mich kosten", und dann hat's ihr geschmeckt, und jetzt frag ich sie: "Du, wenn ich einen Salat mach, ißt du dann mit?", und dann sagt sie meistens ja. Und dann mach ich zwei Portionen, und dann ißt sie einen Salat. Und Obst ißt sie auch, also sie ißt nicht ganz ungesund. Aber was sie sich sonst kocht, sind hauptsächlich Nudeln und Fertiggerichte. Also von Nudeln lebt sie, ungesund ist es ja nicht. Aber sie fängt schon an, ein bißchen fest werden da um die Mitte, weil sie dann recht viel Nudeln oft ißt.

Aber Sie hatten mit der Diät keine Erfolge?

G.: Nein, keine Chance; wie sie klein war überhaupt nicht, vielleicht, wenn man's Monate lang gemacht hätt, das weiß ich nicht. Aber das hab ich gar nicht durchgehalten, weil sie kleiner ja auch schon mit essen schwierig war. Da hat sie auch schon gesagt, das eß ich nicht und das eß ich nicht, und das hätt sie lieber. Da war das auch schon sehr schwierig. Ich hab's dann, ich weiß nicht, ich glaub zwei Wochen, hab ich's versucht durchzuhalten, und nachdem ich da keinen Erfolg gesehen hab, da hab ich mir gedacht, nein, soll ich mir den Streß jetzt auch noch antun und hab das dann bald wieder gelassen. Ein zweiter Versuch mit der Diät war dann Anfang von der Hauptschulzeit, wo sie jetzt die großen Schwierigkeiten in der Schule gehabt hat, und wo ich ihr gesagt hab: "Paß auf, jetzt machen wir das einmal, vielleicht hilft's dir dann, daß du nicht immer so abseits stehst, daß du dich dann so verhältst, daß die anderen dich eben nicht immer so schlecht behandeln." Und da war sie ja wirklich so frustriert von der Schule, daß sie den Willen gehabt hat, das zu tun. Und da haben wir's auch eine Zeitlang gemacht. Und da hat sich aber auch gar nichts geändert, und dann haben wir's auch wieder gelassen. Jetzt neuerdings hab ich wieder ein Buch gelesen, "Hyperaktivität natürlich behandeln", eben auch von der Ernährung her und ähnliches, und da hab ich ihr gesagt, nur so ein paar springende Punkte, was ganz schlecht wär angeblich, wär Vollmilch, wär Coca Cola und Metallgegenstände und ähnliches auf der Haut. Ich war ein bißchen überrascht über das, und die schreibt, daß sie angeblich gute Erfolge hat damit. Jetzt hab ich das der Jasmin gesagt, dann hat sie gesagt, ja, nur Gold darf sie mehr tragen, ja wunderbar, sofort alles weg, ich will nur Goldschmuck, das hat ihr gefallen. Dann hab ich gesagt, wenn du die anderen Sachen nicht einhälst, dann ist es nicht sehr sinnvoll. "Ja, was denn noch?" "Ja, Milch, Cola", "nein, kommt überhaupt nicht in Frage, daß ich auf Milch oder Cola verzichte." Dann hab ich gesagt: "Dann wird's nicht viel nützen, wenn du nur auf den Goldschmuck stehst." Ja, die Amalgamplomben sind schlecht, die hat sie auch gleich herausnehmen lassen, und dann weiße Plomben hinein, weil die anderen sind schlecht für hyperaktive Kinder, hat sie gesagt. Das, was ihr gefallen hat, hat sie sofort alles gemacht. Aber das, was ihr nicht gefällt, kommt gar nicht in Frage, daß sie da was ändert. In dem Buch steht auch, die ganzen Elektrogeräte herum am Schlafplatz, die wären halt schlecht, was man ja auch sonst sagt. Aber ich mein, ich hab sie gesehen ohne diese Geräte und mit diesen Geräten, es ist kein Unterschied. Und ich denk mir, wenn ich so keinen Unterschied seh, warum soll ich ihr dann alles wegtun. Sie hat natürlich ihren Radiowecker, sie hat ihren CD-Player, sie hat jetzt einen Computer im Zimmer, sie schläft da mitten drinnen, aber es ist kein Unterschied. Sie schläft wie ein Stein, wenn ich in der Nacht hineinkomme. Sie hat auch keine Alpträume oder irgendetwas, also ich glaube nicht, daß das wirklich was ausmacht.

Um noch einmal auf die Selbsthilfegruppe zurückzukommen; Mütter schreiben ja davon, daß ihnen das Gespräch mit Betroffenen gut tut. Können Sie mir da vielleicht etwas erzählen?

G.: Wenig eigentlich, weil ich zu spät dazu gekommen bin. Sie war ja dann schon in der Hauptschule, wie ich das erste Mal zur Selbsthilfegruppe gekommen bin. Und ich hab dann ja schon eigentlich alles gewußt über das Thema, weil ich eben vom Doktor Eichelseder wirklich sehr viel Information gekriegt hab, und weil er mir auch gesagt hat, ich brauch keine Angst haben mit dem Amphetamin, in Amerika nehmen sie's, auch die Studenten noch. Da hat er in seinem Buch eh so ein lustiges Beispiel, wo ein Student sagt: "Wenn ich einmal blau machen will, und das Studium ein bißchen hinten lassen will und lieber segeln geh, dann nehm ich das Medikament nicht, weil sonst hab ich während des Segelns ein schlechtes Gewissen, weil ich meine Arbeit nicht gemacht hab, und wenn ich es nicht nehm, dann kann ich das so schön vergessen, dann hab ich einen wunderbaren, fröhlichen Tag." Also sie sehen das selber dann ganz genau, was passiert, wenn sie's nehmen, wobei alles andere, was man dem Amphetamin sonst zuschreibt, überhaupt nicht zutrifft bei den Hyperaktiven. Da sieht man, daß es doch was Körperliches auch ist, daß das Medikament wirklich bei den Neurotransmittern oder irgendwo was bewirkt, was dann anders ist, und was eben da hilft. Weil, wenn das jetzt nur vom Verhalten, von der Umgebung, von der Familie, oder von den Elektromagneten oder was auch immer ausgehen würde, oder von der Ernährung, dann glaub ich nicht, daß das Amphetamin so was ausmachen würde.

Sind Sie nicht etwas skeptisch hinsichtlich des Suchtverhaltens, daß sie ein Verhaltensmuster entwickelt, wonach sie bei Problemen eher zur Pille greift?

G.: Nein, sicher nicht. Sie ist selber eine, die gegen Medikamente ist - im Prinzip - sie nimmt da nicht gleich was, höchstens, wenn sie mal stark Kopf- oder Bauchweh hat, daß sie da mal eine Tablette nimmt, aber das mach ich auch. Aber ansonsten, nein gar nichts, daß sie da nicht die Einstellung hätte. Da hab ich auch mit ihr darüber gesprochen, und das sieht sie vollkommen richtig eigentlich.

Was würden Sie anderen betroffenen Müttern, die noch kleine Kinder haben, mit auf den Weg geben, welche Ratschläge? Oder was würden sie jetzt im nachhinein gleich und was würden Sie anders machen?

G.: Anders machen, also mich überhaupt nicht irritieren lassen von anderen. Wenn ich mein Kind lieb hab und seh, das geht nicht anders und seh, es geht am besten mit Geduld und Liebe, mir ja nicht einreden lassen, du mußt jetzt strafen oder gar du mußt sie schlagen und so weiter, ja nicht sich so was einreden lassen, es geht wirklich nur mit Geduld und Liebe. Und ein wichtiger Punkt ist - glaube ich - auch, daß man selber daran glaubt, daß es geht; und den Glauben hab ich anfangs zu wenig gehabt. Darum war ich so froh über die Erziehungsberatung, die mir immer wieder Mut gemacht hat, und mir den Glauben gegeben hat, es wird schon besser. Weil, wenn man jeden Tag mit dem Kind zusammen ist, da sieht man die kleinen Fortschritte nicht, da sieht man nur immer wieder was nicht funktioniert, weil das so nervig ist. Und auch die kleinen Fortschritte zu sehen ist wichtig am Anfang schon, und selber daran zu glauben, es wird besser, sich selber immer wieder zu sagen, jetzt hab ich das Kind von der ersten Klasse in die zweite Klasse gebracht, das ist mir gelungen, also wird's mir auch weiter gelingen. Und wenn dann einmal eine Klasse nicht funktioniert, okay, dann braucht sie halt länger, dann geht vielleicht die nächste wieder. Es geht aber weiter, denn es ist nicht so, daß das Kind stehn bleibt da auf dem Verhalten, man kann dem Kind was beibringen, es ist nur sehr anstrengend, und es braucht lang, aber es geht. Und wenn ich halt seh, ich brauch vielleicht, um das Kind vom Verhalten eines Zweijährigen auf's Verhalten eines Vierjährigen zu bringen nicht zwei Jahre, sondern vier Jahre; und sie benimmt sich mit sechs vielleicht wie eine Vierjährige, dann darf ich mir nicht sagen: "Oh Gott, die benimmt sich ja wie eine Vierjährige und nicht wie eine Sechsjährige", sondern ich muß sagen, "Ich bin froh, jetzt ist sie schon auf dem Stand einer Vierjährigen, und in wieder vier Jahren hat sie vielleicht den Stand einer Sechsjährigen", es geht halt langsamer, und irgendwann benimmt sie sich vielleicht wie ein ganz normaler Erwachsener; und auf das muß ich einfach warten und die Geduld haben. Es nützt nichts, es geht langsamer. Und so wie sie mir damals in der Klinik gesagt haben, da hab ich ihnen ja auch das Medikament gegeben, weil sie gesagt haben, ja wir müssen das ohne Medikament, und das ist schon ein Fortschritt. Da hab ich gesagt: "Ja schon, aber der Fortschritt ist so viel kleiner ohne Amphetamin, und wenn sie mit zwanzig Jahren noch das Verhalten einer Zehnjährigen hat, dann ist sie abgestempelt in unserer Welt, dann kann sie sich nicht mehr integrieren." Wenn ich ihr aber das Amphetamin geb, dann ist sie vielleicht in ihrem Verhalten zwei, drei Jahre hinten, und das ist noch eher akzeptabel. Und wenn sie zwanzig ist, und sie verhaltet sich wie eine Siebzehnjährige, dann merkt man das nicht so, wenn sie jung ausschaut auch noch, dann ist sie halt noch ein bißchen lockerer, oder noch nicht so ernsthaft - das sind andere Zwanzigjährige auch nicht - dann ist das nicht mehr das Problem. Aber wenn sie sich mit zwanzig wie eine Zehnjährige verhaltet, dann kriegt sie Schwierigkeiten, und darum geb ich's ihr, weil sonst ist sie ja für ihr Leben abgestempelt. Und ich denk mir, ich tu ihr bestimmt nichts Gutes, wenn ich sag: "Tu das weg das Amphetamin, weil ich nicht weiß, ob du vielleicht mit dreißig oder vierzig Jahren dann irgendein Problem hast", das weiß ich ja wirklich nicht. Aber sie hätte ihre ganze Kindheit wahrscheinlich in einer Sonderschule verbracht, sie hätte jetzt die größten Schwierigkeiten mit der Umwelt. Ich versuche mich, in ihre Lage zu versetzen, da würd ich auch sagen: "Du Mutti, gib mir lieber das Amphetamin, und ich kann normal leben."

Haben Sie mit Ihrer Tochter Tests wie zum Beispiel EEG gemacht?

G.: Ja, EEG haben wir damals bei diesem Arzt auch gemacht, der selber dieses hyperaktive Kind hat, in letzter Zeit nicht mehr. Die waren immer ganz normal. Sie hat nur einen unregelmäßigen Herzrhythmus gehabt, und - jetzt weiß ich aber nicht mehr, ob wir das mit oder ohne Medikament überbrückt haben - nur war es dann so, was ich ja auch schon selber festgestellt hab, nach der Anstrengung war's gleichmäßig. Das hat der Arzt eben damals auch gesagt, es ist gut, wenn sie sich körperlich austoben kann, dann geht es ihr besser. Und darum hab ich auch versucht, sie beim Sport zu halten. Also, ich bin viel mit ihr auf den Berg gegangen - das mag sie jetzt nicht mehr - das ist jetzt das nächste Problem, sie tut ja nur, was sie mag, dann in irgendeinen normalen Sportverein viel zu fad, da geht sie nicht. Dann ist sie eine Zeitlang in einen Turnverein gegangen, aber das ist dann auch nicht mehr gegangen, weil der natürlich auch ein paarmal mit ihr geschimpft hat, weil sie ständig wo hinaufklettert, wo sie nicht darf. Ich mein, das kann er nicht erlauben, und dann ist das da auch schief gegangen, und jetzt geht sie nicht mehr hin. Dann ist sie zwei Jahre Judo gegangen, das war ganz gut für sie, weil da hat sie sich so richtig anstrengen können, das war super. Aber da hat sie dann auch angefangen, sich nicht ganz so zu verhalten wie sie hätte sollen. Da müssen sie ja ganz bestimmte Griffe machen, und sie hat dann gemeint, ja, ich mach das anders oder irgendwas, dann hat sie natürlich einen Anschiß gekriegt, und dann gab's dann Konfrontationen, und zag, eines Tages ist sie nicht mehr hingegangen. Wenn ich dann frag: "Warum gehst du nicht mehr hin?" "Ja, ich mag nicht mehr, das ist mir zu fad", sagt sie dann und so. Und mit der Zeit komm ich dann schon drauf, da hat's ein bißchen Reibereien gegeben, und dann mag sie nicht mehr. Und das hat mir wahnsinnig leid getan, weil das Judo wäre ganz gut für sie gewesen. Jetzt will sie Karate gehen, jetzt hab ich ihr gesagt, wenn sie dieses Schuljahr halbwegs schafft, dann darf sie ab nächsten Herbst Karate gehen. Ich weiß aber nicht, wie das wieder endet, aber daß sie gerade irgendwas tut, weil die würden sie auch dazu animieren, daß sie ein bißchen Fitneßtraining macht, weil das braucht sie ja dann. Und sonst, wenn sie keinen Ansporn hat, dann tut sie das auch nicht. Ihre Freundin rennt manchmal hinauf in die Auen, oder wenn sie Mathematik macht, und es gelingt ihr nicht, dann rennt sie ein paarmal um's Haus, und dann lernt sie weiter - ihre Freundin. Aber die Jasmin sagt: "Ich bin doch nicht blöd, ich renn doch nicht um's Haus." Das akzeptiert sie alles nicht. In dem Punkt ist sie auch wieder schwierig, man will ihr helfen, aber sie tut nicht mit.

Quelle:

Anita Hohenegger: Hyperaktivität. Hintergründe und pädagogische Folgerungen eines Modethemas, Diplomarbeit, Universität Innsbruck, Dezember 1997

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 30.11.2010

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