Perspektiven des Gemeinsamen Unterrichts

Autor:in - Andreas Hinz
Themenbereiche: Schule
Textsorte: Vortrag
Releaseinfo: Teil eines Vortrags auf der Tagung "Integration trotz leerer Kassen!?" am 5. 3. 1998 in Frankfurt am Main; zur vollständigen Fassung vgl. HINZ 1998b (siehe Literaturverzeichnis)
Copyright: © Andreas Hinz 1998

Perspektiven des Gemeinsamen Unterrichts

Der Gemeinsame Unterricht, ein Unterricht, der kein Kind aufgrund seiner (nicht) vorhandenen Fähigkeiten ausschließt, ist im Verlauf der letzten zwanzig Jahre ein etablierter Bestandteil der bundesrepublikanischen Bildungslandschaft geworden. In der Mehrzahl der Bundesländer ist er als Regelangebot und als Antragsrecht für Eltern - wenn auch unter einem Finanzierungsvorbehalt - schulgesetzlich verankert. Auch in jenen Bundesländern, die sich ihm bisher verweigert haben, beginnt die bildungspolitische Abwehr zu bröckeln.

Gleichwohl ist nach einer stürmischen Pionierphase der Entwicklung eine zweifache Stagnation festzustellen: Quantitativ kommt der Gemeinsame Unterricht nicht über den Status einer Sonderschule hinaus (im Bundesdurchschnitt um fünf Prozent der SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf), und qualitativ geht mit dem Übergang von Schulversuchen zu Regelangeboten in der Regel eine konzeptionelle Verflachung einher, denn es sind nicht mehr nur die engagierten und überzeugten PionierInnen, sondern vor allem 'ganz normale' PädagogInnen beteiligt. Hierbei spielt die Reduzierung der Ausstattung in manchen Bundesländern eine zusätzlich erschwerende Rolle.

Was nun Perspektiven des Gemeinsamen Unterrichts angeht, so sind für die nächsten Jahrzehnte zwei Alternativen denkbar: Die eine Perspektive wäre eine weitere Stagnation des Gemeinsamen Unterrichts bei abnehmender integrativer Qualität und bei steigenden Schülerzahlen in Sonderschulen - und dies so lange, wie beide Systeme parallel nebeneinander bestehen und finanziert werden. Die andere Perspektive wäre die Einleitung eines Umsteuerungsprozesses, innerhalb dessen schrittweise bestimmte Stufen von Sonderschulen auslaufen müßten - etwa die Grundstufen der Sprachheilschulen und der Förderschulen/Schulen für Lernhilfe.

Wenn es im folgenden um Perspektiven geht, ist es hilfreich, sich die Leitvorstellung des Gemeinsamen Unterrichts zu vergegenwärtigen: Sie besteht in der Schule für alle, die nicht mehr integrativ genannt werden muß und die auf Aussonderung der 'Fremden' verzichtet. Zentral ist hierbei die Idee einer Pädagogik der Vielfalt, die Verschiedenheit in Gemeinsamkeit demokratisch zuläßt und pflegt (vgl. HINZ 1993, PRENGEL 1993, PREUSS-LAUSITZ 1993). In der anglo-amerikanischen Diskussion werden entsprechende Ansätze als 'Inclusive Education' bezeichnet und von der 'Integration' vor allem durch zwei Aspekte abgehoben (vgl. u.a. BAYLISS 1995, BIKLEN 1992, STAINBACK & STAINBACK 1997):

  • 'Inclusive Education' geht von einer in vielen Dimensionen heterogenen Lerngruppe aus, von denen eine die der Begabung im Spektrum zwischen schwerer Mehrfachbegabung und schwerer Mehrfachbehinderung ist. An 'Integration' wird kritisiert, daß sie von einer Zwei-Gruppen-Theorie ausgeht, den Behinderten und den Nichtbehinderten, und die Einbeziehung einer funktionsgeminderten Gruppe in die Mehrheit anstrebt - eine Kritik, die gerade für die Praxis in deutschen Bundesländern mit landesweiter Einzelintegration von zunehmender Brisanz ist. 'Inclusive Education' versteht sich demgegenüber in der Folge der Bürgerrechtsbewegung als umfassenderer Ansatz einer Würdigung von Heterogenität - was kognitive Möglichkeiten, aber auch was kulturelle Herkunft, soziale Hintergründe, sozioökonomische Bedingungen der Lebenswelt, Geschlechterrollen und vieles mehr angeht.

  • Für 'Inclusive Education' ist die soziale und emotionale Seite der Prozesse ('belonging to the community of learners') mindestens ebenso wichtig wie die institutionelle, während 'Integration' vor allem die institutionelle Ebene betrachtet (das Kind ist entsprechend seiner Schädigung in Teilzeit- oder Vollzeitform in der allgemeinen Schule). Hier gibt es deutliche Parallelen zur Theorie integrativer Prozesse der Frankfurter Arbeitsgruppe um Helmut Reiser, die integrative Prozesse auf unterschiedlichen Ebenen beschrieben hat (vgl. REISER 1991).

Wenn diese Zielsetzung gewollt ist, stellt sich die Notwendigkeit der konzeptionellen Weiterentwicklung des Gemeinsamen Unterrichts im Sinne einer Schule für alle. Die Pädagogik der Vielfalt und die 'Inclusive Education' stellen Qualitätsmaßstäbe auf, an denen sich Konzepte und Perspektiven messen lassen:

  • Das Primat der Entwicklung liegt bei der allgemeinen Schule und ihren Möglichkeiten; demzufolge kann die federführende Zuständigkeit auf Ministeriums- und Schulverwaltungsebenen nicht in der Sonderschulabteilung, sondern muß in der Grund- bzw. Sekundarschulabteilung liegen.

  • Gemeinsamer Unterricht muß mit anderen schulischen Aufgaben und bildungspolitischen Innovationen zusammengedacht, Synergieeffekte und Widersprüche müssen reflektiert werden, z.B. der Zusammenhang mit interkultureller Erziehung, mit Ansätzen reflexiver Koedukation, mit jahrgangsübergreifenden Lerngruppen, mit der Schule mit festen Öffnungszeiten (verläßliche Halbtagsschule), mit einem integrativen Schulanfang, mit Gesamtschulpädagogik u.v.a.m. Für die Reflexion solcher Fragestellungen bieten sich auf konzeptioneller Ebene die Prozesse der Schulprogrammentwicklung geradezu an - und mit ihr gewinnen sie eine neue Qualität.

  • Die Schule für alle erhält eine pauschale personelle Zuweisung ohne die offizielle Etikettierung von Kindern mit Lern-, Sprach- und Verhaltensproblemen als besonders oder sonderpädagogisch förderbedürftig, wenn sie sich zur Schule ohne Aussonderung verpflichtet und ihre Zuständigkeit für alle aufgenommenen SchülerInnen festschreibt. Diese Konstruktion folgt skandinavischen Vorbildern, die diese Kategorien als Grundlage von Ressourcenzuweisungen nicht kennen, und sie bildet die Basis der Integrativen Grundschule Hamburgs (vgl. HINZ U.A. 1998). Mittlerweile werden auch in anderen Bundesländern entsprechende Überlegungen und Planungen verfolgt, so in Hessen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein. Wenn die Hessische Studie über die Problemwahrnehmung von Leistungsversagen in der Grundschule in zwei hessischen Landkreisen (REISER, LOEKEN & DLUGOSCH 1995) generalisierbar ist, könnte diese Entwicklung mit dem Drittel aller Hessischen Grundschulen, die ihre Zuständigkeit für Prozesse des Leistungsversagens bejahen, begonnen werden - und das wäre eine massive Veränderung der Grundschullandschaft.

  • Innerhalb des Konzeptes einer Schule für alle erbringt die Sonderpädagogik eine "institutionalisierte systembezogene Service-Leistung" (REISER 1998, 52), die zum einen in der externen ambulanten Beratung für spezifische Fragestellungen im Bereich von Sinnesschädigungen und Körperbehinderungen liegt; wichtig ist dabei, den Förderzentren einen klaren und eindeutigen Auftrag zur Integrationsunterstützung und zum Abbau ihrer dort stationär unterrichteten Schülerschaft zu geben - dies würde die bisher vorzufindene "innere Verwirrung" (REISER 1997, 272) um Auftrag und Funktion von Förderzentren klären.

Notwendig ist ebenso die feste Anbindung von sonderpädagogischer Kompetenz zumindest im Bereich Lernhilfe, Sprachheilpädagogik und Erziehungshilfe an der allgemeinen Schule. In Armutsgebieten müßte ergänzend sozialpädagogische Kompetenz hinzukommen, sei es direkt in die Schule, sei es über die Verzahnung mit bestehenden Unterstützungssystemen im Stadtteil. SonderpädagogInnen sind in der Schule für alle nicht primär für die spezielle Förderung spezieller Kinder (und häufig in Feuerwehrfunktion) zuständig, sondern es gibt eine gemeinsame Zuständigkeit und Verantwortung auf Klassenebene für den Unterricht der heterogenen Lerngruppe und auf Kollegiumsebene für die Schulentwicklung aus den jeweils unterschiedlichen Blickwinkeln und für dessen bzw. deren Reflexion.

  • In einer solchen Schule für alle kann auf die Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs bei Kindern mit Entwicklungsproblemen (Lernen, Sprache, Verhalten) getrost verzichtet werden zugunsten einer kompetenten prozeßbegleitenden, dialogischen Entwicklungsdiagnostik (vgl. BOBAN & HINZ 1998). Diagnostik wird damit nicht überflüssig, sondern kann sich im Gegenteil dem zuwenden, wofür sie eigentlich da ist: Lernprozesse innerhalb des Umfeldes zu analysieren und nächste Schritte zu planen.

  • Wichtig für die Entwicklung der Schule für alle ist eine regionalisierte, prozeß- und teambezogene Fortbildung, wie sie etwa in Theorie-Praxis-Seminaren in Berlin oder durch Angebote des Beratungszentrums Integration in Hamburg angeboten wird, denn Gemeinsamer Unterricht und Schule für alle sind nach wie vor ein von Teams und Kollegien gemeinsam unter den konkreten Umfeldbedingungen zu entwikelndes Projekt (vgl. hierzu das Beispiel einer Hamburger Grundschule in HINZ 1998a).

Auch bei begrenzten Mitteln kann mit einer Weiterentwicklung des Gemeinsamen Unterrichts zu einer Schule für alle im Sinne der Pädagogik der Vielfalt und der 'Inclusive Education' ein deutliches Mehr an Qualität erreicht werden. Als Eckpfeiler hierfür wären konzeptionell wichtig

  • die Unterstützung der Entwicklung von Integrationsschulen im Sinne der Pädagogik der Vielfalt,

  • den Verzicht auf die Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs bei Kindern mit Entwicklungsproblemen,

  • die Beschränkung des Konzepts der Förderzentren auf den Bereich Sinnesgeschädigte und Körperbehinderte,

  • die Umsteuerung durch das Auslaufenlassen von Stufen bestimmter Sonderschultypen als Folge zunehmender Tragfähigkeit der allgemeinen Schule.

Wenn in dieser Richtung gearbeitet wird, bestehen Aussichten darauf, die derzeitige quantitative und qualitative Stagnation des Gemeinsamen Unterrichts zu überwinden.

Literatur

BAYLISS, P. (1995): Integration, segregation and inclusion: frameworks and rationales. In: BROEKAERT, E. & VAN HOVE, G. (Hrsg.): Special Education on the XXI Century. Special Education Ghent No. 7, Vol. I: Integration - School Systems, 4-25

BIKLEN, D. (1992): Schools Without Labels: Parents, Educaters and Inclusive Education. Philadelphia

BOBAN, I. & HINZ, A. (1998): Diagnostik für integrative Pädagogik. In: EBERWEIN, H. & KNAUER, S. (Hrsg.): Handbuch für Lernprozeßanalyse. Weinheim: Beltz (im Erscheinen)

HINZ, A. (1993): Heterogenität in der Schule. Integration - Interkulturelle Erziehung - Koedukation. Hamburg: Curio

HINZ, A. (1998a): Pädagogik der Vielfalt auch für Schulen in Armutsgebieten? Überlegungen zu einer theoretischen Weiterentwicklung. In: HILDESCHMIDT, A. & SCHNELL, I. (Hrsg.): Integrationspädagogik. Auf dem Weg zu einer Schule für alle. Weinheim München: Juventa, 127-144

HINZ, A. (1998b): Stand und Perspektiven der Auseinandersetzung um den Gemeinsamen Unterricht vor dem Hintergrund leerer Kassen. Die neue Sonderschule 43 (im Erscheinen)

HINZ, A. U.A. (1998): Integrative Grundschule im sozialen Brennpunkt. Ergebnisse eines Hamburger Schulversuchs. Hamburg: Buchwerkstatt

PRENGEL, A. (1993): Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. Opladen: Leske + Budrich

PREUSS-LAUSITZ, U. (1993): Die Kinder des Jahrhunderts. Zur Pädagogik der Vielfalt im Jahr 2000. Weinheim: Beltz

REISER, Helmut (1991): Wege und Irrwege zur Integration. In: SANDER, A. & RAIDT, P. (Hrsg.): Integration und Sonderpädagogik. Referate der 27. Dozententagung für Sonderpädagogik in deutschsprachigen Ländern im Oktober 1990 in Saarbrücken. St. Ingbert: Röhrig, 13-33

REISER, H. (1997): Lern- und Verhaltensstörungen als gemeinsame Aufgabe von Grundschul- und Sonderpädagogik unter dem Aspekt der pädagogischen Selektion. Zeitschrift für Heilpädagogik 48, 266-275

REISER, H. (1998): Sonderpädagogik als Service-Leistung? Zeitschrift für Heilpädagogik 49, 46-54

REISER, H., LOEKEN, H. & DLUGOSCH, A. (1995): Bedingungen der Problemwahrnehmung von Leistungsversagen in der Grundschule am Beispiel zweier hessischer Landkreise. Wiesbaden: Hessisches Institut für Bildungsplanung und Schulentwicklung

STAINBACK, S. & W. (Ed.) (1997): Inclusion. A Guide für Educators. Baltimore London Toronto Sydney: Paul H. Brooks, 2. Auflage

Quelle

Andreas Hinz: Perspektiven des Gemeinsamen Unterrichts

Teil eines Vortrags auf der Tagung "Integration trotz leerer Kassen!?" am 5. 3. 1998 in Frankfurt am Main

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 09.06.2005

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