Integration - Interkulturelle Erziehung - Koedukation
Inhaltsverzeichnis
- Kommentar (aus dem Klappentext)
- Vorwort
- 1 Einleitung
- 2 Darstellung des Untersuchungsvorhabens
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3 Aussagen der Integrationspädagogik zur Bewältigung von Heterogenität
- 3.1 Aussagen zur Person-Ebene
- 3.2 Aussagen zur Interaktion-Ebene
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3.3 Aussagen zur Handlungsebene
- 3.3.1 Integration und Komplexitätsreduzierung: Kooperation von PädagogInnen statt Homogenisierung von Lerngruppen
- 3.3.2 Integrative Kooperation als zentrales Problem der Integrationspädagogik
- 3.3.3 Grundlagen und Elemente eines integrativen Unterrichts
- 3.3.4. Zur Aus- und Weiterbildung, Beratung und Begleitung
- 3.4 Aussagen zur Institution-Ebene
- 3.5 Aussagen zur Gesellschaft-Ebene
- 3.6 Zusammenfassung wesentlicher Aussagen der Integrationspädagogik zur Bewältigung der Heterogenität
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4. Aussagen der Interkulturellen Erziehung zur Bewältigung von Heterogenität
- 4.1 Zur Heterogenität der Kulturen
- 4.2 Aussagen zur Person-Ebene
- 4.3 Aussagen zur Interaktion-Ebene
- 4.4 Aussagen zur Handlungsebene
- 4.5 Aussagen zur Institution-Ebene
-
4.6 Aussagen zur Gesellschaft-Ebene
- 4.6.1 Zur begrifflichen Bestimmung von Ausländerpädagogik und Interkultureller Erziehung im Verhältnis zur Allgemeinen Pädagogik
- 4.6.2 Kritik an Förderansatz und Bikultureller Bildung
- 4.6.3 Auseinandersetzung mit Antirassistischer Erziehung
- 4.6.4 Kritik an Ethno- und Eurozentrismus sowie Rassismus
- 4.6.5 Kritik von Betroffenen
- 4.7 Zusammenfassung wesentlicher Aussagen der Interkulturellen Erziehung zur Bewältigung der Heterogenität der Kulturen
-
5. Aussagen der Feministischen Pädagogik zur Bewältigung von Heterogenität
- 5.1 Zur Heterogenität der Geschlechter
- 5.2 Aussagen zur Person-Ebene
- 5.3 Aussagen zur Interaktion-Ebene
- 5.4 Aussagen zur Handlungsebene
- 5.5 Aussagen zur Institution-Ebene
-
5.6 Aussagen zur Gesellschaft-Ebene
- 5.6.1 Feministische und allgemeine Pädagogik - Kritik am androzentristischen Universalismus
- 5.6.2 Kritik am Sexismus
- 5.6.3 Kritik an sexistischen Darstellungen in Schulbüchern und Richtlinien
- 5.6.4 Zur Ambivalenz von kompensatorischen Ansätzen - die Gefahr der 'Sonderpädagogisierung' der Koedukationsfrage
- 5.6.5 Kritik von Betroffenen an der Reproduktionstechnologie
- 5.7 Zusammenfassung wesentlicher Aussagen der Feministischen Pädagogik zur Bewältigung der Heterogenität der Geschlechter
- 6. Heterogenität der Begabungen, der Kulturen und der Geschlechter - ein neues Paradigma der allgemeinen Pädagogik?
- 7 Perspektiven für eine Allgemeine Pädagogik und eine gemeinsame und vielfältige Schule für alle
- 8. Literatur
- Zum Autor
Interkulturelle Erziehung, Integration von Behinderten und Nichtbehinderten und Koedukation von Jungen und Mädchen sind Brennpunkte der aktuellen pädagogischen Diskussion. Auf den ersten Blick handelt es sich um 'eigenständige' Themen der Erziehungswissenschaft, die keinerlei verbindende Gemeinsamkeiten von allgemeinpädagogischer Qualität aufweisen.
Andreas Hinz hat mit der vorliegenden Arbeit die theoretische Anstrengung aufgebracht, diese scheinbar disparaten Arbeitsfelder auf einen allgemeinpädagogischen Generalnenner zu bringen. Den gemeinsamen Nenner von integrativer, interkultureller und koedukativer Pädagogik definiert er als Bewältigung von Heterogenität. Denn diese drei 'Pädagogiken' haben im Kern das gleiche Thema zum Inhalt: Hier wie dort geht es um die Bewältigung von Verschiedenheit, nämlich der Verschiedenheit der Begabungen, der Verschiedenheit der Kulturen und der Verschiedenheit der Geschlechter.
Die Arbeit ist ein überzeugendes Plädoyer für Gemeinsamkeit in der Schule. Insofern ist sie auch ein überfälliges Memorandum an die Allgemeine Pädagogik, die in ihrer gesamten Theoriegeschichte überwiegend eine Theorie für den normalen Durchschnittsschüler gewesen ist und sich der Heterogenität durch die Konzipierung von Sonderpädagogiken entledigt hat. Die konkrete Schlußfolgerung, die sich aus den Studien ergibt, lautet unmißverständlich, eine demokratische Schule für alle aufzubauen. Eine allgemeine Schule, die diesen Namen verdient, verwirklicht die 'Gemeinsamkeit der Verschiedenen' (ADORNO). Eine demokratische Schule für alle Kinder bewältigt Heterogenität durch eine spannungsvolle, lebendige Balance von Gleichheit und Verschiedenheit.
Hans Wocken
"Es ist ein Glück des Menschen, ein
anderer unter Gleichen zu sein."
(PLATO)
Interkulturelle Erziehung, Integration von Behinderten und Nichtbehinderten und Koedukation von Jungen und Mädchen sind Brennpunkte der aktuellen pädagogischen Diskussion. Auf den ersten Blick handelt es sich um 'eigenständige' Themen der Erziehungswissenschaft, die keinerlei verbindende Gemeinsamkeiten von allgemeinpädagogischer Qualität aufweisen.
Andreas Hinz hat mit der vorliegenden Arbeit die theoretische Anstrengung aufgebracht, diese scheinbar disparaten Arbeitsfelder auf einen allgemeinpädagogischen Generalnenner zu bringen. Den gemeinsamen Nenner von integrativer, interkultureller und koedukativer Pädagogik definiert er als Bewältigung von Heterogenität. Denn diese drei 'Pädagogiken' haben im Kern das gleiche Thema zum Inhalt: Hier wie dort geht es um die Bewältigung von Verschiedenheit, nämlich der Verschiedenheit der Begabungen, der Verschiedenheit der Kulturen und der Verschiedenheit der Geschlechter.
Andreas Hinz durchforstet diese drei Heterogenitätsdimensionen nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Erkenntnisleitendes Interesse ist dabei die Fragestellung, wie die Institution Schule mit der Verschiedenheit der Kinder so zurechtkommen kann, daß eine gemeinsame und vielfältige Schule, eine Schule ohne Aussonderungszwänge und ohne Anpassungsdruck möglich wird.
Zur systematisierenden Ordnung und analytischen Durchdringung wird die 'Theorie integrativer Prozesse' herangezogen, die von einer dialektischen Spannung von Gleichheit und Verschiedenheit ausgeht.
Das vorgelegte Werk kann in mehrfacher Hinsicht beeindrucken. Da ist vorab die systematische Leistung zu nennen. Alles, was Integrationspädagogik, Feministische Pädagogik und Ausländerpädagogik an Problemen, Erfahrungen, Einsichten, Grundsätzen, Ergebnissen und Konzepten zu Tage gefördert haben, wird lückenlos gesichtet, gerafft beschrieben und kritisch abgewogen. Die Bandbreite der angesprochenen Themen ist unüberschaubar, die Fülle des verarbeiteten Materials schier erdrückend. Das Werk gleicht hierin einem Kompendium der Pädagogik.
Gewichtiger ist indes die theoretische Leistung. Die Analyse der feministischen, integrativen und interkulturellen Pädagogik führt zu erstaunlichen Parallelen. Die Bewältigungsmuster in den verschiedenen Heterogenitätsdimensionen sind in einem so hohen Maße ähnlich, daß gelegentlich die Wörter Frauen, Behinderte und Ausländer schlichtweg ausgetauscht werden könnten und der übrige rahmende Text doch weiterhin Gültigkeit hätte.
Die Theorie integrativer Prozesse vermag dabei in den untersuchten Heterogenitätsfeldern eine hohe produktive, klärende analytische Kraft zu entfalten. Sie erfährt durch diese Arbeit eine begriffliche Präzisierung und inhaltliche Anreicherung, in einem solchen Maße, daß ihr paradigmatische Qualitäten für die Allgemeine Pädagogik zuerkannt werden können.
Die Arbeit ist im Ergebnis ein überzeugendes Plädoyer für Gemeinsamkeit in der Schule. Insofern ist sie auch ein überfälliges Memorandum an die Allgemeine Pädagogik, die in ihrer gesamten Theoriegeschichte überwiegend eine Theorie für den normalen Durchschnittsschüler gewesen ist und sich der Heterogenität durch die Konzipierung von Sonderpädagogiken entledigt hat.
Die konkrete Schlußfolgerung, die sich aus den Studien ergibt, lautet unmißverständlich, eine demokratische Schule für alle aufzubauen. Eine allgemeine Schule, die diesen Namen verdient, verwirklicht die 'Gemeinsamkeit der Verschiedenen' (ADORNO). Eine demokratische Schule für alle Kinder bewältigt Heterogenität durch eine spannungsvolle, lebendige Balance von Gleichheit und Verschiedenheit. Oder mit den Worten der italienischen Integrationsbewegung: Tutti uguali, tutti diversi - alle sind gleich, alle sind verschieden. Das "Glück des Menschen, ein Anderer unter Gleichen zu sein" (PLATO), bedarf der Ergänzung durch das Glück, ein Gleicher mitten unter Anderen zu sein.
Lieber Lehrer. Ich bin Überlebender eines Konzentrationslagers. Meine Augen haben gesehen, was niemand je sehen sollte. Gaskammern, gebaut von gelernten Ingenieuren. Kinder, vergiftet von ausgebildeten Ärzten. Säuglinge, getötet von geschulten Krankenschwestern. Frauen und Babies, erschossen und verbrannt von Hochschulabsolventen. Deshalb bin ich mißtrauisch gegenüber Erziehung. Meine Forderung ist, daß Lehrer ihren Schülern helfen, menschlich zu werden. Ihre Anstrengungen dürfen niemals führen zu gelernten Ungeheuern, ausgebildeten Psychopathen, studierten Eichmanns. Lesen, Schreiben, Rechnen sind nur wichtig, wenn sie dazu dienen, unsere Kinder menschlicher werden zu lassen. |
Die schulische Pädagogik steht überall vor der Herausforderung, daß sich in jeder Lerngruppe unterschiedliche Kinder befinden und somit eine Heterogenität gegeben ist, die möglichst in der Weise bewältigt werden muß, daß jedes Kind angemessene, förderliche Angebote erhält. Diese Heterogenität bezieht sich auf unterschiedliche Dimensionen: Bedeutsam sind z.B. die kognitive Leistungsfähigkeit, die Emotionalität, psycho-soziale Fähigkeiten, das Alter, das Geschlecht, die sprachlich-kulturelle Herkunft und die soziale Schicht.
In Vergangenheit und Gegenwart des deutschen Schulwesens dominiert eine Strategie der Bewältigung von Heterogenität durch die Bildung von Lerngruppen mit möglichst 'gleichen' Kindern, also eine Strategie der Homogenisierung durch Gliederung und äußere Differenzierung. Vielfältige Strukturen dienen dieser Strategie: die Jahrgangsklasse, die Gliederung des Schulwesens in unterschiedliche, hierarchisch geordnete Schultypen vom Gymnasium bis zur Schule für Geistigbehinderte und eine Vielzahl von Sonderformen und -maßnahmen für Kinder mit spezifischen Problemlagen.
Diese Strategie der Homogenisierung ermöglicht es, für die möglichst homogenen Lerngruppen gleiche Anforderungen zu formulieren und gleiche Ziele auf gleichem Niveau zu setzen. Da jedoch Kinder nicht nur verschieden sind, sondern sich auch unterschiedlich entwikeln, sind Regelungen und Verfahren notwendig, die diese Logik der Homogenisierung aufrechtzuerhalten helfen: Bestimmungen über Versetzungen bzw. Klassenwiederholungen, über die Abschulung auf einen Schultyp mit niedrigeren Anforderungen, bis hin zum Sonderschulüberweisungsverfahren. Diese Mechanismen sind Ausdruck des grundlegenden Spannungsverhältnisses, in dem sich die Schule befindet: Auf der einen Seite ist die individuelle Verschiedenheit jedes Kindes vorhanden, auf der anderen Seite wird die Lerngruppe der Gleichheitsforderung einheitlicher Anforderungen und Ziele unterworfen. Die Strategie der Homogenisierung ist zumindest seit dem pädagogischen Optimismus von COMENIUS, der die Kunst postulierte, allen Kindern - und nicht nur den Kindern des Adels - alles zu lehren, das grundlegende Prinzip der Schule.
Dieses Spannungsverhältnis spiegelt sich auch in den beiden grundlegenden Strukturelementen des Schulsystems wider, um deren Gewichtung sich die bildungspolitische Diskussion seit mindestens 70 Jahren dreht: auf der einen Seite die vertikale Struktur des Schulsystems mit dem Anspruch auf Gliederung und Differenzierung als Entsprechung zu einer vertikal gegliederten Gesellschaft, auf der anderen Seite die strukturelle Horizontalisierung des Systems mit dem Anspruch von Chancengleichheit und Demokratisierung (vgl. FURCK 1990). Selbst jene Schule, die seit den Postulaten in der Weimarer Verfassung eine Schule für alle Kinder des Volkes sein soll, die allgemeine Grundschule, ist - ebenso wie die Integrierte Gesamtschule - trotz gegenteiliger Programmatik bisher keine Schule für alle Kinder, denn sie hat Kindern mit Behinderungen weithin die Aufnahme verweigert und Kinder mit größeren Schwierigkeiten in die Grundstufen der Sonderschulen ausgesondert. Vereinfacht läßt sich feststellen: Überall wird davon ausgegangen, daß Kinder entweder gleich bzw. in Maßen durch Zuweisung zu Klassen und Kursen anzugleichen sind. Wenn diese Homogenisierungsprozesse nicht möglich und Kinder also zu verschieden sind, werden sie separiert. Bei zu großer Abweichung von einem imaginären Durchschnitt, von einer allgemeinen Norm ist mit Anpassungsdruck und/oder Separierungsdrohung zu rechnen (vgl. HINZ 1989a). Dies sind die zwei Seiten des bisher herrschenden Homogenisierungs-Denkens.
Diese Strategie der Bewältigung von Heterogenität durch Homogenisierung ist immer wieder heftig kritisiert worden. Mehrfach gab es Ansätze, ihr andere Strategien entgegenzusetzen. Als Beispiele können die von Peter PETERSEN entwickelten Jena-Plan-Schulen gelten, die die Heterogenität des Alters in gemischten Gruppen produktiv zu nutzen versuchten, aber auch die Gesamtschule, die die Mischung der sozialen Schichten in einer gemeinsamen Schule für alle statt ihrer Trennung im gegliederten Schulwesen postuliert. Als beispielhaft für die kritische Einschätzung der Homogenisierungsstrategie mit der Folge eines hierarchisch gestuften Systems mag die Stellungnahme von VIERLINGER zur österreichischen Hauptschule gelten, die er unter der Überschrift "das pädagogische Defizit der Schülersortierung" (1988, 547) u.a. in den folgenden Thesen zusammenfaßt: "Ein gestuftes Schulsystem macht die Schule stets mehr zu einer Stätte der Diagnose, des Richtens und des Aburteilens, des Aussortierens und der Auslese als zu einer Stätte des Helfens, der bildenden Begegnung und der Förderung" (1988, 547). Dies hat nach VIERLINGER negative Konsequenzen für die sozial-emotionale Entwicklung der SchülerInnen und ihre Fähigkeiten zu Kooperation und Hilfe. "Die homogene Schülerzusammensetzung liefert dem Lehrer ein Alibi, für Individualisierung und Differenzierung nicht weiter Sorge tragen zu müssen. Jedes gestufte System perfektioniert den Lehrer zu einem Spezialisten für Aussonderung, während er doch ein Spezialist für das Entwerfen von Lehrstrategien sein sollte!" (1988, 549). Dies hat für die LehrerInnen negative Konsequenzen für ihre Rollendefinition und ihre Aufgabenwahrnehmung. Schließlich klagt VIERLINGER die pädagogische Behinderung von Lernmöglichkeiten in homogenisierten Lerngruppen an: "Der wichtigste Lernvorgang aber, das Lernen am Vorbild, wurde und wird mißachtet" (1988, 550). Angesichts diese negativen Folgen für die Entwicklung von SchülerInnen, für das Selbstverständnis von LehrerInnen und für die pädagogischen Chancen fordert VIERLINGER eine Schule, die sich von der äußeren Differenzierung ab- und ausschließlich der inneren Differenzierung zuwendet (1988, 551). Damit würde der Homogenisierungsstrategie abgeschworen und eine bewußte Kultur der Heterogenität gepflegt.
In den 70er, stärker aber noch in den 80er Jahren ist wiederum Bewegung in die Diskussion um die Frage der Bewältigung von Heterogenität in der Schule, oder, plakativ ausgedrückt, in die Frage des Mischens oder Aufteilens von Kindern gekommen. Die Anstöße dazu kamen im wesentlichen nicht aus der Schule und der Pädagogik, sondern gingen von einer Elternbewegung aus: Eltern fordern für ihre behinderten und nichtbehinderten Kinder einen gemeinsamen, integrativen Unterricht in einer gemeinsamen 'Schule für alle Kinder'. Kinder mit Behinderungen sollen dem Willen dieser Eltern nach nicht mehr in den für sie gedachten Formen des Sonderschulwesens, sondern gemeinsam mit den nichtbehinderten Kindern der Umgebung in der Grundschule des Bezirks unterrichtet werden. Das Motto: 'Gemeinsam leben - gemeinsam lernen' faßt das Programm dieser Elternbewegung für Integration und gegen Aussonderung zusammen.
Die Genehmigung der ersten Integrationsversuche war von den zuständigen Kultusbehörden zunächst als Beruhigungs- und Befriedungsaktion für kleine, privilegierte Gruppen von Eltern geplant, die sich quasi konspirativ in Initiativen organisierten und öffentlichen Druck erzeugten. Inzwischen zeichnet sich jedoch eine Tendenz grundlegender Veränderung ab, und dieses am deutlichsten im Grundschulbereich. Deutlich wird dieser veränderte Elternwille z.B. in der Repräsentativumfrage des Instituts für Schulentwicklung von 1989, nach der 75 % der Befragten der Meinung zustimmen und lediglich 8 % verneinen, daß die Eltern eines behinderten Kindes selbst entscheiden können sollen, welche Schule ihr Kind besuchen soll (IFS 1990, 42). Diese neue Entwicklung hat zunächst vor allem in den alten Bundesländern mit sozialdemokratisch geführten Regierungen begonnen. Sie hat sich jedoch inzwischen auf fast alle alten Bundesländer ausgeweitet und auch in den neuen Bundesländern zu ersten Initiativen und Versuchen geführt. Eine Reihe integrativer Versuche sind bereits in die Sekundarstufe I, meist in Gesamtschulen, hineingewachsen, die ältesten Klassen haben schon die Sekundarstufe I durchlaufen, und die SchülerInnen mit und ohne Behinderungen sind in die verschiedenen Zweige der Sekundarstufe II übergegangen. Die Tendenz zu grundlegenden Veränderungen läßt sich auch durch die Tatsache belegen, daß seit Beginn der 90er Jahre in einer Reihe von Bundesländern Schulgesetzänderungen in Kraft treten, die die Erziehungsaufgabe der allgemeinen Schule ausdrücklich auch auf SchülerInnen mit Behinderungen beziehen - und dieses ohne prinzipiellen Ausschluß nach Art oder Schwere der Behinderung, wenn auch im Rahmen vorhandener Mittel. Damit scheint die Dominanz des Ausschlusses von SchülerInnen mit Behinderung aus der allgemeinen Schule überwindbar und eine andere Strategie der Bewältigung von Heterogenität möglich zu werden.
Die pädagogische Bedeutung dieser Entwicklung liegt nun nicht einfach darin, daß einige bisher in Sonderschulen unterrichtete Kinder mit Behinderungen die Grundschule des Umfelds bzw. eine der allgemeinen Sekundarschulen besuchen. Die Integrationsbewegung stellt die bisherige schulstrukturelle Dominanz von Differenzierung und Ausgrenzung im Schulsystem in neuer Radikalität in Frage und fordert im Gegensatz zu ihr die Dominanz der Gemeinsamkeit und Demokratisierung. Bewältigung von Heterogenität vollzieht sich innerhalb dieser neuen Entwicklung in einer neuen Weise, bei der offensichtlich die Gemeinsamkeit höchst unterschiedlicher Kinder nicht mehr als zu minimierendes Problem, sondern als Chance gesehen wird. Insofern handelt es sich bei der Integration im Sinne eines gemeinsamen Unterrichts für alle Kinder in der Tat um eine "ideelle Revolution" (WOKEN 1987b, 76) innerhalb der Pädagogik, mit der die Schule nach über 300 Jahren über COMENIUS hinauszugehen verspricht. Die Grundschule könnte mit der unbeschränkten Aufnahme aller Kinder ihrem in der Weimarer Verfassung verankerten Postulat einer 'Schule für alle Kinder des Volkes' einen gewichtigen Schritt näherkommen und sich somit tatsächlich zu einer demokratischen Schule entwikeln (vgl. SCHWARZ 1991, 16).
Der erste Teil der Fragestellung dieser Arbeit richtet sich auf die praktischen und theoretischen Strategien der Bewältigung von Heterogenität im Bereich der integrativen Erziehung.
Zunächst sollte sich die vorliegende Arbeit der Praxis der integrativen Erziehung in der Primarstufe zuwenden. Auf der Basis mehrjähriger Wissenschaftlicher Begleitungsarbeit in den Hamburger Integrationsklassen sollte sie beschrieben und analysiert werden. Das Untersuchungsvorhaben dieser Arbeit nahm jedoch eine andere Wendung: Im integrativen Unterricht waren immer wieder Situationen zu beobachten, in denen sich Auseinandersetzungen nicht auf die Heterogenität der Begabungen bezogen, sondern auf andere Dimensionen von Heterogenität: Häufig waren dies Auseinandersetzungen zwischen Mädchen und Jungen, bei denen die Geschlechter eine große Rolle spielten, oder Auseinandersetzungen, bei denen der unterschiedliche kulturelle Hintergrund der Kinder von Bedeutung war. Auf dieser Grundlage weitete sich der Interessen- und Aufmerksamkeitshorizont für andere Dimensionen der Heterogenität von Kindern in der Schule. Es wurde eine neue Problematik deutlicher, die darin besteht, daß in der Praxis der Integrationsklassen anderen Dimensionen der Heterogenität möglicherweise nicht hinreichend Aufmerksamkeit geschenkt wird, so daß dort traditionelle 'heimliche Lehrpläne' trotz aller Bemühungen um Integration von behinderten und nichtbehinderten Kindern weiterhin unreflektiert und um so effektiver wirken können. PädagogInnen sind demnach in der Praxis auf alle Dimensionen der Heterogenität bezogen herausgefordert und stehen unter unmittelbarem Handlungsdruck. Eine Folge dieser Überlegungen war die intensivere Beschäftigung mit den Diskussionen um die Verschiedenheit von Kindern in der Literatur der Schulpädagogik (vgl. HINZ 1989a). Ermutigt und angeregt wurden diese Überlegungen durch ähnliche Gedanken in den Arbeiten von Annedore PRENGEL (1988b, 1989a, 1990c).
Bei der theoretischen Beschäftigung mit diesem ausgeweiteten Fragenhorizont zeigte sich schnell, daß die Frage einer veränderten Bewältigung von Heterogenität in der Schule sich nicht allein im Hinblick auf die Dimension der Begabung im Sinne des gemeinsamen oder getrennten Unterrichts von Kindern mit und ohne Behinderung stellt. Sie wird zumindest in zwei weiteren Feldern diskutiert:
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Bei der Frage der gemeinsamen oder getrennten schulischen Erziehung von Kindern mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund geht es ebenfalls um die Bewältigung von Heterogenität, und zwar ihrer kulturellen Dimension. Hier versprechen Ansätze der Interkulturellen Erziehung über jenes Homogenisierungsdenken hinauszuführen, das für Kinder von MigrantInnen und Flüchtlingen nur die Alternative zwischen der Anpassung an das Deutsche und der subkulturellen Isolation im Kreis der Herkunftskultur läßt.
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Auch die Frage der gemeinsamen oder getrennten schulischen Erziehung von Mädchen und Jungen wird seit einigen Jahren kontrovers diskutiert. Die feministische Schulkritik betont, daß die geschlechtliche Heterogenität in der Schule bisher weitgehend im Sinne der Homogenisierung durch die Anpassung oder das Ignorieren des Weiblichen bewältigt wurde. Ansätze der Feministischen Pädagogik versuchen hier alternative Bewältigungsstrategien aufzuzeigen.
Der zweite Teil der Fragestellung dieser Arbeit bezieht sich dementsprechend auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser drei bisher weitgehend getrennt geführten pädagogischen Diskussionen. In allen drei Diskussionen geht es um die Frage einer Balance zwischen Gleichheit und Gemeinsamkeit einerseits und Verschiedenheit und Differenzierung andererseits. Wenngleich die Ausgangssituationen unterschiedlich sind, so kreist die Suche in allen drei Feldern um die gleiche Fragestellung, nämlich die Frage, wie sich Gemeinsamkeit ohne Uniformitätsdruck und ohne Ausgrenzungsdrohung entwickeln kann, oder, um es in einem Kernbegriff zu fassen, wie ein "Miteinander des Verschiedenen" (ADORNO 1980, 153) ermöglicht werden kann. Ansätzen der Integrationspädagogik, der Interkulturellen Erziehung und der Feministischen Pädagogik ist dieses zentrale Anliegen gemeinsam, auch wenn dies innerhalb der einzelnen Diskussionsfelder meist nicht bewußt ist.
Die Fragestellung der Arbeit lautet also in einem Satz zusammengefaßt: Wie kann Heterogenität in der Schule so bewältigt werden, daß nicht mehr die Homogenisierung mit den problematischen Konsequenzen der Anpassungsforderung und Aussonderungsdrohung dominiert, sondern eine Strategie des 'Miteinander des Verschiedenen' Platz greift, die zu einer gemeinsamen, vielfältigen Schule für alle Kinder beiträgt?
Inhaltsverzeichnis
Das Untersuchungsvorhaben dieser Arbeit gliedert sich in zwei Schritte auf. Im ersten Schritt geht es um eine Analyse der Integrationspädagogik und ihrer bisherigen Praxis- und Theorieentwicklung. Hier steht die Frage im Zentrum, wie die Integrationspädagogik das gleichzeitige Vorhandensein von Gleichheit und Verschiedenheit von Kindern theoretisch formuliert (Kap. 2) und wie sie es praktisch zu bewältigen in der Lage ist (Kap. 3).
Im zweiten Schritt richtet sich die Fragestellung auf die Übertragbarkeit des integrationspädagogischen Vorverständnisses eines dialektischen Verständnisses von Gleichheit und Verschiedenheit auf andere Bereiche der allgemeinen Pädagogik. Hier steht im Zentrum, ob ein solches dialektisches Verständnis für die Bereiche der Heterogenität der Kulturen (Interkulturelle Erziehung) und die Heterogenität der Geschlechter (Feministische Pädagogik) Gültigkeit besitzt und weiter, wie es in Praxis und Theorie beschrieben und eingelöst wird (Kap. 4 und 5).
Die Beantwortung dieser beiden Fragen erfolgt wiederum in zwei Schritten: Zunächst werden hierzu die theoretischen und praktischen Aussagen der drei Bereiche, der Heterogenität der Begabungen, der Kulturen und der Geschlechter, in einer synoptischen Zusammenfassung verglichen. Es werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet (Kap. 6). Schließlich wird ausgelotet, welche Bedeutung diese Ergebnisse auf unterschiedlichen Ebenen haben: die Bedeutung für die Institution Schule, für den Unterricht, für die LehrerInnenausbildung, auch die Bedeutung für die Erziehungswissenschaft (Kap. 7).
In diesem Abschnitt erfolgt eine Analyse der integrationspädagogischen Entwicklung. Dabei wird zwischen den Ebenen der Praxisentwicklung (Kap. 2.1.1) und der Theorieentwicklung (Kap. 2.1.2) unterschieden. Die Praxisebene steht hier am Anfang, da sie auch in der realen Entwicklung selbst als 'Entwicklung von unten' voranging und erst theoretische Aussagen nach sich zog.
Bei der Betrachtung der Praxisentwicklung geht es um drei Schwerpunkte: Zunächst wird das historische Vorfeld und gesellschaftliche Umfeld umrissen, es werden also jene pädagogischen und gesellschaftlichen Entwicklungen dargestellt, in die die Integrationsentwicklung eingebettet ist. Daran schließt sich eine zusammenfassende Darstellung der in der Praxis vorzufindenden konzeptionellen Entwicklungslinien an. Den Abschluß bildet eine Charakterisierung der beiden wesentlichen aktuellen bildungspolitischen Kontroversen, die Einbeziehung von Kindern, die sonst Schulen für Geistigbehinderte besuchen würden, und die Weiterführung integrativer Erziehung im Sekundarbereich.
Die praktische und theoretische Entwicklung der Integrationspädagogik hat historische Vorläufer und unterschiedliche Wurzeln, auf denen sie aufbaut und durch die sie angeregt wurde. Mit ihrer Betrachtung kann das Vor- und Umfeld erhellt werden, in dem sich die Integrationspädagogik hat entwickeln können.
Bereits in der Weimarer Reichsverfassung 1919 wird für die allgemeine Grundschule gemäß Artikel 146 als Ziel proklamiert: "Die Grundschule ist eine Schule für alle Kinder des Volkes". Ziel und Anspruch sind jedoch der Praxis weit voraus. So wird auf der Reichsschulkonferenz 1920 von SonderschulvertreterInnen für eine eigenständige Sonderbeschulung argumentiert, "damit die normalbegabten einen ruhigen und ungehemmten Fortschritt in der Grundschule und den weiteren Zweigen der Einheitsschule erfahren können" (zit. in PRENGEL 1989a, 188). In § 5 des Reichsgesetzes über die Grundschule, die eine vierjährige gemeinsame Beschulung für (fast) alle Kinder festlegt, wird der Ausschluß von Kindern mit Behinderungen festgeschrieben: "Auf die Unterrichtung und Erziehung blinder, taubstummer, schwerhöriger, sprachleidender, krankhaft veranlagter, sittlich gefährdeter oder verkrüppelter Kinder sowie auf die dem Unterricht und der Erziehung dieser Kinder bestimmten Anstalten und Schulen finden die Vorschriften dieses Gesetzes keine Anwendung" (nach PREUSS-LAUSITZ 1986a, 104).
Im Gegensatz zu anderen Ländern wird nach dem zweiten Weltkrieg in der BRD keine "grundlegende Erneuerung der Gesellschaft" (DEPPE-WOLFINGER 1990a, 11) eingeleitet, sondern im Bildungsbereich "die Restauration des viergliedrigen Schulwesens" (1990a, 12) betrieben. Bis zur Mitte der 70er Jahre ist die pädagogische Förderung behinderter Kinder, so weit sie überhaupt beschult wurden, nahezu die ausschließliche Angelegenheit, das Monopol der Sonderschulen. Zwar gibt es immer wieder einzelne Kinder mit Behinderungen, die in der allgemeinen Schule 'nebenbei mitlaufen' oder 'mitgezogen' werden; doch übernehmen die Sonderschulen in immer größerem Maße eine Entlastungsfunktion für die allgemeine Schule, indem sie ihr Kinder mit größeren Schwierigkeiten abnehmen und so die Heterogenität der Lerngruppen begrenzen. Der rapide Ausbau des Sonderschulwesens seit dem Ende des zweiten Weltkriegs und vor allem in den 60er Jahren ist u.a. dessen Ausdruck (MUTH 1982, PREUSS-LAUSITZ 1986a).
Erst Ende der 60er Jahre kommt im Zusammenhang mit der Erklärung des "Bildungsnotstandes" (PICHT 1964) stärkere Bewegung in die Bildungslandschaft, die zur ersten Welle von Gesamtschulgründungen führt. Damit beginnt nach EBERWEIN "die erste Phase der Integrationsdiskussion" (1988b, 51), innerhalb der Sonderpädagogik vorwiegend als theoretische Diskussion um die Einbeziehung von 'SonderschülerInnen' in Gesamtschulen.
Mit der Empfehlung der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates "Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher" von 1973 ist eine Wendemarke der sonderpädagogischen Bildungsplanung und ihrer theoretischen Grundlagen sowie eine zweite Phase der Integrationsdiskussion wie der Realisierung integrativer Schulen (EBERWEIN 1988b, 51) erreicht. "In ihm ist das erste offizielle Dokument zu sehen, das in der Bundesrepublik die Gemeinsamkeit von Behinderten und Nichtbehinderten im allgemeinen Schulwesen empfiehlt" (MUTH 1988a, 14). Die Empfehlung des Bildungsrates markiert gleichzeitig die Verlagerung der Integrationsdiskussion vom Sekundar- in den Primarbereich und von der Integration der sozialen Schichten (in der Gesamtschule), bei der die Einbeziehung von Kindern mit Behinderungen einen marginalen Stellenwert hat, zu der von 'unterschiedlichen Begabungen' (HINZ 1989a). Wie MUTH 1983, zehn Jahre später, jedoch feststellt, sind die konkreten Wirkungen der Empfehlungen der Bildungskommission eher enttäuschend. In den offiziellen Curricula wie in der offiziellen Schul- und Hochschulpolitik hat sich seiner Einschätzung nach "nichts, nichts, nichts getan" (1984, 19).
Immerhin aber kommt es zu Beginn der 80er Jahre - vorwiegend im Bereich der Behindertenpädagogik - zu einer Phase intensiver, auch ideologisch geführter Diskussionen. Der Aufsatztitel "... man kann sich das einfach nicht vorstellen" (BOBAN & WOCKEN 1983) gibt die Situation jener Zeit wieder, als noch keine breiteren Erfahrungen mit schulischer Integration vorliegen. In dieser Zeit intensiver ideologischer Auseinandersetzungen werden Sonderschulen als 'Institutionen der Gewalt' bezeichnet und demokratisierende Konsequenzen gefordert: "Schafft die Sonderschule ab!" (JANTZEN 1981). Gleichzeitig fühlen sich andere durch die "italienische Seuche" (PRäNDL 1981), mit der sie die Anregungen aus der italienischen Psychiatrie- und Schulreformbewegung benennen zu müssen glauben, verfolgt und bedroht.
Die harten ideologischen Auseinandersetzungen treten in den Folgejahren jedoch zurück zugunsten der Diskussion über die Entwicklung praktischer Versuche und theoretischer Konzepte. Gleichwohl kommen auch Ende der 80er Jahre ideologische Entgleisungen vor wie die von SPECK, der auf einer Tagung des Berliner Senats 1987 das Vorhaben einer "totalisierten Integration als Endziel" kritisiert (was dann in der schriftlichen Fassung des Vortrags nicht mehr enthalten ist; vgl. PREUSS-LAUSITZ 1988f, 35, SPECK 1989). An diesem Vortrag lassen sich auch in seiner schriftlichen Fassung ideologische Momente in der Begriffsbildung finden: SPECK stellt einem als positiv verstandenen "Konzept der differenzierten und kooperativen Integration" (1989, 18) das von ihm schon im Vortrag heftiger kritisierte "Konzept der totalen Integration" (1989, 20) gegenüber - die ideologische Wertung ist eindeutig; sie könnte indessen umgekehrt werden durch die ebenso tauglichen Begriffe 'unbeschränkte Integration' und 'beschränkte Integration'.
In der Folge der Bildungsratsempfehlung gehen in der Praxis nicht nur die Schülerzahlen im Sonderschulbereich zurück, sondern es entstehen auch zahlreiche Integrationsprojekte, die in ihren inhaltlichen Grundlagen deutlich mit der Bildungsratsempfehlung verbunden sind und sich auf sie berufen (z.B. PROJEKTGRUPPE 1988, WOCKEN 1988e). Seit der Empfehlung des Bildungsrates breitet sich die integrative Erziehung im Sinne einer "Gemeinsamkeit im Bildungswesen" (MUTH 1986) von behinderten und nichtbehinderten Kindern immer stärker aus. Mittlerweile hat die Integrationsbewegung nicht nur "das Monopol der bisherigen Sonderbeschulung gebrochen" (BLEIDICK 1989a, 37), sondern mit dem Aufbau von Möglichkeiten des gemeinsamen Lebens und Lernens von Kindern mit und ohne Behinderung in der Schule ein "Patt der konkurrierenden Systeme" (1989a, 37) hergestellt.
Die Integrationsentwicklung hat ihre Wurzeln jedoch nicht nur in der Sonderpädagogik, sondern auch in der Allgemeinen Pädagogik. In der Tradition der anfangs zitierten Weimarer Verfassung nähert sich die allgemeine Schule, insbesondere die Grundschule mit den Reformbestrebungen in den 70er Jahren und deutlich verbesserten Rahmenbedingungen dem Anspruch an, eine Schule für alle Kinder zu sein. Hier bildet das vom Grundschulkongreß 1989 beschlossene Grundschulmanifest einen wichtigen Meilenstein. Dort heißt es, die Grundschule müsse aus den tiefgreifenden Veränderungen in den Lebensbedingungen von Kindern Konsequenzen ziehen. Unter anderem wird unter Punkt 4 gefordert: "Kinder heute haben einen Anspruch auf eine für alle gemeinsame Grundschule, wie sie schon der Artikel 146 der Weimarer Verfassung forderte. Solange behinderte Kinder außerhalb der Grundschule bleiben, ist der Verfassungsauftrag nicht erfüllt. Grundschule heute muß deshalb die Integration von Behinderten als humane Aufgabe einlösen" (GRUNDSCHULMANIFEST 1989, 3). Mit dem Grundschulmanifest erklärt sich die Grundschule explizit für die Unterrichtung behinderter Kinder in der allgemeinen Schule für zuständig. Diese Qualität der Aussage ist neu: Es geht nicht mehr um die Frage der Machbarkeit von Integration oder um das Erfahrungen-Sammeln in Modell- und Schulversuchen, sondern um eine Verankerung der Integrationsaufgabe als substantiellem Teil grundschulpädagogischer Arbeit.
Integrationspädagogik ist jedoch nicht als modernisierte Form und schon gar nicht als 'Erfindung' der Schul- oder Sonderschulpädagogik anzusehen, sondern primär das Ergebnis einer Elternbewegung. Die professionelle Pädagogik in Schulpraxis, Schulverwaltung und Wissenschaft hat zunächst ablehnend und zögernd, später nur teilweise unterstützend auf Anforderungen von außen reagiert. Eltern waren und sind die "Integrations-Antreiber vom Dienst" (METTKE 1982). "Wenn es in der Frage der Integration ein Verdienst zu reklamieren gibt, dann ist es ein Verdienst der Mütter und Väter, die den Weg zur gemeinsamen Erziehung von behinderten und nichtbehinderten Kindern mit dem Mut, der Berge versetzt, gebahnt haben" (GROLLE 1987, 42). Vor allem Eltern waren in der Lage, "produktive Unruhe in die Schulen zu tragen und damit 'vor Ort' Reformdiskussionen anzustoßen" (DEPPE-WOLFINGER 1990a, 15). Sie stehen nach wie vor zu diesem Reformprojekt und bilden prinzipiell wie konkret die wichtigsten UnterstützerInnen, im Primar- wie im Sekundarbereich (MUNDER 1983, 1988, DUMKE & SCHäFER 1987, WOCKEN 1987d, BOBAN 1989c, DUMKE, KRIEGER & SCHäFER 1989, PREUSS-LAUSITZ 1990c, COWLAN U.A. 1991b, für Österreich REICHER 1991).
Dieses Verdienst hat jedoch gleichzeitig seine Schattenseiten: Eltern waren und sind es auch, die sich immer wieder von 'realistischen' ExpertInnen die Unmöglichkeit ihres Anliegens entgegenhalten lassen und für jede einzelne Integrationsklasse und -maßnahme kämpfen müssen. Nach wie vor bleibt es ihnen überlassen und zugemutet, sich für die Ausweitung integrativer Erziehung stark zu machen. Ein zweischneidiges Unterfangen: Wo bildungspolitische Einflußmöglichkeiten gegeben sind, kann von Eltern viel bewirkt werden, wo dies nicht zugelassen wird, kann immer argumentiert werden, es habe sich in anderen Bundesländern um priviligierte Eltern gehandelt; somit seien die dort gemachten Erfahrungen nicht repräsentativ und nicht übertragbar. Damit vollzieht sich "Weiterentwicklung und Reform von Schule unter massiver Mitwirkung, aber eben auch auf dem Rücken von Eltern" (HINZ 1989b, 77).
Viele Elterngruppen haben sich zusammengefunden, um eine gemeinsame Kindergartenzeit zu erreichen, häufig unterstützt von privaten Trägern. So entstehen in vielen kirchlichen und Einrichtungen der Behindertenverbände integrierte (im Sinne eines gemeinsamen Hauses von separierten Gruppen für behinderte und nichtbehinderte Kinder) und integrative, also gemischte Gruppen. Weiter wird eine große Zahl von Kindern mit Behinderungen in Regeleinrichtungen betreut (HöSSL 1988a, 1988b, 1988c, zusammenfassend HUNDERTMARCK 1990). Daß die integrative Entwicklung nicht vor den Toren der Grundschule enden soll und viele Elterninitiativen für die Fortsetzung streiten, ist nicht verwunderlich. So haben viele Integrationsprojekte im Schulbereich ihre Vorläufer in integrativen Kindergärten.
Eine zweite wichtige Initiativbewegung neben der der Eltern geht von der LehrerInnenschaft aus, die insbesondere im Rahmen gewerkschaftlicher Aktivitäten ihren Teil zur Initiierung und Unterstützung von Integrationsprojekten im Schulbereich beigetragen hat (GEW 1982, 1986a, GEW LüNEBURG 1986, GEW LV SCHLESWIG-HOLSTEIN 1986, HEYER 1988b, GGG 1989, GEW LV HAMBURG 1990). Auch der Arbeitskreis Grundschule unterstützt die Integrationsentwicklung: Die Verleihung des Grundschulpreises 1988 an die Hamburger Eltern für Integration ist hierfür ein deutliches Zeichen (BRUNNERT 1988, RAMSEGER 1988), ebenso wie die Verleihung des Grundschulpreises 1992 an die Uckermark-Grundschule als erste staatliche Integrationsschule in der Bundesrepublik. Weiter sind auch Einzelinitiativen aus dem Bereich der Hochschulen (TU Berlin; SCHöLER 1988a, 1988b, KRISCHOCK 1989) zu nennen sowie Querverbindungen zwischen Hochschule und LehrerInnengewerkschaft, die bei entsprechenden politischen Veränderungen großes Potential entwickeln konnten, so z.B. im Saarland.
Förderlich für die Integrationsentwicklung in der Bundesrepublik sind weiter auch Anregungen aus dem Ausland. Seit den 70er Jahren kommt es geradezu zu einem "Integrationstourismus" (DEPPE-WOLFINGER 1990a, 18), aus dem eine Vielzahl von Reise- und Tagungsberichten erwächst (vgl. u.a. KASZTANTOWICZ 1982, BüRLI 1985, 1988, HINZ & WOCKEN 1987, SCHöLER 1990).
Die Aufmerksamkeit richtet sich zunächst auf die skandinavischen Länder. Maßgebliche Wirkung erzielt das von BANK-MIKKELSEN formulierte Normalisierungsprinzip, nach dem Menschen mit Behinderungen Hilfen bekommen sollen, mit denen sie ein Leben so normal wie möglich führen können und nicht in die Isolation separierender Institutionen geraten. Im schulischen Bereich wird ein System der Unterstützung für SchülerInnen mit Behinderungen bereitgehalten, das ihren stufenweisen Einbezug in die neunjährige Einheitsschule gewährleisten soll (THIMM U.A. 1985, BUNDESVEREINIGUNG 1986).
Zum zweiten gewinnt Italien seit dem radikalen Schritt der Auflösung von Sonderschulen in der Folge der Anti-Psychiatrie-Bewegung für bundesdeutsche Eltern und PädagogInnen eine besondere Anziehungskraft (SCHöLER 1983, 1984, 1987a, 1987b, INNERHOFER & KLICPERA 1986, 1988, BOBAN U.A. 1987). Dort gibt es kein gestuftes System der Integration wie in Skandinavien, sondern alle Kinder besuchen die Schule des Wohnbereichs, ggf. mit der Unterstützung durch StützlehrerInnen. 1977 wird diese Regelung mit dem Gesetz 517 festgeschrieben und seither nicht grundsätzlich kontrovers diskutiert (RITTMEYER 1990). Konzeptionell bedeutsam ist die italienische Weiterentwicklung des Normalisierungsprinzips in der Medizin der Gesundheit (ROSER & MILANI-COMPARETTI 1982, ROSER 1983a, 1983b, MILANI-COMPARETTI 1987, ROSER 1987a, 1987b; vgl. Kap. 3.5.3).
Weiterhin ist auch Großbritannien von Interesse, sowohl was die Entwicklung schulischer Integration selbst angeht, aber auch auf konzeptioneller Ebene mit dem WARNOCK-Report und dem darin enthaltenen Begriff der "special education needs" (KLEBER 1982, 1984). Zwischenzeitlich wird dort jedoch hinterfragt, ob es sich tatsächlich um "special needs" oder nicht vielmehr um bisher "unmet needs" handelt, das segregierte System wird als "system of educational apartheid" scharf kritisiert, durch das Kinder depriviert würden (HALL 1992, 8).
Neben den Initiativgruppen und Anregungen aus dem Ausland trägt ein weiteres Moment zur Dynamik der Integrationsentwicklung bei: Die Anknüpfung an die Reformbewegungen in den 70er Jahren, die außen-, innen- und bildungspolitisch eine grundsätzliche Demokratisierung forderten. Ihnen ging es u.a. um "eine Neuordnung des Bildungswesens vom Kindergarten bis zur Universität mit dem Ziel von Chancengleichheit, Emanzipation und Mündigkeit" (DEPPE-WOLFINGER 1990a, 12). Dies war wesentlich die Phase intensiver Diskussionen um Gesamtschulen und der ersten Welle ihrer Gründungen.
Diese Modernisierung schlägt sich u.a. in veränderten Schulstrukturen nieder. Die dahinterstehenden Interessen sind gleichwohl sehr unterschiedlich, das Spektrum erstreckt sich von der Forderung nach demokratischeren Strukturen bis zu einer effektiveren "Ausschöpfung der Begabungsreserven" (vgl. KLEMM, ROLFF & TILLMANN 1985). Die sich in der Folge wachsender ökonomischer und individueller Mobilität zunehmend entwikelnde Individualisierung der Lebenslagen und Lebensstile (BECK 1986, 1988, BECK & BECK-GERNSHEIM 1990) verändert auch die Struktur familiärer Sozialisation und führt zu einem tendenziellen Funktionsverlust der Familie. Familien können ihre bisherigen Sozialisationsaufgaben nicht mehr in der bisherigen Weise wahrnehmen und verändern die Bedingungen von Kindheit fundamental. Die bisherige Klarheit von gesellschaftlichen Normen wird immer verschwommener: Die alten Ideale von Fortschritt und Wachstum durch Differenzierung und Spezialisierung werden angesichts der atomaren und ökologischen Weltbedrohung unglaubwürdig, und damit werden auch Maximen bisheriger Bildungsbegriffe und des Bildungssystems insgesamt fragwürdig (vgl. PREUSS-LAUSITZ 1986a, 1988d, SCHLEY 1989a, DEPPE-WOLFINGER 1990b).
Daher muß die Schule - und zumal die Grundschule, wie im GRUNDSCHULMANIFEST 1989 festgestellt wird - vermehrt Sozialisationsaufgaben übernehmen, die weit über das bisherige Verständnis der Schule als Ort der Wissensvermittlung und der Vorbereitung auf die Zukunft hinausgehen (vgl. FöLLING-ALBERS 1989, FAUST-SIEHL, SCHMITT & VALTIN 1990). Schule - und besonders Grundschule - muß sich stärker zu einem Ort jetzigen Lebens und Lernens weiterentwickeln. Integrationsversuche kommen dieser Notwendigkeit insofern entgegen, als sie z.B. mit einem veränderten Lernbegriff, der nicht nur die kognitive Dimension, sondern auch emotionale und soziale Dimensionen verstärkt in den Blick bekommen und damit alten Postulaten wie PESTALOZZIs 'Lernen mit Kopf, Herz und Hand' neue Aktualität verleihen (WOKEN 1987a, 1987b; vgl. Kap. 3.5.1). Insofern können sie evtl. einen Beitrag leisten auf dem "Weg aus der Krise des Bildungssystems" (PREUSS-LAUSITZ 1988c, 1988e, vgl. DEPPE-WOLFINGER 1990b).
Im Rückblick lassen sich verschiedene konzeptionelle Linien ausmachen, die teilweise zeitlich aufeinander folgen, teils sich parallel entwickeln. Sie sollen im folgenden charakterisiert werden (vgl. hierzu PREUSS-LAUSITZ 1981, HAUPT 1985, MUTH 1988B, MUTH & HüWE 1988 SOWIE DEPPE-WOLFINGER, PRENGEL & REISER 1990). Zahlreiche Erfahrungsberichte zu den verschiedenen Ansätzen finden sich in den Publikationen von MUTH, KNIEL & TOPSCH (1976), WEIGT (1977), SCHINDELE (1977), REINARTZ & SANDER (1978 BZW. 1982), GEW (1982, 1983, 1986A), KLEIN, MöCKEL & THALHAMMER (1982), VALTIN, SANDER & REINARTZ (1984), PREUSS (1985).
Schon lange gibt es in allgemeinen Schulen Integrationsversuche mit Kindern einer Behinderungsart. Dabei handelt es sich durchweg um Integration mit gleichen Lernanforderungen für alle, es wird jedoch durch Mitarbeit von SonderpädagogInnen und didaktische, therapeutische und apparative Hilfen zusätzliche Unterstützung gegeben. Solche Versuche, denen unzweifelhaft das Verdienst zukommt, Kindern mit bestimmten Behinderungsarten höhere Schulabschlüsse ermöglicht zu haben, beziehen sich zumeist auf Kinder mit Sehschädigungen, Hörschädigungen und mit Körperbehinderungen.
Dabei wird meistens einseitig von einer "Regelschulfähigkeit" bzw. "Sonderschulbedürftigkeit" von Kindern ausgegangen (z.B. HAUPT 1983, 141), die sich nach vorhandenen Schulstrukturen richten müssen. Die Reichweite solcher Versuche ist bezüglich des Personenkreises begrenzt: Es können vor allem solche Kinder mit Behinderungen aufgenommen werden, die einen im wesentlichen unveränderten Unterricht verkraften können. Jene Kinder mit Behinderungen, auf die im Unterricht der allgemeinen Schule in höherem Maße Rücksicht genommen werden müßte, drohen in derartigen Versuchen eher an Vorhandenes angepaßt zu werden (HINZ 1989a), als daß es zu einer Veränderung des Unterrichts im Sinne einer verstärkten Individualisierung für alle Kinder kommt.
Im Zusammenhang mit der Empfehlung des Deutschen Bildungsrates "Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher" (DEUTSCHER BILDUNGSRAT 1973a) entstehen in der zweiten Hälfte der 70er Jahre zahlreiche Versuche mit einer "differenzierten Grundschule", die auf die Verschiedenartigkeit der SchulanfängerInnen besser Rücksicht nehmen wollen. Dazu werden in vielen Projekten Eingangsstufen eingerichtet, die den Übergang vom Elementarbereich zur Grundschule fließend gestalten (vgl. REINARTZ & SANDER 1978/1982, BUSCHBECK, ERNST & REBITZKI 1982, VALTIN, SANDER & REINARTZ 1984).
Ihr pädagogischer Schwerpunkt liegt in der Veränderung des Grundschulunterrichts durch binnendifferenzierende Maßnahmen (KLAFKI & STöCKER 1976) und durch die Öffnung des Unterrichts (BENNER & RAMSEGER 1981, RAMSEGER 1985, SCHWARZ 1987, WALLRABENSTEIN 1988, 1991), so daß an alle (aufgenommenen) Kinder angemessene Anforderungen gestellt werden können. Auch wenn an eine Integration von Kindern mit Behinderungen im ganzen Spektrum von Begabungen hierbei noch nicht gedacht wird, so bildet die innere Differenzierung des Unterrichts eine unabdingbare Voraussetzung für einen angemessenen Unterricht jeder heterogenen Lerngruppe - und erst recht für bewußt heterogene Gruppen innerhalb von Integrationsversuchen (vgl. BOBAN 1984).
Parallel entstehen - wiederum mit engem inhaltlichen Bezug zur Bildungsratsempfehlung - zahlreiche von der Sonderpädagogik initiierte Versuche mit der integrierten Förderung von lernbehinderten und verhaltensgestörten Kindern (Prävention). Sie beabsichtigen, die Überweisungsquote von SchülerInnen auf Sonderschulen während der Grundschulzeit zu senken und diese Kinder in der Grundschule so weit zu fördern, daß dem Unterricht wieder folgen können. Bei diesen "integrierten Förderversuchen" (REISER 1988, 249) geht es vorwiegend um Kinder mit Problemen im Bereich des Lernens und Verhaltens. Zur Bewältigung dieser Aufgabe werden SonderschullehrerInnen an die Regelschulen abgeordnet, die ihre spezifischen Qualifikationen für diese Kinder einbringen sollen (vgl. GOETZE 1987, REISER 1988 sowie BACH 1989).
REISER vertritt in seinem zusammenfassenden Bericht die Auffassung, daß solche integrierten Förderversuche der Mehrheit leistungsschwacher Kinder eine Leistungssteigerung ermöglichen, daß aber die Hoffnung, alle SchülerInnen zum Ziel der Grundschule führen zu können, unrealistisch sei (1988, 249). Die Vermeidung von Aussonderung solcher Kinder werde hingegen erst im Rahmen von Integrationsversuchen mit unterschiedlichen Curricula ermöglicht (1988, 254). Gleiches gelte auch für Kinder mit Verhaltensproblemen, bei denen über die Erfolge integrierter Förderversuche angesichts der Bedeutung außerschulischer Faktoren Aussagen schwer zu treffen seien (1988, 254).
Trotz konzeptioneller Überschneidungen von Integrationsversuchen mit Kindern mit einer Behinderungsart sind hier auch Versuche mit sprachbehinderten Kindern einzuordnen, geht es doch weitgehend darum, Verfestigungen von Sprachauffälligkeiten zu manifesten Sprachbehinderungen und eine Umschulung in die entsprechende Schule zu vermeiden.
Mit der Einrichtung der ersten Vorklasse an der Berliner Fläming-Grundschule 1975 beginnt eine neue Phase der Integrationsentwicklung im staatlichen Schulwesen, die Phase der Integrationsklassen (vgl. NOWAK 1980, 1988, KINDERHAUS 1988, S. MüLLER 1988). Am Modell der Fläming-Grundschule (STOELLGER 1981, 1982a, 1982b, 1983a, HöNTSCH U.A. 1984, HETZNER & STOELLGER 1985b, PROJEKTGRUPPE 1988) orientieren sich mehr oder weniger deutlich alle nachfolgenden Integrationsprojekte. Bleibt es zunächst bei diesem einzigen staatlichen Versuch mit Integrationsklassen, so folgen ihr schließlich in den 80er Jahren weitere Schulen:
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1981 die Evangelische Grundschule Bonn-Friesdorf (BRABECK 1983, BODE U.A. 1984, HELLER 1986, BODE 1991) und
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1981 die (ohne Nachfolgeklasse gebliebene) Integrationsklasse Schenefeld (KöHLING, HAARMANN & ROEDER 1984),
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1982 die Peter-Petersen-Schule Köln (PETER-PETERSEN-SCHULE 1982, BRAASCH 1985, KLINKE 1986),
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seit 1983 die Hamburger Integrationsklassen (WOCKEN & ANTOR 1987, WOKKEN, ANTOR & HINZ 1988) und
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1983 die Hartenberg-Grundschule in Mainz (KROPPENBERG 1986, KROPPENBERG & SCHRODIN 1991),
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1984 die Grundschule an der Robinsbalje Bremen (FEUSER & MEYER 1987, ELLROTT U.A. 1989),
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1985 die Integrative Schule Frankfurt (COWLAN U.A. 1991a, 1991b), vier Grundschulen in Schleswig-Holstein (SUCHAROWSKI U.A. 1988),
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1985 die Keune-Grundschule Trier (KROPPENBERG 1986, KROPPENBERG & SCHRODIN 1991) und
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die Montessorischule Borken (INTEGRATIVE MONTESSORI-SCHULE MüNSTERLAND 1984).
Trotz gewisser Abweichungen ist auch das seit 1982 bestehende Projekt in Rüsselsheim zu den Integrationsklassen zurechnen. Dort werden in Kooperation der unmittelbarer nebeneinander liegenden Grundschule (mit Eingangsstufe) und der Schule für praktisch Bildbare Integrationsklassen gebildet (KLEIN 1987). Dieses gilt ebenso für die private Montessori-Schule der Aktion Sonnenschein in München, die schon seit 1970 im Grundschulbereich als Integrationsschule, im Sekundarbereich als kooperative Sonderschule arbeitet (HELLBRüGGE 1977, 1988, HELLBRüGGE U.A. 1976, 1984, OCKEL 1976, 1977, 1982). Ab 1986 ist die Einrichtung von Integrationsklassen im Grundschulbereich kaum mehr überschaubar (vgl. GEW 1986b, DEMMER-DIECKMANN 1989, PRENGEL 1990a).
Die integrativen Grundschulversuche finden teilweise ihre Fortsetzung in entsprechenden Gesamtschulen (vgl. GGG 1989), so in Bonn ab 1985 in der Gesamtschule Bonn-Beuel (WAHL 1991), in Köln ab 1986 in der Gesamtschule Köln-Holweide (AFFELDT o.J., HARTH o.J.), in Hamburg ab 1987 an der Gesamtschule Bergedorf und in den Nachfolgejahren an mehreren Sekundarschulen (SCHLEY, BOBAN & HINZ 1989, SCHLEY U.A. 1990, BöCKER U.A. 1991), in Bremen ab 1988 in der schulformübergreifende Orientierungsstufe (in GGG 1989, MEUER U.A. 1991) und in Frankfurt ab 1989 in der Ernst-Reuter-Gesamtschule II (KAISER & NIEMEYER-WAGNER 1990). Einige Versuche scheitern bei den Bemühungen um die Weiterführung in der Sekundarschule am Widerstand der Schulverwaltungen, so der Versuch in Rüsselsheim und die Versuche in Mainz und Trier.
Gemeinsam ist all diesen Projekten, daß Integrationsklassen als besondere Klassen mit besonderen Rahmenbedingungen als Angebot an allgemeinen Schulen eingerichtet werden: Bei einer verminderten Klassenfrequenz (in der Regel zwischen 15 und 20 Kinder) arbeitet hier ein multiprofessionelles PädagogInnenteam, in den meisten Projekten sind kontinuierlich zwei PädagogInnen anwesend (vgl. Kap. 3.4.2). So entsteht im Laufe der Zeit ein 'integrativer Zug' neben der Mehrzahl 'normaler' Klassen (auf die daraus entstehenden Probleme innerhalb der Kollegien ist wiederholt hingewiesen worden; vgl. HöHN 1990, pragmatische Perspektiven zeigt hierzu BOBAN 1989a auf).
In Integrationsklassen werden (im Unterschied zu Präventionsansätzen) auch Kinder aufgenommen, die bereits zum Zeitpunkt der Einschulung voraussehbar nicht das Niveau der allgemeinverbindlichen Lernziele der Grundschule erreichen können, sondern sie auf eigenen Niveaus anstreben. Hier werden "die Homogenität der Schülergruppe und die Lehr- und Lernzielgleichheit ... aufgegeben" (DEPPE-WOLFINGER 1990a, 17, vgl. DEPPE-WOLFINGER 1985b). Bei dieser Form der Integration verbietet sich prinzipiell jegliche Aussonderung von Kindern aus diesen Klassen in Sonderschulen.
Entstanden sind Integrationsklassen in der Anfangszeit meist aus Elterninitiativen von integrativen Kindergartengruppen. Als Angebotsschule mit einem größeren Einzugsbereich konzipiert, weisen sie meistens einen höheren Anteil von offiziell behinderten Kindern auf als es deren Anteil an der gesamten Schülerzahl entspricht (z.B. Fläming-Grundschule Berlin, Integrative Schule Frankfurt, Klassen in Schleswig-Holstein, z.T. Hamburg). Die Behinderungsarten sind ebenfalls nicht repräsentativ vertreten. Meist müssen in einem Aufnahmeverfahren entgegen dem Anliegen der Integration Kinder aufgrund der geringen Zahl von vorhandenen Plätzen ausgewählt werden. Dieses Dilemma versucht die Konzeption der Nachbarschaftsschule zu vermeiden, indem dort nach dem Regionalitätsprinzip nur die Kinder des Einzugsbereichs aufgenommen werden (z.B. Schule An der Robinsbalje Bremen, z.T. Integrationsklassen Hamburg).
Mit der Uckermark-Schule in Berlin wird 1982 nach gründlichen konzeptionellen Vorplanungen und Analysen des Stadtteils (HEYER & PREUSS-LAUSITZ 1990) ein weiteres integratives Konzept, die Integrationsschule in die Praxis umgesetzt (ECK U.A. 1984, EBERWEIN 1984, HEYER, PREUSS-LAUSITZ & ZIELKE 1990, HEYER U.A. 1993). Auf der Grundlage einer Initiative von PädagogInnen und Wissenschaftlern arbeitet dort eine ganze Schule integrativ, d.h. in alle Klassen werden auch Kinder aufgenommen, die sonst auf Sonderschulen verwiesen worden wären. Leitende Grundsätze dieses Konzeptes sind die Wohnortnähe aller Kinder, die Annäherung der Klassenzusammensetzung und der Arbeitsbedingungen an die gesellschaftliche Normalität zum Zwecke einer besseren Übertragbarkeit auf andere Schulen, die Individualisierung der Förderung und die soziale Integration auch über die Schule hinaus (HEYER & PREUSS-LAUSITZ 1990, 18f.). Ziel ist also eine wohnortnahe "Schule ohne Aussonderung" (PREUSS-LAUSITZ 1982), die alle Kinder des Einzugsbereiches aufnimmt wie sie sind. Diesem Leitziel konnte jedoch aufgrund des Verbotes der Senatsschulverwaltung zur Aufnahme von Kindern mit geistiger Behinderung nur eingeschränkt entsprochen werden (HEYER & PREUSS-LAUSITZ 1990, 21). Nach dem Modell der Uckermark-Grundschule arbeiten mittlerweile mehrere Berliner Grundschulen. Die Aufnahmebeschränkung für Kinder mit geistiger Behinderung ist mit dem Schuljahr 1989/90 aufgehoben worden.
Neben Integrationsklassen und -schulen ist ein weiterer wichtiger Ansatz zu betrachten, der seit langer Zeit vor und außerhalb von Modell- und Schulversuchen integrative Möglichkeiten zu verwirklichen trachtet: die Einzelintegration. Zum einen kann damit eine ergänzende Möglichkeit außerhalb begrenzter Modell- und Schulversuche angeboten werden, die solche Kinder (bzw. ihre Eltern) nutzen können, die nicht das Glück hatten, in diese Versuche 'hineinzugeraten' und/oder schon in Sonderschulen eingeschult waren. Damit weist die Einzelintegration einen höheren Grad von Normalität auf und vollzieht sich weniger spektakulär (und evtl. elitär) als institutionalisierte Versuche, die leicht für bildungspolitische Alibifunktionen mißbraucht werden können. Hier sind in erster Linie die Bemühungen von SCHöLER seit 1982 mit dem an der Technischen Universität angesiedelten Projekt in Berlin-Spandau zu nennen (SCHöLER 1988a, 1988b, KRISCHOCK 1989), das keinen Status als Schulversuch besitzt (HöHN 1990, 47f.).
Zum anderen bietet der Ansatz der Einzelintegration bessere Möglichkeiten auf dem Lande, wo es kaum zu integrativen und gleichzeitig wohnortnahen Kindergartengruppen kommen kann. So ging das Saarland mit einem von vornherein flächendeckenden, öko-systemisch orientierten Ansatz den Weg der auf einzelne Kinder bezogenen "Integrationsmaßnahme", der sich prinzipiell auf alle Behinderungsarten, -grade und Altersstufen bezieht (CHRIST 1987, SANDER U.A. 1987, 1988, 1989, 1990, HILDESCHMIDT & SANDER 1988). Dabei wird ein gestuftes System organisatorischer Maßnahmen vorgesehen, beginnend bei der Arbeit eines Zwei-Lehrer-Teams in einer Integrationsklasse, bis hin zur separierten Förderung in einer Sonderschule (kritisch hierzu PREUSS-LAUSITZ 1989 und HINZ 1990a).
Ein entsprechender konzeptioneller Weg ist auch bei dem Versuch der Stadt Bonn im Stadtteil Beuel zu sehen. In der Nachfolge des Friesdorfer Versuchs mit seinem überproportional hohen Anteils von Kindern mit Behinderungen wird dort seit dem Schuljahr 1986/87 ein flächendeckender Grundschulversuch durchführt, bei dem - unter Zulassung zieldifferenten Unterrichts - eine stärkere Normalisierung der Klassenzusammensetzung und eine größere Wohnortnähe angestrebt wird (KOCH-GOMBERT & BRABECK 1986, BRABECK 1988, DUMKE & BRABECK 1988, HERBSLEB-BIALAS 1991).
Eine lange Tradition weist die dezentralisierte Sonderpädagogik mit den 'AmbulanzlehrerInnen' auf. Ihr liegt der Gedanke zugrunde, daß nicht die Kinder zu den sonderpädagogischen Spezialisten kommen sollen, sondern umgekehrt jene zu den Kindern, dorthin wo sie leben. Dies kann in letzter Konsequenz die Umwandlung von Sonderschulen in 'Schulen ohne Schüler' bedeuten, d.h. Zentren sonderpädagogischer Kompetenz, die lediglich aus einem dezentral arbeitenden Kollegium mit einem Reservoir apparativer Hilfen, Literatur etc. bestehen. Das bekannteste Beispiel hierfür ist die Schule für Sehbehinderte in Schleswig. Solche Ansätze sind insbesondere aus der ambulanten Förderung für Kinder mit Sinnesbehinderungen bekannt, werden aber auch als ambulante Sprachförderung (z.B. in MUTH & HüWE 1988) und bei Kindern mit Körperbehinderungen (DIEDERLEY 1986) praktiziert.
Bislang ging es bei solchen ambulanten Unterstützungssystemen um apparative, didaktische und therapeutische Hilfen, bezogen auf solche Kinder, die den Zielen der allgemeinen Schule ohne größere Einschränkungen folgen können (kritisch hierzu EBERWEIN 1988d, der hier die Gefahr einer Überlebensstrategie für eine separierte Sonderpädagogik sieht). Der Konsens bezüglich solcher Maßnahmen dezentralisierter Sonderpädagogik endet z.B. bei der Frage, ob es hier um eine "Erweiterung des Aufgabenfeldes Sonderpädagogik" (PREUSS U.A. 1989, 89) geht oder um deren Veränderung im Sinne einer "Neuorientierung" sonderpädagogischer Arbeit, bei der "präventive und integrative Arbeitsformen als Wege aus der Krise" (SCHLEY 1989f) einer separierten Sonderschulpädagogik helfen könnten.
In der Tradition dezentralisierter Sonderpädagogik liegt auch die deutliche Tendenz, Sonderschulen, die ja ohnehin schon in unterschiedlichem Ausmaß ambulante Aufgaben in der allgemeinen Schule wahrnehmen, in "Sonderpädagogische Förderzentren" umzubenennen und so diesen ambulanten Aufgabenbereich offiziell anzuerkennen (vgl. z.B. VDS 1989, SANDER 1990, WOCKEN 1991b, GERS 1991). Kontrovers wird jedoch diskutiert, ob diese Förderzentren auch eigene SchülerInnen beherbergen und damit die Funktion von Sonderschulen beibehalten oder ob sie ausschließliche Unterstützungsfunktionen für allgemeine Schulen ausüben sollen. Schleswig-Holstein hat mit dem Schulgesetz von 1990 alle Sonderschulen in Sonderpädagogische Förderzentren umgewandelt. Ungeklärt bleibt dabei jedoch, wie und woher es zu den notwendigen Veränderungen von Selbstverständnis und Rollendefinition kommen soll. Es besteht vielmehr die Gefahr, daß lediglich - wieder einmal - das Eingangsschild gewechselt wird: Von der Hilfsschule zur Schule für Lernbehinderte, dann zur Förderschule, nun zum Sonderpädagogischen Förderzentrum.
Eine andere Bedeutung kommt diesen ambulanten Diensten im Rahmen der integrativen Beschulung in folgendem Sinne zu: Integrationsprojekte werden auf Dauer nicht auskommen ohne derartige Unterstützungssysteme auch für solche Kinder, die nicht dem allgemeinen Lernzielniveau entsprechen (HINZ 1990a). Zur Zeit wird über mögliche Konzepte sog. Ambulatorien, Förderzentren oder Beratungszentren diskutiert (PREUSS-LAUSITZ 1987, WOCKEN 1990, 1991b), sie werden in mehreren Ländern schulgesetzlich abgesichert (vgl. Kap. 3.4.1).
Die vorgestellten konzeptionellen Linien sollen nun in einer Zusammenfassung und Diskussion gegenübergestellt werden. Ihnen allen ist gemeinsam, daß sie zu einer schülergerechteren Schule beitragen wollen. Gemeinsames Ziel ist ein verbessertes Eingehen auf die Verschiedenheit von Kindern, die Vermeidung von Aussonderung und mehr Gemeinsamkeit von Kindern mit und ohne Behinderung.
Unterschiede gibt es bezüglich des Zugangs, der Reichweite und der konkreten Zielsetzungen. Sie lassen sich in einer Übersicht zusammenfassen (Tab. 2.1).
Bei Versuchen mit der differenzierten Grundschule und mit der Prävention geht es um das Eingehen auf die Heterogenität der Lerngruppe, wobei jedoch gleichzeitig am Prinzip der Leistungshomogenisierung festgehalten wird. Jene Kinder, die das vorgeschriebenen Lernzielniveau der allgemeinen Schule nicht erreichen, müssen demnach ausgesondert werden. Dabei liegt bei Versuchen mit einer differenzierten Grundschule der Schwerpunkt deutlich auf der Veränderung des Unterrichts für alle Kinder, während Präventionsversuche eher die individuelle Förderung einzelner Kinder zum Gegenstand haben. Demgegenüber zielen zwar die Versuche mit der (Teil-) Integration von Kindern einer Behinderungsart - ein zeitlicher Vorläufer der anderen Konzeptionslinien - auf das Ermöglichen bisher im Sonderschulwesen nicht zugänglicher Bildungsabschlüsse, unterliegen jedoch wiederum der Grenze allgemeinverbindlicher Leistungsanforderungen. Gleiches gilt für die bisherige Praxis der Versuche mit dezentralisierter Sonderpädagogik.
Diese konzeptionell bedingte und administrativ festgelegte Grenze der Verpflichtung zur Lernzielniveaugleichheit wird erst mit den Versuchen mit Integrationsklassen und -schulen überschritten (vgl. SANDER & HILDESCHMIDT 1988, 120). Sie kommen insofern auf dem - schon von der Weimarer Verfassung von 1919 geforderten - Weg zu 'einer Schule für alle Kinder' einen wichtigen Schritt vorwärts, als sie sich einer unausgelesenen Schülerschaft in bewußt heterogenen Lerngruppen stellen.
VERSUCHE |
SCHWERPUNKTE, ZIEL |
"GEFAHREN", PROBLEME |
---|---|---|
VERSUCHE MIT EINER BEHINDERUNGSART |
Zugang zu höheren Schulabschlüssen; mehr soziale Kontakte; Spezialisierung auf Probleme einer Behinderungsart |
Gefahr der Anpassung; nur eingeschränkte Kontakte; Entfernung aus dem sozialen Umfeld |
VERSUCHE MIT EINER "DIFFERENZIERTEN GRUNDSCHULE" |
Eingehen auf die Heterogenität der Lerngruppe, bes. am Schulanfang; Veränderung des Unterrichts (Öffnung, Individualisierung) |
eingeschränkte Schülerschaft (Aussonderung vor Einschulung); gleiche Anforderungen für alle (wenn auch mit Modifikationen) |
PRÄVENTIONSVERSUCHE |
Vermeidung von Aussonderung; zusätzliche Hilfen für Kinder, Eltern und PädagogInnen |
wenig Notwendigkeit zur Veränderung des Unterrichts, geringes Innovationspotential; keine Aufgabe der gleichen Anforderungen für alle; eingeschränkte Schülerschaft, institutionelle Begrenzungen |
INTEGRATIONSKLASSEN |
"eine Schule für alle" mit unausgelesener Schülerschaft; Aufgeben gleicher Anforderungsniveaus für alle (zieldifferentes Lernen); stärkere Entwicklungsanreize in bewußt heterogener Lerngruppe |
Auslese bei Aufnahme; schiefe Repräsentanz der Anteile von Kindern mit Behinderung und Behinderungsarten; soziale Selektivität (bes. bei Elterninitiativen); Zweiteilung von Schule und Kollegium (integrative und normale Klassen); enge Kooperation d. PädagogInnen |
INTEGRATIONSSCHULEN |
s. Integrationsklassen; angemessene Berücksichtigung der Behinderungsarten und der Schichten; Wohnortnähe für alle; keine Zweiteilung der Schule |
Probleme der Heranziehung spezifischer Hilfen; enge Kooperation der PädagogInnen; Verteilung von SonderpädagogInnen auf den ganzen Jahrgang |
EINZEL- INTEGRATION |
soziale Bezüge im Umfeld, Wohnortnähe, Normalität des Stadtteils bzw. ländl. Umfelds; stärkere Entwicklungsanreize außerhalb der Sonderschule; Integrationsmöglichkeit außerhalb elitärer Schulversuche |
Gefahr der Anpassung an unveränderten Unterricht, Tendenz von der Integration zur Addition; Gefahr der Vereinzelung von Kindern mit Behinderung; Gefahr der Selektivität mit einer "integrierbaren" Schülerschaft |
DEZENTRALISIERTE SONDERPÄDAGOGIK |
Prinzip: SpezialistInnen zu Kindern, nicht umgekehrt; Unterstützung wohnortnaher Integration durch apparative, didaktische und therapeutische Hilfen |
Gefahr der Anpassung an unveränderten Unterricht; Gefahr der Vereinzelung von Kindern mit Behinderung |
Zum Problem kann die notwendige, enge Kooperation mehrerer PädagogInnen werden, denn bislang sind LehrerInnen es gewohnt, allein in 'ihrer Klasse' zu arbeiten. Bei Integrationsklassen kommt es zu zwei weiteren Problemen: Zum einen ergibt sich eine überproportionale Häufung von Kindern mit Behinderungen (mit einer quantitativen Auslese am Schulanfang angesichts geringer zur Verfügung stehender Plätze), zudem noch in einer nicht repräsentativen Verteilung der Behinderungsarten, zum zweiten gibt es auf der Schulebene das Problem einer Zweiteilung von Klassen und KollegInnen, das trotz gemeinsamer Beschlüsse zur Einführung der Integration nicht ohne Gegenreaktionen bleibt (Neidprobleme, Zwei-Klassen-Gefühl etc.). Diesen Problemen versucht man z.B. mit dem Prinzip der Wohnortnähe und der Ausdehnung der integrativen Arbeit auf die ganze Schule zu begegnen.
Eine spezifische Zugangsweise verbindet sich mit Versuchen der Einzelintegration. Sie ermöglichen mehr Wohnortnähe und stärkere soziale Bezüge gegenüber der Isolation in Sonderschulen, bilden wie Integrationsklassen und -schulen eine Strategie zum Erreichen einer 'Schule für alle' und stehen als Möglichkeit außerhalb tendenziell elitärer offizieller Schulversuche insbesondere auf dem Land zur Verfügung. Gleichzeitig bergen sie jedoch ebenso wie Versuche der dezentralisierten Sonderpädagogik und der Prävention die Gefahr einer Anpassung von Kindern mit besonderen Bedürfnissen an die weiterbestehenden administrativen Vorgaben und an einen ansonsten nicht wesentlich veränderten Unterricht (vgl. KOBI 1988, 59) und zudem mit dem Status dieser einzelnen Kinder die Gefahr von deren Vereinzelung.
Es muß deutlich gesehen werden, daß es zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Form integrativer Erziehung gibt, die alle Vorteile in sich vereinigen würde und keinerlei Gefahren aufsitzen könnte. Es geht hier auch nicht um eine Hierarchie integrativer Erziehungsformen. Was es zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu konstatieren gilt, ist ein Nebeneinander unterschiedlicher Formen und Ansätze auf dem Weg zu mehr Gemeinsamkeit von unterschiedlichen Kindern.
Die Praxisentwicklung integrativer Pädagogik vollzieht sich in bildungspolitisch unterschiedlich gesteuerter Weise: Während sozialdemokratisch regierte Länder in der Genehmigung von Integrationsversuchen deutlich aufgeschlossener sind, halten sich christlich-demokratisch geführte Regierungen mit solchen Genehmigungen zurück. Dies wird auch gegen den erklärten Willen aller direkt Beteiligten durchgesetzt (vgl. LAU 1987, MUTH 1989, HINZ 1989b, REMPT 1990). Integration soll dem christlich-demokratischen Verständnis nach nur mit gleicher Zielvorgabe zugelassen werden. Kinder, die nicht das allgemein herrschende kognitive Niveau erreichen, werden als 'nicht integrationsfähig' von integrativer Erziehung ausgeschlossen und auf Sonderschulen verwiesen (vgl. HINZ 1990b).
Dementsprechend verändert sich auch das Entwicklungstempo der schulischen Integration nach einem Regierungswechsel: War in Hessen eine deutliche Stagnation bei der Regierungsübernahme durch die CDU-geführte Regierung 1987 zu verzeichnen (HöHN 1990, 108) und ein neuer Standort in Soden-Allendorf nur durch bundesweite Öffentlichkeitsaktionen durchzusetzen (BATTON & GUNDLACH 1990), so zeigt sich beim Regierungswechsel 1985 im Saarland (WELZEL 1988) wie auch 1988 in Schleswig-Holstein, 1989 in Berlin und 1991 wiederum in Hessen (BATTON & GUNDLACH 1991) eine rasante Temposteigerung. Daß diese Prozesse trotzdem nicht ohne Konflikte und Enttäuschungen ablaufen, zumal auf Elternseite (vgl. BRUNS 1989, BATTON & GUNDLACH 1991), ist ein schmerzlicher, aber logischer Bestandteil von Innovationsprozessen.
In der bildungspolitischen Diskussion sind im wesentlichen zwei Kontroversen im Bereich integrativer Erziehung festzustellen. Wie bereits angedeutet, geht es zum einen um die Einbeziehung von Kindern, die nicht dem Bildungsgang der allgemeinen Schule folgen können, schwerpunktmäßig also Kinder mit geistiger Behinderung und schweren Mehrfachbehinderungen. Zum zweiten dreht sich die Kontroverse um die Weiterführung integrativer Erziehung in der Sekundarstufe I.
Die Ablehnung der Einbeziehung von Kindern mit geistiger Behinderung gründet sich auf Argumentationen (vgl. MAIKOWSKI & PODLESCH 1988d, MöCKEL 1991) wie die, daß die Bildungsbedürfnisse dieser Kinder derart speziell und von 'normalen' Kindern so verschieden seien, daß sich beide Gruppen in ihren Lernprozessen gegenseitig stören würden: "Ein überwiegend gemeinsamer Unterricht von Kindern mit und ohne geistige Behinderung läuft auf eine Benachteiligung einer dieser Gruppen bezüglich ihrer Förderungsmöglichkeiten hinaus" (BACH 1982, 144). Insbesondere auf die Notwendigkeit einer lebenspraktischen Erziehung könne eine Grundschule nicht hinreichend eingehen; gleichzeitig würden Kinder mit geistiger Behinderung durch viele Situationen in ihrer Wahrnehmungsfähigkeit überfordert (LAURIEN 1986, 31). Zusätzlich sei auch der Übergang in die Sekundarstufe I mit dem notwendigen Schulwechsel eine belastende Hürde. Hier seien insgesamt Grenzen der Integration erreicht, die respektiert werden müßten. Das Bayerische Kultusministerium argumentiert ebenfalls in der Weise, "daß ein Verständnis von Integration, das nicht zum gemeinsamen Unterricht führt, beim behinderten Kind eine dauerhafte Überforderung und damit fortschreitende Isolierung zur Folge habe" (zit. in KöRNER 1989, vgl. auch AKADEMIE 1991). Stattdessen sei es sinnvoller, Begegnungsmöglichkeiten im Sinne kooperativer Modelle zu schaffen und an einer separierten Beschulung dieser Kinder festzuhalten (vgl. SPECK 1989; als Praxisberichte z.B. FRUCK U.A. 1985, BöS & SCHOLTES 1990). Den defensiven Charakter kooperativer Ansätze demonstriert die Bayerische Akademie für Lehrerfortbildung, in deren Bericht über "Kooperation zwischen Schulen für Behinderte und anderen Schulen" der grundlegende Beitrag mit dem bezeichnenden Satz beginnt: "Kooperation darf nicht mit Integration verwechselt werden!" (AKADEMIE 1991, 7) - damit erfolgt die für dieses Anliegen wesentliche Botschaft gleich am Beginn des Berichts und macht den Charakter der Integrationsabwehr von konservativer Seite deutlich.
Zum Fazit der Unmöglichkeit der Integration bei Kindern mit geistiger Behinderung kommt auch der Geistigbehindertenpädagoge MüHL. Er stellt fest, "daß die schulische Integration der Schüler mit geistiger Behinderung ein komplexes und schwieriges Unterfangen darstellt, das kaum lösbar erscheint" (1987, 93). Seiner Meinung nach "sind erhebliche Bedenken anzumelden, ob die Regelschule mit der Überbewertung kognitiver Inhalte und des Leistungsprinzips den Lernansprüchen von Schülern mit geistiger Behinderung entsprechen kann" (1984, 116). Ein ganzes Bündel von Hindernissen, das große (integrative) Schritte nahezu unmöglich macht und folglich zu kleinen (kooperativen) Schritten leitet, wird angeführt: "die derzeitigen Strukturen des Regelschulsystems, die Vorurteile in der Gesellschaft und ihr Wertesystem, das auch die Schule prägt und das nicht kurzfristig 'umgekrempelt' werden kann, da sind die Bedenken und Zweifel der Beteiligten, angefangen von den Eltern der behinderten wie der nichtbehinderten Schüler über die Regelschul- und Sonderschullehrer bis hin zur Schulverwaltung, die in ihre Gesetze, Erlasse und Verordnungen eingebunden ist, nicht zu vergessen die nichtbehinderten Schüler, die nicht alle von vornherein auf die Akzeptanz der behinderten Schüler eingestellt sind" (1984, 116) - ein Szenario, das von den Schwierigkeiten von Veränderungen in der allgemeinen Schule ausgeht und die Unverträglichkeit einer Anpassungsstrategie (statt einer integrativen) bei SchülerInnen mit geistiger Behinderung herausstellt (vgl. hierzu Kap. 3.5.1).
Solchen Einwänden stehen erste praktische Erfahrungen in Integrationsklassen gegenüber, die z.T. einen überproportional hohen Anteil an Kindern aufweisen, die sonst Schulen für Geistigbehinderte besuchten. PraktikerInnen und Wissenschaftliche BegleiterInnen berichten darüber, welche überraschenden Entwicklungen diese Kinder nehmen, und weisen auf sehr gute Möglichkeiten hin, im Rahmen eines individualisierenden Unterrichts auch gemeinsame Situationen mit diesen Kindern herzustellen (POPPE 1986a, 1986b, 1989, WILKEN 1987, 1991, BOBAN 1989b, HETZNER & STOELLGER 1985a, MAIKOWSKI & PODLESCH 1988a, 1988d; vgl. Kap. 3.1.1). Auch der Übergang auf Schulen der Sekundarstufe erweist sich nicht als das erwartete Problem; die gerade für Kinder mit geistiger Behinderung befürchtete "Krise findet nicht statt" (BOBAN 1989c).
Selbst die Einbeziehung von Kindern mit schwersten Behinderungen, die sich sonst häufig in der extremen Isolation spezieller Klassen für Schwerst- und Mehrfachbehinderte befinden und "eine entscheidende Bewährungsprobe" der Integration darstellen (HINZ 1987, 307), wird nicht nur von ExpertInnen für möglich (FRöHLICH 1986) oder notwendig (FEUSER 1985) gehalten, sondern auch - nach Überzeugung der Beteiligten - mit Erfolg praktiziert (DIETRICH U.A. 1988, HINZ 1989d, H. SCHOLZ 1990, GäNS & SCHNEIDER 1991, HINZ 1991a, HINZ & WöLFERT-AHRENS 1991, HINZ U.A. 1992). Sie setzen damit die Bemühungen im Elementarbereich (vgl. ROTHMAYR 1988, 1989) fort.
Die Kontroverse um die Fortführung in der Sekundarstufe I geht von dem Widerspruch zwischen ethisch-moralischem Wollen und pragmatisch-realistischem Nicht-Können aus. Nach SCHLEY (1989a, 14) sind es drei Thesen, die den Kern pessimistischer Positionen ausmachen:
Die Pubertätsthese geht davon aus, daß das soziale Miteinander behinderter und nichtbehinderter SchülerInnen im Alter der Pubertät nicht mehr tragfähig ist, weil alle SchülerInnen mit ihren je eigenen Problemstellungen und Sinnfragen beschäftigt sind. So geraten dieser These nach SchülerInnen mit Behinderungen in die soziale Isolation, denn insbesondere sie spielen für ihre MitschülerInnen als attraktive KommunikationspartnerInnen keine Rolle mehr.
Die Systemthese schließt an die unterschiedliche Struktur dieser Stufe gegenüber dem Primarbereich an. War dort die Schule noch eine - von Privat- und Alternativschulen abgesehen - konkurrenzlose 'Schule für die meisten Kinder' und die Zustimmung zumindest sozialdemokratischer Bildungspolitik zur Integration einigermaßen sicher, so gestaltet sie sich nun als ein System miteinander konkurrierender und SchülerInnen selektierender Sekundarschultypen. In Bildungspolitik und Wissenschaft herrscht "verbreitete Unsicherheit" (HINZ 1989b, 76), ob Integration und ein hierarchisches System miteinander verträglich sind. Allenfalls bliebe hier die Gesamtschule als Schulform der Wahl.
Die Belastungsthese hält die ethisch-moralische Verpflichtung der Integration für eine Belastung für jedes System, das seine Konkurrenzsituation erschwert. Insofern muß Integration im Sinne einer gerechten Belastung auf alle Schultypen verteilt und nicht nur der Gesamtschule zugemutet werden.
Mit Pubertät, selektiver Konkurrenzsituation und Abschlußorientierung im Sekundarbereich sehen SkeptikerInnen wiederum die Grenzen der Integration erreicht. Wo es um kognitive Leistungsentwicklung, höheres Abstraktionsniveau und Spezialisierung geht, hat das soziale Miteinander in der heterogenen Lerngruppe kaum mehr eine Chance. Nun hat der 'Ernst des schulischen Lebens' begonnen, die Zeiten, in denen vielfältige soziale Erfahrungen in unbegrenzter Kindervielfalt gesammelt werden konnten, sind vorbei.
Zumindest sollten daher Kinder mit 'schwereren' Behinderungen nicht in die Sekundarstufe mitgenommen werden; ihnen diene die spezielle Förderung ihrer Sonderschule mehr als die Situation des Verlorenseins in einem für sie unüberschaubaren System. Weiter erscheint Integration im Sekundarschulbereich innerhalb des vorhandenen, vertikal gegliederten Schulsystems als ein schlechterdings unmögliches - zumindest aber nicht verantwortbares - Vorhaben; sollte es zum Gelingen gebracht werden, müßte zunächst das Schulsystem völlig neu gegliedert werden (BLEIDICK 1988, 1989a). Erst dann wären verantwortbare Bedingungen für praktische Versuche gegeben - dies genau das Bild, das das Spannungsfeld der Integration "zwischen Utopie und Realität" (SCHLEY 1989a) wiedergibt. In dieser Situation systemimmanenter und bildungspolitischer Widersprüche obliegt es wiederum den Eltern, bildungspolitischen Druck für vielfältige Veränderungen der Schule zu entwickeln (vgl. z.B. AG ELTERN FüR INTEGRATION 1989).
Solchen skeptischen Positionen gegenüber vertreten ProtagonistInnen der Weiterführung der Integration in der Sekundarstufe I ein Leitbild, "das die Verschiedenheit von Kindern nicht als Rechtfertigung für die Existenz eines hierarchisch gegliederten oder separierenden Schulsystems mißbraucht" (GEW LV HAMBURG 1990, 51). Demzufolge halten sie die Fortführung integrativer Erziehung in der Gesamtschule für logisch und konsequent (zur Diskussion über die in Frage kommenden Schulformen vgl. HINZ 1989b). Entsprechende - von SkeptikerInnen für unrealistisch gehaltene - Praxiserfahrungen werden in einigen Versuchen in der Sekundarstufe I gemacht, zum größten Teil in Gesamtschulen (z.B. AFFELDT o.J., HARTH o.J., BöCKER U.A. 1991). Auch liegen bereits einige Publikationen zur Integrationspädagogik in der Sekundarstufe I vor (MAIKOWSKI 1988a, 1988b, STOELLGER 1988, GGG 1989, SCHLEY, BOBAN & HINZ 1989, SCHLEY U.A. 1990, HILDESCHMIDT 1990, 1991, BOBAN & KöBBERLING 1991, DUMKE 1991a, IFL 1991, ASI & BZI 1991, KöBBERLING 1991).
Vor allem dort, wo der Übergang von der Grund- zur Sekundarschule durch personelle Verzahnung (Mitgehen von PädagogInnen aus der Grundschule oder 'Abholen' durch Hospitationen von SekundarschullehrerInnen) abgefedert wird, findet die besonders für Kinder mit Behinderungen von den Eltern befürchtete Krise nicht statt (vgl. DANNOWSKI U.A. 1989). Vielmehr sind rasche Akklimatisationsprozesse zu beobachten, bei behinderten Kindern aus der Integrationsklasse wie bei neu hinzugekommenen nichtbehinderten Kindern (BOBAN 1989c).
Daß es bei der integrativen Praxis in der Sekundarstufe I nicht ein einfaches 'klappt' oder 'klappt nicht' gibt, zeigen die Erfahrungen in Hamburg, die der Leiter einer Gesamtschule in einem ersten Zwischenfazit zusammenfaßt: "Einerseits gibt es Verkrustungen in der Alltagspraxis der Gesamtschulen, die ihren integrativen Intentionen eher entgegenstehen, andererseits entwickelt sich durch die Einführung der Integration eine Dynamik, durch die eben diese Verkrustungen in Frage gestellt werden. In dem dadurch in Gang gesetzten Prozeß der Veränderung nähert sich die Alltagspraxis an vielen Punkten wieder den Postulaten der Gesamtschule an. ... Integration 'paßt' nicht nur in die Gesamtschule, sondern erweist sich als Katalysator pädagogischer Verbesserungen. Integrationsklassen, so scheint es, tragen dazu bei, das spezifische Profil der Gesamtschule als Schule für alle Kinder zu akzentuieren und so ihre Leistungsfähigkeit zu erhöhen" (PABST 1989, 115).
Gleichwohl gibt es in der Sekundarstufe I viele offene Fragen, die Schritt für Schritt angegangen werden, wenn die Probleme konkret anstehen und gelöst werden müssen. So gesehen stehen sich hier Vertreter eines bestehenden Status-Quo, der bestimmte Probleme provoziert, mit denen einer anzustrebenden Entwicklungsperspektive gegenüber. Wissenschaftliche Beweise für die einen oder anderen wird es auch hier nicht geben.
In diesem Abschnitt wird die Entwicklung der Integrationspädagogik auf der Theorieebene betrachtet. Zunächst wird schlaglichtartig das traditionell vorherrschende Selbstverständnis der Sonderpädagogik und die in den 70er und 80er Jahren heraufgezogene Umbruchssituation beleuchtet. Auf dieser Grundlage und angestoßen durch die von Basisinitiativen getragene Entwicklung der integrativen Praxis bilden sich mehrere integrationspädagogische Theorieansätze heraus. Die wichtigsten drei Ansätze werden kurz charakterisiert und abschließend in ihrer theoretischen Reichweite vergleichend eingeschätzt.
Wie bereits in den Bemerkungen zum historischen Vorfeld (vgl. Kap. 2.1.1) angesprochen, sieht die Sonderpädagogik in der Vergangenheit ihre Aufgabe primär in der Förderung von behinderten SchülerInnen in Sonderschulen. Sie versteht sich somit als Sonderschulpädagogik. Damit hat sie für die Entwicklung des Schulwesens in bezug auf SchülerInnen mit Behinderungen eine ambivalente Bedeutung: Einerseits liegt ihre unbestreitbare Leistung darin, daß sie schulische Bildung und damit mehr gesellschaftliche Teilhabe für Kinder mit Behinderungen überhaupt ermöglicht, und dies u.a. dadurch, "daß sie ... spezialisierte Verfahren für die Förderung behinderter Kinder entwickelt hat" (PRENGEL 1989a, 194). Andererseits verfestigt sie den Ausschluß von Kindern mit Behinderungen aus dem allgemeinen Schulwesen und damit ihre gesellschaftliche Ausgrenzung, indem sie sich - auch aus institutionellen Eigeninteressen heraus - zum praktischen Umsetzungsinstrument einer "medizinisch dominierte(n) Sonderanthropologie für Behinderte" (1989a, 182) macht (vgl. Kap. 3.5.1).
Dieses traditionelle Selbstverständnis mit seinen theoretischen Grundlagen wird erst mit der Empfehlung des Bildungsrates von 1973 aufgebrochen. Sie wird mit den folgenden berühmten Sätzen eingeleitet: "Für diese neue Empfehlung mußte die Bildungskommission davon ausgehen, daß behinderte Kinder und Jugendliche bisher in eigens für sie eingerichteten Schulen unterrichtet wurden, weil die Auffassung vorherrschte, daß ihnen mit besonderen Maßnahmen in abgeschirmten Einrichtungen am besten geholfen werden könne. Die Bildungskommission folgt dieser Auffassung nicht. Sie legt in der vorliegenden Empfehlung eine neue Konzeption zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher vor, die eine weitmögliche gemeinsame Unterrichtung von Behinderten und Nichtbehinderten vorsieht und selbst für behinderte Kinder, für die eine gemeinsame Unterrichtung mit Nichtbehinderten nicht sinnvoll erscheint, soziale Kontakte mit Nichtbehinderten ermöglicht. Damit stellt sie der bisher vorherrschenden schulischen Isolation Behinderter ihre schulische Integration entgegen" (DEUTSCHER BILDUNGSRAT 1973a, 15f.). Der Bildungsrat bezieht sich explizit auf die Grundlage des Strukturplans von 1970 und auf dessen drei wesentliche Akzente, auf deren Grundlage das Sonderschulwesen überwunden werden soll: die horizontale Gliederung des Schulwesens, die Individualisierung der Lernanforderungen und die Betonung früher Lernprozesse (1973a, 16).
In den Aussagen zur schulischen Förderung und zum Unterricht behinderter und nichtbehinderter Kinder schlägt der Bildungsrat ein differenziertes System vor: Es soll sich "von der gemeinsamen Unterrichtung aller Kinder, auch der behinderten, über Organisationsformen einer teilweise gemeinsamen Unterrichtung und einer parallel durchgeführten separaten Förderung behinderter Kinder bis zur getrennten Unterrichtung behinderter Kinder in Schulen für Behinderte" (1973a, 66) erstrecken und Durchlässigkeit aufweisen.
Für die Behindertenpädagogik ist dies eine grundlegende Umbruchssituation, denn ebenso wie die Praxis müssen auch bisherige theoretische Ansätze verändert und weiterentwickelt werden. Alte Gleichungen wie: nichtbehinderte Kinder = allgemeine Schule, behinderte Kinder = Sonderschule haben ihre Gültigkeit verloren. Sonderpädagogik ist nicht mehr selbstverständlich eine auf einen bestimmten Lernort festgelegte Sonderschulpädagogik. Was bisher als Grundkonsens galt, wird plötzlich wieder in Frage gestellt - und es droht ein Identitätsverlust für SonderpädagogInnen. Gleichzeitig kommen jedoch auch neue Arbeitsfelder und Konzeptionen in den Blick. Dies ist als Ausdruck einer tiefgreifenden Krise der Behindertenpädagogik mit den entsprechenden Symptomen und Phasen zu verstehen (SCHLEY 1989f, 1990a). Mit diesen Veränderungen scheint sich eine "kopernikanische Wende der Behindertenpädagogik" (WOCKEN 1990, 39) zu vollziehen. Die zentrale sonderpädagogische Devise lautet nicht mehr: "Lasset die Kinder zu mir kommen", sondern: "Wir gehen zu den Kindern hin" (WOCKEN 1991b, 104).
In dieser Situation und angestoßen durch die praktischen Erfahrungen in einer zunehmenden Zahl von Integrationsversuchen, kommt es auf der Theorieebene innerhalb der Integrationspädagogik zur Herausbildung mehrerer Ansätze. Sie sind mit den Namen FEUSER, SANDER und REISER verbunden und aus je unterschiedlichen theoretischen Grundorientierungen entstanden.
Von der sowjetischen Psychologie und in deren Folge von der materialistischen Behindertenpädagogik ausgehend, formuliert Georg FEUSER die Theorie des gemeinsamen Gegenstandes (1982, 1984a, 1988, 1989, 1990) als Kern eines integrativen Unterrichts. Anstelle der bisherigen aussondernden pädagogischen Praxis ist nach FEUSER eine "basale allgemeine Pädagogik" (1984a, 16) vonnöten, "in der alle Kinder in Kooperation miteinander auf ihrem jeweiligen Entwicklungsniveau und mittels ihrer momentanen Denk- und Handlungskompetenzen an und mit einem gemeinsamen Gegenstand lernen und arbeiten" (FEUSER 1988, 172; sinngemäß FEUSER 1989, 1990; vgl. Kap. 3.3.3). Er fordert, die hierarchiebildende Aufspaltung von SchülerInnen durch äußere Differenzierung zu beenden und durch innere Differenzierung zu ersetzen. Statt schulische Inhalte in Fächer aufzuteilen und damit zu atomisieren, fordert FEUSER, in fachübergreifenden Projekten zu arbeiten. Integrationspädagogik ist dieser Theorie nach also nichts anderes als eben diese basale allgemeine Pädagogik. Schwerpunkt dieses Ansatzes ist die konkrete Handlungsebene im Unterricht, die Ebene der Didaktik.
Einen anderen theoretischen Zugang zum Praxisfeld bildet der ökosystemische Ansatz der Saarbrücker Arbeitsgruppe um Alfred SANDER (vgl. z.B. HILDESCHMIDT & SANDER 1988, 220f.). Auf der Grundlage der ökologischen Sichtweise betrachtet er die Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Systemen. BRONFENBRENNER (1989) geht von einem ökologischen Entwicklungsbegriff aus, der unterschiedliche Ebenen eines Wechselbeziehungssystems einschließt.
Das Mikrosystem umfaßt nicht nur die Umwelt als "augenblickliche, direkt auf die sich entwickelnde Person einwirkende Situation mit Objekten, auf die sie reagiert, und Leuten, mit denen sie interagiert" (1989, 23). Zu ihm gehören auch die indirekteren "Verbindungen zwischen anderen im Lebensbereich anwesenden Personen, die Art dieser Verbindungen und der Einfluß, den sie über direkte Kontaktpersonen auf die sich entwickelnde Person ausüben" (1989, 23). Seine Elemente sind Tätigkeiten, Rollen und Beziehungen (1989, 27). Das Mesosystem bezieht sich auf Verbindungen zwischen verschiedenen Lebensbereichen, "an denen die in Entwicklung begriffene Person wirklich beteiligt ist" (1989, 24). Das Makrosystem schließlich bezeichnet "das sichtbare Ergebnis von überwölbenden, einer bestimmten Kultur oder Subkultur gemeinsamen ideologischen und organisatorischen Mustern sozialer Institutionen" (1989, 24). BRONFENBRENNERs auf menschliche Entwicklung bezogene Definition läßt sich auch auf andere Systeme, etwa eine einzurichtende Klasse, beziehen.
Ein solcher ökologischer Ansatz verlangt, Kinder nicht nur in ihrer personalen, individuellen Dimension, sondern auch im Rahmen ihrer sozialen Bezüge wahrzunehmen. Die Betrachtung dieser Wechselbezüge macht den Kern des ökosystemischen Ansatzes der Saarbrücker Arbeitsgruppe aus. Besondere Bedeutung erlangt er u.a. in der Eingangsdiagnostik und Beratung. Es gilt diesem Ansatz gemäß nicht einfach ein Kind mit seinen Möglichkeiten und Einschränkungen zu betrachten, sondern auch sein Umfeld und die Wechselwirkungen zwischen beiden. Bedeutung erlangt dieser Ansatz aber auch bereits bei der Betrachtung des Phänomens Behinderung, die nicht mehr eindimensional als Eigenschaft eines Menschen, sondern als Wechselwirkungsgefüge zwischen einem Menschen und der ihn umgebenden näheren und weiteren - auch gesellschaftlich-normativen Umgebung - gesehen wird. Schwerpunkte des theoretischen Ertrags dieses ökosystemischen Ansatzes liegen auf der Ebene der diagnostischen Betrachtung einzelner Kinder, aber auch auf der institutionellen und gesellschaftlichen Ebene des Umfeldes (vgl. Kap. 3.4.1). Der ökosystemische Ansatz liegt auch der landesweiten Integrationsentwicklung durch Einzelintegrationsmaßnahmen im Saarland zugrunde, indem er vermutet, daß sich durch viele örtliche Entwicklungsimpulse das Schulsystem des Saarlandes auf lange Sicht auch im ganzen zu einem integrationsfreundlicheren System entwickelt.
In einem dritten Theorieansatz entwickelt die Frankfurter Arbeitsgruppe um Helmut REISER von psychoanalytischen Grundlagen ausgehend ihre Theorie integrativer Prozesse. Die Grundlage dieser Theorie bildet die Dialektik der Gleichheit und Verschiedenheit aller Menschen und damit die Veränderung der bisher in der Praxis am weitesten verbreiteten Problemlösung, daß Schule aus ungleichen Menschen gleiche zu machen sucht und sich aus - unter bestimmten Aspekten - gleichen Menschen immer wieder ungleiche entwickeln. Auf dieser Grundlage wendet sich die Theorie integrativer Prozesse unterschiedlichen Ebenen zu, auf denen sich Integration mittels Prozessen der Annäherung und Abgrenzung entwikelt. Dieser Theorieansatz betrachtet in der Person liegende, sich in Interaktion zwischen Personen ereignende, das Unterrichtsgeschehen betreffende, Institutionen betreffende und auf gesellschaftlichen Normen und Werthaltungen bezogene Prozesse. Er geht auch über die Integration von behinderten und nichtbehinderten Kindern hinaus, indem er sich auf andere Dimensionen von Gleichheit und Verschiedenheit beziehen läßt - so die Hypothese der Frankfurter Arbeitsgruppe, die im weiteren Verlauf der Arbeit überprüft werden soll. Diese Theorie der Frankfurter Arbeitsgruppe um REISER wird in Kap. 2.1.3 differenzierter dargestellt.
Dieses dialektische Verständnis der Integration unterscheidet sich von einem anderen, das unter dem Begriff eines Spannungsverhältnisses "zwischen Gleichheit und Freiheit" mit dem Ziel der Gerechtigkeit von BLEIDICK (1986, 1989a, 1990c) formuliert wird: Dort wird der Gleichheitspol durch soziale Integration, integrierten Unterricht und heterogene Lerngruppe gekennzeichnet (1986, 33). Integration gehe "von dem Grundsatz aus: Allen das Gleiche", der Gegenpol der besonderen Förderung "sagt: Jedem das Seine" (BLEIDICK 1986, 20, 1989a, 54, 1990c, 27). Die Synthese aus Gleichheit und Freiheit muß sich dann dieser Bestimmung nach "gegen undialektische Vereinseitigung, wenn sie jeweils nur einen Pol sieht, Integration oder Eigenwelt, Allgemeines oder Besonderes" (1986, 35, 1989a, 58), wenden - eine Konsequenz, die auf der Grundlage der Überlegungen von FLITNER, auf den BLEIDICK sich bezieht, keineswegs so gezogen werden muß. In BLEIDICKs Sinne ist es dann auch logisch, Beschulungsentscheidungen als Einzelfallentscheidungen zu fällen und das Angebot zweier parallel existierender Beschulungsmöglichkeiten zu fordern, die jede Einzelfallentscheidung offenhält, anstatt ein deutliches Primat der einen oder anderen Möglichkeit zu formulieren (so ANTOR 1988a, 1990).
Es ist jene Verwechslung von Integration und Anpassung, die schon bei MüHL (1987) bezüglich der Einbeziehung von Menschen mit geistiger Behinderung zu bemerken war (vgl. Kap. 2.1.2). In der Tat ist eine vereinseitigte Anpassung von Kindern mit Behinderung abzulehnen - dieses entspräche auch nicht der dialektischen Spannung von reiner Gleichheit als bloßer Anpassung und purer Verschiedenheit als durchgängige Aussonderung, deren Synthese erst die Integration ist. Integrative Erziehung geht eben gerade nicht vom Grundsatz aus: Allen das Gleiche, sondern, wie GROLLE ausführt, vom Grundsatz: Jedem "seinen Möglichkeiten entsprechend" (1987, 44). Die von BLEIDICK ausgehende dialektische Schieflage ist kennzeichnend für eine breite AutorInnenschaft innerhalb der Sonderpädagogik und findet sich z.B. auch bei KOBI (1983, 1990) und ANTOR (1988, 1990).
Dieser Schieflage entspricht auch die weithin rezipierte Systematik zur Integration von KOBI. Dort werden in einer formalen Matrix verschiedene Ebenen und Intensitätsgrade (proklamatorisch, modellhaft, praktiziert) innerhalb eines dialektischen Spannungsverhältnisses von "Separation und Integration" (KOBI 1990, 55) unterschieden. Auf den unterschiedenen Ebenen (KOBI 1983, 1990) geht es zunächst um die Umweltverhältnisse und den Abbau von baulichen Barrieren (physisch/ökologisch), um die Abschaffung stigmatisierender Begriffe (terminologisch/begrifflich), weiter um in Spezialisierung und Professionalisierung begründete separierende Strukturen von Schule, Lehrerausbildung und Forschung (administrativ/bürokratisch), dann um soziale Kontakte und Anteilnahme zwischen Kindern mit und ohne Behinderung (sozial/kommunikativ), schließlich um gleiche inhaltliche Angebote für alle Kinder ohne generelle Reduzierung (curricular-funktionell) und um die gleiche Teilhabe verschiedener Kinder an den selben Inhalten, Formen und Bedingungen (lern-/lehrpsychologisch). Dabei wird ein zunehmender Intensitäts- und Schwierigkeitsgrad festgestellt (KOBI 1983, 197, 1990, 58).
Problematisch wird diese Systematik von der curricular/funktionellen Ebene an, da hier zunehmende Anforderungen an die Gleichheit der Kinder gestellt werden, nicht jedoch intensivere Möglichkeiten der Integration bestehen. Einigungsprozesse im Sinne REISERs werden nicht intensiviert durch die Gleichheit von Kindern in bezug auf Partizipationsmöglichkeiten an der selben Sache mit gleichen Anforderungen und unter gleichen Bedingungen. KANTER sitzt ebenso wie KOBI diesem Mißverständnis auf, indem er zwar mit Bezug auf historische Vorerfahrungen feststellt, daß es sich als unmöglich erwies, "(1) mit einer heterogenen Gruppe von Kindern und Jugendlichen (2) nach uniformen curricularen Vorgaben (3) zu gleicher Zeit (4) zu allseits verpflichtenden Lernzielen zu gelangen" (1985, 312f.). Er zieht aber nicht die logische Konsequenz daraus, die Verpflichtung zur Lernzielgleichheit aufzuheben und somit die Rahmenbedingungen entscheidend zu verändern. Hier zeigt sich wiederum die Bedeutung des zieldifferenten Lernens in der Gemeinsamkeit unterschiedlicher Kinder als pädagogische Revolutionierung, die, wenn sie nicht wahrgenommen wird, zu einem grundsätzlichen sonderpädagogischen Mißverständnis der Integration führt.
Die drei wesentlichen theoretischen Zugänge, mit den Namen FEUSER, SANDER und REISER verbunden, sind auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt: FEUSERs Theorie des gemeinsamen Gegenstandes bezieht sich auf die unmittelbare Handlungsebene des Unterrichts und leitet daraus u.a. auch institutionelle Notwendigkeiten ab. SANDERs Zugang geht demgegenüber von der übergeordneten Ebene der Entwicklung von (Schul-)Systemen aus und betrachtet so die Wechselwirkungen auf unterschiedlichen Systemebenen. Für die konkrete Unterrichtsebene scheint der ökosystemische Ansatz jedoch weniger hilfreich. REISERs Theorie integrativer Prozesse vermag die sich vollziehenden Prozesse auf unterschiedlichen Ebenen zu analysieren und bekommt - über die beiden anderen Ansätze hinausgehend - das ganze Spektrum vorhandener Ebenen von der Psyche des einzelnen Menschen bis zu institutionellen und gesellschaftlich-normativen Fragestellungen in den Blick. Damit ist sie sowohl für konkret alltägliche Prozesse als auch für übergeordnete Fragestellungen gleichermaßen ertragreich.
Die Theorie integrativer Prozesse vermag darüberhinaus die beiden anderen Ansätze einzubeziehen: Die Theorie des gemeinsamen Gegenstandes bildet gleichsam den Kern der Ebene unterrichtlicher Handlungen innerhalb des Gesamtgebäudes integrativer Prozesse. Der ökosystemische Ansatz ließe sich auf unterschiedlichen Ebenen wiederfinden: auf der Ebene der Wechselbeziehungen zwischen Personen, mit Institutionen, mit gesellschaftlichen Normen.
Damit kann die Theorie integrativer Prozesse als umfassendste und ertragreichste Theorie im Bereich der Integrationspädagogik bezeichnet werden. Sie soll deshalb auch im folgenden die Grundlage dieser Arbeit bilden und im anschließenden Kap. 2.1.3 ausführlicher dargestellt werden.
Zentraler Begriff der von der Frankfurter Arbeitsgruppe um Helmut REISER entwickelten Theorie integrativer Prozesse ist der der Integration. Es ist dies ein Begriff, der in verschiedenen Zusammenhängen in unterschiedlichster Weise verwendet wird, z.B. innerhalb der Ausländerpädagogik (vgl. Kap. 4.1.2).
REISER setzt sich mit diesem schillernden, aber auch inflationär bis zur Unkenntlichkeit benutzten Begriff auseinander. Für ihn ist Integration ein Ziel, allerdings nicht im Sinne eines Zielpunktes, den man irgendwann erreicht, sondern im existentiellen Sinne: Das Ziel der Integration besteht quasi in ihrem prozeßhaften Weg. Dies gilt entsprechend wie für das Ziel des Lebens, das nicht im Tod, sondern im Lebendig-Sein bis zu seinem Ende liegt (1991, 14). Dabei ist die Grundlage eine dynamische Balance von Gleichheit und Verschiedenheit, die jede menschliche Entwicklung begleitet: Einerseits die Tendenz des Gleichseins, der Annäherung an andere und der Gemeinsamkeit mit anderen, andererseits die Tendenz des Verschiedenseins, der Abgrenzung von anderen und persönlicher Autonomie. Diese Tendenzen bilden keine sich gegenseitig ausschließenden oder relativierenden Pole, sondern sind in einem dialektischen Spannungsverhältnis aufeinander angewiesen. Nach REISER läßt sich Integration für andere Personen nicht unmittelbar herstellen. Es geht um einen pädagogischen Auftrag, der Möglichkeiten eröffnen soll. Den Prozeß stellt er in Abbildung 2.1 mit der Kreislinie dar:
-
Ich versuche wahrzunehmen, welche integrativen Prozesse dadurch in Gang kommen.
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Dabei ist es hilfreich zu analysieren, auf welchen Ebenen welche Prozesse in Gang kommen. Ich unterscheide dabei die sieben auf dem Bild angegebenen Ebenen.
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Aufgrund dieser Analyse gemäß meinem Richtziel: dynamische Balance von Gleichheit und Verschiedenheit versuche ich die Bedingungen weiter zu verbessern, weitere Ebenen einzubeziehen, die integrative Prozesse fördern" (1991, 16).

Abb. 2.1: Integration als dynamische Balance von Gleichheit und Verschiedenheit (REISER 1991, 15)
Diese immer weiter fortzuführende Linie beschreibt damit den pädagogischen Prozeß und damit auch das Ziel der Integration.
REISER U.A. (1986) gehen bei ihrer Theorie integrativer Prozesse von der Dialektik von Gleichheit und Ungleichheit aus. Auf der Ebene der Person läßt sie sich im Sinne des Symbolischen Interaktionismus (MEAD) mit den Kategorien der Identitätsentwicklung beschreiben: Das Bedürfnis nach Gleichheit und Gemeinsamkeit mit anderen wird als soziale Identität, das Bedürfnis nach Einzigartigkeit und Individualität wird als persönliche Identität bezeichnet. Die Entwicklung von Ich-Identität wird erst ermöglicht durch eine Balance zwischen beiden Bedürfnissen. Ohne die Entwicklung persönlicher Identität entstehen gesichtslose Konformisten, die sich lediglich an andere anpassen, ohne die Entwicklung sozialer Identität kommt es zu 'asozialen Sonderlingen', zu inhumanem Egoismus (vgl. HINZ 1989a, 54, REISER 1991, 14). Beide Tendenzen sind notwendig für die Entwicklung von Ich-Identität, also einer Identität, bei der Individualität und Gruppenbezogenheit gleichermaßen zu ihrem Recht kommen.
Diese dynamische Balance hat nun nicht nur Bedeutung für einzelne Personen, sondern läßt sich ebenso auf die Beziehungen zwischen Gruppierungen, also auf die gesellschaftliche Ebene, anwenden. Hier bilden die verbrieften Gleichheitsrechte für alle Menschen die Grundlage, die in den USA zum Grundsatz der Nichtdiskriminierung führen und im skandinavischen Raum ihren Ausdruck im Normalisierungsprinzip finden. Sollen sie jedoch nicht zur Anpassung an einheitliche Maßstäbe und Normen geraten, müssen gleichzeitig auch partikulare Unterschiede anerkannt werden: verschiedene Sprachen, Normen, Fähigkeiten, Verhaltensweisen müssen zur Geltung kommen können. Erst wenn die grundsätzliche Gleichheit aller, aber auch ihre Verschiedenheit akzeptiert wird, ist gesellschaftliche Integration möglich: "Normative Voraussetzung dieser Sichtweise ist, daß beiden Partnern oder Gruppen von Personen ein Eigencharakter, eine eigene Identität und eine grundsätzliche Gleichberechtigung auch bei unterschiedlicher Leistungsfähigkeit zugestanden wird" (REISER 1991, 16).
Dies hat unmittelbare Konsequenzen für die institutionalisierte Erziehung: "Eine Absonderung eines Kindes aus der Gruppe, die ungeachtet des Geschlechts, der Rasse, des sozialen Herkommens usw. für alle Kinder z.B. im Kindergarten angeboten wird, ist nur insoweit statthaft, als dies für die Entwicklung des Kindes unbedingt erforderlich ist, weil durch keine andere, weniger absondernde Maßnahme die Entwicklung gesichert werden kann" (REISER U.A. 1986, 118). Somit stehen Sondereinrichtungen zu allgemeinen Einrichtungen in einem untergeordneten Ergänzungsverhältnis: "Sonderschulen sind damit subsidiäre Ersatzlösungen, Lernorte zweiter Wahl, die ihre Rechtfertigung aus dem Ungenügen der allgemeinen Schule beziehen" (WOKEN 1988h), nicht hingegen aus sich selbst heraus. Daß ein Kind eine Sondereinrichtung besucht, muß gemäß dem Primat der Integration begründet werden und nicht, daß es eine allgemeine Einrichtung besucht (vgl. SCHöNBERGER 1988, 67).
Mit dem Postulat von Gleichheit und Verschiedenheit werden Grunddimensionen jeder Pädagogik angesprochen: "der Ausgleich zwischen Individuum und Gruppe, das Verhältnis von Gleichheit und Ungleichheit, den Widerspruch von Selbstwertgefühl und gesellschaftlich definierter Tüchtigkeit" (REISER U.A. 1986, 117). Dieses universale Postulat drückt sich beispielhaft im Motto der italienischen Integrationsbewegung aus: "Tutti uguali - tutti diversi!" - alle sind gleich und alle sind verschieden (DEPPE-WOLFINGER 1985a). Alle sind gleich beispielsweise in bürgerlichen Rechten, in dem Bedürfnis nach Gemeinsamkeit, in den Grundbedürfnissen der Versorgung, auch z.B. in der Unvollkommenheit in diversen Bereichen. Gleichzeitig sind alle verschieden, in ihren Fähigkeiten, Vorlieben, Eigenschaften, Ängste, Attraktivität, Stärken und Schwächen oder anderem.
Die Anerkennung der "Gleichwertigkeit aller Menschen" und daraus folgend der "Gleichberechtigung aller Bürger" (SCHöNBERGER 1988, 64f.) und ihre Ergänzung durch "partikular besondere Qualitäten" (PRENGEL 1988a, 73) führen auch über die bisherigen emanzipatorischen Bestrebungen von diskriminierten Gruppen hinaus, die bisher fast durchweg auf der Gleichheitsvorstellung beruhen und ihre Gleichwertigkeit über den Beweis ihrer Gleichheit zu beweisen versuchen (so z.B. die Einheitsschulbewegung; vgl. PRENGEL 1988a). Im politischen Bereich pflegt Karl MARX als Kronzeuge der Gleichheitsforderung angeführt zu werden, obwohl gerade er es war, der in der Kritik des Gothaer Programms der deutschen Sozialdemokraten 1875 den Gleichheitsgrundsatz radikal in Frage stellte. Er forderte, daß eigentlich das Recht für Ungleiche ungleich sein müsse (GROLLE 1987, 43).
Auch die Bildungsreform der 70er Jahre hat sich an der Gleichheitsvorstellung orientiert (ebenso wie die in Kap. 2.1.1 vorgestellten präventiven Ansätze), indem sie die Allgemeinverbindlichkeit schulischer Anforderungen beibehalten und auf größere institutionelle Durchlässigkeit und individuell unterstützende Maßnahmen für einzelne SchülerInnen zum Erreichen der allgemeinen Anforderungen gesetzt hat. Insbesondere der Strömung innerhalb der Gesamtschule, die dem Leitbild der 'demokratischen Leistungsschule' folgt, geht es eher um eine real leistungsgerechte - und nicht durch soziale Schichtung gleichsam verfälschte - Selektion als um die Gemeinsamkeit unterschiedlichster Kinder (vgl. HINZ 1989a, 50-53). Mit einem solchen Selbstverständnis haben Bildungsreformbestrebungen auf die Verschiedenheit von Kindern "mit einem strikten innerschulischen Selektionssystem reagiert, dem alle Fördermaßnahmen im Grunde dienten" (PRENGEL 1988a, 72). Mit der Verabsolutierung des Gleichheitsgedankens in den 70er Jahren ist auch zu erklären, warum allenfalls "Grenzfälle zwischen Gesamt- und Sonderschule" (BACHMANN 1977), also Kinder mit Problemen im Bereich des Lernens, Verhaltens und der Sprache in die Diskussion einbezogen wurden. Kinder mit Behinderungen führten dort ein marginales Dasein in Form einer in Statistiken immer wiederkehrenden Fußnote: "ohne Schüler aus Sonderschulen" (vgl. HINZ 1989a, 53).
Aus heutiger Sicht müssen jene Versuche eher als Anpassungsstrategien durch zusätzliche Förderung denn als Integrationsversuche gesehen werden (HINZ 1989a), obwohl sie einen integrativen Ansatz beanspruchten. Zu dem Gleichheitsprinzip muß daher also als spannungsvoller Ergänzungspart das Verschiedenheitsprinzip hinzutreten. In diesem Sinne ist auch WOCKENs Satz zu verstehen, die integrative Schule suche "das Recht auf Unterschiedlichkeit ohne den Verzicht auf die Gemeinsamkeit zu verwirklichen" (1987b, 76).
Das Spannungsverhältnis von Gleichheit und Verschiedenheit wird auch in der Allgemeinen Pädagogik thematisiert, so von FLITNER (1985) und von SCHLöMERKEMPER (1986, 1989).
Die dialektische Angewiesenheit von Gleichheits- und Verschiedenheitsprinzip geht in FLITNERs Begrifflichkeit mit "unterscheidender und egalisierender Gerechtigkeit" ein (1985, 5): Die egalisierende Gerechtigkeit geht nach dem Grundsatz 'Allen das Gleiche' vor und sichert grundsätzlich gleiche Rechte, die unterscheidende Gerechtigkeit verhindert nach dem Grundsatz 'Jedem das Seine' bloße Gleichbehandlung. Mit der Formel 'Jedem das Seine' ist nicht das Bleiben-Lassen-wie-man-ist gemeint, sondern das, "was den Schüler fördert, was ihm nützt, wessen er zu seiner Bildung und Entwicklung und sozialen Förderung besonders bedarf" (FLITNER 1985, 5), also jene partikularen Besonderheiten, von denen schon unter der Formel: 'Jeder seinen Möglichkeiten' entsprechend die Rede war. Gleichwohl denkt FLITNER diesen Gedanken nicht konsequent zu Ende, wenn seiner Meinung nach Gerechtigkeit "ein gewisses Basisniveau, eine grundlegende Bildung oder ein(en) 'Sockel'" (1985, 18) benötigt; offensichtlich kann nur eine gewisse Bandbreite an Verschiedenheit von Kindern gedacht werden, die durch ein für alle gemeinsames Fundament begrenzt wird. Von seinen Grundgedanken aus kommt auch FLITNER zu einer Einschätzung der Bildungsreform im obigen Sinne: "Viel zu mächtig geworden ist (...) die gleichsetzende, austeilende Gerechtigkeit, Justitia wie sie dargestellt wird mit verbundenen Augen, die entscheiden soll 'ohne Ansehen der Person'. Für die Schule muß, mindestens gleich mächtig, die Schwesterfigur danebenstehen: die unterscheidende, soziale und persönlich-zuteilende Gerechtigkeit, die keine Binde vor den Augen hat, sondern zu sehen vermag, wes dieses Kind, diese Gruppe, diese Schule bedarf" (FLITNER 1985, 21).
In seinen bildungstheoretischen Überlegungen geht SCHLöMERKEMPER vom Spannungsfeld zwischen emanzipatorisch-egalitären und hierarchisch-elitären Anteilen der Bildung aus (1986). Er spricht sich im Sinne einer Stärkung egalitärer Anteile für eine "Entkoppelung von Bildung und Kompetenz" (1986, 413) aus. Sie ermöglicht für ihn eine bildungstheoretische Argumentation für Integration, "weil alle Kinder nicht nur die gleiche Chance haben müssen, sich einem für alle verbindlichen Leistungs- und 'Bildungs'-Maßstab anzunähern, sondern weil Bildung in dem egalitären Sinn die Fähigkeit beinhaltet, mit der Unterschiedlichkeit von Kompetenzen konstruktiv und sozial umzugehen" (1986, 413). Und dies, so SCHLöMERKEMPER, ist nur in einer Schule möglich, in der Verschiedenheit von Kindern möglich ist, also prinzipiell keine Kinder ausgeschlossen werden - zunächst also in der Gesamtschule. In diesem Sinne hält SCHLöMERKEMPER eine andere, konstruktivere Bewältigung von Heterogenität für möglich: Das Ziel muß nicht mehr sein, Heterogenität abzubauen, um Bildung im elitären Sinne zu ermöglichen (1986, 414). Wenn Bildung vielmehr "auf jeder Kompetenzstufe möglich ist, dann können die Unterschiede in den Leistungsmöglichkeiten zunächst einmal als solche akzeptiert werden, um dann für alle Schüler ein darauf bezogenes Bildungsangebot zu entwerfen, das jedem einzelnen die Erfahrung ermöglicht, mit seinen Kompetenzen konstruktiv und sozial umgehen zu können" (1986, 414; vgl. 1989, 320).
Bei der Reflexion des widersprüchlich verstandenen und gewerteten Integrationsbegriffs unterscheidet SCHLöMERKEMPER drei Bedeutungsvarianten: "Meritokratische Integration" (1989, 321) will die Heranwachsenden an die ihnen im hierarchischen Berufs- und Sozialstruktur zustehenden Plätze führen; sie zielt damit auf gesellschaftliche Anpassung und auf die Stabilisierung gesellschaftlicher Verhältnisse. "Kompensatorische Integration" (1989, 322) will die Zugangschancen Benachteiligter verbessern und ihnen so gerechtere Möglichkeiten der Konkurrenz verschaffen; auch hier bleiben die allgemeinverbindlichen 'Lernziele' unhinterfragt, und es bleibt den Benachteiligten aufgegeben, unter den Bedingungen des bestehenden Leistungsprinzips erfolgreich zu sein. Nach meritokratischem wie nach kompensatorischem Verständnis hat "Unterschiedlichkeit ... unterschiedliche Berechtigung zur Folge" (1989, 323). Demgegenüber bezieht sich "egalitäre Integration" (1989, 323) auf einen doppelten Anspruch der Gleichberechtigung, nämlich auf den "Anspruch optimaler Förderung" und auf den "Anspruch auf gleiche soziale Lebenschancen" (1989, 323) ohne die Erfüllung allgemeiner Leistungsmaßstäbe; hier wird die universelle Gleichwertigkeit aller Menschen unabhängig von der Leistungsfähigkeit eingeklagt.
SCHLöMERKEMPER beschreibt mit seiner Bedeutungsvariante der egalitären Integration das dialektische Verständnis von Gleichheit und Verschiedenheit. Während der meritokratische Integrationsbegriff die Verschiedenheit hierarchisch bestärkt, zielt der kompensatorische Integrationsbegriff auf minimierende Anpassung der Benachteiligten. So ergeben sich deutliche, weitgehend unabhängig voneinander entstandene theoretische Parallelen im Bereich der Integrationspädagogik wie im Bereich der Bildungstheorie.
Die Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit spiegelt sich wider und konkretisiert sich in der Dynamik integrativer Prozesse, deren aufeinander angewiesene Pole auf der Grundlage der "Gegensatzeinheit von Autonomie und Interdependenz" (REISER 1990a, 31) Annäherung und Abgrenzung sind. Es ist dies das Spannungsverhältnis zwischen den beiden Polen, sowohl die Position des anderen zu verstehen und zu berücksichtigen, als auch sich seiner Position sicher zu werden (KRON 1988b, 124). Da wir gleichzeitig gleich und verschieden sind, muß es auch gegensätzliche Anteile bei jeder Persönlichkeit, in jedem Dialog, in jeder gemeinschaftlichen Situation geben. Demnach sind Verhaltensweisen der Abgrenzung und Distanzierung genauso wichtige Anteile wie solche der Annäherung und der Harmonie. Sie sind deshalb in konkreten Situationen nicht vorschnell als desintegrative Momente zu interpretieren, sondern vielmehr auf ihre Funktion innerhalb der Dynamik von Annäherung und Abgrenzung zu befragen.
Es wäre demnach eine desintegrative Entwicklung, wenn es zu dauerhaften Prozessen symbiotischer Verschmelzung ohne Momente der Abgrenzung oder zu Entfremdung von anderen oder sich selbst ohne Momente der Annäherung käme. PRENGEL beschreibt denn auch Störungen integrativer Prozesse als "Überabgrenzung, die Isolation bedeutet, und Überannäherung, die Grenzüberschreitung im aggressiven und im überfürsorglichen Sinne bedeutet" (1989a, 207). "Diese gegensätzlich erscheinenden Fehlentwicklungen sind doch darin gleich, daß sie nur durch massive Abwehr aufrechterhalten werden können" (REISER U.A. 1986, 120). Wie schwer konflikthafte Anteile integrativer Erziehung für Beteiligte zu ertragen sind, zeigt sich bei PädagogInnen wie bei Eltern. Harmonie und Verständnis prägen die Wunschbilder in der Darstellung integrativer Erziehung; Konflikte, Genervtheit und unbefriedigende Situationen sind demgegenüber seltener zu finden (vgl. z.B. OLEJNIK & GäBLER 1986).
Deutlich ist hier bereits, daß die Theorie integrativer Prozesse keineswegs auf ein per se harmonisches Miteinander zielt. Im Gegenteil ist es eine wichtige Aufgabe für die PädagogInnen in der gemeinsamen Situation mit den Kindern, Konflikte als Chance der Weiterentwicklung für die Gruppe wie für die Individuen wahrzunehmen und in konstruktiver Weise mit ihnen umzugehen, anstatt sie mit großem Energieaufwand zu tabuisieren. Auch erscheint die Chance für Freiräume bedeutsam: Die Theorie gesteht den Beteiligten Zwiespältigkeiten und Widersprüchlichkeiten zu und eröffnet konstruktive Möglichkeiten für authentisch geführte Auseinandersetzungen.
Die Frankfurter Forschungsgruppe verweist auf die Themenzentrierte Interaktion (COHN 1975) und die psychoanalytische Interaktionstheorie (LORENZER 1972, 1974) als Bezugstheorien. Weiter bezieht sie sich auf den Philosophen BUBER (1953) und seinen Grundsatz der nichthierarchischen, dialogischen und ganzheitlichen "Ich-Du-Beziehung", der von vielen AutorInnen, zumal im Bereich reformpädagogischer Ansätze, aufgenommen worden ist.
Damit steht die Frankfurter Forschungsgruppe in der Tradition von Ansätzen der psychoanalytischen und der humanistischen Psychologie, die sie mit soziologischen Ansätzen zu verbinden sucht. So ergibt sich eine große Nähe zu Ansätzen, die ihre Wurzeln ebenfalls in der Psychoanalyse und deren Weiterentwicklung in der Verbindung mit Elementen der Humanistischen Psychologie haben, wie etwa FROMM (1979, 1985), GRUEN (1986, 1988) und MILLER (1979, 1980).
Insbesondere die Humanistische Psychologie weist mit ihrem grundlegenden Prinzip der Integration auf verschiedenen Ebenen (vgl. BUROW & NEUMANN-SCHöNWETTER 1988) eine große Nähe zur Theorie integrativer Prozesse auf: Auf der Persönlichkeitsebene geht es um die Akzeptanz widersprüchlicher Persönlichkeitsanteile und die Einheit von Denken, Fühlen und Handeln. Auf der Beziehungsebene stehen Akzeptanz, Empathie und Dialog im Sinne BUBERs im Mittelpunkt. Die Ebene des sozialen und ökologischen Umfeldes bezeichnet die Anwendung der Beziehungsebene auf die Umwelt.
Diese Nähe gilt ebenso für auf die Humanistische Psychologie aufbauende Ansätze wie Gestalttherapie und Gestaltpädagogik (PETZOLD & BROWN 1977, BUROW & SCHERPP 1981, PRENGEL 1983, 1989b, BUROW, QUITMANN & RUBEAU 1987, KLEBER 1988), bei denen teilweise ebenfalls von integrativer Erziehung die Rede ist, im Sinne einer Ganzheit des Menschen, mit der Einheit von Leib, Seele und Geist, von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, von Sich-Akzeptieren und Sich-Verändern, von Bewirken und Bewirkt-Werden, von Individuum und Umwelt (BUROW & SCHERPP 1981, 63 ff.).
Integrative Prozesse - in Anlehnung an die Themenzentrierte Interaktion (COHN 1975) im Schnittpunkt von SchülerIn, LehrerIn und Grundschule lokalisiert - werden zunächst auf drei (GUTBERLET U.A. 1983), später auf vier (REISER U.A. 1986) und wiederum später auf sieben (REISER 1990a) aufeinander einwirkenden Ebenen analysiert.

Abb. 2.2: Ebenen integrativer Prozesse in Anlehnung an das TZI-Modell von COHN (KLEIN U.A. 1987, 41)
Zum besseren Verständnis wird hier zunächst auf das Modell mit vier Ebenen (REISER U.A. 1986, KLEIN U.A. 1987) zurückgegriffen. Diese vier Ebenen repräsentieren zugleich die Bestandteile des TZI-Modells (vgl. Abb. 2.2). Die einzelnen Ebenen werden in ihrer Funktion folgendermaßen beschrieben:
"1. Die innerpsychische Ebene ist die Grundlage aller folgenden Ebenen insofern, als ohne sie auf allen weiteren Ebenen keine Einigungen gelingen können" (KLEIN U.A. 1987, 39).
Hier geht es - wie in der Humanistischen Psychologie - um Akzeptanz. Sie "wird dann möglich, wenn die Person ihre widersprüchlichen Empfindungen und Impulse zueinander in Beziehung bringt, ohne eigene Anteile verdrängen oder verleugnen zu müssen" (KLEIN U.A. 1987, 41). Es geht um die Akzeptanz der eigenen ungeliebten Anteile, um unsere Schattenseiten, um die von FROMM formulierte Erkenntnis, "es gibt nichts Menschliches, was nicht in jedem von uns zu finden wäre" (1985, 57). Für die "dunkle Seite unserer eignen Person" (WOCKEN 1988g, 438) verfügen wir über zwei nicht integrierende Abwehrstrategien: Mit der Verleugnung versuchen wir diese Anteile zu vernichten, wir behaupten, daß sie in uns nicht existieren. Mit der Verfolgung schieben wir sie von uns weg, wir sondern sie aus und bekämpfen sie als Projektion stellvertretend, vielleicht besonders scharf, bei anderen. Wenden wir uns nicht unserer eigenen dunklen Seite zu, werden wir kaum in der Lage sein, sie bei anderen zu ertragen. Wir werden schwerlich Dysfunktionalität und Schwäche, aber auch die unmittelbare Lustbetontheit von Kindern aushalten können. Hier liegt die psychologische Wurzel der Aussonderung von Kindern (vgl. GEBAUER 1984) und der Fixierung auf Fördererfolge (vgl. MILANI-COMPARETTI 1987) (vgl. hierzu Kap. 3.1 und 3.5.3).
"2. Die interaktionelle Ebene der Einigungsprozesse baut auf ihr (der innerpsychischen; A.H.) auf; zugleich ist die Möglichkeit, miteinander etwas zu tun zu haben, die reale Grundlage aller integrativen Prozesse und insofern auch die Voraussetzung der Prozesse auf der innerpsychischen Ebene. Die interaktionelle Ebene umfaßt so den Aspekt der Gruppenbeziehungen wie auch den Aspekt des gemeinsamen Handelns an einer Sache" (KLEIN U.A. 1987, 39f.).
Hier geht es - wie in der Humanistischen Psychologie - um den Dialog im Sinne BUBERs, um die ganzheitliche Wahrnehmung anderer. Häufig wenden wir uns gegen eine andere Person, indem wir sie unbewußt zum Objekt unserer Projektionen machen, sie als nur verschieden von uns empfinden und sie völlig ablehnen; oder wir identifizieren uns so mit einer Person, daß wir genau wie sie und mit ihr eins sein wollen. Auf der interaktionellen Ebene stehen sich die Pole der Verschmelzung und der Ablehnung gegenüber. Integrativ ist ein Dialog, bei dem wir andere in ihren Widersprüchen wahrnehmen können und uns treu bleiben.
"3. Auf der institutionell bestimmten Ebene geht es um den in Erziehungskonzepten gefaßten und durch Einrichtungen repräsentierten Sachauftrag der Erziehung. Hier liegt mit der Einrichtung der integrativen Gruppen die administrative Grundlage der Integration, die ohne integrative Prozesse auf der innerpsychischen und der interaktionellen Ebene jedoch wirkungslos bleibt" (KLEIN U.A. 1987, 40).
Hier geht es um die Frage, wie weit konzeptionelle und institutionelle Rahmenbedingungen einen Spielraum für die Verschiedenheit von Menschen lassen. Meistens haben Institutionen Vorgaben und Bestimmungen, auf die sich die Menschen in ihnen einzustellen haben. Wenn jemand nicht in diese Eingangsvoraussetzungen 'paßt', wird er nicht in diese Institution aufgenommen oder aus ihr ausgesondert und vielleicht in andere 'überwiesen'. Andere Menschen scheinen in Grenzen in diese Institution zu 'passen', aber sie können noch 'passender' gemacht werden (andernfalls müßten auch sie 'überwiesen' werden). Ein Beispiel dieser Ebene ist die Schule, die ihre Schülerschaft bislang zwischen geforderter Anpassung und drohender Aussonderung gehalten hat. Eine integrative Schule, in der Gemeinsamkeit zwischen unterschiedlichen Kindern möglich ist, nimmt die Kinder an, wie sie sind, und versucht, ihren Bedürfnissen und Notwendigkeiten zu entsprechen.
"4. Auf der gesellschaftlichen Ebene liegen die normativen Grundlagen integrativer Prozesse. Die Berücksichtigung dieser Grundlagen verringert die Gefahr der Selbstüberforderung der Pädagogen, wenn sie sich zur Aufgabe setzen, einen Lern- und Lebensraum herzustellen, in dem der Widerspruch zwischen ungleichen Voraussetzungen und gleichen Bedürfnissen und Rechten - bei Kindern wie Erwachsenen - aufgehoben ist. Pädagogen können nach unseren Beobachtungen keinen derartigen Raum schaffen, da die gesellschaftlich vorgegebenen Wertungen individueller Leistungsunterschiede in den Selbstdefinitionen der Individuen, auch im Selbsterleben der Kinder, unauflöslich verwoben wird" (KLEIN U.A. 1987, 40).
Auf dieser Ebene geht es um den zentralen Widerspruch zwischen individuellen Maßstäben und Einstellungen einerseits und gesellschaftlichen Normen und Werten andererseits. Das Spektrum, innerhalb dessen etwas gesellschaftlich als 'normal' betrachtet wird, kann sehr unterschiedlich sein. Dem einen Pol entsprechend hält eine Gesellschaft schnell alles, was nur ein bißchen anders als die gesellschaftliche Norm ist, für falsch, schädlich, schlimm etc. Sie grenzt sich dann dadurch ab, daß diese vielleicht geringe Ungleichheit als 'anormal' exotisiert wird und für völlig anders, vielleicht für abwegig oder verrückt gehalten wird und auf einen normativen (oder auch realen) Index, auf eine schwarze Liste kommt. Dem anderen Pol entsprechend übt eine Gesellschaft dergestalt normativen Druck auf jedes Mitglied aus, daß es sich den bestehenden normativen Erwartungen anzugleichen hat. Wer eigentlich mit anderen Normen und Vorstellungen lebt, wird von der Gesellschaft 'normativ kolonialisiert', er wird dazu gedrängt, die in der Gesellschaft herrschenden Normen zu übernehmen. Integrativ wäre demgegenüber eine Haltung, die die Verschiedenheit von Normen, Vorstellungen und Verhaltensweisen anerkennt, ohne sie in eine Hierarchie zu fügen und damit unterschiedliche Rechte und einen unterschiedlichen Status zu verbinden.
Die Situation und Dynamik auf den vier Ebenen kann in ihrer dialektischen Verknüpfung wie folgt schematisch dargestellt werden:
Spannungsfeld -> Ebenen/Prozesse -> |
Verschiedenheit <--- Balance ---> Gleichheit Abgrenzung <--- Einigung ---> Annäherung |
||
innerpsychisch |
Verfolgung |
Akzeptanz |
Verleugnung |
interaktionell |
Ablehnung |
Begegnung |
Verschmelzung |
institutionell |
Aussonderung |
gemeins. Unterricht |
Anpassung |
gesellschaftlich |
Exotisierung |
Normalisierung |
Kolonialisierung |
Hier sind die vier Ebenen integrativer Prozesse im Spannungsfeld der Balance von Gleichheit und Verschiedenheit und mit den Prozessen der Abgrenzung und Annäherung in ihrer Widersprüchlichkeit zusammengefaßt. Mit Hilfe von Einigungen auf der innerpsychischen Ebene kann Akzeptanz ermöglicht und Verfolgung wie Verleugnung überflüssig gemacht werden. Auf der interaktionellen Ebene können Einigungen zu Begegnung beitragen und überabgrenzende Ablehnung wie überannähernde Verschmelzung überwinden helfen. Institutionelle Einigungen vermögen gemeinsamen Unterricht realisieren zu helfen und den Druck der Aussonderung ebenso wie den Zwang zur Anpassung überflüssig werden zu lassen. Gesellschaftlich-normativ können Einigungen zu mehr Normalisierung beitragen und Distanz schaffende Exotisierung wie unterjochende Kolonialisierung abbauen helfen.
Die Tabelle macht darüberhinaus deutlich, daß Integration im hier verwendeten Sinne mehr meint als das Beieinandersein von Kindern mit und ohne Behinderungen. Es geht auch nicht um ein bloßes Hinzufügen von Kindern, die vorher ausgeschlossen waren, zu einem unveränderten Ganzen, sondern um einen Ansatz, der alle Kinder, alle mit Schule befaßten Personen und die Gesellschaft als ganzes betrifft und insgesamt zur Entwicklung von etwas Neuem führt.
Die später (1990) erfolgten Modifikationen der Theorie zielen auf eine Differenzierung des Modells, gehen jedoch zu Lasten seiner Verständlichkeit. Dabei wird die Systematik stärker an das Modell der Themenzentrierte Interaktion herangeführt: "Während der Ich-Aspekt (innerpsychisch), der Gruppen-Aspekt (interaktionell) und der Sach-Aspekt (Handlungsebene) die Eckpunkte des Dreiecks bilden, werden die weiteren Ebenen im Bild der Kugel (Globe) versammelt" (REISER 1990a, 32). Die Kugel wird in verschiedene Schalen aufgegliedert: In der ersten Schale geht es um die situativ-ökologische Ebene des Austauschs mit der konkreten Lebensumwelt (Lebensweltorientierung), in der zweiten um Prozesse in Institutionen (institutionelle Entwicklung), in der dritten um die Ebene gesellschaftlicher Strukturen (Demokratische Entwicklung) und in der vierten um die transzendierende Ebene (existentielle Erfahrungen).
Auf die weitere detaillierte Darstellung der einzelnen Ebenen (REISER 1990a) kann hier verzichtet werden, da dieser Modifikation nur z.T. gefolgt werden soll: So sinnvoll es ist, die Handlungsebene als Teil schulischer Realität aus der interaktionellen Ebene herauszunehmen und damit stärker zu gewichten, so unklar bleibt die Aufteilung des Globe in mehrere Schalen. Hier wird auch nicht mehr deutlich, von welchen Bezugspunkten die einzelnen Ebenen ausgehen; es sei denn von dem Bemühen, die vorhandenen Ansätze integrationspädagogischer Forschung in die Systematik einzubauen, etwa den öko-systemischen Ansatz der Saarbrücker Arbeitsgruppe, der sich in der Schale des Austauschs mit der konkreten Lebensumwelt wiederfindet. Leider wird bei den Modifikationen auch nicht mehr in bisheriger Weise das dialektische Grundmuster deutlich, das das Spannungsfeld auf den einzelnen Ebenen ausmacht. Stattdessen wird lediglich beschrieben, welche Prozesse auf den einzelnen Ebenen integrativ wirken.
Aufgrund der bisherigen Analyse kann nun ein modifiziertes Modell integrativer Prozesse entwickelt werden, das in dieser Arbeit die Systematik der weiteren Bearbeitung bildet. Entsprechend dem TZI-Modell besteht es aus den drei von REISER (1990a) beschriebenen Polen, die vom Globe umschlossen werden. Innerhalb des Globes wird zwischen institutionellen Bedingungen und gesellschaftlichen Normen unterschieden. Dieses könnte grafisch folgendermaßen dargestellt werden:

Abb. 2.3: Modell integrativer Prozesse
Die widersprüchlichen Pole und Prozesse können wie folgt bezeichnet werden:
Spannungsfeld -> Ebenen/Prozesse -> |
Verschiedenheit <--- Balance ---> Gleichheit Abgrenzung <--- Einigung ---> Annäherung |
||
innerpsychisch |
Verfolgung |
Akzeptanz |
Verleugnung |
interaktionell |
Distanzierung |
Begegnung |
Verschmelzung |
handlungsbezogen |
Verweigerung |
Kooperation |
Vereinnahmung |
institutionell |
Aussonderung |
Gemeinsamkeit |
Anpassung |
gesellschaftlich |
Exotisierung |
Normalisierung |
Kolonialisierung |
Die Grundstruktur besteht aus Abgrenzungs- und Annäherungsprozessen zwischen den beiden Polen Gleichheit und Verschiedenheit. Sie werden auf unterschiedlichen Ebenen als widersprüchliche Tendenzen und ihre dialektische Aufhebung in Einigungen deutlich: innerpsychisch als Akzeptanz im Widerstreit von aggressiver Verfolgung und Verleugnung, interaktionell als Begegnung zwischen Distanzierung und Verschmelzung, handlungsbezogen als Kooperation zwischen Verweigerung und Vereinnahmung, institutionell als Gemeinsamkeit zwischen Aussonderung und Anpassung und schließlich gesellschaftlich als Normalisierung zwischen Exotisierung und Kolonialisierung.
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Für die weitere Bearbeitung des Themas können nun Ergebnisse und Aussagen integrationspädagogischer Forschung in eine Systematik gebracht werden:
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Zunächst werden die Ergebnisse zusammengetragen, die schwerpunktmäßig die einzelne Person und ihre Entwicklung betreffen.
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Daran anschließend folgen jene Ergebnisse, die mit der Interaktion zwischen Personen zu tun haben.
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Dann geht es um jene Aussagen, die mit Handlung innerhalb des Unterrichtsgeschehens zusammenhängen.
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Mit Aussagen zu Bedingungen und Konzepten von Institutionen ist das Umfeld des direkten Geschehens erreicht.
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Schließlich beziehen sich die Aussagen zu Selbstverständnissen, Begriffen und Normen auf die Gesellschaft.
In der vorliegenden Arbeit wird der Versuch unternommen, die Gültigkeit der Theorie integrativer Prozesse mit der Grundlage eines dialektischen Verständnisses von Gleichheit und Verschiedenheit auch für andere Bereiche der Allgemeinen Pädagogik zu prüfen. Die Frankfurter Forschungsgruppe formuliert verschiedentlich selbst, daß hier eine allgemeine pädagogische Fragestellung aufgeworfen wird, die nicht nur auf den gemeinsamen Unterricht mit behinderten und nichtbehinderten Kindern in der Schule zu beziehen ist, sondern auf jegliche pädagogische Situation. Es handelt sich bei der Theorie integrativer Prozesse eigenen Bekundungen nach nicht um eine Theorie speziell für Kinder mit und ohne Behinderungen. Gleichheit und Verschiedenheit bezieht sich allein schon in der Schule bei Kindern auf verschiedene Dimensionen (vgl. HINZ 1989a). In diesem Sinne versteht sie sich also nicht als sonder-, sondern als eine allgemeinpädagogische Theorie. Immer geht es darum, "daß die Menschen unterschiedlich sind und daß eine Gleichheit hergestellt werden soll, oder daß die Menschen gleich sind und daß sich durch pädagogische Einwirkungen eine Differenz herausbildet" (REISER 1990e, 10). Diese Fragestellung von Gleichheit und Differenz betrifft auch andere Bereiche, wo es etwa "um die Heterogenität z.B. bei Kulturdifferenzen (geht), wie bei der Integration von Kindern aus anderen Kulturen, und z.B. bei der Geschlechterdifferenz, obwohl es sich hierbei um ganz andere unvergleichbare Differenzen handelt" (1990e, 10). Doch auch über die Schule und die Pädagogik hinaus, so die These, kann sie auf Bereiche angewandt werden, "bei denen es um Verschiedenheit geht - sei es auf innerpsychischer Ebene, sei es zwischen Personen, Gruppen, Institutionen oder Staaten, sei es in bezug auf Meinungen, Begriffe, Selbstverständnisse, Wissenschaften und Normen" (HINZ 1989b, 95).
Damit erhebt die Theorie integrativer Prozesse den Anspruch, sich auf ein generelles pädagogisches Kernproblem zu beziehen, paradigmatische Qualitäten aufzuweisen und "Integration als ein Schlüsselwort für ein neues Verständnis von Erziehung" (REISER 1990e, 9) zu begreifen. Im folgenden soll es nun um die Formulierung des weiteren Vorgehens (Kap. 2.2.1) gehen.
Aus der bisherigen Darstellung sind bereits die aktuellen Dimensionen der Heterogenität in der Schule deutlich geworden: Die Heterogenität der Geschlechter, die Heterogenität der Sprachen und Kulturen und die Heterogenität der Begabungen.
Bei der Heterogenität der Geschlechter geht es nicht primär um das biologische Geschlecht und seine unmittelbaren - vielleicht medizinisch feststellbaren - Folgen, sondern vor allem darum, wie sich die gesellschaftliche Definition der Geschlechter und ihrer Rollen in der Schule darstellen.
Die Heterogenität der Kulturen bezieht sich vor allem auf jene Kinder, die im Zuge der Arbeitsmigration mit ihren Eltern eingewandert oder schon hier geboren worden sind. Weiter bezieht sie sich auf jene, die als Flüchtlinge oder Aussiedler nach Deutschland gekommen sind. Ihnen ist gemeinsam, daß sie mit einer Schule konfrontiert werden, die sich traditionell an deutsche Kinder wendet. Sie haben sich mit der deutschen Schule vor einem anderen lebensgeschichtlichen Hintergrund auseinanderzusetzen als z.B. Kinder von DiplomatInnen. Der Begriff der kulturellen Heterogenität meint also primär den Personenkreis, der aufgrund von Migration, Rückwanderung oder Flucht mit der deutschen Schule konfrontiert wird.
Die Heterogenität der - dynamisch verstandenen - Begabungen bezieht sich auf jene Kinder, die bisher im Regelfall aus allgemeinen Schulen ausgesondert oder gar nicht erst von ihnen aufgenommen worden sind. Der Begriff der Begabung erscheint hier vertretbar, auch wenn das Spektrum von Behinderungen nicht immer den Aspekt der Begabung tangiert oder jener dabei nicht das entscheidende Moment ist; der Integrationspädagogik geht es jedoch im Unterschied zu anderen (sonderpädagogischen) Ansätzen gerade auch um die Einbeziehung solcher Kinder, die voraussehbar nicht das Leistungsniveau der allgemeinen Schule erreichen werden (vgl. Kap. 2.1.1).
Diese Felder der Heterogenität, die gleichzeitig Dimensionen jeder Lebensgeschichte darstellen und in der Praxis, zumal der Grundschulpraxis, von PädagogInnen gleichzeitig berücksichtigt werden müssen, sollen im folgenden näher betrachtet werden.
Bereits in den Bemühungen um Bildungsreform der 70er Jahre wurden verschiedene Dimensionen der Heterogenität thematisiert. In der damaligen Kunstfigur der "Arbeitertochter auf dem Lande, katholischer Konfession" (FLITNER 1985, 7), der die größten Aussichten auf Benachteiligungen in der Schule zugeschrieben wurden, sind die Dimensionen der sozialen Schicht und des Geschlechts enthalten. Da heute die Dimensionen der Konfession und der Stadt-Land-Frage in Diskussionen keine große Rolle mehr spielen und über sie kaum Untersuchungsergebnisse vorliegen - FLITNER (1985) nimmt eine Abnahme der Benachteiligungen an - , sollen sie im weiteren nicht berücksichtigt werden.
Stattdessen war damals offensichtlich weder die Dimension der Kulturen noch die der Leistungen (im Sinne einer unbeschränkt zugelassenen Vielfalt) im Blickfeld der Bildungsreform. Die Heterogenität von Kultur und Leistung sind heute dagegen wichtige Diskussionsfelder in der Allgemeinen Pädagogik.
Reizvoll wäre es, als weitere Dimension die Heterogenität des Alters zu untersuchen, denn wenn tatsächlich eine Pädagogik der Vielfalt Zielperspektive sein und die Heterogenität der Begabungen als deren Teil praktiziert werden soll, ist nicht mehr einsichtig zu begründen, warum das altersdiskriminierende Kriterium der Jahrgangsklasse weitergeführt werden soll. Integrationsansätze, die auf die Peter-Petersen-Pädagogik zurückgehen, weisen auf die positive Bedeutung der Altersheterogenität hin, die z.B. auch Kindern mit geistiger Behinderung die Erfahrung des Größer- und Kompetenter-Seins ermöglicht, wenn sie im zweiten Schulbesuchsjahr ihren neu dazukommenden KlassenkameradInnen die Gegebenheiten und Gepflogenheiten des Schullebens vermitteln können (zu Möglichkeiten der Altersheterogenität vgl. CLAUSSEN & GOBBIN-CLAUSSEN 1989). Da jedoch nur wenige Erfahrungsberichte vorliegen (z.B. KLINKE 1986) und sich Untersuchungen in altersheterogenen Klassen nicht explizit mit diesem Aspekt der Heterogenität auseinandersetzen (so COWLAN U.A. 1991a, 1991b), muß dieser Bereich aus der Bearbeitung ausgespart bleiben.
Somit ergeben sich für den weiteren Weg der Arbeit drei Felder, die bearbeitet werden sollen:
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Die Integrationspädagogik verspricht Aussagen über Erfahrungen, die mehr Gemeinsamkeit von Kindern mit unterschiedlicher Leistungsfähigkeit ermöglichen;
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Von der Interkulturellen Erziehung können Erfahrungen und Aussagen erwartet werden, die über die Gemeinsamkeit von Kindern mit unterschiedlicher kultureller Herkunft Auskunft geben;
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Die Feministische Pädagogik schließlich trägt Erfahrungen über die Gemeinsamkeit der Geschlechter bei. Sie wird insbesondere Aussagen über eine formale Gleichheit, die vorhandene Heterogenität ignoriert, machen können.
Das Verweilen bei diesen drei Feldern ist im Erkenntnisprozeß zu verstehen als immer weitergehende Annäherung an den Gegenstandsbereich. Das Vorgehen läßt sich in Anlehnung an die beiden hermeneutischen Zirkel (vgl. DANNER 1979, LAMNEK 1988) beschreiben. Der hermeneutische Zirkel I ermöglicht durch den wiederkehrenden Wechsel von Vorverständnis und Literaturstudium eine immer stärkere Annäherung an das Erkenntnisobjekt. So wird eine immer stärkere und genauere Fokussierung möglich: Das Vorverständnis wird mit dem Literaturstudium differenzierter und ermöglicht wiederum gleichzeitig ein gezielteres Herangehen an weitere Literatur. Der hermeneutische Zirkel II ermöglicht im vorliegenden Fall die so wichtige wechselweise Betrachtung der Teile und des Ganzen des Untersuchungsvorhabens, die aus wechselseitiger Perspektive heraus interpretiert und somit in der Interpretation verfeinert werden können. Mit den beiden hermeneutischen Zirkeln bzw. den hermeneutischen Spiralen, wie LAMNEK (1988, 70) angemessener formuliert, sind gute Voraussetzungen gegeben, einerseits mit genügender Spezifität und andererseits mit dem Blick für das Gemeinsame die vorhandenen Erkenntnisse, Aussagen und Erfahrungen zu betrachten, zusammenzufassen und in Beziehung zu setzen.
In diese Arbeit gehen keine eigenen empirischen Untersuchungen ein. Sie bezieht vielmehr ihr Material aus der Sekundäranalyse publizierter Untersuchungsergebnisse und Konzeptentwürfe. Dieses birgt in zweifacher Hinsicht Schwierigkeiten: Zum einen weist die vorliegende Literatur eine ausnehmend große Heterogenität theoretischer Zugänge, empirischer Standards und Aussagequalitäten auf, die nicht einfach vereinheitlicht werden können, sondern entsprechend gewichtet werden müssen. Angesichts der Konkretheitsgrades der Untersuchungen erscheint es dennoch sinnvoll und vertretbar, bei jeder Fragestellung zu prüfen, ob sich trotzdem eine gemeinsame Linie der Ergebnisse - im Sinne von gemeinsamen Aussagen einer mittleren Reichweite - erkennen läßt oder ob es keinerlei Verknüpfungsmöglichkeiten gibt. Zum anderen zeigt aber auch die große Quantität der erscheinenden - auch der 'grauen' - Literatur, daß es sich hier um Brennpunkte der pädagogischen Diskussionen handelt. Diese Arbeit erhebt keinen Anspruch, die vorhandene Literatur auch nur nahezu vollständig einbezogen zu haben - zumal es ohne Probleme möglich wäre, mit der fortlaufenden Aktualisierung der Literatur die Arbeit einige Jahre weiterzuschreiben. Es wurde versucht, wichtige Literatur bis zum Ende des Jahres 1991 zu berücksichtigen.
Weiter ist einschränkend zu beachten, daß lediglich Literatur aus dem deutschen Sprachraum einbezogen wurde. Dieses erscheint zum einen deshalb vertretbar, weil die Praxisentwicklung der Integrationspädagogik zwar auch von ausländischen Erfahrungen angeregt wurde, es sich jedoch letztlich um eine eigenständige Entwicklung handelt. Zum anderen wäre es eine kaum zu bewältigende Ausweitung des Themas, sollte die internationale Entwicklung in den drei Feldern der Heterogenität mit der Frage der Übertragbarkeit angemessen bearbeitet werden. Stärker als die integrationspädagogische Entwicklung sind die kulturelle und die geschlechtliche Dimension der Heterogenität in internationale Diskussionszusammenhänge eingebunden. Insofern wird bei einigen Punkten auf wichtige Untersuchungen aus dem Ausland hingewiesen.
Eine weitere Einschränkung des Vorhabens muß angesprochen werden: Es kann hier nicht darum gehen, quasi eine 'Allgemeine Integrationspädagogik', eine 'Allgemeine Interkulturelle Erziehung' und eine 'Allgemeine Feministische Pädagogik' zu schreiben und diese miteinander zu kombinieren und zu vergleichen. Der Blick ist in jedem Untersuchungfeld auf die Bewältigung von Heterogenität zentriert, wenngleich auch dieses bereits ein großes Feld darstellt. Weiter müssen die Aussagen der Arbeit auch in einem gewissen Allgemeinheitsgrad bleiben. Es wäre beispielsweise sehr lohnend, im Bereich der Integration Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Spezifika unterschiedlicher sonderpädagogischer Fachrichtungen zu analysieren. Im Bereich der Interkulturellen Erziehung wäre es spannend, zwischen unterschiedlichen Kulturen zu differenzieren. Um dieses ohnehin große Feld noch annähernd überschaubar und systematisierbar zu halten, müssen viele Spezifika übergangen werden. Auf sie wird lediglich dort eingegangen, wo sie allgemeine - über das jeweilige Feld hinausweisende - Bedeutung gewinnen, z.B. bei dem Streit in der Gehörlosenpädagogik um das Primat laut- oder gebärdensprachlicher Erziehung und der möglichen Perspektive einer 'bisozialen Integration'.
Eine letzte Bemerkung zur Begrifflichkeit erscheint notwendig: In dieser Arbeit werden einige Begriffe zunächst im Sinne von Arbeitsbegriffen benutzt. Dieses gilt u.a. für den Begriff des 'behinderten Kindes' und den des 'ausländischen Kindes', Begriffe, die ohne Erläuterung des ihnen zugeordneten Verständnisses schwer einzuordnen sind und leicht in die definitorischen Bahnen des defizitorientierten, germanozentristischen Denkens geraten. Sie werden zunächst dennoch benutzt und in den entsprechenden Kapiteln in den Abschnitten, die sich mit gesellschaftlich-normativen Fragen beschäftigen, problematisiert, so daß das hier maßgebliche Verständnis deutlich wird.
Mit der Systematisierung der drei Diskussionsfelder scheinen hinreichende Vorarbeiten geleistet, diese nun intensiver zu bearbeiten und das Vorverständnis zu überprüfen, ob in allen Feldern die Gemeinsamkeit eines dialektischen Ansatzes von Gleichheit und Verschiedenheit besteht, wie ein solcher Ansatz formuliert wird und wie er auf theoretischer, aber auch auf der Ebene empirischer Erkenntnisse und ggf. in Erfahrungsberichten eingelöst wird. Bei dieser Überprüfung des Vorverständnisses fungieren die Ebenen der Theorie integrativer Prozesse der Frankfurter Arbeitsgruppe als Kategorien der Untersuchung: Die einzelnen Kapitel sind in den Abschnitten dieser Ebenen gleich aufgebaut, unterscheiden sich jedoch entsprechend vorhandenen inhaltlichen Unterschieden und Schwerpunkten innerhalb dieser Ebenen. Dabei sollen einerseits Gemeinsamkeiten, andererseits aber auch gerade Unterschiede herauskristallisiert werden, die es dann in einer gemeinsamen, vergleichenden Betrachtung zu analysieren (Kap. 6) und in ihrer Bedeutung für verschiedene Ebenen auszuloten (Kap. 7) gilt.
Inhaltsverzeichnis
- 3.1 Aussagen zur Person-Ebene
- 3.2 Aussagen zur Interaktion-Ebene
-
3.3 Aussagen zur Handlungsebene
- 3.3.1 Integration und Komplexitätsreduzierung: Kooperation von PädagogInnen statt Homogenisierung von Lerngruppen
- 3.3.2 Integrative Kooperation als zentrales Problem der Integrationspädagogik
- 3.3.3 Grundlagen und Elemente eines integrativen Unterrichts
- 3.3.4. Zur Aus- und Weiterbildung, Beratung und Begleitung
- 3.4 Aussagen zur Institution-Ebene
- 3.5 Aussagen zur Gesellschaft-Ebene
- 3.6 Zusammenfassung wesentlicher Aussagen der Integrationspädagogik zur Bewältigung der Heterogenität
In diesem Kapitel wird zusammenfaßt, was bisher an wesentlichen empirischen Ergebnissen, theoretischen Hypothesen und konzeptionellen Aussagen innerhalb der Integrationspädagogik entstanden ist - hauptsächlich durch jene WissenschaftlerInnen, die seit Jahren wissenschaftliche Begleitungsarbeit wahrnehmen und so direkten Einblick in die Praxis integrativer Arbeit haben.
Als Grundlage und gleichsam gemeinsames integrationspädagogisches Haus kann jene Theorie integrativer Prozesse der Frankfurter Forschungsgruppe angesehen werden, wie sie in Kap. 2.1.3 dargestellt worden ist. Zwar soll sie "keine übergreifende Theorie der Integration" (DEPPE-WOLFINGER 1990a, 25) sein, denn wie sie betont: "Nicht die Metatheorie befördert die Integration, sondern die Vielfalt und Differenzierungen der wissenschaftlichen Zugänge" (1990a, 25). Dennoch eignet sie sich mit ihren mehreren Ebenen integrativer Prozesse sehr gut als übergreifende Systematik, in die weitere Theorieaussagen anderer AutorInnen, etwa zur Didaktik, zur Kooperation im Team oder zur sozialen Integration einzuordnen sind. Denn obwohl sich die einzelnen Wissenschaftlichen BegleiterInnen von höchst unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Positionen - DEPPE-WOLFINGER unterscheidet sechs verschiedene Strömungen - auf die integrative Praxis zubewegen, so kommen sie doch zu ähnlichen Aussagen im Sinne von Theorien mittlerer Reichweite (vgl. DEPPE-WOLFINGER 1990a, 21-25). Dies sicherlich u.a. auch deshalb, weil ihnen allen "die Grundentscheidung für eine kindgerechte, demokratische Schule ohne Aussonderung" (1990a, 25) gemeinsam ist. Es geht bei der Arbeit Wissenschaftlicher Begleitungen keineswegs darum, die allgemeine Richtigkeit oder die (unter allen Umständen gegebene) Überlegenheit der Integration zu begründen oder gar zu beweisen - etwas, was für die Integration wie für Sonderschulen nicht zu beweisen ist (KLEIN U.A. 1987, 292; vgl. auch BLEIDICK 1989a). Wissenschaftlichen Begleitungen geht es vielmehr um die Frage, wie gemeinsames Leben und Lernen gestaltet werden kann, welches günstige Rahmenbedingungen sind, welche Ressourcen bereitgestellt werden müssen etc. (vgl. KLEIN U.A. 1987, 36; WOCKEN & ANTOR 1987, 7; COWLAN U.A. 1991b, 17). In diesem Rahmen sind auch Vergleichsuntersuchungen zu Erfahrungen unter einzelnen, begrenzten Fragestellungen sinnvoll und notwendig (vgl. PREUSS-LAUSITZ 1988a); der Anspruch einer generellen Vergleichsuntersuchung, etwa zwischen Integration und Separation, ist weder sinnvoll noch verantwortbar noch einlösbar (vgl. LANGFELDT 1988, SCHLEY 1989b). Hier müssen andere Wege gegangen werden, die stärker die sowohl teilnehmende als auch distanzierte Rolle der Wissenschaft betonen und ihren Blick stärker auf die Prozesse und die sich entwikelnde Dynamik richten (vgl. SCHLEY 1990c).
In diesem Kapitel geht es darum, wie die Integrationspädagogik das dialektische Verständnis von Gleichheit und Verschiedenheit im Sinne der Theorie integrativer Prozesse einlöst. Dieses wird anhand ihrer empirischen Ergebnisse, theoretischer Aussagen und von Erfahrungsberichten überprüft. Dabei bilden die Ebenen der Theorie integrativer Prozesse die Kategorien der Untersuchung. Es werden also im folgenden Aussagen zur Person-Ebene (Kap. 3.1), Interaktion-Ebene (Kap. 3.2), Handlungsebene (Kap. 3.3), Institution-Ebene (Kap. 3.4) und Gesellschaft-Ebene (Kap. 3.5) zusammengefaßt. Beendet wird das Kapitel mit der Zusammenfassung integrationspädagogischer Aussagen zu dieser Fragestellung (Kap. 3.6).
Die Prozesse auf der Person-Ebene werden von der Frankfurter Forschungsgruppe definiert als jene, "in denen ein Mensch im Austausch mit anderen Personen und/oder seiner Umwelt widersprüchliche Anteile der eigenen Person in seine Wahrnehmungs- und Ausdrucksmöglichkeiten integriert" (REISER 1990a, 32f.), also die die dunkle Seite der eignen Person (WOCKEN 1988g) wahrnimmt und so die Ganzheit und Begrenztheit seiner Person erfährt. Hier werden jene Ergebnisse der Integrationspädagogik gesammelt, die mit der einzelnen Person, ihrer Entwicklung, ihren Problemlagen und ihrem Wohlbefinden zu tun haben.
Zunächst wird in Kap. 3.1.1 um die kognitive Entwicklung von Kindern in Integrationsklassen betrachtet. Die sozial-emotionale Seite der Entwicklung bei Kindern nimmt Kap. 3.1.2, die innerpsychischen Prozesse bei den beteiligten Erwachsenen Kap. 3.1.3 in den Blick. Kap. 3.1.4 schließlich beschäftigt sich in einem Exkurs mit der Diskussion innerhalb der Gehörlosenpädagogik über die sprachliche Entwicklung gehörloser Menschen zwischen lautsprachlicher und gebärdensprachlicher Orientierung.
Die Frage nach der Entwicklung der Schulleistungen von Kindern in Integrationsklassen zielt auf einen gesellschaftlich als sehr wichtig wahrgenommenen Bereich der Persönlichkeit, den Bereich der kognitiven Entwicklung. Auch wenn die (bessere) Förderung der kognitiven Entwicklung von Kindern nicht das primäre Anliegen der Integrationsbewegung ist, sondern die soziale Einbindung unterschiedlicher Kinder mit ihren Chancen veränderter Persönlichkeitsentwicklung, ist die Entwicklung der Schulleistungen von Anfang an eine wichtige Forschungsfrage gewesen. Dieses ist angesichts der Qualifizierungsfunktion der Schule naheliegend. Die hier zusammengetragenen Untersuchungen beziehen sich im wesentlichen nur auf einen Bereich kognitiver Entwicklung, nämlich die fachlichen Leistungen im Bereich der Kulturtechniken. Mit ihnen ist also nicht der ganze Bereich der kognitiven Entwicklung erfaßt.
WOCKEN (1987f) führt zur Leistungsentwicklung nichtbehinderter Kinder in Regel- und in Integrationsklassen eine vergleichende Untersuchung im Bereich des Lesens und Rechnens in den Klassenstufen 1 und 2 durch. Er kommt im Ergebnis zu einem "Patt der konkurrierenden Systeme": "Zwischen Integrationsklassen und Regelklassen bestehen keine bedeutsamen Leistungsunterschiede" (1987f, 304). Weder kommt es aufgrund der günstigeren Rahmenbedingungen (kleinere Klasse, Zwei-PädagogInnen-System) zu einer generellen Leistungsüberlegenheit entsprechend einer "Optimierungshypothese" (1987f, 282), noch aufgrund der Anwesenheit von Kindern mit Behinderung zu einer Leistungsunterlegenheit der Integrationsklassen entsprechend einer "Deprivationshypothese" (1987f, 280f.). Gleichwohl weist WOCKEN mit Blick auf die Allgemeingültigkeit der Aussagen auf das begrenzte Untersuchungsfeld - auch wenn weiterführende Untersuchungen den grundsätzlichen Trend bestätigt haben, so z.B. HETZNER (1988a) - und den geringen Untersuchungszeitraum (Klasse 1 und 2) hin.
WOCKENs Ergebnisse im Hinblick auf nichtbehinderte Kinder werden z.B. durch die Ergebnisse von HAEBERLIN U.A. gestützt. Dort finden BLESS & KLAGHOFER (1991) keine Anhaltspunkte dafür, daß begabte SchülerInnen - definiert durch einen IQ über 115 - durch die Anwesenheit lernbehinderter SchülerInnen in Regelklassen mit Heilpädagogischer SchülerInnenhilfe benachteiligt werden. Dies gilt für die Schulleistungen, für das emotionale Wohlbefinden, die Einschätzung eigener Fähigkeiten und die soziale Stellung in der Klasse. "Die oft geäußerte Befürchtung, die Integration von Lernbehinderten in Regelklassen könnte Nachteile für die Entwicklung der begabten Schüler zur Folge haben, ist somit bezüglich der hier untersuchten Merkmale unbegründet" (1991, 222).
DUMKE (1991d) führt in den Bonner Schulversuchen (Grund- und Gesamtschule) Vergleichsuntersuchungen zwischen Integrations- und Parallelklassen in den Bereichen Lesen, Rechtschreiben und Mathematik über die Zeit der Grundschule hinaus. Fünf Jahrgänge werden über drei Jahre jeweils am Schuljahresende mit standardisierten Tests untersucht. Bei insgesamt 43 Vergleichen von Mittelwerten zwischen Integrations- und Parallelklassen ergeben sich 10 statistisch bedeutsame Differenzen, sechs zugunsten und vier zuungunsten der Integrationsklassen (1991d, 37). Bei den meisten Vergleichen (77 %) stellt DUMKE keine signifikanten Unterschiede fest; wenn man je eine Integrationsklasse mit besonders günstiger und besonders ungünstiger Leistungsentwicklung unberücksichtigt läßt, ergibt sich eine "den Parallelklassen vergleichbare Entwicklung" (DUMKE 1991d, 38). Bei dem Vergleich der Standardabweichung, also der Streuung der Leistungen, ergeben sich nur bei drei Vergleichen signifikante Unterschiede, obgleich die Integrationsklassen weithin eine größere Streuung aufweisen. DUMKE folgert aus den Ergebnissen: "Die nichtbehinderten Schüler in Integrationsklassen lernen auf keinen Fall weniger als Schüler in Regelklassen" (1991d, 39). Die größere Streuung in Integrationsklassen erklärt DUMKE mit der vorhandenen größeren Heterogenität der integrativen Lerngruppe. Darüberhinaus sei "die Gefahr nicht auszuschließen, daß ein im statistischen Sinne vorliegender 'Chancenausgleich' eher das Ergebnis von Siebung als von Förderung darstellt" (1991d, 40), d.h. in den Parallelklassen könnte die geringere Streuung der Leistungen die Folge von Selektionsprozessen sein. Somit können auch DUMKEs Ergebnisse als Beleg und Bestätigung für die 'Patthypothese' von WOCKEN angesehen werden.
HEYER (1990b) kritisiert die Untersuchung von WOCKEN wegen des geringen Ausschnitts der erfaßten Leistungen, die sich ausschließlich auf die Kulturtechniken beziehen. Seine Untersuchungen beziehen sich auf die Leistungsentwicklung im ganzen und schließen so "vielseitige Lernleistungen (ein), die zur ganzheitlichen Entwicklung von Kindern gehören, ohne in den Rahmenplänen ausdrücklich ihren Niederschlag gefunden zu haben, z.B. integrative Komponenten der sozialen Kompetenz, die Stärkung von Vitalität, Emotionalität und Herausarbeitung eines positiven Selbstkonzeptes" (1990b, 130). Vor diesen umfassenden und richtigen Ansprüchen erscheinen die vorgelegten Untersuchungen in ihrer methodischen Anlage allerdings eher problematisch: Sie beziehen ihre Grundlage aus den Berichtszeugnissen und Übergangsempfehlungen sowie aus Einschätzungen der PädagogInnen zur individuellen Lernentwicklung.
Die Übergangsempfehlungen zeigen, daß trotz einer veränderten Schülerschaft die Anteile der Sekundarschulempfehlungen vor und während der Integrationsschulzeit annähernd gleich bleiben - HEYER geht davon aus, daß sie sich aufgrund sozialstruktureller Veränderungen positiv verschieben werden. Angesichts der Tatsache, daß Klassenwiederholungen auf ein Minimum reduziert und Aussonderungsentscheidungen gar nicht mehr getroffen werden, hält HEYER dieses Ergebnis für "pädagogisch beachtenswert" (1990b, 132).
Bezüglich der subjektiven Einschätzung der individuellen Leistungsentwicklung durch die KlassenlehrerInnen stellt HEYER als Ergebnis fest, sie seien bei den behinderten wie den nichtbehinderten Kindern "auffallend positiv" (1990b, 134). Dieser positive Eindruck ist mit dem Bezug auf die Anforderungen der Rahmenpläne zu differenzieren, wo dann große Unterschiede zwischen Teilgruppen deutlich werden: Während die höhere Häufigkeit von "größeren Leistungsrückständen" bei Kindern mit Behinderung in der Natur der extrem heterogenen und unausgelesenen Lerngruppe liegt, ist ihr vermehrtes Auftreten bei ausländischen (relativ zu deutschen) Kindern und bei Jungen (relativ zu Mädchen) für HEYER Grund für unumgängliche Diskussionen (1990b, 135). Hier besteht großer Untersuchungsbedarf. Ob allerdings auf den methodischen Pfaden der Untersuchungen von HEYER vorgegangen werden sollte, muß bezweifelt werden. Es wäre zumindest eine Ergänzung durch Verfahren direkter Erhebung angebracht, um nicht nur den Weg über subjektive Einschätzungen von PädagogInnen zu beschreiten.
Daß die subjektiven Einschätzungen von Beteiligten Hinweise für Aussagen über die Entwicklung der Kinder in Integrationsklassen geben können, zeigen die von PRENGEL im Rahmen eines DFG-Projekts durchgeführten 29 Interviews mit PädagogInnen, SchulrätInnen und Wissenschaftlichen BegleiterInnen zu "subjektiven Erfahrungen mit Integration" (PRENGEL 1990b). In allen Interviews wird übereinstimmend geäußert, "daß Behinderte unerwartet große Lernerfolge erzielen und Nichtbehinderte in keiner Weise in ihrer intellektuellen Entwicklung durch den gemeinsamen Unterricht mit Behinderten beeinträchtigt werden" (1990b, 209). PRENGEL hält die Leistungsentwicklung der behinderten Kinder für "die zentrale, sich unter verschiedenen Fragestellungen in den Interviews vielfach wiederholende Aussage" (1990b, 209). Begründet wird diese Feststellung von den Befragten mit den "reichhaltigen Anregungen (...), die behinderte und lernschwache Kinder allein durch das Zusammensein mit nichtbehinderten Kindern erfahren" und die "durch keine pädagogische Maßnahme der Erwachsenen ersetzbar (sind), seien sie auch noch so perfekt" (1990b, 214).
Weiter sind für diese Frage mehrere Untersuchungen von Interesse, die die Leistungsentwicklung von SchülerInnen mit Lernproblemen in unterschiedlichen Schulformen vergleichen.
HAEBERLIN U.A. untersuchen bei lernbehinderten SchülerInnen im Bereich Mathematik Grundoperationen und Sachrechnen sowie im Bereich Deutsch als Muttersprache Wortschatz, Leseverständnis, Wortverständnis und Rechtschreiben (1990, 182). Sie vergleichen zu zwei Zeitpunkten schulleistungsschwache SchülerInnen in Hilfsschulklassen mit jenen in Regelschulen, die z.T. von einer Heilpädagogischen SchülerInnenhilfe unterstützt werden. Diese Regelklassen sind allerdings nicht mit Integrationsklassen gleichzusetzen, sondern eher als Klassen mit sonderpädagogischer Unterstützung im Sinne eines Präventionsansatzes anzusehen (vgl. hierzu Kap. 3.5.2). Doch selbst unter diesen schwierigeren Bedingungen eines Präventionsansatzes ergeben sich für die Leistungsentwicklung folgende Ergebnisse:
Zur "schulischen Gesamtleistung" stellen HAEBERLIN U.A. fest: "Schulleistungsschwache Schüler (SLS) in Hilfsschulklassen (HS) zeigen einen geringeren Anstieg der schulischen Gesamtleistung als schulleistungsschwache Schüler (SLS) in Regelschulen mit (RG+) oder ohne Heilpädagogische Schülerhilfe (RG-). Besonders gering ist der Anstieg der schulischen Gesamtleistung von nicht-schulleistungsschwachen Schülern (NSLS) in Hilfsschulen (HS); sie werden nach dem Untersuchungsjahr von den Schulleistungsschwachen (SLS) in Regelschulen sogar überholt" (1990, 231). "Die Ergebnisse der mathematischen Gesamtleistung deken sich weitgehend mit den Ergebnissen zur schulischen Gesamtleistung" (1990, 232). Auch hier wird "das scherenartige Auseinandergehen des Leistungszuwachses von schulleistungsschwachen Schülern in Hilfsschulen und in Regelschulen deutlich" (1990, 232). Dieses gilt durchgängig für die beiden Untertests Grundoperationen und Textrechnen. Bei der Gesamtleistung in den Sprachtests ist "die geringere Leistungssteigerung bei den schulleistungsschwachen Schülern in Hilfsschulen gegenüber denjenigen in Regelschulen (...) etwas, bei den Deutschleistungen etwas weniger deutlich" (1990, 239), wenngleich "immer noch signifikant" (1990, 239). Im Untertest Wortschatz sind die entsprechenden Tendenzen signifikant, im Untertest Rechtschreiben annähernd signifikant, nicht aber in den Untertests Leseverständnis und Wortverständnis (1990, 239-243).
In ihrer Zusammenfassung der Ergebnisse formulieren HAEBERLIN U.A., daß unabhängig von den Prüfmethoden ihrer Hypothesen
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"schulleistungsschwache Schüler in Sonderklassen für Lernbehinderte bzw. Hilfsschulklassen einen geringeren Anstieg der schulischen Gesamtleistung zeigen als schulleistungsschwache Schüler in Regelklassen, unabhängig davon, ob diese Heilpädagogische Schülerhilfe anbieten oder nicht" (1990, 258) - auch bei Parallelisierung nach sozialer Schicht, Intelligenz, Geschlecht und Anfangsleistung (1990, 259)!
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"sich das scherenartige Auseinandergehen der Schulleistungen von schulleistungsschwachen Schülern in Sonder- und Regelklassen vor allem im Bereich der Mathematikleistungen vollzieht, während bezüglich des Sprachunterrichts zwar ähnliche Tendenzen, jedoch nicht vergleichbar starke, systematische Effekte zu beobachten sind" (1990, 258).
HAEBERLIN stellt noch bündiger fest: "Die durchschnittlichen Leistungsfortschritte vergleichbar schulleistungsschwacher Schüler sind in Regelklassen eindeutig besser als in Sonderschulen. Dies gilt sogar dann, wenn die schwachen Schüler in den Regelklassen keine Heilpädagogische Schülerhilfe erhalten" (1991a, 40; vgl. auch 1991b). Leistungsschwache SchülerInnen würden sogar "nach einer Sonderklasseneinweisung leistungsmäßig noch weiter hinter das Leistungsniveau der Regelschüler zurückfallen" (1991a, 40). HAEBERLIN kommt zu der zu allen sonderpädagogischen Bemühungen quer liegenden Konsequenz: "Bloßes Sitzenlassen in der Regelklasse scheint für die Leistungsfortschritte gar mehr zu bringen als die Sonderklasseneinweisung" (1991a, 40).
In einer weiteren Untersuchung wenden sich TENT U.A. der Frage zu, ob die Schule für Lernbehinderte ihre SchülerInnen besser zu fördern vermag als die allgemeine Schule. Hierzu vergleichen sie zwei Untersuchungsgebiete mit einer extrem hohen bzw. niedrigen Sonderbeschulungsquote (SBQ), in denen demzufolge vergleichbare SchülerInnen im einen Gebiet in Schulen für Lernbehinderte, im anderen in allgemeinen Schulen zu finden sein müßten. TENT U.A. vergleichen hier eine parallelisierte Stichprobe, die auf mögliche Störvariablen untersucht wird (vgl. TENT U.A. 1991b, 293ff.).
Im Schulleistungsbereich, innerhalb dessen Fähigkeiten im Bereich der Mathematik (Zahlenrechnen, Textaufgaben) und des Deutschen (Leseverständnis, Rechtschreibung) im 3. Schuljahr getestet werden, finden TENT U.A. "keine Ergebnisse zugunsten der SfL; im Gegenteil zeichnen sich sogar Vorteile der Regelschule bzw. für Schüler aus dem Gebiet mit niedriger SBQ ab" (1991a, 7). Diese Vorteile zeigen sich "besonders im Rechtschreiben, im Leseverständnis und im Zahlenrechnen, weniger deutlich bei der Lösung von Textaufgaben" (1991b, 300). Hier geht es nicht um Integrationsklassen, sondern um Regelklassen der Grundschule ohne jegliche besondere Ausstattung und besondere Hilfen. In ihrem Resümee führen TENT U.A. aus: "Nach Lage der Dinge werden leistungsschwache Schüler (sog. Lernbehinderte) trotz der objektiv günstigeren Lernbedingungen an der SfL nicht wirksamer gefördert, als dies in den Grund- und Hauptschulen der Fall wäre, wenn man sie dort beließe. Dies gilt jedenfalls eindeutig für die Schulleistungen in den Hauptfächern, wo sich sogar Vorteile zugunsten der Regelschule abzeichnen" (1991a, 11).
Insgesamt lassen die bisherigen Ergebnisse zur Leistungsentwicklung den Rückschluß zu, daß die Integration von Kindern mit und ohne Behinderung keinen negativen Einfluß auf die Leistungsentwicklung nichtbehinderter Kinder nimmt. Wie WOCKEN (1988a) im Hinblick auf den Vergleich der Leistungen zwischen homogeneren und heterogeneren Lerngruppen auf allgemeinerer Ebene schreibt, übertrifft - wie schon bei Untersuchungen zur Gesamtschule im Vergleich zum gegliederten Schulwesen - auch hier der Klasseneffekt den Systemeffekt; die konkreten Bedingungen in der einzelnen Klasse sind für die Leistungsentwicklung der nichtbehinderten Kinder wichtiger als die Frage, ob sie in einer integrativen oder einer 'normalen' Klasse lernen.
Für Kinder mit Lernbehinderungen zeigen sich schon in Klassen der allgemeinen Schule ohne sonderpädagogische Hilfen - in welcher Form auch immer - deutliche Vorteile im Leistungsbereich gegenüber der Schule für Lernbehinderte. Was im Sinne direkt messender Untersuchungen offen bleibt, ist die Frage der Leistungsentwicklung bei Kindern mit anderen Behinderungen. Hier zu allgemeineren Aussagen zu kommen, ist ungleich schwerer, sind doch standardisierte Verfahren kaum einzusetzen angesichts einer wesentlich größeren Heterogenität dieser Schülerschaft, die jede Art von Vergleichen nahezu unmöglich macht. Zwar gibt es eine Reihe von Einzelfallstudien, etwa über körperbehinderte (HASCHE, NOWAK & STOELLGER 1988), mehrfachbehinderte (HETZNER & LINGENBERG 1988), geistig behinderte (RAITH & RAITH 1982, HOLTZ 1988, KELLNER, WIRTZ & DUMKE 1991), schwerst-mehrfachbehinderte (HINZ 1991a) und hörbehinderte Kinder (SCHINNEN 1988b). Sie vermögen individuelle Entwicklungen - und dies nicht nur im Hinblick auf die kognitive Dimension - zu dokumentieren, ermöglichen jedoch keine allgemeinen Aussagen. So bleibt es vorerst bei der übereinstimmenden Feststellung von PädagogInnen, SchulrätInnen und WissenschaftlerInnen, daß es bei Kindern mit Behinderungen in Integrationsklassen "ganz erstaunliche", "überraschende", "kaum vorhergesehene Entwicklungen" gibt (z.B. WOKEN 1987b, 79, SCHLEY 1989e, 352, PRENGEL 1990b, 157, 162, 199) - also insgesamt eine positive Bilanz.
WOCKEN hat eine vergleichende Untersuchung zur sozialen Akzeptanz in unterschiedlichen Schulformen gegenüber Kindern mit Abweichungen vorgelegt, DUMKE & MERGENSCHRöER haben die sozialen Kognitionen nichtbehinderter Kinder in Integrations- und Parallelklassen untersucht. Untersuchungen zur emotionalen und sozialen Integration bei Lernbehinderten liegen von HAEBERLIN U.A. sowie TENT U.A. im Vergleich zwischen integrierter und separierter Erziehung vor. Die Auseinandersetzung von Kindern mit dem Phänomen Behinderung ist für den Kindergartenbereich von KRON (1988a, 1990) untersucht worden; für den Schulbereich stehen derartige Untersuchungen noch aus.
WOCKEN (1993) untersucht die Frage, wie weit SchülerInnen in verschiedenen Klassenkonstellationen und Schulen Nähe und Distanz zu Kindern mit Abweichungen zulassen. Diese Frage hat insofern höchste Priorität, als die integrative Erziehung ihre Grundlage in jener von ADORNO formulierten primären Aufgabe der Erziehung sieht, daß "Auschwitz nicht noch einmal sei" (1970, 92). Für WOKEN kann es nicht das zentrale integrationspädagogische Ziel sein, daß sich alle Kinder lieben, aber gegenseitige Akzeptanz ist das zentrale Anliegen integrativer Erziehung. Sie könnte sonst in der Tat zu einer sozialromantischen Nische ohne längerfristigen Effekt verkommen, wenn sich in den Einstellungen der Kinder ohne offensichtliche Behinderungen jenen mit Abweichungen und Behinderungen gegenüber nicht grundsätzliche Akzeptanz zeigte. Er konfrontiert die Kinder in einer Gruppenbefragung mit Hilfe des von ihm entwikelten "Fragebogens Soziale Distanz" (FSD) mit Bildern und dazugehörigen Geschichten, in denen es um Kinder mit unterschiedlichen Auffälligkeiten geht: ein Kind ausländischer Herkunft, ein Kind mit Beinschiene, mit Verhaltensproblemen, mit Lernschwierigkeiten, ein Kind mit Down-Syndrom. Die Befragten kreuzen an, ob sie sich vorstellen können, daß dieses Kind unterschiedliche Grade von Nähe mit ihnen hat (in die gleiche Klasse gehen, in der Klasse neben ihm sitzen, zum Geburtstag einladen, gemeinsam schwimmen gehen, bester Freund sein etc.).
Bei dieser Untersuchung werden SchülerInnen verschiedener Schultypen verglichen: Klassen mit homogeneren Lerngruppen (Hauptschule, Gymnasium, Förderschule, Sprachheil- und Schwerhörigenschule) und mit heterogeneren Lerngruppen (Integrationsklasse, Orientierungsstufe, Gesamtschule). Weiter wird unterschieden zwischen Klassen, in denen sich Kinder mit Behinderungen befinden, und solchen, in denen dies nicht der Fall ist. Somit werden von WOCKEN als zwei wesentliche Faktoren Sozialer Distanz das "Varianzerleben" von Unterschiedlichkeit in der Klasse und das "Devianzerleben" von Andersartigkeit erfaßt (1993, 93f.). Seinen Hypothesen folgend müßten die SchülerInnen in Integrationsklassen, die Varianz und Devianz erleben, die geringste Soziale Distanz zeigen, gefolgt von jenen in Sonderschulen, die Devianz, und jenen in Grund- und Gesamtschulen, die Varianz erleben. Schließlich müßten SchülerInnen in Hauptschulen und Gymnasien Distanz folgen, dort kann weder Varianz noch Devianz erlebt werden.
Die bisherige Auswertung der Untersuchung zeigt mehrere deutliche Tendenzen: Es gibt eine durchgängige Rangreihe von Abweichungen: 'Verhaltensgestörten' gegenüber besteht die weitaus größte Soziale Distanz, gefolgt von 'Geistigbehinderten', 'Ausländern', 'Körperbehinderten' und 'Lernbehinderten' (1993, 97). Mit Ausnahme der 'Verhaltensgestörten' zeigen Mädchen eine geringere Soziale Distanz gegenüber Kindern mit Abweichungen als Jungen. Dieses entspricht ihren gesellschaftlich vermittelten geschlechtsspezifischen Rollenorientierungen (1993, 99). Zwischen den SchülerInnen der verschiedenen Schulformen zeigen mit Ausnahme gegenüber 'Verhaltensgestörten' deutliche Unterschiede:

Abb. 3.1: Hypothesen und Ergebnisse der Untersuchung zur Sozialen Distanz (WOCKEN 1993, 103)
Der Abbildung nach weisen die SchülerInnen in Integrationsklassen zwar deutlich die geringste Soziale Distanz gegenüber Kindern mit Abweichungen auf, jedoch sind es nicht die SchülerInnen aus Hauptschulen und Gymnasien, sondern die aus Sonderschulen, die die größte Soziale Distanz zeigen. Haupt- und GymnasialschülerInnen zeigen in der Summe eine gleich große Distanz wie Grund- und GesamtschülerInnen. Damit weichen die Ergebnisse der Gymnasial- und HauptschülerInnen und vor allem die der SonderschülerInnen von den Erwartungen ab.
WOCKEN interpretiert diese Ergebnisse vorsichtig: Die hohe Soziale Distanz in Sonderschulen hält er für bestürzend, vermag sie aber nicht als "Persönlichkeitsmerkmal von Behinderten" (1993, 105) oder als "psychologische(n) Effekt der Sonderbeschulung" (1993, 105) zu interpretieren. Dieses Ergebnis darf somit nach WOCKEN auch nicht als Anlaß genommen werden, die Sonderschule als Verursacherin der Selbstdistanzierung ihrer SchülerInnen anzuprangern. Gleichwohl ist es für die Sonderschulen keineswegs schmeichelhaft und mahnt sie zu kritischer Selbstreflexion, besonders bezüglich der Vorstellung eines heilpädagogischen Schon- und Schutzraumes, denn "nirgendwo stoßen Behinderte auf mehr Ablehnung" als bei ihnen (1993, 105). Die Ergebnisse in Hauptschulen und Gymnasien, so vermutet WOCKEN, könnten durch großzügige soziale Erwünschtheit bedingt sein, "weil Andersartigkeit für sie kein wirkliches, sie berührendes Thema ist" (1993, 104). Die reale Begegnung mit Abweichungen könnte hier deutliche Veränderungen hervorrufen.
Eindeutig ist jedoch das positive Ergebnis für die Integrationsklassen: Ihre SchülerInnen "haben in der Tat gelernt, eine größere Nähe zu andersartigen Schülern zu ertragen und zuzulassen. Die Untersuchungen können daher als wissenschaftlicher Beleg gewertet werden, daß integrative Erziehung dem eigenen Anspruch gerecht wird. Integrative Erziehung fördert soziales Lernen und humane Akzeptanz" (1993, 106).
Bei nichtbehinderten Kindern in Integrationsklassen untersuchen DUMKE & MERGENSCHRöER (1990) die sozialen Kognitionen im Vergleich zu nichtbehinderten Kindern aus Parallelklassen und Klassen anderer Schulen ohne integrative Erziehung in den Jahrgängen 4 - 6. Soziale Kognitionen sehen sie als "wesentliche Voraussetzung für sozial kompetentes Verhalten" (1990, 112). Die SchülerInnen sollen in dieser Untersuchung die Fortsetzung einer begonnenen Geschichte aufschreiben, bei der es um einen Beziehungskonflikt zwischen zwei Schülern geht. Die Fortsetzungen analysieren DUMKE & MERGENSCHRöER im Hinblick auf das Ausmaß der Rollenübernahme und die Differenziertheit der moralischen Stellungnahme. Dabei zeigt sich, daß sich die Fortsetzungen der Geschichten vom äußeren Verlauf der interpersonalen Beziehungen weitgehend gleichen (1990, 115). Unterschiede gibt es jedoch darin, daß die SchülerInnen der Integrationsklassen eher eine "nachvollziehbare, allmähliche Entwicklung der Beziehung zwischen Fritz und Hermann" darstellen und sich häufiger auf den am Anfang der Geschichte vorgegebenen Konflikt beziehen (1990, 115).
Wie DUMKE & MERGENSCHRöER hinsichtlich der Fähigkeit zur Rollenübernahme feststellen, weisen die SchülerInnen der "Integrationsklassen fast immer die höchsten Werte für Rollenübernahmefähigkeit auf" (1990, 115), gefolgt von den Parallelklassen und den Kontrollklassen. Bei den (emotionalen, kognitiven, motivationalen und attüdinalen) Teilkomponenten der Rollenübernahmefähigkeit zeigt sich ebenso eine stärkere Ausprägung bei Integrationsklassen (1990, 116).
Hinsichtlich der Fähigkeit zum moralischen Urteil stellen DUMKE & MERGENSCHRöER heraus, daß die Aufsätze aus den Integrationsklassen insgesamt eine höhere Rangsumme aufweisen als die aus Parallel- und Kontrollklassen. Die SchülerInnen aus Integrationsklassen "begründeten ihre Konfliktlösung bzw. das Fehlen einer Konfliktlösung ... auf einem komplexeren Niveau" (1990, 117).
DUMKE & MERGENSCHRöER ziehen aus ihren Ergebnissen die Erkenntnis, "daß Schüler aus Integrationsklassen und zum Teil auch aus ihren Parallelklassen eine bessere Rollenübernahmefähigkeit haben" und "daß diese Schüler mehr Gelegenheit gehabt haben zu lernen, die Perspektive eines anderen einzunehmen" (1990, 118). Dieses führen die AutorInnen neben möglichen Einflüssen des Elternhauses zurück auf die Konfrontation und den Umgang "mit neuen Situationen und Konflikten im gemeinsamen Alltagserleben von behinderten und nichtbehinderten Schülern" (1990, 118). Somit wäre die Hypothese zu wagen, daß nach diesen Ergebnissen die häufigere Konfrontation mit zwischenmenschlichen Konflikten und die Reflexion über Verhaltensweisen innerhalb von Integrationsklassen zu einer stärkeren sozialen Kompetenz der nichtbehinderten SchülerInnen beiträgt. Ob sie sich in ihrem konkreten Handeln widerspiegelt, ist damit nicht gesagt.
Der Entwicklung der Selbstwahrnehmung wenden sich HAEBERLIN U.A. in ihrer Untersuchung über die präventive Praxis der Beschulung lernbehinderter Kinder zu. Drei Dimensionen der Selbsteinschätzung werden dort betrachtet: "Die Einschätzung der eigenen Fähigkeiten im Rahmen des Schulunterrichts gibt Hinweise zur Dimension der leistungsmotivationalen Integration. Die Einschätzung der eigenen Beziehungen zu den Mitschülern gibt Hinweise zur Dimension der sozialen Integration. Die Einschätzung des eigenen Befindens in der Schule gibt Hinweise zur Dimension der emotionalen Integration" (1990, 174).
Zur Einschätzung der eigenen Fähigkeiten bzw. der leistungsmotivationalen Integration ergibt sich: "Schulleistungsschwache Schüler (SLS) in Hilfsschulklassen (HS) schätzen ihre Fähigkeiten ähnlich ein wie nicht-schulleistungsschwache Schüler (NSLS) in allen Schulmodellen. Hingegen liegt die Einschätzung eigener Fähigkeiten bei schulleistungsschwachen Schülern (SLS) in Regelschulen mit oder ohne Heilpädagogische Schülerhilfe (RG+, RG-) tiefer als bei schulleistungsschwachen Schülern (SLS) in Sonderklassen und bei allen nicht-schulleistungsschwachen Schülern (NSLS). Die ansteigende Tendenz beim Begabungskonzept von schulleistungsschwachen Schülern (SLS) in RG+ gegenüber der entsprechenden sinkenden Tendenz in RG- dürfte ... als überzufällig interpretiert werden, so daß eine gewisse positive Wirkung der Regelschulen mit Heilpädagogischer Schülerhilfe angenommen werden kann" (1990, 225).
Zur soziometrischen Stellung bzw. der sozialen Integration kommen HAEBERLIN U.A. zu dem Ergebnis, "wonach schulleistungsschwache Schüler in leistungsheterogenen Klassen signifikant häufiger zu den unbeliebten Schülern gehören als ihre Mitschüler; daran vermögen die derzeitigen Maßnahmen der Heilpädagogischen Schülerhilfe in deutschschweizerischen Schulmodellen offenbar nichts zu ändern" (1990, 218). Entsprechend ergibt sich bei der "Selbsteinschätzung der Beziehungen zu den Mitschülern" (1990, 260), daß sich diese SchülerInnen "auch sozial weniger gut integriert ein(schätzen), als sich nicht-schulleistungsschwache Schüler einschätzen" (1990, 260). Dies gilt nicht nur für Regelklassen mit oder ohne Heilpädagogische SchülerInnenhilfe, "sondern auch in Hilfsschulklassen schätzen sich nicht-schulleistungsschwache Schüler besser sozial integriert ein als schulleistungsschwache Schüler" (1990, 261).
Bei der "Selbsteinschätzung des subjektiven Befindens" ergeben sich zwar keine signifikanten Effekte, jedoch wird hier deutlich, "daß innerhalb jeder Schulform sämtliche Mittelwerte der schulleistungsschwachen Schüler tiefer sind als jene der nicht-schulleistungsschwachen Schüler" (1990, 265). HAEBERLIN U.A. folgern daraus: "Tendenziell scheinen sich innerhalb jeder Schulform schwache Schüler weniger gut emotional in die Schule integriert einzuschätzen als gute Schüler. Die ebenfalls knapp verfehlte Signifikanz des Haupteffektes 'Schulform' äußert sich ... darin, daß sowohl bei den SLS als auch bei den NSLS die Mittelwerte der Hilfsschüler durchgehend höher liegen als jene der Regelschüler. Tendenziell kommt hierin zum Ausdruck, daß die bei Sonderschullehrern verbreitete Meinung zutreffen könnte, daß Schüler in der Hilfsschulklasse ein etwas besseres subjektives Befinden haben als in der Regelklasse" (1990, 266).
HAEBERLIN U.A. fassen ihre Ergebnisse zur Selbsteinschätzung zusammen:
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"1. Integrierte Lernbehinderte gehören häufiger zu den unbeliebten und abgelehnten Schülern als ihre Mitschüler.
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Integrierte Lernbehinderte schätzen sich selbst weniger gut sozial in die Klasse integriert ein, als sich die Mitschüler einschätzen.
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Integrierte Lernbehinderte schätzen die eigenen Fähigkeiten negativer ein als ihre Mitschüler und als Lernbehinderte in Sonderklassen.
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Integrierte Lernbehinderte schätzen ihr Wohlbefinden in der Schule negativer ein als ihre Mitschüler und als Lernbehinderte in Sonderklassen" (1990, 329).
HAEBERLIN U.A. interpretieren diesen Befund bezugsgruppentheoretisch so, daß integrierte Lernbehinderte in Regelklassen Vergleichen mit leistungsstarken SchülerInnen ausgesetzt sind, die sie in der Hilfsklasse nicht vorfinden. In Hilfsklassen werden sie sich infolgedessen leistungsstärker als in Regelklassen und damit "zu gut" (1990, 339) einschätzen. "So gesehen, kann die tiefere Einschätzung der eigenen Fähigkeiten durch schwache Schüler in der Regelklasse als deren Bereitschaft zu einer unserer leistungsideologisch geprägten Gesellschaft adäquaten Selbsteinschätzung interpretiert werden" (1990, 339). HAEBERLIN U.A. sehen in dieser Interpretation das ungebrochen leistungsideologisch geprägte Klima in den Regelklassen für die negativere Selbsteinschätzung und in deren Folge auch das schlechtere Wohlbefinden leistungsschwacher SchülerInnen als verantwortlich an. Dieses bestehe so lange, wie "in unseren Schulen die lehrplanbezogene Leistungsfähigkeit eine zentrale Bewertungskategorie auch für die Zuweisung der soziometrischen Positionen in Schulklassen bleibt" (HAEBERLIN 1991a, 41).
Eine Studie von RANDOLL (1991a, 1991b), die die gleiche Fragestellung mit dem gleichen Instrumentarium in bundesdeutschen Integrationsprojekten untersucht, kommt zu entsprechenden Ergebnissen wie die Forschungsgrupe um HAEBERLIN, ohne sie jedoch z.B. im Hinblick auf unterschiedliche Förderkonzepte und -organisation schlüssig interpretieren zu können.
In der ebenfalls schon zitierten Vergleichsuntersuchung von TENT U.A. zwischen lernbehinderten SchülerInnen in der Grundschule - ohne jede sonderpädagogische Hilfestellung - und in der Schule für Lernbehinderte (SfL) von TENT U.A. finden sich im emotionalen Bereich ebenfalls Befunde, "die für die SfL sprechen" (1991a, 7), auch wenn diese nur bei der Prüfungsangst eindeutig sind (1991b, 305). TENT U.A. zufolge ist dieser Vorteil allerdings an das günstigere Notenniveau gekoppelt (1991a, 8). In weiteren Bereichen wie der Einschätzung des eigenen Betragens, Schulunlust, Kontaktbereitschaft, Sozialer Erwünschtheit, Beliebtheit und Einfluß sehen TENT U.A. eine "fehlende Wirksamkeit der SfL" (1991a, 9). Beim Arbeitsverhalten zeigt sich ein Vorteil für die SfL, wiederum gebunden an die bessere Benotung. Weiter lassen sich positive Tendenzen der SfL beim Selbstwertgefühl und bei der Einschätzung der eigenen Fähigkeiten erkennen (1991a, 10).
TENT U.A. resümieren, "die SfL wird am ehesten ihrer pädagogischen Schonraumfunktion gerecht: Die homogenere Lerngruppe und die größere Chance, positive Rückmeldung zu erhalten, mildern offenbar den Leistungsdruck, sie senken das Angstniveau der Schüler, fördern ihr Selbstwertgefühl und haben ein günstigeres Arbeitsverhalten im Gefolge" (1991a, 10). Und trotzdem, wie TENT U.A. bemerken, kann die SfL diese günstigere Situation nicht in eine bessere Leistungsentwicklung als in der allgemeinen Schule umsetzen (1991b, 317).
Für die Entwicklung von SchülerInnen mit anderen Behinderungen in Integrationsklassen gibt es Anhaltspunkte dafür, daß auch sie anders verläuft als in Sonderschulen. Aus mehreren Projekten wird über Kinder berichtet, die nach der 4. Klasse in eine Schule für Geistigbehinderte wechseln mußten, weil ihre Integrationsklasse nicht weitergeführt wurde. Den dortigen PädagogInnen seien sie durch ungewohnte Aktivität, Selbständigkeit und ein starkes Selbstbewußtsein aufgefallen (z.B. BOBAN & HINZ 1988a, 144, 169). In Begegnungssituationen mit SonderpädagogInnen wird geradezu ein Phänomen deutlich (vgl. z.B. HINZ 1990a, 394f.): Kinder mit einer integrativen Sozialisation verhalten sich nicht so, wie es die ExpertInnen von Kindern mit geistiger Behinderung bisher gewohnt sind. Mit ELBERT (1982) und NIEDEKEN (1989) kann vermutet werden, daß dies neben dem Einfluß der Gemeinsamkeit verschiedener Kinder u.a. eine Folge veränderter Sichtweisen und anderer Verständnisse der PädagogInnen in Integrationsklassen wie auch ihrer Eltern ist (vgl. BOBAN & HINZ 1993 sowie Kap. 3.1.3).
In Berichten von LehrerInnen und Wissenschaftlichen BegleiterInnen wird von intensiver gemeinsamer Reflexion von PädagogInnen und Klasse über ein Kind mit schwerster Behinderung und seine Befindlichkeit berichtet (HINZ 1991a) und es werden Situationen geschildert, in denen Kinder mit Behinderung sich intensiv mit ihrem So-Sein auseinandersetzen (vgl. PRENGEL 1990b, 229-234, zur Sekundarschulzeit vgl. BOBAN & KöBBERLING 1991). Ebenso schildern Eltern solche Phasen, verbunden mit Prozessen des Zweifelns und Trauerns, bei ihren Kindern, die ihren Beobachtungen nach in der Sekundarstufe zunehmen (DANNOWSKI U.A. 1989). Trotz dieser belastenden Phänomene betrachten diese Eltern "das ständige Reflektieren, auch Phasen des Haderns und der Sorge über die Zukunft, als einen wichtigen Teil unserer eigenen Entwicklung" (1989, 274). Krisenphänomene sehen sie als notwendige Bestandteile der Persönlichkeitsentwicklung ihrer Kinder, deren "Behindert-Sein (...) nicht in einer Schutzatmosphäre zugedeckt oder gar tabuisiert" wird. Da sie "nach sechs Jahren immer noch gerne zur Schule (gehen), entgegen aller Prophezeiungen von Überforderung und Depressivität" (1989, 274), fühlen sich diese Eltern in ihrem Weg bestätigt. Bei NIEDECKENs Beschäftigung mit der Persönlichkeitsentwicklung von Kindern mit Down-Syndrom taucht lediglich ein positives Beispiel als Ausnahme auf (1989, 137f.): Nina ist in der Lage, sich auch mit Konfliktsituationen selbstbewußt auseinanderzusetzen; sie hat eine Mutter, die eigene Tötungsphantasien zulassen konnte und besucht - zufälligerweise ? - "eine integrative Schulklasse" (1989, 138).
Solche positiven Grundeinschätzungen der Situation behinderter Kinder in Integrationsklassen werden wiederum gestützt durch Ergebnisse von SchülerInnenbefragungen. PREUSS-LAUSITZ faßt seine Befragung in der Uckermark-Schule wie folgt zusammen: "Für die Gutachtenkinder dieses Schulversuchs kann zurückgewiesen werden, daß unter Bedingungen integrativer Pädagogik sinnes- und körperbehinderte und schulleistungsschwache Schüler grundsätzlich oder auch nur überwiegend Schulunlust entwickeln, soziale Zurückweisung erfahren und hohen Leidensdruck erleben. Vielmehr besteht überwiegend Zufriedenheit und Freude am Schulbesuch" (1990a, 126; vgl. für Hamburg BOBAN & HINZ 1988a).
Neben den Kindern sind auf der innerpsychischen Ebene die beteiligten Erwachsenen zu betrachten. In der Befragung des DFG-Projektes berichten fast alle Lehrkräfte, aber auch ein Teil der SchulrätInnen und Wissenschaftlichen BegleiterInnen von persönlichen Erfahrungen mit Behinderungen in der Kindheit, in Familie und Verwandtschaft, in Nachbarschaft und Umgebung, die ihnen teilweise erst während der Interviews wieder einfallen (PRENGEL 1990b, 174ff., 204f., 189f.). Für einen großen Teil der Lehrkräfte verändert sich während der integrativen Praxis die Art ihres Kontaktes zu behinderten Kindern: "Gefühle der Scheu, Distanz, der Berührungsangst, des Blockiertseins oder des Fremdseins verminderten sich und eine als offen, normal, natürlich bezeichnete Haltung trat an ihre Stelle" (PRENGEL 1990b, 175). Gleiches wird von den SchulrätInnen berichtet: "Von Berührungsängsten, Unsicherheit, Fremdheit und Befangenheit gegenüber behinderten Kindern kam man weg, hin zu mehr Toleranz, Verständnis, Unbefangenheit, Lokerheit" (1990b, 190). Für Wissenschaftliche BegleiterInnen gilt Ähnliches (1990b, 204f.).
Auf die herausragende Bedeutung der Lehrerpersönlichkeit und beobachtete Spezifika von IntegrationslehrerInnen gehen MAIKOWSKI & PODLESCH ein: "Integrationslehrer lenken weniger, sie machen mehr Angebote, schlagen Alternativen vor, besprechen gemeinsame Aktivitäten, praktizieren weniger Frontalunterricht, haben mehr emotionalen Kontakt mit den Schülern, haben lebendig und individuell gestaltete Klassenräume, äußern mehr Anerkennung für die Schüler" (1988c, 135) - eben jene geringere pädagogische Aggressivität, die MUTH (1986) als Ziel für jegliche PädagogInnen beschrieben hat (vgl. Kap. 3.5.1). MAIKOWSKI & PODLESCH beschreiben hier den Typus von PädagogInnen, die sich nicht nur in der Rolle von PädagogInnen, sondern als ganze Person in den Unterricht einbringen und sich dem Risiko aussetzen, "daß die Veränderung der Persönlichkeit, die Änderung des Lebensstils in und außerhalb des Klassenraums bedeutet" (1988c, 135). Im Umkehrschluß stellt JETTER fest: "Mit Pädagogen, für die das 'wirkliche Leben' außerhalb ihrer Arbeit 'im Privaten' stattfindet, ist Integration nicht zu leisten" (1988, 139), "und die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Lehrer, ihren Beruf auch als Person und nicht nur als Rollen annehmen zu können, entscheidet über die Qualität der Schule als Institution" (BRüCK 1978, 11).
Bereits in Kap. 2.1.3 ist deutlich geworden, daß integrative Prozesse auf der innerpsychischen Ebene bei den PädagogInnen in unmittelbarer Wechselwirkung mit dem gemeinsamen Leben, Lernen und Arbeiten mit KollegInnen wie mit Kindern stehen. PädagogInnen, die nach wie vor die innere Einstellung haben, Kinder mit Behinderungen seien bedauernswerte Wesen, und es sei ein Glück, daß die eigenen Kinder nicht so seien - bissig formuliert also die Einschätzung, daß Kinder mit Behinderungen doch Minusvarianten menschlichen Lebens darstellen -, werden diese Einstellung unbewußt als heimlichen Lehrplan vermitteln. Sie werden so eine integrative Auseinandersetzung um das Phänomen Behinderung, aber auch jegliche integrative Prozesse auf der interpersonellen Ebene massiv erschweren. Bezogen auf Kinder, die sonst in Schulen für Geistigbehinderte eingeschult worden wären, faßt NIEDEKEN eine solche Haltung als "rehabilitierende Abwehr" (1989, 19) auf. Sie hat ebenso wie die aussondernde Abwehr eine Schutzfunktion für uns Erwachsene, denn wir "lassen (...) uns von ihnen nicht gerne an eigene, unerfüllt auf der Strecke gebliebene Kindersehnsüchte erinnern" (1989, 19). Von der für uns selbst nicht zugelassenen unmittelbaren Emotionalität, aber auch von existentiellen Erfahrungen in jeder Lebensgeschichte wie Abhängigkeit, Krankheit, Verletzt-Sein, Hilfsbedürftig-Sein, Diskriminiert-Sein, Nicht-Konkurrieren-Können (vgl. PRENGEL 1989a, 214) müssen wir uns mit Rationalität und Erziehung distanzieren, sei es durch Aussonderung oder - im Falle des gemeinsamen Unterrichts - u.U. durch Abwehr mittels Förderansprüchen. Und wie bei Eltern verhindern 'Förderwut' und Leistungsorientierung häufig ein Verstehen des Kindes, und dies nicht nur in der Frühförderzeit (NIEDEKEN 1989, 179ff.), sondern auch in der Schulzeit (vgl. Kap. 3.5.3).
Auch MILANI-COMPARETTI "beschäftigt sich mit den Abwehrmechanismen, mit denen Menschen einer Behinderung begegnen" (1987, 229). Er unterscheidet als Abwehrmechanismen die "Negationshaltung" und die "schizo-paranoide Haltung", als Ausdruck von Realitätsbewußtsein sieht er die "deprassive Haltung" (1987, 230). MILANI-COMPARETTI geht davon aus, daß die Abwehrmechanismen "Ausdruck einer Omnipotenzphantasie (sind), die aus der Abspaltung des Übels von der Person entsteht" (1987, 229). Bei der Negationshaltung wird das Übel verleugnet. Es ist nicht wahr, daß ich mit Behinderung konfrontiert werde; dies gilt sowohl für die Schockphase bei Eltern, als auch für Vereine, die das absolute Gleichheitsideal vertreten, getreu dem Motto: 'eigentlich sind wir doch alle behindert oder nichtbehindert'. So wird Verschiedenheit verdrängt. Bei der häufigeren schizo-paranoiden Haltung wird die Aggression gegen das Übel gerichtet: Dies kann durch rehabilitative Abwehr (NIEDECKEN) geschehen, bei der dann z.B. Eltern nach allem greifen, was Abhilfe verspricht, und ExpertInnen dementsprechend auch alles bereitstellen und versuchen. Hier kann es dann zu einer "perversen Allianz" (vgl. Kap. 3.5.3) kommen, die den angstabwehrenden Bedürfnissen von Eltern und Fachleuten (ÄrztInnen, PädagogInnen etc.) entspricht, jedoch dem Kind schadet. Der Schaden entsteht, indem das Kind die Ganzheit der Person, seine Integrität verliert und auf seine Behinderung reduziert wird. Mittels aussondernder Abwehr (NIEDECKEN) kann es zum Kampf gegen das behinderte Kind kommen, bei dem Verschiedenheit verfolgt wird - durch Aussonderung, Einweisung in Institutionen u.a.m.. Diese Aggression gegen Verschiedenheit kann sich auch in einer anspruchsorientierten Verbandshaltung mittels Förderaktivismus und Schadensersatzforderungen äußern.
Diesen beiden abwehrenden Haltungen stellt MILANI-COMPARETTI das Realitätsbewußtsein der depressiven Haltung gegenüber. Bei ihr wird 'das Übel' nicht abgewehrt, sondern man wendet sich ihm zu, bemüht sich um seine Bearbeitung durch Trauerarbeit. Dies wird auch als depressive Verbandshaltung in entsprechenden Aktivitäten mit dem Ziel der Einbeziehung in Familie, Umfeld und Gesellschaft deutlich. "Nicht-Abspaltung des Übels bewirkt Nicht-Aussonderung. Akzeptieren und gelassen miterleben, das ist viel mehr als einfache Integration" (1987, 231). Dabei gibt es nicht einfache Wechsel von der einen zur anderen Haltung, sondern es handelt sich um langfristige, nie ganz beendete Trauerarbeit mit typischen Phasen der 'Krisenbewältigung', mit der Möglichkeit von immer wiederkehrenden Krisen und Zeiten der Stagnation (vgl. SCHUCHARDT 1982). "Trauerarbeit ist der Weg, der in Gang kommen muß, wenn die Ängste vor dem Behindertsein und die mit diesen einhergehende Ablehnung der Behinderten sich verwandeln sollen in Interesse für das Fremde" (PRENGEL 1989a, 213).
Die Ängste von PädagogInnen vor diesen Prozessen der Auseinandersetzung mit sich selbst, mit eigenen Stärken und Schwächen in der integrativen Situation finden in vielen Argumentationen ihren - mitunter verdeckten - Ausdruck, und sie spiegeln die gesellschaftlichen Wertungen über Menschen mit Behinderungen wider: In der Regel gibt es vor der Einrichtung integrativer Klassen in der Grundschule, aber auch vor ihrer Übernahme in eine Sekundarschule heftige Diskussionen, in denen diese 'zusätzliche Belastung' aus Gründen der unzureichenden Bedingungen, der Mehrarbeit, nicht ausreichender Qualifikation, ohnehin vorhandener ständiger Überlastung, bis hin zu Ungerechtigkeiten durch die Ungleichbehandlung mit den Parallelklassen abgewehrt wird. Solche Argumentationen enthalten immer auch einen berechtigten Kern, aber sie bieten nur allzu häufig auch die Chance, sich hinter ihnen zu versteken und sich nicht mit eigenen Ängsten auseinandersetzen zu müssen. Gleichwohl sind derartige Verhaltensweisen auch verständlich, denn hinter ihnen steht, "daß in der gegebenen Situation der Verunsicherung durch unüberschaubare Veränderungen ohne die Gewähr notwendiger Unterstützung Angstabwehr bzw. persönliche Absicherung notwendig wird, und dies erfolgt im Rückgriff auf vertraute normative Orientierungen und Entscheidungsmuster der bislang gewohnten Praxis" (KöBBERLING & STIEHLER 1989, 138). So wirken Prozesse der institutionellen und der gesellschaftlich-normativen Ebene auf die innerpsychische Ebene zurück.
Gerade deshalb wird häufig betont, daß Integrationsprojekte von Anfang mit begleitenden Angeboten wie kollegialer Praxisberatung oder Supervision ausgestattet werden müssen. Denn "die Weiterentwicklung des Integrationsgedankens steht und fällt mit der Integration von Gedanken und Gefühlen in uns selbst" (QUITMANN 1988, 206). Dabei wird für zwei Ebenen der Arbeit in begleitenden Arbeitsgruppen plädiert. Zum einen soll die Selbsterfahrung als Beschäftigung mit der eigenen Person zu einer "präzise(n) Wahrnehmung der eigenen Gedanken, Interessen und Gefühle wie der anderer Menschen" (1988, 207) beitragen. Dieser Schwerpunkt bezieht sich zentral auf die innerpsychische Ebene integrativer Prozesse. Zum zweiten soll es aber auch im Sinne der Organisationsentwicklung um die Auseinandersetzung mit der umgebenden Institution, also "die Schule als Gebäude und Apparat, um Kinder, Eltern, Schüler, Kollegen, Schulleitung, Gremien, Hausordnung, Hausmeister und Behörde" (1988, 209) gehen. Hier bietet sich für Schulversuche eine Verbindung von Team-Supervision, Organisationsentwicklung und Wissenschaftlicher Begleitung geradezu an (vgl. SCHLEY 1990b). Diese Auseinandersetzung bezieht sich auf die Verknüpfung aller Ebenen integrativer Prozesse. Bedenklich erscheint allerdings die Tatsache, daß in der DFG-Untersuchung der Frankfurter Arbeitsgruppe bei einem Teil der befragten SchulrätInnen bezüglich Supervisionsangeboten eher Unwissenheit (PRENGEL 1990b, 189) und nur unzulängliche Bereitschaft zur Bereitstellung notwendiger Mittel besteht. Offensichtlich ist die Erkenntnis nicht genügend gereift, wie existentiell der Zusammenhang der verschiedenen Ebenen integrativer Prozesse ist.
Die große Bedeutung der Persönlichkeit von PädagogInnen beschränkt sich natürlich nicht auf integrative Erziehung. Hier wird sie u.U. besonders deutlich, jedoch gilt sie für jedwede Schulerziehung. Die eigentliche Notwendigkeit, sich der Thematik von Schwäche zuzuwenden, bedarf nicht der Anwesenheit von Kindern mit Behinderungen. Dies zeigt der Bericht von GEBAUER über die Erfahrungen des Kollegiums der Leinebergschule in Göttingen (1984). Bei diesem Bericht geht es nicht um Methoden, Erfahrungen und Strategien der Förderung von Kindern mit Problemen, sondern um Veränderungsprozesse innerhalb eines Grundschulkollegiums auf dem Weg zu mehr Menschlichkeit. Schon BRüCK hatte bei seinen Bemühungen um eine Verbesserung seines Unterrichts die Bedeutung "der Person des Lehrers und des Schülers, die Frage danach, was sie miteinander oder gegeneinander als Personen machen" (1978, 10), herausgestellt. Dieser - bisher meist als 'blinder Fleck' wirksame - Faktor erscheint BRüCK bedeutsamer als die Intensität der Unterrichtsvorbereitung, denn er konnte "keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen meiner guten oder schlechten Vorbereitung und meinem guten oder schlechten Unterricht feststellen" (1978, 25).
Auch GEBAUER setzt auf der Ebene der Persönlichkeit von PädagogInnen und Kindern und ihrer Beziehung an, mit folgenden Hypothesen, die die Grundlage der Entwicklung des Schulprojektes bilden:
Lehrerinnen/Lehrer, die fähig und bereit sind, ihre eigenen Schwächen wahrzunehmen, zu akzeptieren, mit ihnen zu leben, haben sich eine entscheidende Voraussetzung dafür erworben, Schwächen bei Mitmenschen als Ausgangspunkt für die Bewältigung von Lern- und Lebenssituationen zu machen. Lehrerinnen/Lehrer, die gelernt haben, mit eigenen Schwächen und den Schwächen anderer verständnisvoll umzugehen, schaffen damit eine wesentliche Voraussetzung für eine Lebendigkeit, die von Wahrhaftigkeit geprägt ist. Lehrerinnen/Lehrer, die gelernt haben, mit ihrer Erziehungsschwäche zu leben und zu arbeiten (die nicht unter allen Umständen ein gestecktes Ziel durchsetzen müssen), müssen nicht täglich die Rolle einer Lehrerin /eines Lehrers spielen; sie können Lehrerin/Lehrer sein, gerade auch in den Situationen, in denen es nicht so geht, wie sie es sich erhofft hatten. (Anders formuliert: Man kann es lernen, nicht mehr täglich als sein eigenes Denkmal in die Schule zu kommen.) In ihrer täglichen Schularbeit wird es ihnen darum gehen, eine Atmosphäre des Vertrauens und Verstehens zu schaffen als Grundlage eines gemeinsamen Lernens von Kindern, die behindert sind, Lernstörungen in Teilbereichen haben, die in ihrem Verhalten auffällig sind und den nicht weiter auffallenden Kindern. |
GEBAUER spricht jenen zentralen Punkt an, der die innerpsychische Grundlage für die selektiven Wirkungsmechanismen des Schulsystems auf der Ebene der einzelnen LehrerInnen bildet: das Abdrängen von Schwäche. Er bezeichnet als erziehungsschwachen Lehrer den Menschen, "der einmal an die Grenzen seiner Einwirkungsmöglichkeiten anderen Menschen gegenüber gestoßen ist" (1984, 268). In Übereinstimmung mit BRüCK (1978) und mit Bezug auf die Arbeiten Alice MILLERs (1979, 1980) und den von ihr beschriebenen Wiederholungszwang fragt GEBAUER: "Wie sollte jemand, der möglicherweise als Kind nicht schwach und hilflos, wütend und zornig auf Eltern und Lehrer sein durfte, wie sollte dieses Kind von damals - nun groß geworden - sich selber Schwäche und Hilflosigkeit zugestehen dürfen? Statt dessen passiert es, daß viele Lehrer diesen Teil von sich abspalten, sie isolieren ihn. ... Der erziehungsschwache Lehrer ist einer, der nicht die eigenen verdrängten Anteile seines Versagens aus der frühen Kindheit auf andere überträgt und sich nun auf diese stützt, um sich an ihnen abzuarbeiten. Nein, er läßt den anderen - einen anderen sein" (1984, 268).
Was diese allgemeine Aussage für die Integrationspädagogik bedeutet, nimmt GEBAUER genauer in den Blick: "Wenn wir behinderte Menschen vom Umgang mit uns ausschließen, wenn wir sie von Institutionen ausschließen, wie z.B. vom gemeinsamen Besuch der Grundschule, schließen wir zunächst einen Teil von uns selbst aus" (1984, 273). Weiter verweist GEBAUER auf die Gemeinsamkeiten in den Grenzerfahrungen von LehrerInnen und SchülerInnen: "Der Schüler, der sich - oft unbewußt - aggressiv gegenüber Sachen und Personen verhält, von dem wir dann sagen, er sei verhaltensauffällig, oder dessen Lernfähigkeit in Teilen blokiert ist (Lernstörung), zeigt lediglich graduell ein anderes Verhalten als der Lehrer, der brüllt, Druck ausübt, alkohol- oder drogenabhängig oder auch nur kommunikationsunfähig wird" (1984, 274).
Als Quintessenz für die Integrationspädagogik läßt sich ableiten, daß jene PädagogInnen, die sich nicht mit ihrer eigenen Kindheit und Schulzeit auseinandergesetzt haben, gemäß dem MILLERschen Wiederholungszwang (1979, 129ff.) ihre eigene Geschichte als Erwachsene zu reproduzieren drohen und weniger in der Lage zu sein scheinen, die für die Kinder so wichtige Funktion des 'Spiegelns' in der Klasse übernehmen zu können. Vielmehr stehen sie in der Gefahr, gemäß ihrer bisherigen Praxis die eigene Ratlosigkeit für effektive Hilfen an die betreffenden und betroffenen Kinder zu delegieren und sie - wenn auch nicht mehr, wie früher, mit dem Wechsel auf Sonderschulen - aus der direkten Konfrontation oder z.B. gedanklich in den Aufgabenbereich der SonderpädagogInnen abzuschieben.
Auch NIEDECKEN weist auf diesen Zusammenhang bei uns Erwachsenen hin: "Die Methoden, die wir anwenden, uns vor Angst, Haß und Schuldgefühlen zu schützen, spiegeln die Not, in die wir selbst damit geraten." Wichtig ist dabei allerdings, ob wir uns selbst und anderen gegenüber die eigenen Probleme eingestehen oder "ob die Abwehrmechanismen nicht mehr als das benannt werden, was sie sind, Selbstschutz, vielmehr das Etikett 'konsequente Erziehung' oder 'Therapie' erhalten" (1989, 160).
Was demgegenüber Kinder brauchen, ist eine Haltung, die PädagogInnen ermöglicht, mit ihnen in einen Dialog zu treten, und in die etwa folgende vier Aspekte eingehen: "1. Achtung vor dem Kind; 2. Respekt für seine Rechte; 3. Toleranz für seine Gefühle; 4. Bereitschaft, aus seinem Verhalten zu lernen" (MILLER 1980, 122). Es gilt also nicht ausschließlich, sich der Schwäche zuzuwenden, sondern jenen Phänomenen, die häufig von Kindern mit Behinderungen in Integrationsklassen repräsentiert und von Erwachsenen allgemein vernachlässigt werden: Lust/Unlust, Impulsivität, Emotionalität, Körperbetontheit, Nähe, Zärtlichkeit etc..
Die Bedeutung integrativer Prozesse auf der innerpsychischer Ebene bei den PädagogInnen faßt Abb. 3.3 mit Kernsätzen von GEBAUER (1984) zusammen.
Wenn wir offene Unterrichtsarbeit anstreben, müssen wir auch unsere Zusammenarbeit auf Offenheit hin überprüfen. Wenn wir selbstbestimmtes Lernen fordern, müssen wir uns fragen, wie denn unser selbstbestimmtes Arbeiten aussieht. Wenn wir uns entdeckendes Lernen wünschen, müssen wir uns fragen, wo wir denn selber in unserem Alltag solches praktizieren. Wenn wir schwachen Kindern helfen wollen, müssen wir uns mit unseren eigenen Schwächen auseinandergesetzt haben. Wenn wir Kinder mit Lernstörungen beraten wollen, müssen wir über unsere eigenen Arbeitsstörungen nachgedacht haben. Wenn wir von den Kindern Konfliktlösung, Gruppenfähigkeit, Einfühlungsvermögen erwarten, müssen wir uns fragen, wie es mit unserer Fähigkeit steht, die Situation einer Kollegin gefühlsmäßig wahrzunehmen, Konflikte anzugehen, selbst lehrergruppenfähig zu werden. Wenn wir Ängste, Wut oder Ärger eines Kindes verstehen wollen, müssen wir etwas über unsere Angst, Wut und unseren Ärger wissen. |
Zum Abschluß dieses Abschnittes soll ein Punkt bearbeitet werden, der zunächst zusammenhangslos und weit hergeholt erscheinen mag. Es geht um die Diskussion innerhalb der Gehörlosenpädagogik darüber, ob die sprachliche Entwicklung bei gehörlosen Kindern primär über die Lautsprache erfolgen sollte oder primär über die Gebärdensprache. Diese Diskussion erscheint deshalb bedeutsam, weil in ihr die individuell-sprachliche Ebene der Gleichheit und Verschiedenheit angesprochen wird - ein Thema zudem, das im Bereich interkultureller Ansätze ebenfalls diskutiert wird. Diese Diskussion zieht in der Gehörlosenpädagogik tiefe Gräben und nimmt stellenweise den Charakter eines erbitterten Glaubenskrieges bis hin zu persönlichen Beleidigungen an (vgl. PRENGEL 1989c).
Wenn die Integration, also die Gemeinsamkeit unterschiedlicher Menschen als höchstes Ziel gesehen wird, so liegt darin nach HEESE (1984) die Gefahr einer Verabsolutierung. Er beschreibt die Situation eines erwachsenen Gehörlosen, der sich zwar oral im Arbeitsprozeß mit KollegInnen verständigen kann. Nach Arbeitsschluß zieht er jedoch "die Kommunikation unter Gehörlosen einer integriert gestalteten Freizeit vor: Er wohnt mit anderen, etwa gleichaltrigen Gehörlosen in einer Wohngemeinschaft und geht so an die zehnmal im Monat in den Gehörlosenclub bzw. zu einem Stammtisch mit anderen Gehörlosen" (1984, 385). HEESE fragt angesichts der Integrationsforderung, ob sich dieser junge Mann nun selbst tadeln müsse, wenn er die Gemeinschaft der Gleichbetroffenen sucht.
Hintergrund dieser Fragestellung ist eben der Streit innerhalb der Gehörlosenpädagogik. HEESE charakterisiert diesen Streit wie folgt: "Um eine Integration in die Welt der Hörenden sprachlich zu ermöglichen, mutet man den gehörlosen Kindern seit zweihundert Jahren im deutschen Sprachgebiet zu, die Mühe der Lautsprachlernung auf sich zu nehmen" (1984, 387). Gleichwohl hält der Bund Deutscher Taubstummenlehrer einen gemeinsamen Unterricht für gehörlose bzw. hochgradig schwerhöriger und nichtbehinderter SchülerInnen für unverantwortlich, weil die Lautsprache das Unterrichtsmedium in der allgemeinen Schule an sich sei und damit Gehörlose in ihren Bildungschancen geschmälert und in die Isolation getrieben würden (zit. in RAIDT 1991, 196). Einerseits soll durch das Erlernen der Lautsprache die gesellschaftliche Integration erreicht werden, andererseits kann dies anscheinend nicht in einem gemeinsamen Unterricht geschehen.
Demgegenüber wird in Amerika von manchen GehörlosenpädagogInnen vertreten: "Laßt uns auf die Sysiphusarbeit verzichten, taube Kinder sprechen und ablesen zu lehren - unterrichtet sie von Anfang an in der Gebärdensprache!" (HEESE 1984, 387). In den USA wird der Schwerpunkt sozialer Bezüge in der Gemeinschaft der Gehörlosen gesehen, die eigene Wohnmöglichkeiten, Ausbildungen und eine Universität für Gehörlose bereithält und nach erbitterten Kämpfen gegen die Mehrheit der hörenden SonderpädagogInnen auch einen gehörlosen Universitätspräsidenten durchsetzte (PRENGEL 1989c, 198). In den USA wie in Deutschland wird gefordert, die Gebärdensprache als Sprache einer Minderheit anzuerkennen, wie dies in Schweden seit einigen Jahren geschieht (vgl. HEESE 1984, 389) und von der Europäischen Gemeinschaft 1988 für ihre Mitgliedsstaaten gefordert wurde (vgl. GüNTHER 1991, 182f.). Gehörlose Menschen halten sich grundsätzlich nicht für behindert, sondern für Angehörige einer sprachlichen Minderheit (vgl. HOFMANN 1991, VOIT 1991, 190f.).
HEESEs Einschätzung zum Sprachenstreit scheint typisch für dessen Wahrnehmung in der Gehörlosenpädagogik zu sein. Chancen für die Integration sieht HEESE nur, "wenn die tauben Kinder weiterhin eine Art Erstprägung durch die Lautsprache im Absehen und Sprechen erfahren" (1984, 387). Bei einem Primat der Gebärde geht befürchtetermaßen "die Reise nolens volens in Richtung Separation, wenn nicht gar Isolation von der hörenden Umwelt" (1984, 389). Andererseits fordert HEESE jede(n) auf, der/die Gebärden ablehnt, sich zu prüfen, "ob er nicht auch ihre Eigenheiten ablehnt" (1984, 388). Den zukünftigen pädagogischen Entscheidungsbedarf sieht er in der Frage, "ob ein positiver Wert, die Integration einer Gruppe von Behinderten, einem anderen positiven Wert, der Bewahrung und Pflege ihrer kommunikativen Eigenart, über-, neben- oder untergeordnet werden soll" (1984, 389).
In den Dimensionen dieser Arbeit ausgedrückt, geht es wiederum um die Frage der Gleichheit und Verschiedenheit, hier von Gehörlosen. Am Beispiel der Sprachentwicklung wird diskutiert, ob die Gleichheit mit allen Menschen Priorität haben soll oder die Verschiedenheit dieser Gruppe von anderen. Interessanterweise wird dabei der oralistische Weg der Lautsprache als integrativer, der Gebärdenweg als separierender Weg gesehen. Dahinter steht die Überzeugung, "man kann als Behinderter unter Nichtbehinderten nur bestehen, wenn man sich ihnen weitgehend anpaßt" (1984, 392). Mit dieser Form von 'Integration', die von den sog. OralistInnen propagiert wird, ist allerdings nicht mehr das Miteinander des Verschiedenen gemeint, sondern schlichte Anpassung an die Standards der sog. Normalität. Verschiedenheit hat in diesem Verständnis keinen Platz. Es ist dies jene argumentative Schieflage, die in der Sonderpädagogik weithin anzutreffen ist (vgl. Kap. 2.1.2). Wer, wie VertreterInnen des Gebärdenprimats, demgegenüber die Verschiedenheit betont, gerät in den Geruch des subkulturellen Separatismus.
Was in der Diskussion innerhalb der Gehörlosenpädagogik weitgehend fehlt, ist die dialektische Vermittlung von Gleichheit und Verschiedenheit. Integrativ im Sinne dieser Arbeit wäre es, die Verschiedenheit und damit auch die Gebärdensprache anzuerkennen und sie in das Miteinander der Verschiedenen einzubringen. Es wäre denkbar - und ist auch schon praktiziert worden - , daß SchülerInnen einer Integrationsklasse die Chance erhalten, die Gebärdensprache zu lernen, so daß nach je vorhandener sozialer Nähe das oder die gehörlosen Kinder auch in ihrer Sprache mit anderen kommunizieren können. Wie GüNTHER weiter hervorhebt, kann das gehörlose Kind seine besonderen Fähigkeiten für alle SchülerInnen einbringen, die nichtbehinderten SchülerInnen haben einen natürlichen Anlaß zur Reflexion über die eigene und die Gebärdensprache (1991, 183).
Gleichzeitig sind gehörlose Kinder auf die alltägliche Kommunikation mit Gleichbetroffenen angewiesen, soll die kommunikative Kompetenz in dieser Sprache zur Geltung kommen können. Dies könnte durch Spielgruppen, Freizeitgruppen, Ferienaktivitäten im Kreis der Gehörlosengemeinschaft (vgl. 1991, 183) oder im Rahmen einer Integrationsklasse geschehen, zu der mehrere gehörlose SchülerInnen gehören. Ein solcher Ansatz stände zwar im Gegensatz zur integrationspädagogischen Maxime der Mischung von Kindern, gäbe jedoch der Dimension der Gleichheit innerhalb der Integrationspädagogik eine größere Chance. Gleichzeitig würde auch das weitgehend bestehende Tabu der Thematisierung einer "Kollektivität von Behinderten" (PRENGEL 1989c) in der Integrationspädagogik aufgebrochen. Für gehörlose Menschen ist eine "bisoziale Integration" (GüNTHER 1991) anzustreben, die ihnen eine Entwicklung in der Welt der Hörenden und in der Gehörlosengemeinschaft ermöglicht und auf alle Anpassungs- und Ausschließlichkeitstendenzen in der einen oder anderen Richtung verzichtet.
Auf dieser zweiten Ebene integrativer Prozesse steht nach der Definition der Frankfurter Forschungsgruppe um das ganzheitliche Erleben anderer bei gleichzeitiger Wahrnehmung von deren und der eigenen Gleichheit und Verschiedenheit im Mittelpunkt (REISER 1990a, 33; vgl. auch WOCKEN 1988g).
Zu diesem Bereich gehören vor allem die Ergebnisse und Aussagen der Integrationspädagogik über die Beziehungen zwischen den Kindern und zwischen ihnen und den PädagogInnen. Hier kann die Methodenvielfalt innerhalb der Integrationspädagogik produktiv genutzt werden: Zum einen gibt es eine Reihe von quantitativ ausgerichteten soziometrischen Untersuchungen, ausgehend von WOKKEN aus dem Hamburger Projekt, die in andere Projekte hinein übernommen und/oder erweitert wurden (Berlin, Frankfurt; Kap. 3.2.1). Weiter existieren Untersuchungen mit größerer Nähe zur Praxis, die Interaktionen im Unterricht selbst beobachten (Kap. 3.2.2). Zum dritten gibt es Erfahrungsberichte von PraktikerInnen sowie Auswertungen qualitativer Interviews darüber, wie sich die Beziehungen zwischen Kindern in Integrationsklassen entwickelt haben und wie integrative Prozesse auf dieser Ebene bewußt befördert werden können (Kap. 3.2.3).
WOCKENs soziometrische Untersuchung in Hamburger Integrationsklassen im ersten Schuljahr fragt danach, "ob schulische Integration behinderter und nichtbehinderter Kinder auch ihre soziale Integration bewirkt" (1987e, 210). Als Kriterium verwendet er, ausgehend von der gleichen Würde aller Menschen, "die Gleichgewichtigkeit der sozialen Beziehungen zwischen behinderten und nichtbehinderten Kindern" (1987e, 221). Diese gliedert er in die Teilfragen (1987e, 255), ob behinderte und nichtbehinderte Kinder
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"im Durchschnitt gleich viel Wahlen und Ablehnungen erhalten";
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"an den soziometrischen Rollen 'Beliebte', 'Lieblinge', 'Anerkannte', 'Unauffällige', 'Unbeliebte', 'Außenseiter' in gleichem Maße partizipieren";
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"in beiden Teilgruppen die gleiche Resonanz finden und auch selbst auf beide Teilgruppen emotional ausgeglichen reagieren".
Ob soziale Integration nach diesen Maßstäben gelungen sei, kann nach WOKENS Untersuchungsergebnissen "weder mit einem klaren Ja noch mit einem klaren Nein beantwortet werden" (1987e, 255). Bei den vier Teilfragen kommt er zu folgenden Ergebnissen (1987e, 269-271):
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Die Rollenverteilung zwischen behinderten und nichtbehinderten Kindern ist nicht gleichgewichtig; behinderte Kinder sind bei den positiven Rollen unterrepräsentiert, bei den neutralen und negativen Rollen überrepräsentiert. WOKEN vermutet, daß diese Ungleichgewichtigkeit auf Kinder mit Lern- und Verhaltensproblemen zurückgeht, während Kinder mit geistiger und Körperbehinderung im ganzen Rollenspektrum vertreten sind.
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Demgegenüber gibt es einen ausgewogenen emotionalen Austausch zwischen beiden Teilgruppen: sie erhalten jeweils so viele Wahlen von beiden Gruppen, wie es deren Anteil entspricht. Bei den Ablehnungen gibt es eine "mäßig überhöhte Ablehnungstendenz" (1987e, 270) bei den nichtbehinderten gegenüber den behinderten Kindern.
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Während die behinderten Kinder ihre Wahlen gleichmäßig an beide Teilgruppen richten, sich also nicht etwa in die eigene Teilgruppe zurückziehen, bevorzugen die nichtbehinderten Kinder bei Wahlen die eigene und bei Ablehnungen die andere Gruppe.
WOCKEN zieht als Resümee seiner Untersuchung: "Aufs ganze gesehen ist zwischen den behinderten und nichtbehinderten Kindern in den Integrationsklassen eine alltägliche Beziehung, wie sie unter Kindern nun mal üblich ist, gewachsen. Die emotionalen Beziehungen zwischen Behinderten und Nichtbehinderten entsprechen 'nicht voll und ganz' dem Kriterium der Gleichgewichtigkeit, jedoch sind die Abweichungen von den idealen Erwartungsnormen durchweg geringfügig. Der Eindruck eines normalen Verhältnisses herrscht vor, wobei in diesem Verhältnis ein Rest von sozialer Distanz zu behinderten Kindern mitschwingt" (1987e, 271), vorwiegend gegenüber Kindern mit Lern- und Verhaltensproblemen. Er plädiert darüberhinaus dafür, das Kriterium der Gleichgewichtigkeit auch dann aufrechtzuerhalten, wenn es nicht voll und ganz erreicht wird, ebenso wie es zwischen Männern und Frauen oder deutschen oder ausländischen Bürgern der Fall sei. Man solle lieber "mit dem Quäntchen Unvollkommenheit in Gelassenheit" (1987e, 271) leben. Er betont allerdings, daß mit den emotionalen Beziehungen noch nicht die soziale Integration vollständig untersucht sei. Zu ähnlichen Ergebnissen wie WOCKEN kommen MAIKOWSKI & PODLESCH (1988b, 1988e) in ihrer soziometrischen Untersuchung in der Fläming-Grundschule in Berlin.
Auch in den ersten vier Hessischen Integrationsklassen an drei Grundschulen werden die sozialen Beziehungen der SchülerInnen untersucht (COWLAN U.A. 1991b). Dabei wird zwischen dem schulischen und außerschulischen Bereich unterschieden. In enger methodischer Anlehnung an WOCKEN, jedoch in jährlichem Rhythmus, werden die generellen Sympathien und Beziehungen in konkreten Tätigkeiten erfragt. Dabei kommen sie zu folgenden Ergebnissen:
Die soziale Einbeziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder bezeichnen sie als durchschnittlich; sie unterscheidet sich deutlich bei der eigengeschlechtlichen, nicht jedoch bei der Gruppe des anderen Geschlechts (COWLAN U.A. 1991b, 197). Dabei hat das Geschlecht der Kinder mit Behinderungen keinen Einfluß auf ihre soziale Position. Behinderte und nichtbehinderte Kinder nehmen "ungefähr proportional die gleiche Bandbreite sozialer Positionen in ihrer Klasse (ein)" (1991b, 199). Lediglich Kinder mit häufigeren aggressiven Verhaltensweisen weisen einen niedrigeren sozialen Status in der eigengeschlechtlichen Gruppe auf, der jedoch nicht in gleicher Weise auf unterrichtsbezogene Tätigkeiten durchschlägt (1991b, 200). Im Längsschnitt zeigt sich eine hohe Stabilität: "im Durchschnitt hat sich der soziale Status in der Gruppe behinderter wie nichtbehinderter Kinder im Verlauf dreier Schuljahre kaum geändert" (1991b, 201).
Auch die Struktur der sozialen Rollen erweist sich als recht stabil. COWLAN U.A. unterscheiden aufgrund einer Cluster-Analyse vier Typen von SchülerInnen: Typ 1 (24,2 %) ist in der eigengeschlechtlichen Gruppe sehr, in der gegengeschlechtlichen durchschnittlich beliebt und erhält unterdurchschnittlich viele Ablehnungen. Er verkörpert beliebte SchülerInnen. Typ 2 (60 %) ist in beiden Gruppen durchschnittlich beliebt und erhält unterdurchschnittlich viele Ablehnungen. Dies sind akzeptierte SchülerInnen. Typ 3 (3,6 %) ist in der eigengeschlechtlichen Gruppe besonders unbeliebt und erhält besonders viele Ablehnungen, in der gegengeschlechtlichen Gruppe ist er durchschnittlich beliebt bei hoher Anzahl von Ablehnungen. Dieser Typ umfaßt die vom eigenen Geschlecht abgelehnten SchülerInnen. Typ 4 (12,1 %) erhält von der eigengeschlechtlichen Gruppe leicht unterdurchschnittliche Sympathiebekundungen und leicht überdurchschnittliche Ablehnungen, von der gegengeschlechtlichen Gruppe dagegen extrem viele Ablehnungen und fast durchschnittlich viele Sympathiebekundungen. Diesem Typ gehören die vom anderen Geschlecht abgelehnten SchülerInnen an.
Fast 85 % der SchülerInnen (ca. 75 % der behinderten, 87 % der nichtbehinderten) nehmen eine positive soziale Rolle ein. Über diese vier Typen verteilen sich die behinderten und nichtbehinderten Kinder in allen Schuljahren nicht proportional. Während fast keine behinderten Kinder bei Typ 1 zu finden sind, finden sie sich zu ca. zwei Dritteln bei Typ 2; Typ 3 bezeichnet in drei Jahren nur behinderte, im vierten Jahr ein nichtbehindertes Kind; in Typ 4 finden sich behinderte und nichtbehinderte Kinder proportional. Mädchen stoßen tendenziell häufiger auf Sympathie und Offenheit als Jungen. Wesentlich bedeutsamer ist, ob das Kind dem eigenen oder dem anderen Geschlecht angehört.
COWLAN U.A. schließen sich in ihrer Bewertung WOCKEN (1987a) an, der eine Handbreit zwischen Erwartungen und Ergebnissen feststellte. Relativ zu Untersuchungen über andere schulische Konstellationen sehen sie die Einrichtung von Integrationsklassen als "bisher günstigste bekannte Grundlage zur sozialen Integration der Schüler/-innen" (1991b, 218), zumal angesichts der verbreiteten Negativhaltungen gegenüber Kindern mit Behinderungen.
Ergänzend untersuchen COWLAN U.A. auch die außerschulischen Kontakte mittels einer Elternbefragung und einer jährlichen Kinderbefragung. Dabei ergibt sich, "daß der Anteil behinderter Kinder, der sich regelmäßig in der Freizeit mit Klassenkameraden/-innen trifft, etwas kleiner ist, daß die durchschnittliche Anzahl ihrer Freizeitpartner/-innen geringfügiger ist und daß die durchschnittliche Frequenz ihrer Treffen mit Mitschülern/-innen niedriger ist als bei den nichtbehinderten Kindern" (1991b, 248). Dieser Befund kann jedoch keine Basis für eine Bewertung sein, denn dafür müßten die Freizeitkontakte der Kinder mit Behinderungen mit denen von Kindern in Sonderschulen verglichen werden.
Im Unterschied zu WOCKEN (1988d), aber in Übereinstimmung mit COWLAN U.A. (1991b) bezieht auch PREUSS-LAUSITZ (1990a) seine in der wohnortnah integrierenden Uckermark-Grundschule in Berlin jährlich durchgeführten soziometrischen Untersuchungen nicht nur auf die Situation in der Klasse, sondern auch auf den Freizeitbereich. Aus den ermittelten Daten gewinnt er einen "integrierten Sympathiestatus" (1990a, 101). Aufgrund der Längsschnittentwicklung des Sympathiestatus stellt PREUSS-LAUSITZ als allgemeinen Trend fest, "daß das positive Klima (d.h. mehr Wahlen als Ablehnungen; A.H.) von ersten bis zum sechsten Schuljahr in fast allen Klassen zunimmt" (1990a, 102). Dabei sind differenzierende Einzelergebnisse zu betrachten, die am ältesten Jahrgang untersucht werden:
In diesen Klassen steigt der Sympathiewert insgesamt an, in Klasse 3 und 4 etwas geringer, in 5 und 6 wieder deutlicher, so daß es in den beiden letzten Klassenstufen viele besonders beliebte und gar keine Außenseiterkinder gibt.
Über die ganze Grundschulzeit hinweg sind Mädchen insgesamt beliebter als Jungen, die Unterschiede resultieren aus einem größeren Anteil der Jungen im mittleren und der Mädchen im höheren Sympathiebereich. Bei den weniger beliebten Kindern gibt es keine geschlechtsspezifischen Unterschiede.
Deutsche Kinder sind durchweg beliebter als ausländische; der Anstieg der Sympathiewerte ist bei ausländischen Kindern geringer als bei deutschen. PREUSS-LAUSITZ vermutet hier einen allgemeinen schulischen Trend. Ihm entsprechend sind auch Kinder aus der Unterschicht weniger beliebt als solche aus der Mittelschicht, dabei sind die Unterschiede bei den relativ unbeliebten Kindern gering. Weiter sind Einzelkinder beliebter als Kinder mit Geschwistern, mit der für die Schichtzugehörigkeit beschriebenen Einschränkung. PREUSS-LAUSITZ erklärt dies damit, daß Einzelkinder sich innerhalb der Klasse mehr um soziale Kontakte bemühen als Kinder mit Geschwistern. Das beliebteste Kind ist das "deutsche Mittelschichtsmädchen als Einzelkind" (1990a, 106).
Die behinderten Kinder, im Uckermark-Versuch Gutachtenkinder genannt, weisen eine breite Streuung in den Sympathiewerten auf, die insgesamt wie bei den nichtbehinderten Kindern durch die Abnahme von Ablehnung eine positive Entwicklung zeigen. Dies hält PREUSS-LAUSITZ insofern für ein bemerkenswert positives Ergebnis, als daß alle behinderten Kinder dieses Jahrgangs der Unterschicht angehören, Geschwisterkinder haben, überwiegend männlich und deutsch sind, daß also drei von vier Merkmalen eher in eine im obigen Sinne negativ gesehene Richtung wirken. Da sich keine statistischen Zusammenhänge zwischen Behindertenstatus und Beliebtheit ergeben, zieht er als Fazit: "Die 'soziale Integration' ist für diese Kinder also erreicht worden" (1990a, 106).
Eine Auswertung der soziometrischen Untersuchungen von PREUSS-LAUSITZ entsprechend der Methodik von WOCKEN nach Wahlstatus und Ablehnungsstatus ergibt vergleichbare Ergebnisse der Ukermark-Grundschule mit den Hamburger Ergebnissen. Es gibt keine Hinweise dafür, daß behinderte Kinder in Integrationsklassen durchgängig soziale diskriminiert und isoliert sind.
PREUSS-LAUSITZ erweitert WOCKENs Untersuchungsansatz um die Dimension der Freizeitkontakte. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, daß durchschnittlich drei FreizeitpartnerInnen genannt werden, also PartnerInnen, mit denen die Kinder der Uckermark-Grundschule sich öfter verabreden, etwas gemeinsam unternehmen und nachmittags zusammen spielen (1990a, 111). Im Verlauf der Grundschulzeit gibt es eine durchgängige Steigerung der realen Nachmittagskontakte, die PREUSS-LAUSITZ mit der abnehmenden Attraktivität des nachmittäglichen Horts erklärt. Knapp die Hälfte aller FreizeitpartnerInnen stammt aus der eigenen Klasse, die somit "heute der Dreh- und Angelpunkt der Freundschaftsbildung bei Kindern" (1990a, 112) ist. Allerdings können ca. 20 % aller Kinder keine Freizeitpartner angeben, sie müssen als isoliert angesehen werden.
Bei den differenzierten Ergebnissen des ersten Jahrgangs aus Klasse 5 und 6 ergeben sich kaum Unterschiede zwischen den Geschlechtern und zwischen den sozialen Schichten. Jedoch haben ausländische Kinder und Kinder mit Geschwistern mehr Freizeitkontakte als deutsche und Einzelkinder. Die behinderten Kinder haben in den meisten Fällen zwei bis vier feste Freizeitkontakte.
Die behinderten Kinder aller Jahrgänge haben durchschnittlich geringfügig weniger Nachmittagskontakte, allerdings weisen sie eine sehr breite Streuung auf; die Unterschiede zwischen ihnen sind demnach bedeutsamer als die zu Kindern ohne Behinderungen. Auch die durchschnittliche Zunahme der Kontakte kann bei ihnen nicht in dieser Weise festgestellt werden.
PREUSS-LAUSITZ vergleicht darüberhinaus die Freizeitkontakte zwischen den SchülerInnen der Uckermark-Grundschule und den SchülerInnen der benachbarten Schule für Lernbehinderte, auch wenn sie aufgrund der geringen Population (30 Kinder der Sonderschule, 60 Uckermark-Kinder) keine verallgemeinerbaren Ergebnisse ermöglicht. PREUSS-LAUSITZ stellt dabei fest, daß "für die Sonderschüler die Fortsetzung der schulischen Sympathien in reale Freizeitkontakte nicht in dem Maß wie in der Grundschule möglich war" (1990a, 119). Er erklärt dies mit dem größeren Einzugsbereich der Sonderschule.
Als zusammenfassendes Fazit hält PREUSS-LAUSITZ fest, "daß ein Ziel der gemeinsamen Erziehung, nämlich der Aufbau stabiler und positiver sozialer Beziehungen zu anderen Kindern zu unterstützen, in hohem Maß gelungen ist" (1990a, 128). Er betont, daß dies zugleich Ausdruck eines dauerhaften Schwerpunktes der Arbeit der PädagogInnen sei. Diese positiven Ergebnisse seien darüberhinaus besonders positiv zu bewerten, da die in der Ukermark-Grundschule beschulten behinderten Kinder überwiegend zu den sozial schwierigen Kindern gehören, nämlich jenen mit Lern- und vor allem mit Verhaltensproblemen.
Eine Untersuchung über das konkrete Sozialverhalten der SchülerInnen im Unterricht liegt aus dem Bonner Integrationsversuch vor (DUMKE 1991c, DUMKE & MERGENSCHRöER 1991). Im Minutentakt wird das Verhalten jeweils eines Kindes nach einem differenzierten Raster mit 14 Hauptkategorien und jeweils weiteren Unterkategorien für je eine Unterrichtsstunde protokolliert (zur Methodik vgl. SCHäFER 1991). Neben fünf Integrationsklassen aus dem 2. bis 6. Schuljahr bezieht DUMKE die entsprechenden Parallelklassen in die Untersuchung ein. So liegen von 59 nichtbehinderten (Nb) 74 Stunden und von 24 behinderten (Bh) SchülerInnen der Integrationsklassen 92 Stunden sowie von 106 SchülerInnen der Parallelklassen (Pkl) 118 Stunden Protokolle vor (1991c, 22). In der Analyse ergeben sich sieben interpretierbare Faktoren (angegeben wird jeweils der prozentuale Zeitanteil der einzelnen Situationen).
Bei Faktor 1, "Aspekte der Einzelbetreuung des Schülers durch den Lehrer" (1991c, 22), wird die unterschiedliche Situation von Integrations- und Parallelklassen deutlich: Während in Regelklassen Einzelbetreuung durch LehrerInnen praktisch nicht vorkommt (0,6 %) und der verbale Kontakt zu LehrerInnen gering ist (4 %), ergibt sich in der Integrationsklasse für nichtbehinderte und für die behinderten SchülerInnen in noch höherem Maße eine wesentlich größere Kontaktdichte (Bh 16 + 16 %, Nb 10 + 5 %). Gleiches gilt für Hilfe von LehrerInnen (Bh 11 %, Nb 6 %, Pkl 0,8 %). Einzelbetreuung durch LehrerInnen ist auf der Grundlage des Zwei-LehrerInnen-Systems eine wichtige Form in Integrationsklassen, die sich auf alle Kinder bezieht (DUMKE 1991c, 23).
Auch bei Faktor 2, der emotionalen Befindlichkeit der SchülerInnen, zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen Integrations- und Parallelklassen: Die nichtbehinderten SchülerInnen zeigen gut doppelt so häufig (15 %), die behinderten SchülerInnen dreimal so häufig (21 %) positive Gefühlsäußerungen wie die in Parallelklassen (4 %), wobei die Werte bei einfacher LehrerInnenbesetzung noch höher sind als bei Dopppelbesetzung. Die behinderten SchülerInnen zeigen eine größere Hinwendung zu anderen SchülerInnen (Bh 1,7 %, Nb 0,7 %, Pkl 0,3 %) und beeinflussen so das Klima in der Klasse (DUMKE 1991c, 23).
Bei Faktor 3, dem Arbeits- und nicht unterrichtsbezogenen Verhalten, zeigt sich vor allem ein Unterschied zwischen den nichtbehinderten SchülerInnen in Integrations- (62 %) und Parallelklassen (54 %) im Sinne der größeren Arbeitseffektivität der IntegrationsklassenschülerInnen. Das Arbeitsverhalten der behinderten SchülerInnen (52 %) entspricht etwa dem der SchülerInnen in Parallelklassen. Insgesamt ergibt sich zeitlich eine deutlich positive Arbeitseffektivität. Auffällig ist, daß die behinderten SchülerInnen bei Anwesenheit nur einer/s LehrerIn länger beständig arbeiten als bei der Anwesenheit von zwei LehrerInnen. Beim Störverhalten ergeben sich keine großen Unterschiede zwischen den Gruppen, nur beim Rückzugsverhalten weisen SchülerInnen mit Behinderungen einen größeren Zeitanteil (17 %; NB 13 % und Pkl 11 %) auf - ein weiterer Beleg gegen die 'Belastungsthese' durch behinderte SchülerInnen (1991c, 24).
Faktor 4 erfaßt den Bereich der Hilfeersuchen gegenüber LehrerInnen. Hier ergeben sich insgesamt keine deutlichen Unterschiede zwischen den Gruppierungen, jedoch zeigt sich, daß die SchülerInnen der Integrationsklassen ihrer LehrerInnen häufiger um Hilfe bitten (Bh 3,2 %, Nb 2,7 %) als die der Parallelklassen (1,3 %; (DUMKE 1991c, 24). Dabei wenden sich SchülerInnen mit und ohne Behindertenstatus an beide LehrerInnen (DUMKE & MERGENSCHRöER 1991, 177).
Deutliche Unterschiede gibt es bei gegenseitiger Unterstützung der SchülerInnen (Faktor 5): Während diese Interaktionen in den Parallelklassen kaum entwickelt sind (unter 1 %), gehören sie in den Integrationsklassen zum Interaktionsrepertoire (zwischen 1,3 und 3 %). Dies gilt für behinderte wie nichtbehinderte SchülerInnen, verstärkt in Phasen Freier Arbeit und bei Anwesenheit nur einer/s LehrerIn. Größere Unterschiede zwischen behinderten und nichtbehinderten SchülerInnen gibt es allenfalls im zeitlichen Ausmaß der Hilfe für andere SchülerInnen (Bh 0,9 %, Nb 3,1 %). Dabei kommt es auch zu mehr Konflikten als in Parallelklassen (Bh 1,6 %, Nb 1,5 %, Pkl 0,7 %); DUMKE 1991c, 24).
Faktor 6 wendet sich den verbalen Kontakten zwischen den SchülerInnen und der Partnersituation insgesamt zu. Bei den Zweier-Kontakten ergibt sich für die nichtbehinderten SchülerInnen der Integrationsklassen die größte Dichte (22 %) vor den SchülerInnen der Parallelklassen (18 %) und den behinderten SchülerInnen (17 %). Die Beteiligung der behinderten bzw. nichtbehinderten SchülerInnen an der Kontakthäufigkeit entspricht in etwa ihren Anteilen an der Gruppe. Nennenswerte abgelehnte verbale Kontakte gibt es lediglich in Parallelklassen (Pkl 2 %, Nb 0,9 %, Bh 0,8 %). In den Integrationsklassen gibt es mehr Partnersituationen (Bh 10 %, Nb 13 %) als in den Parallelklassen (4 %) und damit bessere Voraussetzungen für soziale Kontakte (DUMKE & MERGENSCHRöER 1991, 182).
Faktor 7 schließlich bezieht sich auf die Dimension des Zuschauens und Zuhörens bei anderen SchülerInnen, eine Dimension, die die Voraussetzung für das Modellernen bildet. Hier zeigt sich ebenfalls in den Integrationsklassen eine günstigere Situation (Bh 11 %, Nb 13 %, Pkl 5 %). SchülerInnen mit Behinderungen schauen bzw. hören in 2 % der Gesamtzeit anderen behinderten, in 6 % nichtbehinderten SchülerInnen und in 3 % der Zeit gemischten Gruppen zu. Für die SchülerInnen in Integrationsklassen bestehen damit in größeren Zeiträumen Chancen, von anderen zu lernen (DUMKE & MERGENSCHRöER 1991, 183).
Insgesamt ergibt sich in dieser Untersuchung ein positives Bild der Kontaktsituation für die integrative Erziehung im Vergleich zu 'normaler' Erziehung (vgl. DUMKE 1991c, 25f.): SchülerInnen in Integrationsklassen haben mehr soziale Kontakte, erhalten mehr individuelle Zuwendung, zeigen häufiger eine positive emotionale Befindlichkeit, arbeiten häufiger konzentriert, geben und erhalten häufiger Hilfen und haben häufiger Konflikte mit anderen SchülerInnen, befinden sich häufiger in Partnersituationen und haben häufiger Gelegenheit, von anderen SchülerInnen durch Zuschauen bzw. Zuhören zu lernen. Diese größere Intensität der Interaktion steht in direktem Zusammenhang mit den dominierenden Formen integrativen Unterrichts, aber auch mit der größtenteils gegebenen Anwesenheit von zwei LehrerInnen. Interessanterweise treten diese positiven Effekte jedoch noch stärker auf, wenn sich nur eine Lehrperson im Unterricht befindet. Vermutlich steigt in diesen Situationen der Grad selbstorganisierter Interaktion der SchülerInnen, die die Anwesenheit der zweiten Lehrkraft zum Teil ersetzt.
Neben dieser Untersuchung existieren einige Berichte über Ansätze, die zwar in Integrationsprojekten eingesetzt werden, mit deren Hilfe jedoch keine allgemeineren Aussagen zur Interaktionssituation gemacht werden (vgl. FEUSER & MEYER 1987, MAIKOWSKI & PODLESCH 1988e). Sie dienen vorwiegend zur Analyse konkreter Situationen und zur Reflexion der Beteiligten für einzelne SchülerInnen.
In vielen Erfahrungsberichten und Hospitationsbesprechungen wird - auch von Menschen, die Integrationsversuchen eher skeptisch gegenüberstehen - auf die bemerkenswert positive soziale Atmosphäre in diesen Klassen hingewiesen. Dies hängt, so wird vermutet, mit dem Wegfallen der Allgemeinverbindlichkeit der Lernziele für die SchülerInnen und den bewußt wahrgenommenen, vielleicht auch größeren pädagogischen Freiräumen in diesen Klassen zusammen, die die offensichtliche Verschiedenheit der SchülerInnen nicht mehr als zu beseitigendes Problem erscheinen lassen. So schreibt z.B. NOWAK im Rückblick auf zehn Jahre integrative Arbeit in der Fläming-Grundschule: "Weil die meisten Schwächen der behinderten Kinder allen sofort offensichtlich sind, können sich die nichtbehinderten Kinder einer Integrationsklasse leicht den Luxus erlauben, auch ihre eigenen Schwächen nicht verstecken zu müssen, sie können sie vielmehr akzeptieren und an deren Überwindung mit der von Mitschülern erbetenen Hilfe arbeiten" (1988, 31). Hier wird die Bedeutung integrativer Prozesse auf der innerpsychischen Ebene deutlich gemacht: Wer sich seinen eigenen "dunklen Seiten" zuwendet, braucht sie nicht mehr so stark in sich und in anderen abzuwehren; und wer umgekehrt erlebt, daß die offensichtlichen 'dunklen Seiten' anderer nicht diskriminierend kommentiert werden, kann auch eher Zugang zu seinen eigenen finden (vgl. DüBBERS & PODLESCH 1988, 11).
Daß dies Annäherungsprozesse sein können, die von Harmonie, gegenseitigem Verständnis und einer gewissen Faszination geprägt sind, daß dabei aber auch Krisen, Phasen des Aushaltens und der Ambivalenz eine wichtige Rolle spielen können, macht BOBAN (1989b) eindringlich deutlich. Dies geschieht aus der Erlebnisperspektive heraus am Beispiel von jeweils zwei Kindern, je eines mit und eines ohne Behinderung, letzteres in der 5. Klasse neu in die Integrationsklasse gekommen. Hier wird darüberhinaus klar, daß diese "neuen Verhältnisse" direkte Bedeutung für kognitive Lernprozesse haben und diese Trennung von sozialem und kognitivem Lernen eine theoretische ist: Wenn Jörg Gesa beim Schwimmen genau beobachtet und sie dank seiner Anleitung und Unterstützung ihre ersten Sprünge ins Schwimmbecken bewältigt (BOBAN 1989b, 216), findet beides gleichzeitig und ineinander verwoben statt: soziales wie kognitives Lernen.
In der zweiten, schwierigeren 'Paargeschichte' geht es um einen Jungen mit großen Verhaltensproblemen und ein nichtbehindertes Mädchen. An dieser Geschichte wird auch deutlich, wie wichtig das Gespräch mit der ganzen Klasse für alle Beteiligten ist, als sich Konflikte zwischen diesen beiden Kindern zuspitzen. Da wird, durch die PädagogInnen forciert, aber auch abgesichert, nichts beschönigt und ausgeredet, was an Emotionen da ist. Selbst als ein Konflikt generalisiert in der Forderung von Jana an Tim kulminiert: "Weißt Du, wenn Du so weitermachst, dann will ich nicht mehr in einer Klasse mit Dir sein. Entweder gehst Du oder ich gehe!" (BOBAN 1989b, 220), versuchen die PädagogInnen nicht zu beschwichtigen, sondern lassen den Konflikt in aller notwendigen Deutlichkeit und Authentizität bewußt und erlebbar werden. Damit nehmen sie den Umgang mit individueller Verschiedenheit als stets präsente pädagogische Aufgabe ernst.
In der Auswertung von PädagogInnen-Interviews geht PRENGEL auch der geschlechtsspezifischen Dimension sozialer Beziehungen in Integrationsklassen nach. Demnach werden Schwierigkeiten bei integrativen Prozessen geschlechtsspezifisch unterschiedlich verarbeitet: "Nichtbehinderte Mädchen machen behinderte Kinder zum Objekt ihrer Beziehungswünsche, indem sie sie, ihre Grenzen überschreitend, körperlich überversorgen. Nichtbehinderte Jungen machen behinderte Kinder zum Objekt ihrer Aggression, indem sie sie körperlich attackieren" (1990b, 229; vgl. auch 1990f). In den Erfahrungen der InterviewpartnerInnen wird aber auch deutlich, daß diese geschlechtsspezifischen Fixierungen wahrgenommen und bearbeitet werden, "so daß die Mädchen lernen, sich abzugrenzen und Jungen lernen, sich liebevoll anzunähern" (1990b, 229).
In vielen Integrationsklassen wird die Gruppe aus Kindern und PädagogInnen in eigens dafür eingesetzten Stunden systematisch zum Thema gemacht. Dabei kommen u.a. auch 'therapeutische Verfahren' zum Einsatz wie der "heiße Stuhl". In solchen "Klassenrat"- oder 'Tut'(anden)-Stunden steht oft die gemeinsame Reflexion über aktuelle und grundsätzliche Fragen im Vordergrund, es geht um den Umgang mit Konflikten, Gefühlen, auch um die Unterschiedlichkeit von Kindern und Erwachsenen. Dabei wird auch das Phänomen 'Behinderung' von Kindern und PädagogInnen keineswegs tabuisiert, sondern kritisch unter die Lupe genommen. So hat ein Klassenrat in der Tat die Chance, zum "Motor für integrative Prozesse" zu werden (DAHMKE & POPPE 1989), und dies u.U. nicht nur zwischen den Kindern, sondern auch zu und zwischen den PädagogInnen.
Eine solche Veränderung von Interaktion und Beziehung bietet gute Chancen für Veränderungen des Selbstverständnisses und der Rollendefinition bei PädagogInnen. Wie in den Interviews der DFG-Untersuchung deutlich wird, verändert sich bei PädagogInnen besonders deutlich die Beziehung zu Kindern mit Behinderungen: "Bisher erlebten sie Angst und Unsicherheit, also eine aus der Fremdheit resultierende Kontaktunfähigkeit. Aus dieser Form der Überabgrenzung finden sie nun heraus, sie lernen behinderte Kinder kennen, werden mit deren und mit eigenen Mängeln vertraut und Annäherungen werden möglich, so daß sich Einigungssituationen anbahnen können" (PRENGEL 1990b, 244). PädagogInnen in der integrativen Praxis charakterisieren in einer Befragung ihre erzieherische Grundhaltung mit Begriffen wie Offenheit, Akzeptanz, Partnerschaftlichkeit und Emotionalität (SCHLEY 1989c, 286) und zeigen ein entsprechendes Bild ihrer SchülerInnen.
Im Bereich der Qualitäten zwischenmenschlicher Begegnung stehen Untersuchungen mit allgemeinen Aussagen noch aus. Bislang gibt es 'nur' eine Vielzahl von Erlebnis- und Erfahrungsberichten, die auf eine Tendenz zu einer veränderten Qualität in der Interaktion zwischen SchülerInnen und PädagogInnen hinweisen. Sie zeigen eine zunehmende Bereitschaft bei den PädagogInnen, dialogisch zu arbeiten und die SchülerInnen als PartnerInnen anzuerkennen. So verbessern sich die Möglichkeiten für integrative Prozesse auf der interaktionellen Ebene.
Diese Ebene behandelt gemäß der Definition der Frankfurter Forschungsgruppe jene Prozesse, "in denen Personen gemeinsam an einem Gegenstand/Vorhaben arbeiten mit dem Ziel, Realität zu bewältigen. Dies erfordert vielfältige und individuell gestaltbare Kooperationsmöglichkeiten" (REISER 1990a, 33). Schon in der Definition spielt der Begriff der Kooperation eine wichtige Rolle. Der Bereich umfaßt allerdings mehr als Kooperation, denn hier geht es um den gesamten Bereich des schulischen Unterrichts, also um all jene (mit Handlung verbundenen) Veranstaltungen, die innerhalb vorgegebener institutioneller Rahmenbedingungen (hier: von Schule) von den Beteiligten ausgehen oder an sie herangetragen werden. Dies schließt ausdrücklich sowohl die Kinder als auch die PädagogInnen ein.
Die Grundlage für die Handlungsebene bildet die integrative Lerngruppe mit einem höheren Grad von Heterogenität. Sie bringt damit auch eine höhere Komplexität als herkömmliche, homogenisierte Lerngruppen mit sich. Insofern stellt sich die Notwendigkeit neuer Strategien der Komplexitätsreduktion, die in einem integrativen Unterricht das Lernen in der Gemeinsamkeit unterschiedlichster Kinder ermöglichen und Aussonderung erübrigen sollen (Kap. 3.3.1).
Die Lösung des Problems eines Unterrichts mit einer derartig heterogenen Lerngruppe, die multiprofessionelle Kooperation im Sinne des Team-Teachings, hat sich jedoch in vielen Integrationsversuchen als das zentrale Problem integrativer Arbeit herausgestellt. Insofern geht es in Kap. 3.3.2 um deren Kooperation, ihre strukturellen Bestandteile, regelhafte Verlaufsphasen und um die vorhandenen Rollen und Aufgabenbereiche der beteiligten Berufsgruppen.
Ausgehend von der Analyse von Kooperationsstrukturen der PädagogInnen können vor allem zwei didaktische Fragestellungen in den Blick genommen werden (Kap. 3.3.3). Zum einen sind die Grundlagen einer integrativen Didaktik zu klären und das Verhältnis zwischen integrativer und allgemeiner Didaktik, zum anderen sind didaktische Elemente zu betrachten, die eine Bedeutung für die Praxis der Integrationspädagogik haben.
Wenn, so die übereinstimmende Aussage mehrerer AutorInnen, PädagogInnen noch nicht hinreichend über Qualifikationen verfügen, die für das neue Praxisfeld Integration notwendig sind, muß dem Aspekt der Aus-, Fort- und Weiterbildung sowie der Notwendigkeit beratender und begleitender Dienste Aufmerksamkeit gewidmet werden (Kap. 3.3.4).
IntegrationspädagogInnen und -projekte schreiben der Schule die Aufgabe zu, "ein demokratisches Gemeinschaftsleben zu entwickeln, in das ohne Ausschluß alle Kinder einbezogen sind" (REISER 1990c, 263). Dementsprechend geht es bei Lernprozessen in der Schule darum, "die individuelle Förderung und die Entwicklung des Gemeinschaftslebens ständig neu in ein optimales Verhältnis zu setzen" (1990c, 263), so daß sich die Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit im Unterricht in einer Balance von gemeinsamen und individuellen Situationen widerspiegelt. In integrativen, bewußt heterogenen Lerngruppen befinden sich höchst unterschiedliche Kinder; die Aufnahmebedingungen der meisten Integrationsversuche legen fest, daß kein Kind aufgrund des Grades und/oder der Art seiner Behinderung von vornherein ausgeschlossen wird. Dies bedingt notwendigerweise den Abschied vom Phantom des Durchschnittskindes, das bisher trotz aller Schulreformversuche wenig in Frage gestellt worden ist.
Unterricht muß sich dieser größeren Heterogenität der Lerngruppe entsprechend verändern, wenn er den eigenen Ansprüchen genügen soll. In der Sprache der Systemtheorie (LUHMANN) ausgedrückt, wird jede/r LehrerIn "mit Komplexitätsproblemen der Unterrichtssituation" (LUHMANN & SCHORR 1979, 229), mit einer großen Vielfalt von Bedürfnissen, Fähigkeiten etc. konfrontiert. Damit diese bewältigt werden kann, muß sie nach bestimmten Maßstäben reduziert werden. Seit COMENIUS vor über 300 Jahren in seiner Didactica Magna die Kunst, allen alles zu lehren, entwickelte, gilt die homogenisierte Jahrgangsklasse als selbstverständlichste Form der Komplexitätsreduktion, ergänzt durch eine Differenzierung der Kinder nach Leistungsfähigkeit in unterschiedlichen Niveaus. Bisher konnten dementsprechend solche Kinder, die in bezug auf Leistungen und/oder Verhalten vom Durchschnitt ihrer Jahrgangsklasse zu weit entfernt waren, in spezielle schulische Einrichtungen ausgesondert werden, um eine relative Einheitlichkeit aufrechtzuerhalten oder wieder herzustellen, und damit also die von LehrerInnen zu bewältigende Komplexität des Unterrichtsgeschehens durch "organisatorische Differenzierungen" (LUHMANN & SCHORR 1979, 231) auf einem vertretbaren Maß zu halten. Komplexitätsreduktion bedeutete bisher also im wesentlichen Homogenisierung von Lerngruppen durch Aussonderung von Kindern.
Hier liegt die strukturelle Begründung für ein hierarchisch gegliedertes Schulwesen mit vier bis fünf Zügen im Sekundarbereich inklusive eines differenzierten Sonderschulwesens, innerhalb dessen man durch immer weitere Homogenisierungsbestrebungen immer feinere Unterscheidungen machte. Dies führt(e) zu leistungsdifferenzierten Kurssystemen selbst innerhalb der Schule für Geistigbehinderte, zu speziellen Klassen für Kinder mit autistischen Verhaltensweisen, für Kinder mit schwersten und Mehrfachbehinderungen - eine Spezialisierungsentwicklung, für die sich der Begriff des 'Homogenisierungsfetischismus' aufdrängt.
Mit dem Postulat des gemeinsamen Lebens und Lernens von Kindern mit und ohne Behinderungen ist dieser Weg der Komplexitätsreduzierung durch Aussonderung nicht mehr gangbar. Sollen sich hier alle Kinder gemäß ihren individuellen Bedürfnissen, aber auch im Rahmen einer Gemeinschaft entwikeln können, ist ein(e) Lehrer(in) damit hoffnungslos überfordert. So spricht denn auch BLEIDICK davon, Komplexität werde "kumuliert" (1990a, 47) - dies ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Die mit der Integration gegebene noch größere Komplexität des Unterrichtsgeschehens kann nur von mehreren LehrerInnen in gemeinsamer Arbeit, durch integrative Kooperation (KREIE 1985; vgl. Kap. 3.3.2) geleistet werden. Integrative Kooperation verspricht, nach über 300 Jahren über COMENIUS hinauszuführen, und nicht, wie BLEIDICK vielfach (1989b, 21, 1989c, 35, 1990a, 47, 1990b, 119, 1990c, 28f.) behauptet, systemtheoretisch hinter COMENIUS zurückzufallen. Bereits FECHLER hat 1987 in einem Aufsatz als Konsequenz aus einem Schulversuch in Hildesheim mit dem "Kompagnon-Modell" (1987b; vgl. hierzu FECHLER 1990 sowie Kap. 3.5.2) auf die Möglichkeit wie die Notwendigkeit hingewiesen, die Komplexität des Unterrichtsgeschehens - er bezog dies auf 'normale' Grundschulklassen - durch ein Zwei-LehrerInnen-System zu reduzieren. FECHLER stellt zu den berichteten positiven Erfahrungen auf der Grundlage des Niedersächsichen Kooperationserlasses fest: "Aber was hat das alles schon mit SONDERpädagogik zu tun? Die zweite Lehrerin wird hier noch nicht vom 'schwachen und von Lernbehinderung bedrohten Schüler' her gedacht und legitimiert, sondern von der Schwäche des Systems Unterricht her, das wegen der bisherigen Struktur '1 L - 1 K' (1 Lehrer - 1 Klasse; A.H.) ganz einfach von der Aufgabe überfordert ist, den Bedürfnissen von Schülern und Lehrern gleichermaßen gerecht zu werden" (1990, 10). FECHLER ist zuzustimmen bei der Feststellung, daß binnendifferenzierter und offener Unterricht so lange exotisch bleibt, wie einzelne LehrerInnen ihn alleine bewältigen sollen. Insofern kann es nicht verwundern, daß es im Ein(e)-LehrerIn-System zum großen Teil bei der Dominanz des lehrerzentrierten Frontalunterrichts und bei einer methodischen Monokultur bleibt (vgl. DUMKE 1991b, 35f.).
Die Notwendigkeit zur Veränderung von Schule im Sinne des Aufbaus kooperativer Systeme gilt damit generell und gleichzeitig nur graduell verstärkt für integrative Klassen, die lediglich in höherem Maße heterogene Lerngruppen darstellen als 'normale' Klassen. So nimmt es nicht Wunder, daß dieses als "Zwei-Pädagogen-System" (STOELLGER 1982a) beginnend mit der Einrichtung der ersten Integrationsklasse in der Fläming-Grundschule von 1975 an in den meisten Integrationsprojekten praktiziert wird. Die Kooperation mehrerer PädagogInnen ist somit die Möglichkeit der Wahl für die Komplexitätsreduktion des Unterrichtsgeschehens mit einer extrem heterogenen Lerngruppe. Die integrative Komplexitätreduzierung des Unterrichtsgeschehens statt auf der SchülerInnenseite durch Aussonderung durch Teamarbeit und Kooperation auf der PädagogInnenseite kann in einer schematischen Darstellung verdeutlicht werden:


Abb. 3.4: Segregative und integrative Komplexitätsreduzierung in der Schule
Einzelne LehrerInnen (L) sind mit der Komplexität unterschiedlicher Bedürfnisse innerhalb einer heterogenen Lerngruppe überfordert, Aussonderung wird notwendig; durch das Zwei-PädagogInnen-System kann die Komplexität der Lerngruppe idealerweise so reduziert und bewältigt werden, daß Aussonderung sich erübrigt. Die Kooperation mehrerer PädagogInnen bildet die zentrale Chance, daß sich die integrative Arbeit für Kinder wie für sie selbst gedeihlich entwickeln kann.
Die Kooperation mehrerer PädagogInnen innerhalb eines Teams ist nicht nur eine wichtige "Problemlösung" (WOCKEN 1988e, 200), sondern hat sich gleichzeitig "zum zentralen Problem" (REISER U.A. 1984, 309) der Integrationspädagogik entwickelt. PädagogInnen berichten vom "Gefühl der Überforderung" (SUCHAROWSKI U.A. 1988, 40), von "Unsicherheit im Unterricht", "einer Art Dauerstreß", sie fühlen einen "permanenten Rechtfertigungszwang" und "ständige Imagegefährdung" (1988, 41; vgl. auch SUCHAROWSKI 1990).
In Einzelfällen kommt es zu Zusammenbrüchen von Teams: In den Hamburger Integrationsklassen ist in den ersten fünf Jahren fast jedes zweite Team von einem oder mehreren 'Ausstiegen' freiwillig 'eingestiegener' KollegInnen betroffen gewesen (BOBAN, HINZ & WOCKEN 1988, 277). Kooperation funktioniert weder automatisch, noch ist sie schlicht eine Frage von Glück oder Pech, auch nicht ein Problem, das einfach durch immer mehr Fortbildung zu lösen wäre. Ihr Gelingen ist nicht schon durch gegenseitige Sympathie oder durch Bereitschaft und Idealismus garantiert. Kooperationsprobleme sind die notwendige Folge der Tatsache, daß bisher allein arbeitende LehrerInnen ihren Unterricht dadurch "veröffentlichen" (KREIE 1988, 235f.), daß eine zweite erwachsene Person anwesend ist, gemeinsam mit ihnen agiert und nun die Notwendigkeit des Austauschs über den gemeinsamen Unterricht besteht. Das aber gehört nicht zum bisherigen professionellen Repertoire von LehrerInnen. Durch die Anwesenheit zweier PädagogInnen wird die Komplexität des Geschehens zunächst erhöht; sie kann indessen durch sinnvolle Formen der Kooperation reduziert werden (vgl. Kap. 3.3.1).
Auf der Basis der Frankfurter Erfahrungen entwickelt KREIE (1985) den Begriff der "Integrativen Kooperation". Er bezeichnet "den bewußten Prozeß der Zusammenarbeit von Lehrern/Pädagogen, der getragen ist von dem Bemühen beider, in dem pädagogischen Handlungsfeld einer Grundschule nach dem Modus der Annäherung befriedigende Einigungssituationen herzustellen zwischen innerpsychisch, interpersonell und institutionell widersprüchlichen Bedürfnissen, Grundsätzen, Sichtweisen von Schule und Erziehung, um pädagogische Handlungsspielräume in einem gemeinsamen Lösungsprozeß zu erweitern und sozialisatorische Entwicklungshilfe zu leisten" (1985, 119f.). Wo kein Einigungsprozeß stattfindet, gibt es keine integrative, sondern nur "scheinbare Kooperation" (1988, 237).
In integrativer Kooperation sind alle Ebenen integrativer Prozesse miteinander verwoben: Es geht zugleich um die Wahrnehmung der eigenen und anderer Personen, um die ständige Dialogsituation im gemeinsamen Unterricht mehrerer PädagogInnen, um Einigungen bezüglich des Unterrichtsgeschehens und die eigene Rolle darin, um Möglichkeiten und Beschränkungen durch institutionelle Vorgaben, zu denen man sich verhalten muß, und nicht zuletzt gehen Veränderungen von Berufsrollen und -bildern, beruflichen Leitbildern sowie kollektive gesellschaftliche Denkweisen und ethische Maßstäbe in jeden Einigungsprozeß ein. Entscheidend ist die gegenseitige Akzeptanz und die Bereitschaft zur gemeinsamen Reflexion der Kooperationsprozesse. Die Verwobenheit unterschiedlicher Ebenen integrativer Prozesse geht in WOKENs Strukturanalyse kooperativer Arbeit (1988e; vgl. auch 1991a) ein, wenn er in loser Anlehnung an das TZI-Modell (und an den Frankfurter Integrationsansatz) folgende Problembereiche unterscheidet (Abb. 3.5).
Das Persönlichkeitsproblem (Schwerpunkt innerpsychische Ebene) bezieht sich auf die Bewältigung eben jener Offenheit, die durch die Anwesenheit einer zweiten erwachsenen Person bedingt ist.

Abb. 3.5: Strukturbedingungen kooperativer Arbeit (WOCKEN 1988e, 208)
Zum einen geht es hier um Prozesse der Enthüllung der Rolle, also um die Aufgabe jener bisherigen beruflichen Intimsphäre, die die einzelnen LehrerInnen in ihrer beruflichen Selbstwahrnehmung vor den Blicken und realistischen Einschätzungen der KollegInnen schützte. Deren Enthüllung kann u.U. schmerzliche Prozesse mit sich bringen, wenn beispielsweise das Selbstbild auf "manipulative Selbstzuschreibungen und irrealen Selbsttäuschungen" (WOKEN 1988e, 211) gegründet war. Besonders problematisch wird die Situation für SonderpädagogInnen, wenn einerseits angesichts einer ungenügenden Passung ihrer Förderkompetenzen mit den -bedürfnissen von Kindern innerhalb des Teams "wenig Gelegenheit (besteht), sich als unentbehrlicher, exklusiver Fachmann für besondere pädagogische Problemlagen darzustellen" (1988d, 195), also den SpezialistInnen-Erwartungen der anderen Teammitglieder entsprechen zu können. Andererseits aber können sie aufgrund kurzer Anwesenheitszeiten oder unzureichender Grundschulkompetenz auch nicht die Funktion von für alles zuständigen GeneralistInnen übernehmen. So kommt es zu psychischen Verunsicherungen, zum "Außen-Vor-Gefühl" (1988d, 196) und zu "Kompetenzmonopolzweifeln" (1988d, 197). Es kann für alle Beteiligten die Frage aufkommen, worin eigentlich die spezifische Kompetenz von SonderpädagogInnen besteht, zumal "angesichts der Erfahrungen, daß es in zahlreichen Schulstunden 'auch ohne sie geht'" (HINZ 1990a, 393).
Zum anderen geht Kooperation über den professionellen Bereich hinaus: KooperationspartnerInnen verhalten sich professionell und immer auch als Personen. Prozesse der Enthüllung der Person können noch größere und tiefere Ängste auslösen - und "die Quelle der Angst ist der Kollege" (WOCKEN 1988e, 212).
Das Sachproblem (Schwerpunkt Handlungsebene) bezieht sich auf die "Bewältigung von Heterogenität" (WOCKEN 1988e, 214), und dies in bezug auf PädagogInnen wie auf SchülerInnen - "eine schier unerschöpfliche Quelle für Kooperationsprobleme" (1988e, 215). Bei den PädagogInnen geht es um den Bereich der Vorbereitung, Gestaltung und Nachbereitung von Unterricht, also um das Feld der Didaktik und Methodik. Hier sind vor allem grundsätzliche Einigungen über die "pädagogischen Philosophien" (ANTOR 1987, 100) der Beteiligten gefragt, aber auch methodische Übereinstimmungen in Grundfragen sind notwendig, denn "für gemeinsame Ziele müssen auch einheitliche Mittel und Wege gewählt werden" (WOCKEN 1988e, 218). Den Problemgehalt der Heterogenität bei den SchülerInnen macht WOCKEN im Rückgriff auf das Gleichnis vom verlorenen Schaf und auf die Systemtheorie deutlich. Demnach kann der bei jedem Unterricht spannungsgeladene Widerspruch zwischen der Orientierung an der Klasse als Ganzes oder an einzelnen SchülerInnen, also zwischen der Bezugnahme "auf ein soziales System" und der "auf personale Systeme" (LUHMANN & SCHORR 1979, 122) entstehen. Hier wird also konkret die Notwendigkeit einer Komplexitätsreduzierung wirksam (vgl. Kap. 3.3.1). Dieses dialektische Spannungsverhältnis kann dadurch verschärft werden, daß die Orientierung auf die Klasse häufig mit der Repräsentierung schulischer Anforderungen, die auf einzelne SchülerInnen mit der Repräsentierung kindlicher Bedürfnisse einhergeht (vgl. KREIE 1985).
Als bisherige integrative Lösungsperspektiven für Komplexitätsreduktion nennt WOCKEN Gruppenteilung und Funktionsteilung: Bei Gruppenteilung betreuen beide PädagogInnen unterschiedliche Kindergruppen (so in Teilungsstunden oder bei Gruppenarbeit) und nehmen dabei in etwa gleiche Aufgaben wahr. Dagegen füllen sie bei der Funktionsteilung unterschiedliche Anteile des Unterrichts aus, in klassischer Weise durch die Funktionen Unterrichtsgestaltung und Unterrichtsunterstützung (1988e, 226). Da aber "Rollenstrukturen die Beziehungsstrukturen eines Teams definieren", handeln sie sich mit einer dauerhaften Funktionsteilung eine "asymmetrische Beziehungsstruktur" (1988e, 230) ein. Ob allerdings seine Ableitung, "daß die Bewältigung der Heterogenität von Schülern zu überwiegenden Anteilen nur durch eine asymmetrische, vertikale Arbeitsorganisation zu leisten ist", in jedem Falle richtig, d.h. pädagogisch nur so lösbar ist oder lediglich bisherige (Hamburger) Praxis beschreibt, ist kritisch zu hinterfragen.
Interessant ist in diesem Zusammenhang PRENGELs Feststellung, daß die Zusammensetzung der Teams direkte Auswirkungen auf die Kooperationsstrukturen haben: Wo GrundschullehrerInnen und ErzieherInnen/SozialpädagogInnen zusammenarbeiten, bildet sich eine "sehr stark arbeitsteilige Kooperation" (1990b, 168) heraus mit WOCKENs Funktionsaufteilung und "mit guter Kooperation und hoher Arbeitszufriedenheit" (1990b, 169) - dies ist die eindeutigere Form der Kooperation mit mehr Distanz. Wo Grund- und SonderschullehrerInnen im Zweier-Team arbeiten, bildet sich eine "Tendenz zur gemeinsamen, wesentlich weniger arbeitsteiligen Bewältigung der Aufgaben" (1990b, 169), bei der allenfalls Zuständigkeiten für verschiedene Fächer aufgeteilt werden. Dort reichen die Aussagen zur Zufriedenheit von "problematisch und belastend" bis zur "Begeisterung über die Chance, gemeinsam viel besser arbeiten zu können als allein" (1990b, 169f.) - dies ist eine anspruchsvollere Form der Kooperation mit mehr Nähe.
Das Beziehungsproblem (Schwerpunkt interaktionelle Ebene) ist bereits im letzten Abschnitt angesprochen worden. Hier geht es um die "Bewältigung von Interdependenz" (WOCKEN 1988e, 230), also um die gegenseitige Abhängigkeit der Teammitglieder, die mit dem Abschied von LehrerInnen als alleinigen Souveränen in ihren Klassenzimmern untrennbar verbunden ist. WOCKEN unterscheidet analytisch zwei Bereiche, die der Teilung von Autonomie und von Satisfaktionen.
Bei der "Teilung von Autonomie" (1988e, 231) geht es um das Faktum, daß die Unterrichtung einer heterogenen Schülergruppe eine "funktionsteilige Arbeitsstruktur" (1988e, 231) des Teams erfordert, so daß die Aufgabe "unter der Berücksichtigung der Interessen und Kompetenzen der Teammitglieder unterteilt und auf verschiedene Schultern geladen" (1988e, 231) werden kann. WOCKEN sieht anhand bisheriger Hamburger Integrationsklassenpraxis eine "vertikal differenzierte Rollenstruktur" (1988e, 232) mit Unterrichtsgestaltung und Unterrichtsunterstützung. Sie ist "asymmetrisch und komplementär" (1988e, 232) angelegt, da Unterrichtsunterstützung eine ergänzende, abhängige Tätigkeit in Relation zur Unterrichtsgestaltung ist. Die bei den beteiligten Berufsgruppen vorhandenen Kompetenzen passen insofern zu den beiden Rollen, als GrundschullehrerInnen SpezialistInnen für Unterrichtsgestaltung in der Grundschule sind und ErzieherInnen (oder andere Pädagogische MitarbeiterInnen) über sozialpädagogische Kompetenzen verfügen, mit deren Hilfe sie Sozialisations- und Lernhilfen für einzelne SchülerInnen oder Gruppen geben können. ErzieherInnen - wie auch SonderschullehrerInnen als SpezialistInnen für Kinder mit besonderen Lern- und Entwicklungserschwernissen - verfügen in der Regel nicht über eine vergleichbare grundschulpädagogische Kompetenz wie GrundschullehrerInnen. "Weil aber die unzureichenden Grundschulkompetenzen von Erziehern und Sonderschullehrern eine rotierende Aufgaben- und Rollenverteilung nicht oder nur bedingt zulassen, bleibt es bei der vertikalen, asymmetrischen Rollenstruktur von kooperierenden Unterrichtsteams" (1988e, 236). Diese Situation einer strukturellen Ungleichheit stellt wiederum Anforderungen an die PädagogInnen: Insbesondere SonderpädagogInnen haben Schwierigkeiten mit ihrer "komplementären Interdependenz" (1988e, 236), die ihnen das letzte Wort bei Entscheidungen, "Entscheidungsautonomie und gleiche Verantwortlichkeit" (1988e, 238) verunmöglicht. Trotzdem plädiert WOCKEN für eine eindeutige Verantwortlichkeit und für eine Rollenverteilung im Team, die GrundschullehrerInnen zu dessen LeiterInnen macht.
Daß Eindeutigkeit in der Verantwortlichkeit notwendig ist, zeigen u.a. die unklaren und widersprüchlichen Aussagen aus dem Versuch der Uckermark-Grundschule: Einerseits sind SonderpädagogInnen verantwortlich "für all diejenigen Kinder, die einer zusätzlichen Unterstützung, Betreuung, Förderung bedürfen" (ZIELKE 1988, 227), andererseits sind sie "gemeinsam mit allen in einer Klasse unterrichtenden Lehrern für die Verwirklichung eines integrativen Unterrichts verantwortlich" (1990b, 162). So wird das "Spezialist-Generalist-Dilemma" (WOKEN 1988d, 195) reproduziert.
In diesem Punkt gibt es deutliche Differenzen zwischen WOCKEN und FEUSER. Er vertritt aufgrund Bremer Erfahrungen die Auffassung, "daß weder Regel- noch Sonderpädagogik per se hinsichtlich der integrativen Pädagogik bessere Voraussetzungen entwikelt hätten" (FEUSER & MEYER 1987, 176), d.h. GrundschullehrerInnen haben nach FEUSER nicht einfach kraft Ausbildung und Berufserfahrung eine größere Kompetenz zur Unterrichtung einer integrativen Lerngruppe als SonderpädagogInnen und umgekehrt. Aus FEUSERs Perspektive wäre insofern an WOKEN und anderen AutorInnen zu kritisieren, daß die Veränderungs- und Weiterentwicklungsbedürftigkeit von Grundschulkompetenz nicht klar genug formuliert wird: WOKEN spricht ihr Leitungsfunktion zu, HEYER z.B. lediglich "zusätzliche" Aufgaben (1990c, 165). FEUSER fordert im Gegensatz dazu ein gleichberechtigtes Zwei-LehrerInnen-Team, das die Komplexität der heterogenen Lerngruppe sehr wohl in einer symmetrischen Arbeitsstruktur mit jederzeit möglichem Rollenwechsel bewältigen kann und so der Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit auf PädagogInnenebene am ehesten gerecht würde.
Der zweite Teilbereich betrifft bei WOCKEN die "Teilung von Satisfaktionen", also die "Befriedigungen und emotionalen Belohnungen professioneller Arbeit" (1988e, 239). Konnten einzelne LehrerInnen in ihren Klassen ohne Beobachtung von anderen Erwachsenen bisher die Quellen ihrer Bestätigung autonom definieren, so fällt der Teamsituation nicht nur die Autonomie, sondern auch die Klarheit des persönlichen Anteils an Erfolgen zum Opfer. Daraus entstehende Konkurrenzprobleme können sich auf das Besser-Sein als LehrerIn oder auf die Wichtigkeit des eigenen, zudem in Veränderung begriffenen Aufgabenbereichs beziehen. Hier können kollegiale Wertschätzung und die Beliebtheit bei Kindern und/oder Eltern eine gewisse Ersatzbefriedigung bieten. Sie können jedoch wiederum Quellen von Kooperationsproblemen bilden, muß bei ihnen doch "emotionale Interdependenz" (1988e, 243) bewältigt werden. Konkurrenzprobleme können also sowohl im Hinblick auf Effekte wie auf Affekte auftreten.
Das Organisationsproblem (Schwerpunkt institutionelle Ebene) schließlich trägt auf indirekte Weise aufgrund der vorgegebenen Rahmenbedingungen zu Kooperationsproblemen bei. Hier sind nach WOKEN jene Regelungen bedeutsam, die Kooperation insgesamt erschweren, wie eine zu knapp bemessene Zeit für Kooperationsgespräche, eine ungünstige Teamzusammensetzung, evtl. mit extrem unterschiedlichen Anwesenheitszeiten, evtl. als Drei-Personen-Team - die als schwierigste Gruppenkonstellation überhaupt gilt. Dazu gehört auch die paradoxe Arbeitssituation für SonderpädagogInnen in Hamburg, die einerseits SpezialistInnen für die Kinder mit Behinderungen in der Klasse sein sollen, andererseits nur in zwei von neun sonderpädagogischen Fachrichtungen ausgebildet und in einen kleinen Teil der Schulstunden anwesend sind. Dies ist die Grundlage der Forderung WOCKENs nach einem Zwei-PädagogInnen-Team mit zusätzlichen, schulgebundenen und schulübergreifenden, ambulanten sonderpädagogischen Diensten (WOKEN 1990, zur Aus- und Fortbildung vgl. Kap. 3.3.4).
Und schließlich sind auch administrative Fragen der behördlichen Versorgung integrativer Klassen zu bedenken. FEUSER weist auf diese Problemebene hin, wenn er sagt, es habe "bezogen auf jeden einzelnen Schritt der Entwicklung des Schulversuchs, ob es nun um die Klärung von Stundenfragen, seiner Fortsetzung, einzelner Mittel, Personalzuweisungen u.a. ging, in jedem Punkt z.T. unerträgliche Belastungen gegeben, die unmittelbar auf diesen konfliktträchtigen Boden trafen und bei allen Betroffenen zusätzlich immense Konflikte geschaffen haben" (FEUSER & MEYER 1987, 171). Hamburger Erfahrungen machen darüberhinaus die Problematik der Versorgung integrativer Klassen durch eine desintegrativ organisierte Schulbehörde deutlich, wenn die Abordnung von SonderpädagogInnen für Integrationsklassen von der Sonderschulabteilung neben dem Kriterium der Freiwilligkeit auch nach 'Abkömmlichkeit' vorgeschlagen wird. Letztere ist eine Kategorie, die ein Primat in der personellen Versorgung für die Sonderschulen festschreibt und auch das Abschieben von nicht für gut oder voll arbeitsfähig befundenen KollegInnen ermöglichte (vgl. AG ELTERN FüR INTEGRATION 1988).
Während WOCKENs Analyse in weiten Bereichen auf breite Zustimmung und entsprechende Überlegungen innerhalb der Integrationspädagogik trifft, gibt es in zwei Punkten unterschiedliche Positionen bzw. Unklarheiten.
Zum einen betrifft dies die Frage, wo der Kern des Kooperationsproblems liegt. WOCKEN sieht ihn in der "Bewältigung der Autonomiefrage", der "Bewältigung der Interdependenz durch die Akzeptanz einer asymmetrischen Komplementarität" (1988e, 238f.). Für KREIE ist im Gegensatz dazu "der psychische Entwicklungsstand der Lehrer entscheidend, ihre Selbst- und Fremdwahrnehmung, ihr Selbstwertgefühl in beruflichen Arbeitszusammenhängen" (1985, 117), also das Persönlichkeitsproblem mit der Bewältigung von Offenheit. Diese unterschiedliche Gewichtung hat Auswirkungen auf die inhaltliche Zielperspektive von Hilfs- und Fortbildungsmaßnahmen. WOCKEN plädiert für klare Absprachen über Zuständigkeiten und Arbeitsbereiche und - in gewissem Sinne antipädagogisch - für eine möglichst intensive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, um die dominierende asymmetrische Kommunikationssituation von PädagogInnen zu relativieren. Demgegenüber verweist KREIE auf den "persönliche(n) Entwicklungsauftrag des Lehrers" (1985, 165) und spricht sich für begleitende Supervisionsgruppen aus, die die Fähigkeiten zu Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie zur sprachlichen Reflexion zu fördern versuchen (1985, 166).
Zum zweiten betrifft die Diskussion die Rollenstruktur innerhalb des Teams und deren Grundlagen, zu denen FEUSER eine deutlich andere Position vertritt. Er kritisiert, daß in vielen Integrationsversuchen ein - zuweilen auch ungeklärtes - Grundverständnis der Integration vorzufinden sei, und zeigt zwei idealtypische Grundpositionen auf: 1. "Grundschule und Grundschulunterricht bleiben, wie sie sind, werden aber durch den Grundschullehrer 'so gut wie nur möglich' gemacht. Der Sonderschullehrer ist in der Grundschule der 'Spezialist' für lerngestörte Kinder und vermeidet durch seine Tätigkeit im Unterricht deren Ausgliederung. 2. Grundschule und Grundschulunterricht werden einer Reform derart unterworfen, daß alle Schüler ohne Aussonderung entsprechend ihren individuellen Voraussetzungen und Bedingungen lernen können. Der Sonderschullehrer ist gleichwertiger Partner des Grundschullehrers im Unterricht. Beide führen und begleiten den Unterricht durch planmäßiges neben- und miteinander sowie funktionsteiliges Arbeiten (Team-Teaching/Kompetenztransfer)" (FEUSER & MEYER 1987, 172).
KREIEs Überlegungen, auf denen WOCKEN im wesentlichen aufbaut, basieren auf Erfahrungen aus einem Versuch integrierter Förderung von Kindern mit Lern- und Verhaltensproblemen. Dort ging es zunächst eindeutig um die erste Grundposition. Diese Grundlage aber führt nach FEUSER "zwangsläufig dazu ..., daß es integrierbare und nicht integrierbare behinderte Kinder und Jugendliche gibt" (FEUSER & MEYER 1987, 172). Zwar könnten viele SchülerInnen vor Aussonderung bewahrt werden, aber "ein Unterricht für alle Schüler" (1987, 173) sei so nicht zu realisieren. Er sei erst auf der Grundlage der zweiten Grundposition erreichbar, die von allen Beteiligten "eine völlige Neudefinition ihrer Rollen und Funktionen verlangt" (1987, 173), also auch die der GrundschullehrerInnen. Bisher ist es nach FEUSER Aufgabe und Verdienst von GrundschullehrerInnen, "so viele Schüler als möglich in den vier Grundschuljahren zu so hohen Leistungen als möglich zu bringen" (FEUSER & MEYER 1987, 174), und Aufgabe von SonderschullehrerInnen, "die Regelschule von (...) Störungen (durch lernschwache, -gestörte und behinderte SchülerInnen; A.H.) zu entlasten" (1987, 174), auch wenn oft mit den Möglichkeiten spezieller Förderung argumentiert wird. Dementsprechend sind Grund- wie SonderschullehrerInnen "Lehrer mit spezifischen Kenntnissen und Erfahrungen" (1987, 176), aber nicht per se ExpertInnen für bestimmte Anteile eines integrativen Unterrichts, die schon "für alle Fragen und Probleme Lösungen hätte(n)" (1987, 176). Insofern fordert FEUSER ein Zwei-LehrerInnen-Team, das in einer "lehr- und lernprozeßorientierten Kooperation" (FEUSER & MEYER 1987, 175) gleichberechtigt zusammenarbeitet.
Hier stellen sich mehrere Fragen. FEUSER und WOKEN stehen zunächst einmal für unterschiedliche Herangehensweisen und Positionen. FEUSER fordert aufgrund theoretischer Erkenntnisse normativ Strukturen (vgl. hierzu Kap. 3.5.1) und versucht sie im Rahmen begrenzter Versuche zu entwikeln. WOCKEN geht pragmatisch von Vorhandenem aus und will auf breiterer Basis integrative Entwicklung vorantreiben. Beide stellen damit Pole im Spannungsfeld zwischen Zielperspektive und Realität, zwischen Ansprüchen und Vorhandenem, zwischen Soll- und Ist-Zustand dar. Die bislang unbeantwortete Frage ist allerdings, ob einerseits über den Weg der ersten von FEUSER formulierten Grundposition Entwicklungen zur zweiten hin möglich sind und andererseits die Erfüllung seiner theoretisch als "notwendig" und "unverzichtbar" erklärten Ansprüche in begrenzten Projekten - von ausgeweiteter Praxis ganz zu schweigen - realistisch zu erwarten ist. Andersherum ausgedrückt: Bei FEUSERs Forderungen stellt sich die bedrohliche Frage nach einer durch Aus- und Fortbildung parallel zur Unterrichtsarbeit komplett neu zu bildenden LehrerInnenpersönlichkeit, die zur Erfüllung seiner theoretischen Ansprüche wohl erst in der Lage wäre. Bei WOCKENs Überlegungen stellt sich Unbehagen ein in bezug auf eine additive Tendenz: Hier drohen SpezialistInnen in einem wenig in Frage gestellten Grundschulunterricht mit GrundschullehrerInnen als TeamleiterInnen mit behinderten Kindern zu arbeiten, ohne daß eine andere Zielperspektive angedeutet und damit Orientierungshilfen gegeben würden.
Weiter stellt sich die Frage, worin das Spezifische der ExpertInnen "SonderpädagogInnen" besteht, vergegenwärtigt man sich etwa die Überlegungen von REISER und EBERWEIN zur 'Entmystifizierung' der Sonderpädagogik, nach denen sich sonderpädagogische Kompetenz um nichts als eine vertiefte allgemeine Pädagogik bemüht, ergänzt um manche nützliche Techniken und spezielle Maßnahmen (vgl. Kap. 3.5.1). Daß derartige Überlegungen keine akademische Verbalakrobatik sind, wird bei SonderpädagogInnen in der integrativen Praxis am Problem deutlich, ihre besondere Fachkompetenz, besonders wenn es um Lern- und Verhaltensprobleme geht, hinreichend zu belegen (vgl. ZIELKE 1988, 1990b). Insofern erscheint die Beschränkung von SonderpädagogInnen auf die Kinder mit Behinderungen bei WOCKEN (sei es im Sinne der Prävention an der Schule oder im Sinne der Ambulanz im Förderzentrum) als problematische Unklarheit, denn Bemühungen um eine vertiefte Pädagogik können weder kontinuierliche Absprache und gemeinsame Entwicklung mit GrundschullehrerInnen, noch den größten Teil der Kinder aussparen. SonderpädagogInnen als ExpertInnen kann es, abgesehen von gewissen nützlichen Techniken und speziellen Maßnahmen, nur so lange geben, wie Grundschulpädagogik eine reduktionistische, verflachte allgemeine Pädagogik praktiziert. Wenn also WOCKEN auf der SpezialistInnenrolle von SonderpädagogInnen beharrt, so könnte dies eine bedenkliche Tendenz zur Verfestigung alter Rollenstrukturen bedeuten, in dem Sinne, daß entsprechend REISERs These von der "sonderpädagogischen Verseuchung der allgemeinen Schule" (1989a, 163) bei der schon durch die Anwesenheit von SpezialistInnen die Zuständigkeit für bestimmte Kinder um so eher an sie delegiert wird (vgl. Kap. 3.5.2 sowie HINZ 1990a).
Dem Problem der Rollendefinition von Teammitgliedern wendet sich REISER zu, wenn er "die positiven Ausprägungen allgemeinpädagogischer und sonderpädagogischer Erfahrungen" (1989b, 321) betrachtet. Danach ermöglicht Arbeitserfahrung in Sonderschulen "einen Blick auf die individuellen Entwicklungsimpulse und Entwicklungschancen der einzelnen Schüler und entwickelt das Geschick, auch unter erschwerten Bedingungen auf kleinste Entwicklungsschritte und dezenteste Entwicklungsimpulse zu antworten und sie zu ermutigen" (1989b, 321f.). Arbeitserfahrung in Grundschulen ermöglicht "einen Blick auf die Bearbeitungsmöglichkeiten, die in einem Unterrichtsstoff liegen und entwickelt im positiven Fall ein Geschick, Aufgaben, Impulse, Lehrarrangements zu erfinden und bereitzustellen, mit denen die Mehrheit der Kinder gerne arbeiten" (1989b, 322). GrundschullehrerInnen zielen also von ihrem Aufmerksamkeitshorizont her mehr auf die Sache, SonderschullehrerInnen mehr auf das einzelne Kind. Pädagogische MitarbeiterInnen, meist ErzieherInnen oder SozialpädagogInnen, bringen als dritten Blickwinkel "die Beachtung der Gruppe, ihrer Aktivitäten und Entwicklungen" (1989b, 322) ein. Somit sind entsprechend dem TZI-Modell die didaktischen Elemente von Unterricht bei den beteiligten PädagogInnen in unterschiedlicher Gewichtung im Blick (vgl. Kap. 3.3.3).
Entscheidend für die Kooperation ist sicherzustellen, daß die Herstellung der dynamischen Balance zwischen den Elementen Sache, Einzelne, Gruppe und Rahmenbedingungen vom ganzen Team als gemeinsame Aufgabe, als "Kern der allgemeinpädagogischen Kompetenz" (REISER 1989b, 323) wahrgenommen wird, also Prozesse der "Ergänzung" von Kompetenzen und des "Kompetenztransfer" stattfinden. Nimmt jedes Teammitglied nur die Bereiche eigener Kompetenz und Zuständigkeit wahr, kommt es zu Prozessen der "Polarisierung" (1989b, 323), die langfristig Kooperation unmöglich machen (vgl. KREIE 1985, 116).
In REISERs Ausführungen ist explizit die Dynamik und Prozeßhaftigkeit der Kooperation angesprochen worden. Schon sie bedingt, "daß Kooperationsprobleme der Normalfall sind und auch so gewertet werden müssen" (WOCKEN 1988e, 264) und "daß Schwierigkeiten den Kooperationsbeziehungen inhärent sind und diese immer zuerst als kreative psychische Bewältigungsstrategien zu sehen sind" (KREIE 1985, 172). Dabei spielen die zeitlichen und räumlichen Grunddimensionen der Teamarbeit eine wichtige Rolle: Teamarbeit vollzieht sich zweifach in einem labilen Spannungsverhältnis. In der räumlichen Beziehungsdimension stehen sich einerseits das "Streben nach Nähe", nach Gemeinsamkeit, und andererseits das "Bedürfnis nach Distanz" (SCHLEY 1989d, 343), nach Unabhängigkeit und Individualität gegenüber. Diese Dimension entspricht exakt der von integrativen Prozessen auf der interaktionellen Ebene. Sie wird ergänzt durch die zeitliche Dimension zwischen den Polen "Streben nach Dauer" (1989d, 344), nach Verläßlichkeit und klaren Abläufen und mit der Gefahr der Erstarrung, und der "Lust auf Wechsel" (1989d, 344), auf Dynamik, auf Weiterentwicklung, auf Flexibilität, aber auch mit der Gefahr permanenter Ruhelosigkeit und des Treiben-Lassens. Zwischen diesen vier Polen wird sich Teamarbeit in einer immer wieder veränderten Gewichtung bewegen. Dabei wird, wie SCHLEY nach einer PädagogInnenbefragung feststellt, innerhalb dieser inneren Schulreform "eine Kultur der Nähe und der Veränderung ... quasi großgeschrieben" (1989c, 296).
Die Verknüpfung beider Grunddimensionen trägt zu typischen Verläufen von Teamarbeit bei. Danach lassen sich generell vier Phasen unterscheiden, die z.B. auch konkret in der Arbeit des Teams der beiden ältesten Integrationsklassen an Hamburger Gesamtschulen zu finden sind: In der ersten Phase der Orientierung ist eine Tendenz zur Anfangseuphorie auszumachen, das Gemeinsame und Einigende dominiert. Diese Betonung der Annäherung ist jedoch nicht auf Dauer durchzuhalten. In der folgenden, zweiten Phase der Gärung und Klärung tritt nun das Unterscheidende, Individuelle, tritt Abgrenzung hinzu. Konflikte werden deutlich, Aggression und Gegensätzlichkeit im Denken und Fühlen werden stärker zugelassen. Aber auch Verletzlichkeit und Schwäche werden deutlicher und tragen zu mehr Vertrautheit bei. Und so werden auch neue Verabredungen, Regelungen und Verfahrensweisen möglich. Nun folgt als drittes die Phase der Arbeitslust und Produktivität. Die Verschiedenheit von Personen, Erfahrungen, Zugangsweisen, Interessen etc. kann von der Gruppe produktiv genutzt werden, Ergänzung ohne Symbiose ist möglich. In der vierten Phase des Transfers schließlich hat sich Routine entwikelt, der Blick ist nun wieder frei für weitere Perspektiven, neue Utopien und andere Bereiche (vgl. SCHLEY 1989d).
Wie SCHLEY betont, kommt "kein Team (...) ohne eine chaotische Zeit der Gärung und Klärung aus" (1989d, 340). Da jedoch die meisten PädagogInnen mit der Krise gleich "das Ende der Gemeinsamkeit heraufziehen" sehen (1989d, 346), ist es um so wichtiger, daß sie ein Wissen über diesen regelhaften Verlauf von Gruppenprozessen haben. Dementsprechend "sind Krisen nicht zu begreifen als Ausdruck des Scheiterns, sondern als Umbrüche, die in gemeinsamer Verantwortung getragen und verarbeitet werden müssen" (1989a, 17).
Die Komplexität der Kooperationssituation multiprofessioneller Teams in Integrationsklassen macht einen intensiveren Blick nötig, welche Rollendefinitionen und Aufgaben den einzelnen Berufsgruppen über die auf der bisherigen Erfahrungsbasis aufbauenden Aufmerksamkeitshorizonte hinaus zugeschrieben werden.
In der Literatur nehmen die SonderpädagogInnen den breitesten Raum ein, da sich ihre Arbeitssituation am dramatischsten verändert: Ihre situativen Bedingungen verändern sich grundlegend, indem sie ihre 'eigene' Klasse, 'eigene' Kinder verlieren und stattdessen nun in einer Kooperationssituation "Arbeit mit Kindern und Arbeit für Kinder" (HINZ 1990a, 393; vgl. auch ZIELKE 1988) 'in den Klassen anderer' zu leisten haben. Damit werden sie jedoch gleichzeitig, wie WILKEN kritisiert, auf die Rolle von - tendenziell therapeutischen - SpezialistInnen reduziert, die nur noch einen kleinen Ausschnitt des integrativen Alltags wahrzunehmen im Stande sind (1987, 40). Weiter soll sich ihr Selbstverständnis zu neuen Qualitäten hin entwikeln (HINZ 1990a, 394f.): "vom Vorgesetzten zum Lernhelfer", "von der Defizit- zur Kompetenzorientierung", "von der Fixierung auf isolierte individuelle Förderung zur Offenheit für gemeinsame Lernsituationen", "von der Einzelarbeit zur Teamarbeit" - Orientierungen, die als Zielperspektive ebenso auch für die anderen Berufsgruppen zutreffen.
Die Situation der Grund- bzw. SekundarschullehrerInnen wird zwar auch reflektiert, wenn auch die Veränderungen ihrer Rolle und ihres Selbstverständnisses gewiß nicht derart grundlegend sind. Jedoch ließen sich nicht nur "zusätzliche Aufgaben und Tätigkeiten" (HEYER 1990c, 165) beschreiben, sondern ebenso Veränderungen in der Beziehung zu den Kindern, in der Orientierung von der Gruppe zur Individualität, vielleicht von der überbetonten Sachorientierung zur 'Wiederentdekung' der SchülerInnen und auch von der individuellen Arbeit der Kinder zum produktiven Miteinander der Verschiedenen in Dialogsituationen. Hier besteht erheblicher Nachholbedarf.
Anders stellt sich die Situation für die dritte Berufsgruppe, die Pädagogischen MitarbeiterInnen, meist ErzieherInnen, SozialpädagogInnen, vereinzelt auch TherapeutInnen, dar. In jenen Projekten, in denen sie "interessanterweise (tätig) sind" (REISER 1989b, 322), so etwa in der Fläming-Grundschule, in Hamburger Integrationsklassen im Primar- und Sek I-Bereich, anfangs in der Mainzer Hartenberg-Grundschule sowie z.T. in Hessen und Niedersachsen (vgl. HöHN 1990), wird ihre Mitarbeit geschätzt: "In Hamburg hat sich die Zusammenarbeit von Grundschullehrern/innen und Erziehern/innen gut bewährt" (H. MüLLER 1988, 41), "die Mitarbeit der Erzieher (wird) von allen als nützlich und notwendig empfunden" (WOKEN 1988d, 185). Nur blieb es bisher bei diesen pauschalen Aussagen, obwohl auch für diesen Personenkreis die Rollenfindung als in Schule und Unterricht Tätige kein einfaches Unterfangen darstellen kann.
Die Herausforderung einer integrativen Didaktik liegt in der Realisierung der Balance von Gleichheit und Verschiedenheit und von Gemeinsamkeit und Individualität im Unterricht. Hierbei ist zunächst zu klären, worin das verbindende Gemeinsame besteht. Zum zweiten ist die Frage zu bearbeiten, inwieweit integrative Didaktik eine neue, andere Didaktik darstellt. Drittens ist ihr methodisches Repertoire zu betrachten.
Mehrfach wird in der Literatur darauf hingewiesen, daß die Bedeutung kooperativer Tätigkeit nicht nur auf die PädagogInnen, sondern auf alle am Unterrichtsgeschehen Beteiligten zu beziehen ist (z.B. FEUSER & MEYER 1987, 172), und daß eine Analogie zwischen der Gestaltung integrativer Prozesse zwischen PädagogInnen und SchülerInnen besteht, in der die Kooperation der PädagogInnen für die SchülerInnen u.U. als "Modellverhalten" (HEYER 1990a, 82) wirksam werden kann. Durch die Gemeinsamkeit der Kinder kann ihre Verschiedenheit erst als Chance ergriffen und produktiv genutzt werden - und so kann erst integrative Qualität eines Unterrichts entstehen, die die Gleichheit und die Verschiedenheit von Kindern berücksichtigt (vgl. REISER 1991, 23-25).
PädagogInnen stehen mit dem integrativen Unterricht also vor der permanenten Aufgabe, unterrichtliche Gemeinsamkeit herzustellen, denn es besteht die "Gefahr, in die Strukturen der am Klassendurchschnitt orientierten Regelschule hineinzuschlittern. Dann spaltet sich die Integrationsklasse; die nichtbehinderten Kinder lernen im Gleichschritt das Pensum der Jahrgangsklasse und die behinderten Kinder werden als gesonderte Gruppe und mit Extra-Materialien auf einfachem Niveau meist von der Co-Lehrerin unterrichtet" (PRENGEL 1989a, 208) - die Umformung von Integration zur Zusammenlegung unveränderter Grundschul- und Sonderschulpädagogik wäre damit vollzogen.
Das unverzichtbare Zentrum der unterrichtlichen Gemeinsamkeit innerhalb integrativer Pädagogik ist am prägnantesten von FEUSER formuliert worden (vgl. Kap. 2.1.2). Er konkretisiert seine didaktische Grundlage einer allgemeinen, basalen Pädagogik in folgenden Überlegungen: Entgegen bisheriger Dominanz der Sachebene im Unterricht legt FEUSER größten Wert auf eine gleichgewichtige Analyse der Sachstruktur und der Tätigkeitsstruktur des einzelnen Kindes. Auf der Grundlage der sowjetischen Psychologie (LEONTJEW, GALPERIN) kann so die "Zone der aktuellen Entwicklung" und die "Zone der nächsten Entwicklung" bestimmt werden. Die didaktische Planung geht von den Voraussetzungen der SchülerInnen auf die in der Sache enthaltenen Qualitäten zu und erstellt eine Analyse der Handlungsstruktur, "aus der sich die wechselseitigen Austauschbeziehungen des Schülers mit seiner (Lern- und Lebens-)Umwelt ... ergeben" (1988, 174).
Integrative Didaktik ist so die Konkretisierung der Einigung zwischen widersprüchlichen Tendenzen auf der Handlungsebene: "Schulische Vorgaben, die Herausforderung an Kinder, unter Anleitung gemeinsam in einer Institution zu arbeiten (werden) verbunden (...) mit Offenheit für die Individualität jedes einzelnen Kindes (ob mit oder ohne festgestellte Behinderung), seine Selbständigkeit, Verantwortlichkeit und Kreativität" (PRENGEL 1989a, 208).
Der Begriff des 'gemeinsamen Gegenstandes' (FEUSER 1984a, 18) hat viele Unklarheiten aufkommen lassen. Teilweise wurde er in zu enger Definition mißverstanden als gleicher Inhalt, teils in übergroßer Ausweitung als "Leerformel" bezeichnet, nach der z.B. als gemeinsamer Gegenstand formuliert werden könnte, "daß sowohl der Mediziner, der eine komplizierte Operation ausführt, als auch der Reinigungstrupp, der nachher saubermacht, am gleichen Inhalt tätig sind" (BLEIDICK 1989a, 45, 1991, 466). Solche inhaltlichen Karikaturen werden natürlich FEUSERs Anliegen nicht gerecht. Spätere Erklärungsversuche (FEUSER 1988, 1989, 1990), vergleichen den gemeinsamen Gegenstand mit dem "Inneren des Baumstammes, das sich aus seinen Wurzeln der historischen Entwicklung der Wissenschaften bis zum heutigen Erkenntnisstand der Einzelwissenschaft speist, (er) ist das innere Wesen der äußeren Erscheinung eines Projektes in seinen astartigen Ausdifferenzierungen und seinen Verzweigungen", letztlich "der zentrale Prozeß, der hinter den Dingen und beobachtbaren Erscheinungen steht und sie hervorbringt" (FEUSER 1988, 176f.).
Diese Baumstruktur erfordert die ausschließliche unterrichtliche Arbeit in Projekten. Nur sie ermöglicht die Arbeit am 'gemeinsamen Gegenstand' mit individualisierten Lernzielen auf unterschiedlichen kognitiven Niveaus und mit unterschiedlichen Abstraktionsgraden ohne eine inhaltliche Zersplitterung, die für FEUSER einen Rückfall in separierende Strukturen bedeuten würde. Problematisch erscheint jedoch die ausschließliche Orientierung des 'gemeinsamen Gegenstandes' an der Wissenschaftssystematik. Wenn FEUSER etwa als Beispiel anführt, der Gegenstand des Projektes "Ernährung", bei dem u.a. Gemüse eingekauft, gekocht und gegessen wird, seien die Gesetze der Thermodynamik (1990, 63f.), so erscheint dieses zwar theoretisch stringent abgeleitet, es droht jedoch den SchülerInnen verborgen und auf das Bewußtsein der PädagogInnen beschränkt zu bleiben. So wichtig die theoretische Vorstellung der Herstellung inhaltlicher Gemeinsamkeit durch den 'gemeinsamen Gegenstand' als Anregung und Herausforderung für die Unterrichtspraxis ist, so unkonkret bleibt sie bisher. In der Praxis kommt es mitunter zu einer Tendenz der krampfhaften Verbindung unterschiedlichster Tätigkeiten unter diesem theoretischen Leitgedanken. Dennoch bleibt es das Verdienst von FEUSER, eine theoretische Leitvorstellung entwickelt zu haben, die für die Praxis richtungsweisend, wenn auch nicht leicht zu realisieren ist.
Anders als FEUSER gehen MEIER & HEYER (1988) von dem in der Weimarer Verfassung verankerten und bis heute nicht eingelösten Postulat der Grundschule als "Schule für alle Kinder des Volkes" und von der Grundschulreform aus. Ihrer Herangehensweise nach muß die Grundschule Handlungsspielräume für die SchülerInnen eröffnen, ihre sozialen Bedürfnisse müssen für wichtig genommen, ihre Neugier und Lernbereitschaft erhalten und gefördert werden. Für MEIER & HEYER ist das zentrale Anliegen des integrativen Unterrichts die "Erziehungsarbeit in Situationen, an Aufgaben und Sachen" (1988, 184). Dabei wirken gemeinsame und individuelle Vorhaben zusammen, eingefaßt von gemeinsamen (Anfangs- und Schluß-)Ritualen. Wichtig ist ihnen gemeinsames Spielen und Singen als wichtige Dimension von Lernprozessen und die gemeinsame Reflexion von Arbeitsvorhaben und Situationen. Für MEIER & HEYER gilt es explizit nicht, eine "besondere Integrationspädagogik und Integrationsdidaktik" zu schaffen, sondern "eine 'gute Grundschule' für alle Kinder des Volkes zu sichern" (1988, 188).
Aus den Unklarheiten bzw. der Kritik am zentralen Begriff des 'gemeinsamen Gegenstandes' von FEUSER heraus entwickelt WOCKEN (1987b, 72) den vorsichtigeren Begriff der "gemeinsamen Lernsituationen", in denen der Anspruch der Kooperation nicht in gleicher Weise wie bei FEUSER enthalten ist. Nach WOCKEN ist integrativer Unterricht ein "schwieriger Balanceakt" "zwischen individuellen Lernsituationen einerseits, damit jedes Kind zu seinen Möglichkeiten findet, und gemeinsamen Lernsituationen andererseits, damit die soziale Integration der Kindergruppe gefördert wird. ... Das dialektische Spannungsverhältnis von individuellen und gemeinsamen Lernprozessen muß in ausgewogener Weise zur Geltung kommen" (WOKEN 1987, 75). Dies ist die Konkretisierung der Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit auf der Unterrichtsebene: "Vernachlässigte man die Individualität des einzelnen Schülers, entstünde Gleichbehandlung nach Art eines Kasernenhofes, vergäße man die Gemeinsamkeit der Gruppe, entstünde Vereinzelung wie vor dem Datensichtgerät" (HINZ 1990b, 135).
In seiner nach Interaktionsstrukturen differenzierenden Systematik unterscheidet WOCKEN vier Typen gemeinsamer Lernsituationen (nach WOCKEN 1988i): Kooperative Lernsituationen enthalten das wechselseitige Zusammenwirken zweier Interaktionspartner, die sich gegenseitig beeinflussen, aber gleichzeitig die eigene, individuelle Handlungsplanung aufrechterhalten. Dieses ist für WOCKEN die höchste Ausprägung gemeinsamer Prozesse, nicht aber als "notwendige", "unverzichtbare" Grundlage wie bei FEUSER. Komplementäre Lernsituationen bezeichnen eine asymmetrische Interaktion, bei der ein Interaktionspartner den anderen in seiner Handlungsplanung mehr beeinflußt als umgekehrt; das Paradebeispiel hierfür ist die Situation, in der ein Partner einem anderen hilft. Kommunikative Lernsituationen zeichnen sich dadurch aus, daß beide Partner sich aufeinander beziehen, der Interaktion aber keine gemeinsame Handlungsplanung zugrundeliegt. Solche Situationen ergeben sich z.B. während der Freiarbeit, wenn quasi 'nebenbei' Gespräche geführt werden. Koexistente Lernsituationen sind dann gegeben, wenn es keine direkte Einflußnahme und Interaktion miteinander gibt, der eine Partner für den anderen jedoch trotzdem eine Bedeutung hat. Beispiel: Ein Kind haut während des Bastelns mit der Schere rhythmisch auf den Tisch, ein anderes sagt zu ihm: "Hör auf damit, die Ira (ein Kind mit schwerster Behinderung) erschrickt sich immer so." Zwischen dem Jungen und Ira ist nichts direkt Interaktives abgelaufen, trotzdem hat Ira und ihre Anwesenheit für ihn eine Bedeutung, die seine Aktivitäten beeinflußt. Es macht einen bedeutenden Unterschied, ob Ira da ist oder nicht.
Die Stärke der Systematik von WOCKEN liegt darin, daß sie zum einen eine klarere Definition für Situationen und Zusammenhänge gibt, in denen sich Gemeinsamkeit ereignet, und daß Kooperation andererseits nicht zum einzig gültigen Maßstab gemacht wird, an dem gemessen jene Bereiche, die ihn nicht erreichen, für nicht integrativ erklärt werden. Unter Umständen kann für ein Kind und seine Klasse in einer konkreten Phase nicht mehr Gemeinsamkeit möglich sein als koexistente Lernsituationen - sei es durch Notwendigkeiten des einzelnen Kindes, das nicht mehr Gemeinsamkeit ertragen kann, sei es durch die Konstellation in der Klasse oder sei es durch individuelle Begrenztheiten der PädagogInnen. Trotzdem ist nicht an der Sinnhaftigkeit der, wenn auch noch so beschränkten, Gemeinsamkeit zu zweifeln. Kommunikative Lernsituationen erfüllen nicht die Bedingung der Kooperation, sind aber nach eigenen Beobachtungen die zentralen Situationen, in denen die SchülerInnen ihre Beziehungen klären.
Ein weiterer Vorteil der Systematik von WOCKEN - wie auch der Beobachtung integrativer Prozesse nach dem Frankfurter Ansatz - ist der, daß dort Ernst gemacht wird mit dem Prinzip des Dialogischen, indem man sich bemüht, die in den Prozessen des Lernens enthaltenen Qualitäten herauszulesen. PRENGEL formulierte einmal, sie seien der Praxis abzulauschen. Hierauf zielt SCHLEY, wenn er feststellt, daß im Verlauf der Entwicklung integrativer Unterrichtspraxis unterschiedliche Aufmerksamkeitsdimensionen verfolgt wurden. Schließlich rückte in den Vordergrund, daß nicht die inhaltliche Verbindung der Arbeiten unterschiedlicher Kinder das Entscheidende sei, sondern die Gestaltung von Dialog-Situationen, in denen Intersubjektivität, das Sich-Hineinversetzen in die Perspektive anderer, als wichtiger Teil der Persönlichkeitsentwicklung möglich ist (1991, 13).
Dialogische Entwicklung kann nicht allein vom Aspekt der Wissenschaftssystematik her geplant und dann dementsprechend umgesetzt werden. Ansätze wie der von FEUSER laufen Gefahr, daß theoretisch abgeleiteten Entwicklungsschemata das Dialogische im Lernprozeß des einzelnen Kindes in den Hintergrund zu verbannen drohen. Wird indessen Ernst gemacht mit dialogischen Prinzipien, "sollten wir zuallererst die 'Anfragen' der Kinder studieren und sie als Vorschläge verstehen. Unsere Angebote sind als Gegenvorschläge zu konzipieren, nicht nur als die Reise zu der von uns antizipierten 'Zone der nächsten Entwicklung', wenn das Reden von einer dialogischen Erziehung einen Sinn machen soll" (KLEIN U.A. 1987, 50).
Andererseits kann eine Überbetonung des Situationsbezuges dazu führen, daß Kinder mit Behinderungen durch Ad-hoc-Modifikation unverbundene inhaltliche Bröckchen eines Grundschulcurriculums geboten bekommen. So bietet sich ihnen keine Möglichkeit kontinuierlicher Entwicklung, sondern nur eine Folge punktueller Lernanreize (vgl. WILKEN 1991). FEUSER bezeichnet diese Struktur, bei der diese Kinder 'auch etwas tun', in angemessener Bissigkeit als untaugliche 'Auch-Pädagogik', die am Kern der Integration vorbeigeht. Es muß um eine dynamische Balance zwischen situativen Elementen und Bedürfnissen und dem systematischen Wissen um Entwicklungsprozesse als Hintergrund gehen, der - auch nach den Fähigkeiten der PädagogInnen - unterschiedlich gestaltet werden wird.
Mit der Balance von gemeinsamen und individuellen Lernsituationen als unterrichtliche Konkretisierung der Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit ist die Notwendigkeit der Individualisierung angesprochen, die bei jedem Unterricht in jedweder Klasse vonnöten ist, in integrativen, bewußt heterogenen Lerngruppen aber unumgehbar wird. Individualisierung wird dabei auf drei Ebenen wirksam (WOKEN 1989): Bei den Zielen verlangt integrativer Unterricht von jedem Kind das, was es leisten kann, "nicht mehr, aber auch nicht weniger" (1989, 10), dies ist das Prinzip des zieldifferenten Lernens. Bei den Methoden bekommen Kinder die individuell notwendigen Hilfen für individuelle Lernwege. Bei der Leistungsbewertung werden nicht alle Kinder über einen Leisten gebrochen, sondern die Leistungen jeden Kindes nach seinem eigenen Maßstab in Form eines Berichtes, anstatt durch Zensuren, bewertet (vgl. hierzu Kap. 3.5.1).
Wie die bisherigen Ausführungen zu Gemeinsamkeit und Individualisierung gezeigt haben, stehen integrativer Unterricht und seine Didaktik im Kern vor der Aufgabe, mit einem Team aus gleichen und verschiedenen PädagogInnen, dessen Mitglieder auf mehr oder minder unterschiedliche Aufmerksamkeitshorizonte zielen, die Balance zwischen individuellen und gemeinsamen Lernsituationen herzustellen. Die Aufmerksamkeitshorizonte der PädagogInnen richten sich dabei - im Sinne ergänzender Kooperation - entsprechend den berufsgruppenbezogenen Erfahrungen schwerpunktmäßig auf die Sache, auf den Einzelnen, auf die Gruppe und die Lebensumwelt (vgl. REISER 1989b, Kap. 3.3.2). Damit sind in den drei Berufsgruppen die drei Elemente der Didaktik verkörpert; durch integrative Kooperation sollen sie in eine "dynamische Balance" (1989b, 323) gebracht werden. Nach dem TZI-Modell, in Entsprechung zur Theorie integrativer Prozesse, läßt sich die Struktur wie folgt darstellen:

Abb. 3.6: Modell einer integrativen Didaktik (REISER 1989b, 323)
Für den integrativen Unterricht gilt: "Der Prozeß des schulischen Lernens ist so zu gestalten, daß er den einzelnen Beteiligten / dem 'Ich', der Gruppe, d.h. ihrer Beziehungsstruktur und -dynamik / dem 'Wir' und dem Unterricht in seinen verschiedenen Aspekten / dem 'Thema' gleichermaßen gerecht wird" (COWLAN U.A. 1991a, 127). Integrativer Unterricht zeigt damit eine Zielperspektive an, auf die hin er sich entwickeln soll, gleichzeitig ist er ein Prozeß auf dem Wege dorthin.
Weiter macht diese Abbildung deutlich, daß integrative Didaktik keine grundsätzlich neue Didaktik ist. In sie gehen keine anderen Elemente ein als in Strukturen der allgemeinen Didaktik. "Integrative Pädagogik und Didaktik ist nichts anderes als Pädagogik und Didaktik für heterogene Lerngruppen und deshalb nichts anderes als Pädagogik schlechthin" (REISER 1990c, 264).
Eine spezielle integrative Didaktik wäre auch nicht wünschenswert, förderte sie doch die Entwicklung der Integrationspädagogik als einer zusätzlichen 'Sonderpädagogik für Integration'. Insofern nimmt integrativer Unterricht lediglich Elemente auf, die aus der allgemeinen Pädagogik bekannt sind, und entwikelt sie weiter. Unterschiedlich ist integrative von - üblicher - allgemeiner Didaktik insofern, als sich in der integrativen Situation das Strukturelement "Gruppe" und das Element "Einzelner" in anderer Qualität und Anforderung darstellt und andere Bezüge mit der "Sache" fordert als in Regelschulsituationen. Diese qualitativen, jedoch nicht strukturellen Unterschiede sind es, die PETERS in bezug auf ihren Mathematikunterricht in der Sekundarstufe I deutlich macht: "Man könnte vermuten, daß in Integrationsklassen dieses Problem (der Über- bzw. Unterforderung von SchülerInnen; A.H.) noch größer sei. In der Praxis ist dies jedoch nur ein gradueller Unterschied" (1989, 194; vgl. RIEDEL 1991, 450).
Gleichwohl sind deutliche Unterschiede festzustellen zu einer Unterrichtspraxis einer homogenisierenden Gleichschritts-Didaktik; dementsprechend ist auch PRENGELs Äußerung zu verstehen, "daß die Didaktik des integrativen Unterrichts sich grundsätzlich von der Didaktik des gleichschrittigen Lernens in der homogenen Jahrgangsklasse unterscheidet" (1990b, 215). Dieses gilt jedenfalls dann, wenn sich die didaktische Planung im Alltag gemäß Abb. 3.6 wie eine "aus dem Nebel ragende Bergspitze" vollzieht, wenn lediglich der Sachaspekt klar gesehen wird, Ich- und Wir-Aspekt dagegen wie im Nebel zu verschwinden drohen.
Es stellt sich nach diesen theoretischen Ausführungen die Frage, ob und wie in Integrationsprojekten die Ansprüche einer integrativen Didaktik eingelöst werden. Hierzu liegen methodisch sehr unterschiedliche Untersuchungen aus den Bonner und den Hessischen Integrationsversuchen vor. Der empirischen Beschreibung integrativen Unterrichts wenden sich DUMKE, KELLNER & KRANENBURG (1991) zu. Sie vergleichen den Unterricht in den Integrations- und Parallelklassen (IK und PK) der drei Bonner Integrationsprojekte (Grundschule Friesdorf [GF], Gesamtschule Beuel [GS], Grundschulen Beuel [GB]; Angaben je in % der Zeit).
Bezüglich der vorgegebenen bzw. frei gewählten Lehrinhalte ergibt sich folgendes Bild: Nach wie vor dominiert in allen Klassen der Unterricht mit von den LehrerInnen vorgegebenen Lehrinhalten (zwischen 73 und 94 %). In den Integrationsklassen - und dort mehr in der Primar- (21 bzw. 22 %) als in der Sekundarstufe (11 %) - nimmt jedoch die Freie Arbeit mit einem Fünftel der Zeit auch quantitativ eine wichtige Stellung ein, während sie in den Parallelklassen im Primarbereich (GF 12 %, GB 3 %) deutlich seltener praktiziert wird (1991, 113).
Die gleichen Tendenzen zeigen sich auch beim Einsatz von Unterrichtsmitteln: Hier dominieren Lernmittel (in der Hand der SchülerInnen; GF 68 bzw. 63 %, GS 57 bzw. 59 %, GB 62 bzw. 52 %) gegenüber Lehrmitteln (in der Hand der LehrerInnen). Lediglich die Parallelklassen des Beueler Flächenversuches zeigen wiederum ein höheres Maß an LehrerInnenzentrierung (22 % gegenüber 10 bis 16 %; 1991, 115).
Weiter ist die Aufgabenstellung im integrativen Unterricht von Bedeutung. Soll sie einer heterogenen Lerngruppe gerecht werden, muß sie zumindest teilweise differenziert erfolgen. Hierzu ergibt sich folgendes Bild: In allen Klassen dominiert die gleiche Aufgabenstellung (64 - 94 %); dabei zeigt sich in den Integrationsklassen der Primarstufe ein höherer Anteil differenzierter Aufgabenstellungen als in den Parallelklassen (GF 36 %, GB 28 %). Die AutorInnen führen die Unterschiede vor allem auf die Freie Arbeit zurück, bei der es fast ausschließlich differenziert gestellte Aufgaben gibt (1991, 116).
Ergänzend treten in den Integrationsklassen weitere Differenzierungen in den Aufgaben für einzelne behinderte SchülerInnen hinzu. Hier ergeben sich zusätzlich weitere Differenzierungen mit über 50 % im Primar- bzw. fast 40 % im Sekundarbereich. Den größeren Anteil themenverschiedener Differenzierung in der Grundschule Friesdorf (35 %) erklären die AutorInnen mit der großen Anzahl von SchülerInnen, die mit differentem Niveau unterrichtet werden (1991, 117).
Für den integrativen Unterricht ist die Häufigkeit der Sozialformen wichtig. In Integrationsklassen hat der lehrerzentrierte, frontale Klassenunterricht seine zeitliche Dominanz verloren (GF 32 %, GS 44 %, GB 43 %). Er wird ergänzt durch Einzelarbeit und übrige Sozialformen wie Partner-, Gruppenarbeit und Kombinationen (GF 38 %, GS 28 %, GB 35 %). Auch in den Parallelklassen wird der Klassenunterricht graduell reduziert (GF 48 %, GS 49 %, GB 57 %; 1991, 118).
Je nach realisierter Sozialform ergeben sich unterschiedliche Interaktionssituationen. Hier wird zunächst die Situation der LehrerInnen betrachtet. Die LehrerInnen interagieren am häufigsten mit der ganzen Klasse (42 - 78 %). Gleichwohl zeigen sich in den Integrationsklassen höhere Anteile der Interaktion mit einzelnen SchülerInnen (GF 28 %, GS 21 %, GB 14 %) als in Parallelklassen (GF 7 %, GS 12 %, GB 8 %). Insofern ergibt sich eine Übereinstimmung mit den Sozialformen, als in Integrationsklassen mit dem reduzierten Klassenunterricht auch die Interaktion mit der ganzen Klasse rückläufig ist. In der nicht auf die ganze Klasse bezogenen Interaktion ergibt sich eine ziemlich gleichmäßige Verteilung auf behinderte und nichtbehinderte SchülerInnen (1991, 121).
Das Ausmaß der Steuerung durch die LehrerInnen bzw. Aktivierung der SchülerInnen wird in den Unterrichtsformen deutlich. Erfreulicherweise ist die Darbietung durch LehrerInnen nicht mehr die dominierende Unterrichtsform (6 - 12 %). Während in der Sek I nur geringe Unterschiede bestehen, zeigt sich im Primarbereich ein deutlich höherer Zeitanteil der Selbsttätigkeit der SchülerInnen (GF 59 % in IK bzw. 42 % in PK, GB 46 % in IK bzw. 35 % in PK). Sie nimmt dort in den Integrationsklassen größeren Raum ein als die gemeinsame Erarbeitung, während dies in den Parallelklassen umgekehrt ist (GF 33 % in IK, 46 % in PK, GB 39 % in IK, 52 % in PK; 1991, 125).
Anhand ihrer Einzelbefunde arbeiten DUMKE U.A. Organisationsstrukturen des Unterrichts heraus. Klassenunterricht, Darbietung, gleiche Aufgaben und Interaktion mit allen SchülerInnen fassen sie als lehrerzentrierte Form des Unterrichts zusammen, Einzelarbeit sowie die übrigen Sozialformen mit Schülerselbsttätigkeit an gleichen oder differenzierten Aufgaben und unterschiedlicher Interaktion sind für DUMKE U.A. schülerzentrierte Ansätze der Unterrichtsorganisation (1991, 128). Insgesamt machen lehrerzentrierte Formen 39 % und schülerzentrierte Formen 36 % der Unterrichtszeit aus. Dieses bewerten sie als sehr positives Ergebnis (1991, 128).
Zwischen Integrations- und Parallelklassen ergeben sich in den zeitlichen Anteilen der lehrer- und schülerzentrierten Formen deutliche Unterschiede. Die Integrationsklassen der Friesdorfer Grundschule weisen demnach die stärkste Schülerorientierung auf (77 % schülerInnenzentriert), gefolgt von denen der Beueler Grundschulen (63 %) und der Beueler Gesamtschule (62 %). Erst dann folgen die Parallelklassen der drei Projekte (GF 55 %, GS 56 %, GB 47 %; 1991, 129-135). Die Unterschiede zwischen den Integrationsprojekten im Primarbereich führen DUMKE U.A. auf die geringeren Anteile der Doppelbesetzung zurück, die in den Beueler Grundschulen stärker zur äußeren Differenzierung und zur Klassenansprache beitragen (1991, 136). Dort ist auch der Zeitanteil mit separiert im Gruppenraum arbeitenden Zweitbesetzungen am größten (30 % des ganzen Unterrichts im Zwei-LehrerInnen-System, dabei 22 % Arbeit separiert; 1991, 145).
In der Diskussion ihrer Ergebnisse stellen DUMKE U.A. heraus, daß sich der Unterricht in Integrationsklassen in den meisten Bereichen zwar deutlich von dem der Parallelklassen unterscheidet, jedoch keine generelle Trennung der Organisationsstrukturen zwischen beiden Klassentypen vorliegt. "Daher kann nicht von einer gänzlich eigenständigen Struktur des integrativen Unterrichts gesprochen werden, wohl aber von besonderen methodischen Akzentuierungen" (1991, 153). Integrativer Unterricht ist somit kein komplett anderer Unterricht, sondern reiht sich in die ohnehin festzustellenden allgemeinen Veränderungen des Unterrichts zu mehr Schülerorientierung, Selbsttätigkeit und Individualisierung ein.
COWLAN U.A. beobachten die Entwicklung des integrativen Unterrichts in den ersten Hessischen Integrationsklassen. Dabei halten sie hinsichtlich der Ausdifferenzierung der Leistungsunterschiede zwei gegenläufige Tendenzen für möglich: einerseits, "daß dadurch die Gemeinsamkeiten geringer werden, da die Interessen auseinanderdriften und sich Untergruppen verfestigen" (1991b, 87), andererseits, "daß sich die Arbeitstechniken vielfältiger gestalten, sich die Kommunikationsmöglichkeiten erweitern und daß die Kooperation von Kindern mit sehr unterschiedlichem Entwicklungsniveau erleichtert werden kann" (1991b, 87). Die häufig beschworene 'Leistungsschere' kann also durchaus unterschiedliche Konsequenzen nach sich ziehen.
In drei kontinuierlich die Grundschulzeit hindurch beobachteten Klassen finden COWLAN U.A. drei idealtypische Lösungsstrategien für die Aufgabe der Vereinbarung von Individualität und Gemeinsamkeit. Sie basieren auf je unterschiedlichen Voraussetzungen (Klassenzusammensetzung, Teamkooperation etc.) und bringen je unterschiedliche Vor- und Nachteile mit sich:
In einer sehr unruhigen und schwierigen Klasse, in der sich u.a. ein blindes Kind befindet, bildet sich zunehmend eine "Großgruppen-Kleingruppen-Struktur" heraus (1991b, 123). Die Lehrerinnen teilen sich der (Grundschul-) Klasse und den förderungsbedürftigen Kindern zu, später zeigt sich diese Struktur auch räumlich: Hinter dem Tischquarree, das auf die (Grundschul-)Lehrerin ausgerichtet ist, entsteht eine Fördereinheit für die SchülerInnen mit Behinderungen. Sie haben die Möglichkeit, sich flexibel und situativ der Großgruppe oder der Kleingruppe anzuschließen, für die LehrerInnen entstehen klar abgrenzbare Aufgabenbereiche. In fachübergreifende Vorhaben können die SchülerInnen mit Behinderung je nach Bedürfnissen flexibel einbezogen werden. Obwohl sich im Laufe der Grundschulzeit die Zeiten gemeinsamen Tuns verringern, "bleibt eine hohe emotionale Zusammengehörigkeit erhalten, was auf die hohe Zuverlässigkeit und Kontinuität der Großgruppen-Kleingruppen-Struktur zurückzuführen ist, die SchülerInnen und Lehrerinnen Halt, Stabilität und Gelassenheit gibt" (1991b, 123).
In einer anderen Klasse bildet sich eine "flexible Struktur" (COWLAN U.A. 1991b, 124) aus. Hier gibt es viele offene Phasen, in denen die beiden LehrerInnen in arbeitsgleicher Rollenverteilung einzelne Kinder begleiten; einzig die Fächer Deutsch und Mathematik werden je einer Person zugeordnet, die die Unterrichtsgestaltung übernimmt und von der anderen Person unterstützt wird. Der Zusammenhalt der Klasse wird vorwiegend durch Kind-Kind-Beziehungen hergestellt, was gemeinsame Rituale relativ schnell überflüssig erscheinen läßt. Hier ergibt sich für die SchülerInnen ein anregungsreiches und emotional positives Klima und es kann sich die Eigenverantwortlichkeit für das eigene Lernen gut entwickeln; gleichzeitig ergeben sich Probleme für Kinder mit Behinderungen, die diese Sicherheit nicht in gleichem Maße erlangen.
In der dritten, im Ganztagsbetrieb einer Privatschule geführten Klasse, in der sich mehrere behinderte Kinder mit einem hohen Pflege- und Betreuungsbedarf befinden und damit ein hoher Personalaufwand - gleichzeitig bis zu vier Erwachsene - entsteht, entwikelt sich die Struktur "individualisierte(r) Betreuung in der Gemeinschaft" (COWLAN U.A. 1991b, 125). Hier hat der Morgenkreis eine wichtige, gemeinschaftsstiftende Funktion, der Wochenplan wird ein wichtiges individualisierendes Element des Unterrichts. Anfängliche Einzel-Betreuungsverhältnisse werden bald zugunsten wechselnder Konstellationen aufgebrochen: "So kann das System der individualisierten Betreuung in der Gemeinschaft beibehalten, aber die Fixierung individueller Betreuungsverhältnisse weitgehend vermieden werden" (1991b, 125). Zunehmende Gruppengespräche bilden ein Gegengewicht zur Tendenz zu Einzelbeziehungen. Für das PädagogInnenteam ist diese Klassenkonstellation mit ihrem hohen Bedarf an Absprachen und Rollenwechseln anstrengend. Einerseits ist es in dieser Struktur möglich, auch einen Schüler mit schwerer Mehrfachbehinderung einzubeziehen, andererseits zeigt sich auch die Problematik der Überlastung mit Kindern, die viel individuelle Zuwendung brauchen.
In allen drei Klassen wird das Postulat, Projekte und Arbeit am gemeinsamen Gegenstand müssen den Kern integrativen Unterrichts bilden, nicht bestätigt (COWLAN U.A. 1991b, 126). Vielmehr ergibt sich eine breite Palette von Situationen und Ereignissen, die in ihrer Gesamtheit integrative Wirkung erzielen. Diese Aussagen faßt REISER (1991, 24) folgendermaßen zusammen:

Abb. 3.7: Elemente der dynamischen Balance von Gleichheit und Differenz in heterogenen Lerngruppen (REISER 1991, 24)
Die nach rechts gerichteten Pfeile in der Grafik kennzeichnen Prozesse der Abgrenzung, zu mehr Individualisierung, die nach links gerichteten Pfeile Prozesse der Annäherung, zu mehr Gemeinsamkeit. Zentral für den Unterricht sind die gemeinsamen Gestaltungen als Ausgangspunkt für individuelle Vorhaben und als Möglichkeit deren verknüpfender Zusammenführung. Während im oberen Teil der Grafik eine solche dynamische Balance verdeutlicht wird, zeigt der untere Teil undialektische Vereinseitigungen: vorübergehender oder durchgängiger Frontalunterricht zwingt alle SchülerInnen in die Egalisierung, also zu Tendenzen der Anpassung, vorübergehende oder konstante Leistungsgruppen führen zur Atomisierung, also zu Tendenzen klassenimmanenter Aussonderung. Rituale und Rahmenhandlungen können nur noch den Schein der Gleichheit bzw. Gemeinsamkeit aufrechterhalten. Hier ist dann jene Situation erreicht, in der ein an der Fiktion der homogenen Lerngruppe orientierter Unterricht von Kindern entweder Anpassung oder Aussonderung verlangt und ihnen in keiner Weise gerecht wird.
In Praxisberichten tauchen bundesweit in großer Übereinstimmung immer wieder die gleichen Prinzipien und Elemente auf. "Die Stichworte sind: Individualisierung und Differenzierung; Projektunterricht; Lebenswelt- und Handlungsorientierung; offener Unterricht; Freie Arbeit" (HöHN 1990, 143), ergänzt durch "Arbeit mit Tages- oder Wochenplänen, Gesprächskreise" (PRENGEL 1990b, 215) - Prinzipien wie Schülerzentrierung, Erfahrungsorientierung, Offenheit, Dialog, Selbsttätigkeit, Dezentralisierung der Lernprozesse sind in allen Beschreibungen enthalten. Damit fügt sich integrativer Unterricht ein in andere, vor allem grundschulpädagogische Bemühungen um Schulreform (SCHLEY 1989g).
POPPE faßt beispielsweise ihre bisherigen Erfahrungen in der Sekundarstufe I in "drei Säulen unseres Unterrichts: Lehrgangsmäßiger Unterricht, Wochenplanarbeit, Projektarbeit" (1989, 167) zusammen. Sie beschreibt die Erfahrungen mit "Handlungsmustern, die integrative Prozesse erschweren" (1989, 172), wie Lehrervortrag, gelenktes Unterrichtsgespräch, Tafeltexterarbeitung und Wandkartenarbeit sowie "Handlungsmustern, die integrative Prozesse begünstigen" (1989, 169) wie Spielen, Schülergespräch, Arbeitsblätter, Experiment, Collagen (z.B. als Leistungskontrolle), Erkundungen. Mit der Abnahme erschwerender und der Zunahme begünstigender Handlungsmuster kennzeichnet sie den Prozeß zunehmender Öffnung, Handlungsorientierung und Schülerorientierung der Praxis.
Es ist kein Zufall, daß bei der Entwicklung integrativen Unterrichts reformpädagogische Ansätze wie die von MONTESSORI, FREINET und PETERSEN Berücksichtigung finden, stehen sie doch für die Zeit der Wiederentdeckung des Kindes und der Kindgemäßheit und dem Bestreben, der Vorherrschaft der Sache entgegenzuwirken. Allerdings werden solche Elemente genutzt, ohne damit das ganze System geschlossen zu übernehmen, und sie werden kombiniert mit jenen neueren Ansätzen, die ebenfalls auf eine Überwindung vielfältiger Begrenzungen des Unterrichts und auf seine Öffnung zielen.
Gemeinsam ist diesen Ansätzen das Element der Selbsttätigkeit des Kindes, gemäß dem Grundsatz von MONTESSORI: "Hilf mir es selbst zu tun". PädagogInnen treten in ihrer Lehr-Funktion zurück und werden zu AssistentInnen für die aktiven Lernprozesse der Kinder (vgl. zur pädagogischen Aggressivität Kap. 3.5.1.). Aufgabe von PädagogInnen ist nun eher, eine 'vorbereitete Umgebung' herzustellen, die durch ihre Gestaltung Lernprozesse provoziert. Ein gemeinsames Kernstück reformpädagogischer Ansätze ist die Freie Arbeit, bei der sich die Kinder selbst für Arbeiten entscheiden oder - bei stärkerer Orientierungsnotwendigkeit - aus einem vorgegebenen Tages- oder Wochenplan auswählen. Dabei bestimmt das Kind Dauer, Tempo, Intensität und Sozialform seiner Lernprozesse (vgl. HELLBRüGGE U.A. 1984, HELLBRüGGE 1988, KAUL 1988, MACK 1991).
Der Klassenraum wird in reformpädagogischen Traditionen von einem Ort des Erwerbs kognitiver Fähigkeiten zu einer anregenden Lebens- und Lernumwelt. Dort kann das Spektrum kindlicher Lernformen durch die Betonung von Spiel, Gespräch, Arbeit und Feier, so die wesentlichen Formen in der Petersen-Pädagogik, eher angemessen berücksichtigt werden (so ist letztlich auch das Motto der Elternbewegung für Integration, "gemeinsam Leben, gemeinsam Lernen", grundgelegt). In diesem Zusammenhang sind regelmäßige, strukturierende Abläufe wie Morgenkreis und andere Anfangs- und Abschlußrituale wichtig, in denen erzählt, gesungen, gefeiert und gemeinschaftliches Schulleben praktiziert wird.
In einer solchen lernanregenden Umwelt kann die Einrichtung von Klassen nicht mehr aus Bänken in Reihen und einer Anzahl von verschlossenen Schränken bestehen. Hier gibt es unterschiedliche funktionelle Bereiche für bestimmte Aktivitäten, so etwa "Eken", in denen geforscht, gelesen, sich ausgeruht, gedruckt, gerechnet und - von konservativen KritikerInnen immer wieder argwöhnisch betrachtet - auch 'gekuschelt' werden kann.
In den Funktionsecken sind die entsprechenden Materialien für die Kinder zugänglich, so daß sie sich ihren Neigungen nach mit Materialien selbst versorgen können. Die Auswahl der bereitgestellten Materialien spielt dabei hinsichtlich der mit ihnen verbundenen Ansprüche eine wichtige Rolle. Beispielsweise sollen sie möglichst Wahrnehmungen auf verschiedenen Kanälen ermöglichen und abstrakte Vorgänge konkret vollziehbar machen, so etwa die von Montessori entwickelten Sandpapierbuchstaben. Sie sollen so strukturiert sein, daß ein selbständiges Arbeiten mit ihnen möglich ist, oder Kindern in Sinnzusammenhänge eingebundene Möglichkeiten intensiver Beschäftigung mit Buchstaben, Wörtern und Sätzen und die Produktion von "freien Texten" erlauben, wie z.B. die Freinet-Drukereien. COWLAN U.A. stellen zusammenfassend fest, "daß die Tagesstruktur der integrativen Klassen sich aus einer flexiblen Gestaltung von Ritualen, gemeinsamen und individuellen, angeleiteten und freien Arbeitsphasen zusammensetzt (1991a, 76f.; zur räumlichen und zeitlichen Organisation vgl. auch WOKEN 1988f).
Von besonderer Bedeutung sind hier auch projektorientierte Formen des Unterrichts. Sie ermöglichen zum einen, "Lernprozesse nicht über fachspezifische und lehrgangsartige Unterrichtsformen anzuregen, sondern unmittelbar von den Interessen und Bedürfnissen der behinderten und nichtbehinderten Kinder auszugehen" (PODLESCH & SCHINNEN 1988). Auch COWLAN U.A. betonen die Bedeutung von Wochenthemen und Unterrichtsprojekte mit ihren Möglichkeiten eines fächerübergreifenden Arbeitens (1991a, 65). So können Lehrprozesse aus ihrem häufig entleerten Übungscharakter herausgeholt und in einen sinnhaften Zusammenhang gestellt werden: Statt etwa das Schreiben von Wörtern zu üben, werden (im Sinne FREINETs) Berichte über Projektteile und -erlebnisse geschrieben und gedruckt oder im Rahmen von Klassenpartnerschaften Briefe an andere Klassen geschickt. Weiter können über projektorientierte Unterrichtsformen die Mauern der Schule überwunden und das Leben außerhalb der Schule in Vorhaben einbezogen werden. So wird auch möglich, sich mit eigenen Anliegen an die Bevölkerung zu wenden und Handlungsmöglichkeiten und damit -fähigkeiten zu erschließen.
Projekte sind für die Realisierung eines integrativen Unterrichts besonders gut geeignet, weil sich an einem gemeinsamen inhaltlichen Zusammenhang verschiedene Teilaufgaben benennen lassen, die u.U. auch einen unterschiedlichen Schwierigkeitsgrad enthalten. So können alle Kinder am Projekt teilhaben, ihren Teil dazu beitragen und so für die ganze Lerngruppe bedeutsam sein. Für Projekte in Integrationsklassen gibt es inzwischen eine ganze Reihe von Berichten (z.B. in ECK U.A. 1984, in HETZNER & STOELLGER 1985b, VON DER BECKE U.A. 1986, PODLESCH & SCHINNEN 1988, DEMMER-DIECKMANN 1991, zum Lesen NEBL-KOLLER 1988, zur freien Arbeit VOSS-FRANTZEN & ZIMMER 1988, zum Sportunterricht TREESS 1988, KASPARI 1991, zum Sachunterricht POPPE 1988, zur Sekundarstufe I fächerübergreifend PLACHETKA & LUHMER 1991 sowie allgemein SCHMIDTBAUER 1988, POPPE 1989, SCHWARZ 1989a, 1989b, HEYER 1990a). Jedoch ist auch hier wieder festzustellen - dieses sind keine spezifisch neuen Arbeitsformen der Integrationspädagogik. Es handelt nicht um eine neue, andere Pädagogik, sondern um eine gute, allgemeine Pädagogik. Wesentlich sind auf didaktisch-methodischer Ebene somit die Variabilität der Unterrichtsorganisation und eine aktivitätsfördernde Unterrichtsgestaltung (vgl. RIEDEL 1991, 451-454).
Wenn die übereinstimmende Einschätzung richtig ist, daß weder Grundschulpädagogik noch Sonderpädagogik hinreichende Qualifikationen für einen integrativen Unterricht besitzen, sondern er erst gemeinsam entwickelt werden muß (so z.B. FEUSER 1984b, 351, FEUSER & MEYER 1987, 181, WOCKEN 1987b, 75, HEYER & ZIELKE 1990, 191, HINZ 1990a, 395), gewinnen Fragen der Aus- und Weiterbildung und die Notwendigkeit beratender und begleitender Dienste Bedeutung.
Zunächst gilt es, für die unmittelbar Beteiligten auf konkret-pragmatischer Ebene eine Weiterqualifizierung für ihre Arbeit zu ermöglichen. Bevor es um deren Formen geht, muß auf eine veränderte Sichtweise und andere Notwendigkeiten bezüglich der Fortbildung hingewiesen werden. Wie mehrere Autoren betonen, ist die erste und wichtigste Form der Fortbildung die Teamarbeit selbst, die "kooperative Selbstberatung von Pädagogen" (WOCKEN 1987b, 78). Sie soll zur wechselseitigen Ergänzung der unterschiedlichen Aufmerksamkeitshorizonte und Kompetenzen beitragen (vgl. Kap. 3.3.3.). SCHLEY etwa betont "die intensive Auseinandersetzung, Infragestellung und den allmähliche Kompetenzerwerb durch die Praxis einer anderen Pädagogik, durch Individualisierung der Aufgaben und Anforderungen, durch Arbeit mit extrem heterogenen Gruppen, durch Teamarbeit, durch die Auseinandersetzung mit innerer Schulreform und die Neugestaltung des Arbeitsplatzes Schule. Diese Entwicklung benötigt Reflexionsschritte, Vertiefungsmöglichkeiten, Besinnungsphasen, Praxisbegleitung und Erfahrungsaustausch" (1989e, 356). Dies bedeutet, daß Fortbildung sich nicht nur auf Sachgegenstände dieses neuen Praxisfeldes beziehen kann, etwa auf Fragen der Aufbereitung von Inhalten und der Kooperation im Unterricht. Fortbildung muß alle Ebenen integrativer Prozesse umfassen, auch Entwicklungsprobleme einzelner Kinder oder Rollenprobleme einzelner PädagogInnen. Dort muß auch das thematisiert werden, "was denn Integration 'mit einem jeden von ihnen macht' und wo es individuelle Grenzen und Grenzüberschreitungen gibt" (HINZ 1990a, 396; vgl. auch HINZ 1989c). SCHLEY warnt denn auch vor einer Abkoppelung einer theoretisch orientierten Fortbildung von der Praxis: "Es gibt kein lebendigeres und dynamischeres Lernfeld als die Praxis selbst" (1989e, 356). Die erste, unmittelbarste Form der Fortbildung ist also die gemeinschaftliche Beratung innerhalb der Teams. Daß dies nicht nur von PraktikerInnen, sondern auch von der Administration anerkannt wird, muß im Stundendeputat deutlich gemacht werden.
Wo einzelne Schulen integrativ arbeiten, werden größtenteils schulinterne Formen der Fortbildung praktiziert, so etwa in der Berliner Uckermark-Schule mit Integrationsplenum, Gesamtkonferenz, Fallbesprechungen, Fortbildungstagen und nicht zuletzt der Teilnahme am Fortbildungsprogramm der Schulverwaltung (vgl. HEYER 1988a, HEYER & ZIELKE 1990). Die Berliner Erfahrungen sind nach dem Regierungswechsel 1989 inzwischen in ein landesweites Konzept und dessen Realisierung eingegangen (HETZNER & ZIELKE 1990, ZIELKE 1991).
Bei Projekten, die stark in Ausweitung begriffen sind, stellt sich das Problem der Fortbildung schulübergreifend, so daß dezentrale Formen entwickelt werden müssen. In Hamburg wurde mit der Einrichtung des Beratungszentrums Integration (RAMSEGER 1988) ein erster Schritt in die Richtung einer Koordinationsstelle des Schulversuchs gemacht, die u.a. Fortbildungsangebote bereithält (vgl. BZI 1991). Dazu gehören von integrationserfahrenen PädagogInnen moderierte dezentrale Fortbildungsgruppen für die Teams der ersten Klassen, aber auch zentrale
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berufsgruppenspezifische Arbeitskreise, in denen nach Bedarf entsprechende Fragestellungen bearbeitet werden,
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jahrgangsbezogene Arbeitskreise zum Erfahrungsaustausch,
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kontinuierliche Kurse, etwa zum Erwerb einer speziellen Kompetenz zu kollegialer Praxisberatung (vgl. MUTZECK 1989) und
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themenbezogene Angebote, z.B. zur Psychomotorik, therapeutischen Ansätzen oder zur Frage der Integration von Kindern mit schwersten Behinderungen.
Fortbildungsangebote dieser Art können als unmittelbare Serviceangebote für eine hier und jetzt zu bewältigende Praxis angesehen werden, sie beruhen auf dem "Grundgedanken einer einzelfall- und problembezogenen Unterstützung" (WOKEN 1988e, 260). Daneben stellt sich jedoch auf grundsätzlicherer Ebene die immer drängendere Frage nach der Perspektive für eine bislang separierte LehrerInnenausbildung (z.B. in Hamburg seit 1982 eingrenzend für das "Lehramt an Sonderschulen"), die eigentlich auch Kompetenzen für das Arbeitsfeld Integration vermitteln müßte (vgl. den Überblick bei VERNOOJ 1991).
Hierzu haben HEYER & MEIER (1988) eine Planskizze entwikelt, die vier - bei entsprechendem politischem Willen auch parallel umzusetzende - Realisierungsstufen umfaßt. Die Überlegungen schließen an die bis heute nicht berücksichtigten Vorschläge des Deutschen Bildungsrates von 1973 an. HEYER & MEIER schlagen als erste Stufe ergänzende Ausbildungsangebote für LehrerInnen an Grund- und Sonderschulen vor, die vor allem die Begrenzungen im Überschneidungsbereich zwischen allgemeiner und Sonderschule überwinden helfen sollen. Die zweite Stufe zielt auf ein in der ersten Ausbildungsphase zu verankerndes Wahlangebot für Grundschul- und SonderpädagogInnen, in dessen Folge nach einem Studienschwerpunkt "Integrative Pädagogik und Didaktik der Grundschule", z.B. mit 16 Semesterwochenstunden, spezielle IntegrationslehrerInnen zur Verfügung stehen. Die dritte Stufe enthält für alle Studierenden der Grundschul- und Sonderpädagogik einen gemeinsamen Pflichtbereich "Integrative Schul- und Unterrichtsarbeit" zum Erwerb allgemeinpädagogischer Kompetenz im Sinne REISERs (vgl. Kap. 3.3.3.), nach dem sie sich dann auf spezielle sonderpädagogische Inhalte oder grundschulpädagogische Lernbereiche spezialisieren. Die vierte Stufe schließlich sieht eine gemeinsame Ausbildung aller LehrerInnen für ein Schulsystem ohne Aussonderung vor, in der ein Teil bisheriger sonderpädagogischer Inhalte (insbesondere Fragen des Lernens, des Verhaltens, der psychomotorischen Entwicklung und der entsprechenden Schwierigkeiten) für alle LehrerInnen obligatorisch zur Ausbildung gehört, und speziellere sonderpädagogische Fragen (etwa Sprach- und Kommunikationsmöglichkeiten bei Kindern mit Blindheit, Gehörlosigkeit, mit schwersten Behinderungen etc.) als Teil der Fächerkombination innerhalb der GrundschullehrerInnenausbildung gewählt werden können. Generell aber sollten in jedem studierten Schulfach oder Lernbereich auch Schwierigkeiten und Probleme bearbeitet werden, die sich in der Entwicklung von SchülerInnen ergeben können (EBERWEIN 1989, 12). HEYER & MEIER weisen abschließend darauf hin, "daß für ein allgemeines Schulwesen ohne Aussonderung eine integrierte Lehrerbildung unerläßlich ist" (1988, 342).
Erste Realisierungsschritte in dieser Richtung sind im Saarland gegangen worden. Dort wird seit dem Sommersemester 1989 an der Universität des Saarlandes ein viersemestriges "Kontakt- und Aufbaustudium Integrationspädagogik" angeboten (JUNG 1990). Die Dringlichkeit dieses Vorhabens ergibt sich u.a. aus der Tatsache, daß im Schuljahr 89/90 bereits über 350 LehrerInnen an allgemeinen Schulen als KlassenlehrerInnen und ca. 140, d.h. fast ein Viertel der saarländischen SonderpädagogInnen in Integrationsmaßahmen arbeiten (1990, 304). Das Kontakt- und Aufbaustudium steht PraktikerInnen und Studierenden offen und ist nach dem 'Baukasten-Prinzip' aufgebaut. Es umfaßt 40 Semesterwochenstunden und 50 Stunden Praktikum und betrifft die Bereichen Integration, Sonderpädagogik, Diagnostik und Didaktik (vgl. JUNG & SANDER 1993).
Wichtig erscheinen neben diesen Entwicklungen für die erste Phase jedoch auch neue Strukturen und Anforderungen für die zweite Phase der LehrerInnenausbildung (vgl. SANDER 1993, 200). Sie muß ebenso wie die erste Phase auf die Entwicklung des späteren Praxisfeldes reagieren und eine strukturelle Annäherung bisher getrennter Ausbildungen vollziehen. Inhaltlich muß sie beispielsweise auf Teamarbeit, auf die Praxis eines schülerInnenzentrierten, individualisierten Unterrichts mit höchst heterogenen Lerngruppen und vor allem auf die Herausforderung der Verknüpfung unterschiedlicher Aktivitäten und damit die produktive, anregende Nutzung der vorhandenen Heterogenität vorbereiten. Weiter hat sie über die Vermittlung von 'pädagogischem Handwerkszeug' hinaus die Reflexion über die Rollendefinition und das Selbstverständnis von PädagogInnen im Sinne ihrer späteren integrativen Unterrichtspraxis anzuregen.
Über die bisher vorgestellten inhaltlichen Planungen geht ein von FEUSER (1984b) für den Kindergartenbereich entwickeltes Fortbildungskonzept hinaus. In elf Lehrgangswochen soll ein umfangreiches, auf lerntheoretischen Grundlagen basierendes Curriculum der berufsbegleitenden Zusatzausbildung 'Integration' bewältigt werden. Auch für den Schulbereich ist es ein "unverzichtbares Erfordernis, die Vorbereitung der Lehrer in einer ersten Phase entlang eines konsistenten Curriculums vorzunehmen und parallel dazu in einer zweiten Phase mit Supervisionsmöglichkeiten in ihren Tätigkeitsfeldern eine möglichst weitgehende Umsetzung für die Praxis anzustreben" (FEUSER & MEYER 1987, 188). Inhaltlich geht es z.B. für GrundschullehrerInnen "schwerpunktmäßig (um) die umfassende Befassung mit allen behindertenpädagogischen Fragen und eingebettet in diese die Befassung mit der Vielfalt humanbiologischer, medizinischer und neuropsychologischer Fragen, mit Zusammenhängen familialer Interaktion und Aufarbeitung von 'Behinderung', mit entwicklungsbeeinträchtigenden Formen der Kommunikation und Interaktion u.v.m." (1987, 181), SonderpädagogInnen "müßten sich schwerpunktmäßig mit Fragen der Grundschulpädagogik und -didaktik, vor allem aber auch mit den im Erstunterricht von Lesen, Schreiben und Rechnen relevanten fachdidaktischen Fragen bis hinein in die Bereiche Sachkunde, Kunst, Musik und Sport befassen" (1987, 181).
Diese Anforderungen an die Weiterqualifikation der PraktikerInnen werden nun allerdings nicht im Sinne eines Zusatzstudiums o.ä. aufgestellt, was überaus sinnvoll wäre, sondern "stellen sich als eine besondere, außerunterrichtlich zu leistende Kooperationsform aller im SV-INT (Schulversuch Integrationsklasse; A.H.) Zusammenarbeitenden dar" (1987, 181). Ob dieses überhaupt von PädagogInnen neben ihren Unterrichtsverpflichtungen zu leisten ist - von möglichen Interessen, Aktivitäten und Verpflichtungen im außerschulischen, privaten Bereich ganz zu schweigen - , erscheint mehr als fraglich, so wünschenswert diese fundierten Kenntnisse auch sein mögen. Hier ist WOKEN zuzustimmen, wenn er Maßnahmen der unterrichtsbegleitenden Fortbildungen auf das "unabdingbar Notwendige" (1988e, 259) beschränkt wissen will, nämlich auf das, was dem konkreten Team mit konkreten Kindern nützt, und alles, was darüber hinausgeht, als "aktive Beihilfe zum burn-out von Integrationspädagogen" geißelt (1988e, 259).
Als weiterer Aspekt der Beratung und Begleitung ist die Problematik einer angemessenen sonderpädagogischen Assistenz anzusprechen. In Integrationsklassen sind häufig nicht die SonderpädagogInnen verfügbar, deren Kompetenzen und Erfahrungen dem Bedarf konkreter Kinder in der Klasse entsprechen würden. Die vorhandenen SonderpädagogInnen fühlen sich demzufolge häufig "überfordert bzw. mißfordert" (WOCKEN 1988e, 249), weil sie ihre Erfahrungen nicht an das richtige Kind bringen können, ihnen aber in der Klasse sonst benötigte Erfahrungen fehlen. Wenn aber einerseits das Prinzip der Mischung von Kindern mit verschiedenartigen Behinderungen in Integrationsklassen beibehalten werden soll und andererseits die Mitarbeit von SonderpädagogInnen unverzichtbar ist, weil "die pädagogische Versorgung der behinderten Kinder nicht auf einen Stand zurückfallen soll, der unterhalb des in unserem herkömmlichen Sonderschulwesen erreichten Niveaus liegt" (STOELLGER 1982a, 45), muß eine bessere Passung von besonderen Förderbedürfnissen und Förderkompetenzen hergestellt werden. Dieses Problem stellt sich im übrigen unabhängig davon, in welcher Zusammensetzung das Zwei-PädagogInnen-Team arbeitet.
Die einzig mögliche Lösung dieses Passungsproblems besteht im Gegensatz zur früheren sonderpädagogischen Logik, bei der die Kinder zu den sonderpädagogischen Hilfen kamen, in einer neuen Logik, nach der die Hilfen zu den Kindern gebracht werden (RAAB 1990). Dies ist die neue Logik einer "subsidiären Sonderpädagogik" (WOCKEN 1991b, 106), die nun als "ambulanter sonderpädagogischer Dienst" (HINZ 1990a, 396) eine direkte 'Service-Funktion' für die allgemeine Schule und die allgemeine Pädagogik übernimmt.
Für solche ambulanten Dienste liegen höchst unterschiedliche Konzepte und Realisierungen vor, offensichtlich werden sehr verschiedene Lösungen für das Passungsproblem gefunden. Eindeutig klar ist allenfalls eines: "Ohne Förderzentren kann es keine verantwortbare flächendeckende Integration geben" (WOKEN 1990, 48). Eine systematische Aufarbeitung bisheriger Vorschläge für Förderzentren findet sich bei WOCKEN (1990).
Konzeptionelle ebenso wie praktische Fragen beginnen bereits bei dem Adressatenkreis: Soll sich ein Förderzentrum um eine oder um mehrere Behinderungsarten kümmern; soll es ein monoprofessionelles oder ein multiprofessionelles sein? Soll es auf eine oder auf mehrere Altersstufen bezogen arbeiten? Für wie viele Menschen mit besonderem Förderbedarf soll sich die Zuständigkeit erstreken; soll das Förderzentrum auf lokaler, regionaler oder überregionaler Ebene organisiert sein? Hier muß u.a. nach der Häufigkeit nachgefragter Kompetenzen differenziert werden.
Weiter drehen sich Fragen um die wahrzunehmenden Aufgaben: Was soll im Förderzentrum geleistet werden - Förderung, wenn ja, in welcher Form (Therapie, Unterricht)? Wie weit sollen andere (sonderpädagogische) Aufgabenfelder wahrgenommen werden - Diagnostik, Beratung, Fortbildung, Dokumentation, vielleicht noch Forschung und Öffentlichkeitsarbeit?
Als konzeptionelles Problem entsteht weiter die Frage, woher die Impulse integrativen Denkens und Arbeitens kommen sollen, durch die ein solches System dezentralisierter Sonderpädagogik (vgl. Kap. 2.1.1.) seine womöglich traditionelle latent defekt- und defizitorientierte Sicht und den Ansatzpunkt individueller Förderung bedürftiger Kinder zugunsten eines gruppenorientierten Ansatzes überwinden können soll (vgl. HINZ 1992a). Dieses Unterfangen erscheint nur auf der Basis integrativ denkender und arbeitender Teams aussichtsreich.
Schließlich kommen institutionelle Fragen in den Sinn: Soll das Förderzentrum als Abteilung an eine allgemeine oder eine Sonderschule angegliedert werden oder soll es eine eigenständige Einrichtung sein? Hier ergibt sich u.a. ein innovationsstrategisches Dilemma (HINZ 1990a, 401f.): Einerseits wäre es sinnvoll, Sonderschulen durch die Angliederung von Förderzentren in diese Innovationsarbeit einzubeziehen, weil sonst eine Verhärtung der Fronten drohte und in Sonderschulen Prozesse der Identitätsbedrohung zu einem 'Wagenburg-Effekt' führen könnten. Andererseits stellt sich die Frage nach den Veränderungsimpulsen in der Situation von Sonderschulen noch weniger aussichtsreich, wenn im eigenen Hause gleichzeitig die traditionelle Praxis mit ihren bisherigen Sicht- und Verfahrensweisen weitergeführt wird. Damit wäre keine hinreichende Aussicht für eine Weiterentwicklung der sonderpädagogischen Assistenz gegeben; eher könnte sich die Entwicklung einstellen, daß lediglich unter einem neuen Firmenschild althergebrachte Sonderschulpädagogik praktiziert wird.
Diese Ebene konzentriert sich nach der Definition der Frankfurter Forschungsgruppe auf jene Prozesse, "bei denen Institutionen für sich wie in Kooperation mit anderen Institutionen ihre Leitvorstellungen neu definieren, ihre Mitglieder für diese Konzeptentwicklung aktivieren und sowohl innerinstitutionell wie nach außen ihre Aktivitäten und Strukturen zugunsten dieser übergeordneten Ziele verändern" - oder, so wäre zu ergänzen, auch nicht (REISER 1990a, 33).
In diesem Bereich ergeben sich Widersprüche in bezug auf den institutionellen Eigencharakter der Schule: Schule zeichnet sich durch Spezialisierung und institutionelle Selbsterhaltung aus, zu der "die verwaltungsmäßige Planbarkeit des Schulbetriebs, aus der Sicht der Verwaltung die routinemäßige Einsetzbarkeit der Lehrkräfte, aus der Sicht der Lehrkräfte die routinemäßige Ableistung von Unterrichtsarbeit" gehört (REISER 1990c, 268). Sie erlaubt z.B. auch teilzeitbeschäftigten LehrerInnen, Berufstätigkeit und Familienleben in befriedigender Weise zu verbinden. Integration verlangt jedoch "Flexibilität und Offenheit für individuelle und fallspezifische Lösungen" (1990c, 268), die institutioneller Routine widersprechen. REISER zieht aus dieser Aussage die Konsequenz, daß die Integrationsarbeit dann am besten zu realisieren ist, wenn sie eingebettet ist in die Erarbeitung eines schuleigenen Konzepts, das eigenes Profil entwikelt und sich dem Stadtteil öffnet. Organisationsentwicklung als Herausforderung für die ganze Schule ist der Rahmen, in dem Integrationsklassen nicht mehr in der Gefahr eines exotischen Fortsatzes stehen, sondern zu einem integralen Bestandteil eines werden. Hier treffen sich REISERs Überlegungen mit den konkreten Vorschlägen von SCHLEY (1990b) zur wissenschaftlich begleiteten Organisationsentwicklung.
Zielperspektive bei solchen Prozessen institutioneller Weiterentwicklung ist die gemeindenahe Schule, die sich nicht nur allen Kindern ihres Einzugsbereiches öffnet, sondern sich auch entsprechend den Ansätzen einer community education dem Stadtteil und dem Umfeld selbst zuwendet und das Lernen in der Schule mit dem Leben außerhalb der Schule in eine engere Verzahnung bringt. Wohnortnahe Integrationskonzepte sind bereits Anfang der 80er Jahre formuliert und später weiterentwikelt worden (vgl. PREUSS-LAUSITZ 1981, 1982, 1986b, 1988b).
In diesem Zusammenhang ist auch der ökosystemische Ansatz der Arbeitsgruppe um SANDER bedeutsam, der sich auf BRONFENBRENNER bezieht (vgl. auch Kap. 2.1.2.). Ein solcher ökologischer Ansatz verlangt, Kinder nicht nur in ihrer personalen, individuellen Dimension, sondern als in den Rahmen ihrer sozialen Bezügen eingebettet wahrzunehmen. Die Betrachtung dieser Wechselbezüge macht den Kern des ökosystemischen Ansatzes der Saarbrücker Arbeitsgruppe um SANDER aus (vgl. z.B. HILDESCHMIDT & SANDER 1988, 220f). Besondere Bedeutung erlangt diese Betrachtungsweise u.a. in der Eingangsdiagnostik und Beratung. Sie lenkt aber auch generell die Aufmerksamkeit auf die Zusammenhänge zwischen der Integrationsidee und vorhandenen bzw. notwendigen Rahmenbedingungen, innerhalb deren gemeinsamer Unterricht realisiert werden soll.
In diesem Abschnitt sind also im Sinne der Frankfurter Definition integrativer Prozesse auf der institutionellen Ebene jene Fragen zu bearbeiten, die die Rahmenbedingungen im weitesten Sinne betreffen, auf denen ein integrativer Unterricht aufbaut. PRENGEL weist auf die "Reibungspunkte zwischen Projekten und Administration" hin: "Notengebung, Zulassung der Geistigbehinderten, Personalausstattung, Übergang in die Sekundarstufe, Fortführung von Integrationsversuchen nach Ablauf der Versuchsphase", verbunden mit Kooperationsproblemen zwischen den Abteilungen der Behörden und in Kollegien (PRENGEL 1990c, 284).
Zunächst sind als rechtliche Grundlagen die Schulgesetze zu betrachten, die die erste Voraussetzung und ggf. Schwelle bilden, indem sie gemeinsames Leben und Lernen, wenn auch zunächst als Ausnahme von der Regel, zulassen oder nicht (Kap. 3.4.1.). Weiter ist nach den Rahmenbedingungen zu fragen, die von der Schulverwaltung in konzeptioneller, aber auch personeller und materieller Hinsicht bereitgestellt werden (Kap. 3.4.2.). Schließlich stellt sich angesichts des neuen Grades von Verschiedenheit bei Kindern in einer Schule und Klasse die schwierige Frage danach, was einerseits Kinder mit Behinderungen an Bedingungen und ggf. zusätzlichen Ressourcen brauchen, andererseits nach administrativen Regelungen, mit denen eine integrative Schule verantwortbar praktiziert werden kann - die Frage also nach diagnostischen Vorgehensweisen, die eine Balance zwischen staatlicher Sorgfaltspflicht und den Notwendigkeiten für einzelne Kinder herstellen müssen (Kap. 3.4.3.). Bei der Aufnahme in die Grundschule und beim Übergang in die Sekundarstufe tritt diese Problematik deutlich und angstauslösend hervor.
Das gemeinsame Lernen von behinderten und nichtbehinderten Kindern ohne prinzipiellen Ausschluß ist zunächst in keinem Schulgesetz eines Bundeslandes vorgesehen gewesen. Das erste Integrationsprojekt im staatlichen Schulwesen, die Fläming-Grundschule Berlin, konnte nur als "abweichende Organisationsform" geführt werden, nachfolgende Projekte im Bundesgebiet als Schulversuche. Nur so konnten die vom Normalen abweichenden Rahmenbedingungen und Anliegen realisiert und legitimiert werden. Integration im Sinne der Integrationsklassen ist zunächst als Ausnahme von der Regel ermöglicht worden, wenn und soweit die bildungspolitisch Verantwortlichen in den einzelnen Bundesländern im Rahmen ihrer Kulturhoheit dies unterstützt oder wenigstens zugelassen haben. Damit ist die Kulturhoheit der Länder Fluch und Segen zugleich, je nach dem bildungspolitischen Willen des betreffenden Bundeslandes. Aussagen auf Bundesebene, z.B. im Fünften Jugendbericht der Bundesregierung, weisen seit längerem auf eine stärkere Integrationsorientierung hin (vgl. SANDER & CHRIST 1985, 175).
Die gemeinsame Grundlage der Landesschulgesetze bilden die bundeseinheitlichen Empfehlungen der Kultusministerkonferenz, die eine Koordination gewährleisten sollen, jedoch keine Verbindlichkeit besitzen. Für die Beschulung von Kindern mit Behinderungen sind vor allem die "Empfehlung zur Ordnung des Sonderschulwesens" von 1972 und der "Bericht über Bedingungen und Grenzen des gemeinsamen Unterrichts von lernbehinderten und nichtbehinderten Schülern in allgemeinbildenden Schulen" von 1983 bedeutsam (vgl. SANDER & CHRIST 1985). Nach diesen Verlautbarungen hat es erst 1991 wieder einen Entwurf für bundeseinheitliche Aussagen gegeben (KMK 1991).
Die juristische Situation ist durch das im Grundgesetz verankerte Spannungsverhältnis im Bildungswesen zwischen den Grundrechten der Eltern und des Kindes (Art. 6 Abs. 2 GG) und dem staatlichen Schulaufsichtsrecht (Art. 7 Abs. 1 GG) begründet (vgl. FüSSEL & NEVERMANN 1984). Das Elternrecht bezieht sich in der Praxis auf die Auswahl unter verschiedenen Bildungsgängen und Schularten, die vom Staat angeboten werden. Der Staat seinerseits ist bei der Gestaltung des Schulwesens an seine eigenen Ziele, aber auch an den grundsätzlichen Willen von Eltern und SchülerInnen gebunden (1984, 53). Gleichwohl sind aus den grundgesetzlichen Rechten keine Ableitungen zur Gestaltung des Schulwesens, etwa für oder gegen eine gemeinsame bzw. eine getrennte Beschulung behinderter und nichtbehinderter Kinder möglich (vgl. FüSSEL 1988, 102). Die Unklarheiten beginnen bereits bei der Pflicht zum Besuch der Sonderschule, die sich auf eine "recht unbestimmte Gruppe von entwicklungsgestörten, kranken und behinderten Kindern und Jugendlichen" bezieht (SANDER & CHRIST 1985, 172f.) und keine genauen Kriterien und keine klaren Rechtsbegriffe enthalten. Zudem scheinen an der Grundgesetzgemäßheit der juristischen Grundlagen des Sonderschulrechts Zweifel zu bestehen (vgl. DIETZE 1988a, 1988b). Zumindest wird aufgrund der Ausbreitung integrativer Erziehung schulgesetzlicher und administrativer Handlungsbedarf festgestellt (BLEIDICK 1989a, BUNDESVEREINIGUNG 1991).
Nach den Vorgaben des Grundgesetzes sollen Eltern und Staat im Bildungswesen gleichrangig zusammenwirken. Veränderungen des Elternwillens kann zunächst vernünftigerweise nur durch Ausnahmeregelungen wie Schulversuche entsprochen werden. Sie ermöglichen, "pädagogische Vorhaben" zu erproben (SCHULGESETZ 1973, § 23, sinngemäß in den Schulgesetzen der anderen Bundesländer). So können neue Konzepte mit veränderten Rahmenbedingungen - in eingeschränktem Rahmen - in die Praxis umgesetzt werden. Mit dem Schulversuchsstatus verbunden ist die Freiwilligkeit der SchülerInnen bzw. der Eltern, die der beteiligten PädagogInnen und Schulen und eine Wissenschaftliche Begleitung, die die gemachten Erfahrungen dokumentiert und auswertet. Es besteht jedoch kein Recht auf Ausweitung und Weiterführung (vgl. SANDER & CHRIST 1985, 173).
Die Funktion von Schulversuchen wird kontrovers eingeschätzt. Offensichtlich können sie von Landesregierungen sehr unterschiedlich genutzt werden: Einerseits ermöglichen sie einen Beginn von Schulreformbestrebungen unter Ausnahmebedingungen, der Erfahrungen ermöglicht, die sich dann mehr oder minder schnell auf breiterer Basis zum Allgemeingut des Schulsystems entwikeln. Bei ihnen wird es zu einer formalen Frage, ob und wann sie aus dem Versuchsstatus in den Regelstatus überführt werden können. Dieser Verlauf scheint allerdings in der Mehrzahl eher idealtypisch und wenig realistisch zu sein. Andererseits können Schulversuche eingerichtet werden, um offensichtlichem Bedarf - etwa von lautstarken Initiativen - zu entsprechen und diese zu beruhigen, dann aber eine Weiterentwicklung dadurch zu blockieren, daß erst wissenschaftliche Ergebnisse abgewartet werden müßten, bevor weiter entschieden werden könne. In diesem Sinne können Schulversuche, wie SCHöLER ausgeführt hat, eine gute Möglichkeit sein, Schulreform, in diesem Falle Integration, zu verhindern.
Mit erfolgreichem Verlauf der Versuche stehen jedoch bei gleichbleibendem Elternwillen und staatlicher Verantwortbarkeit schulgesetzliche Änderungen an. Die Änderung der Schulgesetze im Sinne des gemeinsamen Lebens und Lernens für alle Kinder als anerkanntes Regelangebot und die Einführung eines Wahlrechts der Schulform auch für Eltern von Kindern mit Behinderungen ist von Anfang an eine der Hauptforderungen der Elternbewegung für Integration gewesen. Sie war schon in der Resolution des ersten bundesweiten Elterntreffens 1984 in Bremen enthalten (KOERNER 1985, 63) und ist vielfach wiederholt worden.
Im folgenden sollen die schulgesetzlichen Regelungen bezüglich der Integration betrachtet werden. In Hamburg etwa besuchen Kinder mit Behinderungen nur dann Sonderschulen, wenn sie "in den anderen Schulformen nicht hinreichend gefördert werden können" (SCHULGESETZ § 20). Es ist dies jene alte Formulierung, die vom Deutschen Bildungsrat mit der Formel "so viel Integration wie möglich, so viel Besonderung wie nötig" eingeführt wurde und das Subsidiaritätsprinzip der Sonderschule deutlich macht. Damit wird der allgemeinen Schule nur teilweise die Verantwortlichkeit für alle Kinder übertragen, die insbesondere die Grundschule als "Schule für alle" haben müßte.
Als erstes Bundesland ist das Saarland seit 1985 mit § 4 Abs. 1 des Schulordnungsgesetzes einen wichtigen Schritt weiter gegangen: "Der Unterrichts- und Erziehungsauftrag der Schulen der Regelform umfaßt grundsätzlich auch die behinderten Schüler" (GESETZ NR. 1200 1986). Damit ist erstmalig in der Bundesrepublik "in einem Landesschulgesetz ein grundsätzliches Recht behinderter Kinder auf gemeinsamen Unterricht in den Regelschulen verankert" worden (CHRIST 1987, 166). Gleichwohl ist hier ein Finanzierungsvorbehalt eingebaut, der schulische Integration auf den "Rahmen der vorhandenen schulorganisatorischen, personellen und sächlichen Möglichkeiten" beschränkt und so aufgrund finanzieller Probleme des Saarlandes insgesamt den Grundsatz der Kostenneutralität gewährleistet (vgl. Kap. 3.4.2., CHRIST & SANDER 1989).
Der entscheidende Punkt auf gesetzlicher Ebene - zumal für die Elternbewegung - ist neben einer eindeutigen Verantwortlichkeit der allgemeinen Schule für alle Kinder und dem damit verbundenen Primat der Integration die Frage des Elternrechts. Auch hier hat das Saarland einen ersten Schritt unternommen. Entsprechend der Integrationsverordnung (BREITENBACH 1987) haben die Eltern ein Antragsrecht auf Integration für ihr behindertes Kind, unabhängig von Art und Schwere der Behinderung, und bezogen auf alle Schulformen und -stufen. In Berlin ist eine noch weiter gehende Regelung vom rot-grünen Senat auf den Weg gebracht worden: In § 10a wird festgestellt: "Bis zum Schuljahr 1996/97 sind die Voraussetzungen für das uneingeschränkte Wahlrecht der Erziehungsberechtigten von Schülerinnen und Schülern mit festgestelltem sonderpädagogischen Förderbedarf zwischen der allgemeinen Schule und einer bestehenden Sonderschule oder Sonderschuleinrichtung zu schaffen" (ZWEIUNDZWANZIGSTES GESETZ 1990). Damit ist man der Realisierung der Forderung der Elternbewegung nähergekommen. Gleichwohl ist noch nicht der Standard der USA erreicht, wo seit der Mitte der 70er Jahre Eltern von Kindern mit Behinderungen das Recht und die Klagemöglichkeit auf gemeinsame Beschulung haben. Dies ist eine wichtige Basis, wenngleich sie nicht eine veränderte Praxis gewährleisten kann (vgl. DEGENER 1990).
Auf der Grundlage schulgesetzlicher Vorgaben wird für Kinder mit Behinderungen ein Aufnahmeverfahren eingeleitet, das über Kommissionen (Förderausschuß, Aufnahmekommission) oder ansässige SonderpädagogInnen die Bedürfnisse und Notwendigkeiten der einzelnen Kinder mit Behinderungen wie der Lerngruppe insgesamt zu dokumentieren und für entsprechende Ausstattung zu sorgen hat (vgl. hierzu Kap. 3.4.3.).
Besondere Probleme gibt es erfahrungsgemäß beim Übergang vom Status eines - als erfolgreich eingeschätzten - Schulversuchs zum Regelangebot. Als ein Beispiel für einen - vorerst? - steckengebliebenen Versuch der Überführung vom Schulversuch zum Regelangebot kann der Versuch Integrationsklassen in Hamburger Grundschulen gelten. Im Referentenentwurf der Schulbehörde war zunächst vorgesehen, die Integrationsklassen in ein Regelangebot zu überführen und sie durch die Einrichtung Integrativer Regelklassen zur Nichtaussonderung von Kindern aus Parallelklassen mit der Zielperspektive einer integrativen, nicht aussondernden Schule zu ergänzen (BSJB 1989a, 17). Schon in der überarbeiteten Fassung (BSJB 1989b), aber auch in der Beschlußvorlage des Hamburger Senats an die Bürgerschaft (BüRGERSCHAFT 1990) ist von einer Überführung des Schulversuchs ins Regelangebot nicht mehr die Rede. Hier sind eher bildungspolitische und strategische als pädagogische Gründe bzw. Machtverhältnisse maßgeblich.
Damit bleibt Hamburg trotz breiterer Erfahrungen mit der integrativen Erziehung auf schulgesetzlicher Ebene nicht nur hinter dem Saarland, sondern u.a. auch hinter Schleswig-Holstein und Berlin zurück. Schleswig-Holstein hat 1990 mit § 5 (2) seines Schulgesetzes die saarländische Wende nachvollzogen und konkretisiert: "Behinderte und nichtbehinderte Schülerinnen und Schüler sollen gemeinsam unterrichtet werden, soweit es die organisatorischen, personellen und sächlichen Möglichkeiten erlauben und es der individuellen Förderung behinderter Schülerinnen und Schüler entspricht" (SCHLESWIG-HOLSTEINISCHES SCHULGESETZ 1990, 16). Sonderschulen sollen ihre Funktion in die von Förderzentren wandeln und nach § 25 (3)
-
"die Behinderung beheben oder deren Folgen mildern und dabei eine allgemeine Bildung vermitteln und auf die berufliche Bildung vorbereiten,
-
auf die Eingliederung der Schülerinnen und Schüler in Schulen anderer Schularten hinwirken,
-
sich an der Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Schülerinnen und Schüler in den anderen Schularten beteiligen,
-
an der Planung und Durchführung von Formen des gemeinsamen Unterrichts für behinderte und nichtbehinderte Schülerinnen und Schüler mitwirken,
-
Eltern von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf und deren Lehrkräfte beraten" (1990, 27).
Hier sind zu den traditionellen sonderschulpädagogischen Aufgaben die der unterstützenden Ambulanz hinzugetreten (vgl. Kap. 3.3.4).
Auch in den Änderungen zum Berliner Schulgesetz 1990 wird in § 10a eine entsprechende Aussage zum gemeinsamen Unterricht gemacht. In § 10a (1) wird sinngemäß die saarländische Formulierung übernommen: "Der Unterrichts- und Erziehungsauftrag der allgemeinen Schule (Grund- und Oberschule) umfaßt auch Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Dies gilt nicht für geistig- und schwermehrfachbehinderte Schülerinnen und Schüler sowie für den Sekundarbereich I" (ZWEIUNDZWANZIGSTES GESETZ 1990). Für die beiden genannten Bereiche werden zunächst landesweite Schulversuche durchgeführt. Zur konkreten Realisierung sagt § 10a (5) aus: "Der Unterrichts- und Erziehungsauftrag der allgemeinen Schule (...) wird schrittweise verwirklicht. Er gilt ab Schuljahr 1991/92 für die Vorklasse sowie die Klassenstufen 1 und 2, in den folgenden Schuljahren jeweils zusätzlich für die nächsthöhere Klassenstufe" (1990). Die Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs erfolgt - nach Maßgabe einer Rechtsverordnung - durch Förderausschüsse. Die zwischenzeitlich erfolgten politischen Machtverschiebungen mit einer großen Koalition haben diese deutliche Integrationsorientierung stagnieren lassen.
In Hessen, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz stehen nach sozialdemokratischen Wahlsiegen Schulgesetzänderungen im Sinne der Hinwendung zu schulischer Integration an (vgl. HESSISCHER LANDTAG 1992). Dort soll gemeinsamer Unterricht im Primarbereich Regelangebot werden, für die Sekundarstufe I werden Schulversuche geplant. Die Schulgesetze der neuen Bundesländer orientieren sich gemäß der politischen Orientierung der Regierungen weitgehend an den Regelungen in den entsprechend regierten Altbundesländern. Immerhin ist damit in drei Bundesländern der gemeinsame Unterricht schulgesetzlich aus dem Versuchsstadium herausgetreten, als Regelangebot und damit als legitimer Teil des allgemeinen Schulwesens anerkannt worden. Weitere sind auf dem Weg dazu.
In diesem Abschnitt gilt es, die Voraussetzungen zu betrachten, unter denen gemeinsames Leben und Lernen bislang ermöglicht wird.
Die konzeptionellen Rahmenbedingungen betreffen vor allem die Grundprinzipien, auf denen Integrationsversuche (mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung) basieren:
Das Prinzip der Freiwilligkeit ist schon mit dem Schulversuchsstatus verbunden und gilt in allen Integrationsprojekten für Eltern, PädagogInnen und für die Schulen. Es ist jedoch mit dem Paradox behaftet, daß die Freiwilligkeit der Eltern behinderter Kinder mitunter bei der Freiwilligkeit der Schule, die integrative Begehren schlicht ablehnen kann, endet (vgl. HINZ 1990a, 390). Langfristig wäre zu hinterfragen, mit welchem Recht Schulen und PädagogInnen es ablehnen können, neben Kinder ohne deutliche auch solche mit Behinderungen zu unterrichten. Heute wird im Gegensatz zu früheren Zeiten keine Schule und kein(e) LehrerIn gefragt, ob sie neben Jungen auch Mädchen, neben evangelischen auch katholische, neben deutschen auch ausländische, neben Akademikerkindern auch solche von Arbeitern unterrichten möchte. Weiter droht mit dem durch das Freiwilligkeitsprinzip bedingten Angebotscharakter langfristig eine Zersplitterung des Schulsystems, das damit im Hinblick auf die Entwicklungschancen von Kindern immer weniger vergleichbar würde.
Weiter gilt für alle Projekte mit Integrationsklassen und -schulen - bis auf administrativ verfügte Einschränkungen - das Prinzip der offenen Aufnahmetoleranz (WOCKEN 1988b) bzw. das Prinzip Nichtaussonderung (PREUSS-LAUSITZ 1986c), nach dem kein Kind aufgrund der Art oder des Schweregrades seiner Behinderung von vornherein ausgeschlossen wird (vgl. Kap. 2.1.1).
Das Prinzip der multiprofessionellen Versorgung (WOCKEN 1988b) verdeutlicht, daß integrative Klassen durch ein Team von PädagogInnen mit unterschiedlichen Kompetenzen gemeinsam unterrichtet werden (vgl. Kap. 3.3.1 und 3.5.2).
Dem Prinzip Stadtteilbezug (PREUSS-LAUSITZ 1986c) folgend kann sich Integration dann am besten ereignen, wenn die Kinder im gleichen Umfeld wohnen und soziale Kontakte im außerschulischen Bereich weitergeführt werden können; spezielle Hilfen sind zu den Kindern zu bringen (vgl. Kap. 3.2.1).
Das Prinzip des zieldifferenten Lernens (WOCKEN 1988b) besagt, daß von unterschiedlichen Kindern Unterschiedliches verlangt und erwartet werden muß; die Leistungsbewertung muß daher verbal erfolgen (vgl. Kap. 3.5.1).
Das Prinzip der Kind-Umfeld-Diagnose (SANDER U.A. 1987 ff.) bezeichnet das systemische Verständnis einer Diagnostik, die das Kind und das System betrachtet, in das das Kind aufgenommen werden soll (vgl. Kap. 3.4.3).
Bei den personellen Rahmenbedingungen lassen sich in Abhängigkeit von der Klassenzusammensetzung grob zwei Formen unterscheiden: Bei einer größeren Zahl von Kindern mit Behinderungen in einer Klasse - zwischen zwei und fünf - wird mit einem ständigen Zwei-PädagogInnen-System gearbeitet. Befindet sich nur ein Kind mit Behinderungen in der Klasse, so arbeitet ein(e) zweite(r) PädagogIn stundenweise in der Klasse mit. Ersteres hat den Vorteil der ständigen Kooperationsmöglichkeit zur Komplexitätsreduzierung der Gesamtsituation (vgl. Kap. 3.3.1), verbunden mit dem Nachteil einer überproportionalen Häufung von Kindern mit Behinderungen, letzteres hat den Vorteil einer stärkeren Berücksichtigung der Regionalisierung und Wohnortnähe, allerdings verbunden mit der nur zeitweise gegebenen Möglichkeit zur Kooperation im Unterricht. Im Zwei-PädagogInnen-System arbeiten entweder Regel- und SonderschullehrerInnen oder eine(r) von ihnen mit Pädagogischen MitarbeiterInnen zusammen (vgl. REISER 1990c, 259; zu den Kooperationsproblemen vgl. Kap. 3.3.2). Die Konstellation im Hamburger Grundschulbereich mit GrundschullehrerIn, ErzieherIn und stundenweise mitarbeitender SonderpädagogIn stellt bundesweit betrachtet eine Ausnahme dar; demgegenüber erscheint die Ausstattung in der Sek I mit einer längeren Anwesenheitszeit der SonderpädagogInnen günstiger (vgl. HEIMER 1989). Für Kinder mit besonders großem Betreuungsbedarf werden in vielen Projekten zusätzliche personelle Ressourcen aufgeboten, etwa Zivildienstleistende oder andere Kräfte, so daß in der Praxis eine (fast) durchgehende Anwesenheit von drei Erwachsenen gegeben ist (vgl. HINZ 1991a, 135). Unterschiedlich ist die Einbindung von TherapeutInnen in Integrationsprojekte geregelt: Teils arbeiten sie stundenweise direkt im Unterricht mit, teils sind die Eltern auf ambulante Therapien am Nachmittag verwiesen, was sich allerdings bisher für die Aufnahme von Kindern nicht negativ bemerkbar gemacht hat (vgl. Kap. 3.5.3).
Eine spezielle Problematik ergibt sich aus der weitverbreiteten Praxis, zusätzliche personelle Ressourcen an einzelne Kinder mit Behinderungen zu binden. Konzeptionell ist dies den Einzelintegrationsmaßnahmen eigen, aber auch in Integrationsklassen wird mitunter (so im Hamburger Grundschulbereich) die Stundenzahl von SonderpädagogInnen an die Anzahl der behinderten Kinder gekoppelt. Zieht dann z.B. ein Kind weg, verschlechtert sich die personelle Ausstattung rapide; Kooperationsprobleme verschärfen sich, das Zwei-PädagogInnen-System als Möglichkeit der Komplexitätsreduzierung (vgl. Kap. 3.3.1) gerät ins Wanken. Hinzu kommt die Problematik der Etikettierung einzelner Kinder als behindert als Voraussetzung für die Zuweisung von Ressourcen. Sie erscheint jedoch für die Praxis problematisch und überflüssig (vgl. Kap. 3.5.1 sowie HINZ 1990a, 398f.).
Völlig unhaltbar ist es, Kindern mit Behinderungen nur einen Status als GastschülerInnen der allgemeinen Schule zuzuweisen, die die ihnen zustehenden Ressourcen aus der sonst zuständigen Sonderschule mitbringen und offiziell deren SchülerInnen bleiben (so die Praxis im Bundesland Nordrhein-Westfalen, beginnend mit den Projekten Bonn-Friesdorf und Peter-Petersen-Schule in Köln; vgl. BUNDESVEREINIGUNG 1987, KLINKE 1986, DER KULTUSMINISTER 1990). Ein solcher Zustand mag in der Anfangsphase pragmatisch vertretbar oder unumgehbar gewesen sein; auf längere Sicht ist er nicht akzeptabel, weil er dem Prinzip einer gemeinsamen Schule, die für alle Verantwortung trägt, diametral widerspricht.
Ein Charakteristikum von Integrationsklassen ist die Senkung der Klassenfrequenz. Abgesehen von einzelnen Ausnahmen hat sie sich bundesweit zwischen 15 und 20 Kindern eingependelt (PRENGEL 1990a, 37), wobei sich die Gruppe von 20 Kindern als vielfältiger und sinnvoller erwiesen hat (H. MüLLER 1988, 30f.).
Bei der Klassenzusammensetzung ergeben sich in der Entstehung begründete Unterschiede. Die von Eltern initiierten Projekte weisen einen stark überhöhten Anteil von Kindern mit Behinderungen auf, von Kollegien und WissenschaftlerInnen initiierte orientieren sich dagegen an der Normalverteilung von Kindern mit Behinderungen (im Saarland und an der Uckermark-Grundschule Berlin). Im Durchschnitt der Jahre 1976 bis 1986 kommt es zu einem Anteil von Kindern mit Behinderungen von 23 %, mit leicht abnehmender Tendenz (PRENGEL 1990a, 37). Integrationsprojekte nehmen somit "ca. sechsmal so viele behinderte Kinder auf als ihr normaler Anteil an jedem Grundschuljahrgang ausmacht" (1990a, 38).
Hamburger Untersuchungen weisen darüberhinaus auf einen hohen Anteil jener Kinder hin, die als offiziell nichtbehindert in Integrationsklassen aufgenommen werden, aber im Laufe der Schulzeit besondere Bedürfnisse und Notwendigkeiten bezüglich des Lernens, des Verhaltens und der Sprache entwikeln. Für die Zeit von 1983-1988 kommen HINZ & WOCKEN auf einen Anteil der behinderten Kinder von 18 % und auf einen zusätzlichen Anteil von Kindern mit Auffälligkeiten von 17 % (1988, 20) - zusammen mehr als ein Drittel der Kinder in Integrationsklassen mit besonderen Bedürfnissen! Den zusätzlichen hohen Anteil offiziell nichtbehinderter, schwieriger Kinder gibt es bei regionalisiert arbeitenden wie auch bei Angebotsschulen mit größerem Einzugsbereich (PRENGEL 1990b, 166).
Eine weitere Schieflage ergibt sich bezüglich der Häufigkeit von Behinderungsformen. Dies machen übereinstimmend Ergebnisse deutlich, etwa die von REISER (1990b, 41) bundesweit für die Kinder aller zweiten Integrationsklassen 1985 erhobenen, aber auch die für den Hamburger Versuch im Überblick von 1983-1988 (HINZ & WOCKEN 1988, 18) erhoben wurden. In beiden Versuchen wurde ein besonders großer Anteil von Kindern aufgenommen, die sonst in Schulen für Körper- und Geistigbehinderte eingeschult worden wären (70 bzw. 54 %); Kinder mit großen Lernproblemen sind gegenüber der Normalverteilung in Sonderschularten deutlich unterrepräsentiert (13 bzw. 19 %). Nach FRüHAUF besuchen in Hamburg im Schuljahr 1989/90 bereits über 10 % der geistig behinderten SchülerInnen Integrationsklassen (1991, 16); im Bundesdurchschnitt sind dies noch unter 1 % (1991, 19). Diese Verzerrung läßt sich in erster Linie mit der früheren Erkennbarkeit der überrepräsentierten Behinderungsarten erklären. Teilweise spielen auch die Kriterien der Aufnahme eine Rolle (vgl. Kap. 3.4.3). Aber auch die unterschiedliche Bildungsnähe der Eltern der Kinder mit jenen Behinderungsarten, die eine schichtenspezifische Verteilung aufweisen, hat hier Einfluß. Eltern von Kindern mit Lernbehinderungen sind demgegenüber seltener in der Lage, sich an der Durchsetzung von Integrationsprojekten zu beteiligen. REISER (1990c, 270) sieht diese Verzerrungen als Folge des Versuchscharakters, der zuungunsten von Eltern und Kindern bestimmter Bevölkerungsschichten geht.
Interessant ist auch die Geschlechterverteilung der Kinder in Integrationsklassen. Hierzu können die Ergebnisse von PRENGEL (1990a) und HINZ & WOCKEN (1988) herangezogen werden. In beiden Untersuchungen wird übereinstimmend deutlich, daß bedeutend mehr behinderte Jungen als Mädchen aufgenommen worden sind (bei PRENGEL sind zwischen 100 und 66 %, bei HINZ & WOCKEN zwischen 78 und 61 % der aufgenommenen behinderten Kinder Jungen). Auch in Sonderschulen sind Mädchen unterrepräsentiert (in Schulen für Lernbehinderte ca. 40%, in anderen ca. 37%; vgl. PRENGEL 1990a, 40), in Integrationsklassen tritt diese Tendenz noch verstärkt auf. Besonders eklatant wird dieses Verhältnis bei den auffälligen Kindern in der Hamburger Untersuchung: Dort sind von den auffälligen Kindern im Gesamtzeitraum nur ca. 25 % Mädchen (28 von 111; HINZ & WOKEN 1988, 19). Demgegenüber ergibt sich im Gesamtzeitraum bei den nichtbehinderten Kindern ein umgekehrtes Verhältnis, denn fast 60% sind Mädchen (243 von 412; 1988, 19). Bundesweit bilden sie in Grundschulen jedoch nur knapp 49 % (PRENGEL 1990a, 40). Gleichwohl lassen beiden Untersuchungen mit zunehmender Bekanntheit eine Tendenz zu mehr Normalität erkennen.
Für die räumlichen Rahmenbedingungen wird fast einheitlich bundesweit angestrebt, daß ein zweiter Raum zur Verfügung steht, so daß mehr Möglichkeiten der Dezentralisierung des Arbeitens, besonders für offene Lernsituationen genutzt werden können. Im Zusammenhang mit didaktischen Elementen wurde schon auf die Notwendigkeit der Umgestaltung eines Lernortes in eine anregende Lebens- und Lernumwelt mit unterschiedlichen Funktionsbereichen angesprochen (ein Beispiel dafür findet sich in CZERWIONKA & SCHMUCK 1988; vgl. auch Kap. 3.3.3). Hierbei können u.U. auch notwendige Ausstattungselemente für einzelne Kinder mit Behinderungen positive Anregungen für die ganze Klasse oder Schule bieten (vgl. MAIKOWSKI & PODLESCH 1988c, 137f.). Häufige Erfahrungen zeigen, daß auch andere Kinder von der Vielfalt der Zugänge, Medien und Aneignungsniveaus (vgl. Kap. 3.5.1) profitieren. Ausstattungselemente für Kinder mit Behinderungen wie z.B. die Zugänglichkeit für Kinder im Rollstuhl, Orientierungshilfen für blinde, Schalldämpfung für schwerhörige Kinder können oft durch pragmatische Eigeninitiative bereitgestellt werden; dies enthebt die Schule jedoch nicht von der - u.U. längerfristigen - Verpflichtung zur Bereitstellung einer angemessenen Ausstattung. Oft werden Ausstattungsfragen zum Vehikel für Rückzugsgefechte gegenüber einer Öffnung der Schule für alle Kinder (vgl. SCHLEY 1989a, 13). Daher kommt es auf eine Parallelstrategie mit pragmatischen (Zwischen-) Lösungen und grundsätzlichen Forderungen an (vgl. HETZNER 1988b).
Diese Situation mit veränderten Anforderungen bedingt eine andere Ausstattung, die zumindest in Teilen durch verbesserte finanzielle Ressourcen gesichert werden muß, denn nur zum Teil läßt sich die veränderte Ausstattung mit von den Kindern mitgebrachten Alltagsmaterialien bestreiten. Hamburger Integrationsklassen erhalten zum Beginn der Arbeit in der Grundschule die Standardausstattung der Vorklassen und zusätzlich pro Jahr 1000 DM für die Anschaffung von Arbeitsmaterialien (vgl. BüRGERSCHAFT 1990, 9).
Bezüglich der finanziellen Rahmenbedingungen erscheint es wichtig darauf hinzuweisen, daß Integration auf Dauer nicht als kostenneutrales Reformprojekt realisiert werden kann. Die Planungen der Hamburger Schulbehörde weisen für die Jahre 1991-1996 einen ansteigenden finanziellen Mehrbedarf von insgesamt 26,7 Mio. DM aus (BüRGERSCHAFT 1990, 9). Damit steht Integration als innovatives Schulreformprojekt in einer undankbaren Konkurrenz mit allen anderen Vorhaben und Notwendigkeiten des Bildungsbereichs. Nicht selten wird gefordert, daß zunächst ein ausreichender Stand der schulischen Versorgung mit LehrerInnenstunden, Lehrmittelausstattung etc. gewährleistet sein müsse, bevor man sich solche teuren Projekte leisten könne. Auch wenn in dieser Situation bildungspolitische Entscheidungen zur Gratwanderung zwischen notwendigen Verbesserungen und wünschenswerten Innovationen geraten müssen, erscheint es doch richtig und wichtig, pädagogische Reform nicht auf den unabsehbaren Tag einer ausreichenden Versorgung der Schulen zu verschieben und solange auf pädagogische Innovation zu verzichten. Ganz abgesehen davon werden derartige Argumentationen auch gerne für ideologische Funktionen genutzt.
Im Saarland findet die landesweite Integration aufgrund der finanziellen Situation des Landes unter der Prämisse insgesamt gegebener Kostenneutralität statt (vgl. Kap. 3.4.1). Einerseits hat die saarländische Integrationsentwicklung nur unter dieser Bedingung derartig weitreichend und erfolgreich sein können. Andererseits mehren sich die Zeichen, daß Integrationsmaßnahmen für Kinder mit einem Förderbedarf, die größere finanzielle Ressourcen nötig machen, nicht in hinreichender Zahl eingerichtet werden können. So drohen etwa Integrationsmaßnahmen für ein Kind abgelehnt zu werden, das sonst in eine Schule für Geistigbehinderte eingeschult würde und nun eine permanente Doppelbesetzung mit PädagogInnen braucht (vgl. HINZ 1992b). Hierzu stellt SANDER fest: "Von den 8 Anträgen (für Kinder mit geistiger Behinderung; A.H.) 1989 führte keiner zur Integration in eine Regelklasse!" (1990, 32). Weiter deutet die große Zahl von Integrationsanträgen, bei denen im Förderausschuß kein sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt wird (1989: 47 von 226 = etwa 20 %; 1990, 13), auf jenen problematischen Effekt hin, bei dem die allgemeine Schule dadurch noch unbeweglicher zu werden droht, daß sie schon für Kinder mit relativ geringen Problemen SpezialistInnen heranzuziehen trachtet und sich damit tendenziell der Verantwortung für diese Kinder entledigt. Dies ist auch ein Effekt der Bindung personeller Ressourcen an einzelne Kinder (vgl. Kap. 3.5.2). So drohen sich die positiven Grundsätze einer Integration ohne prinzipiellen Ausschluß von Kindern aufgrund finanzieller Gegebenheiten und unterstützt von konzeptionellen Schwachstellen in ein System mit selektiver Praxis zu verkehren, das eine große Zahl von SchülerInnen mit Lern-, Verhaltens- und Sprachproblemen auffangen zu können scheint. Bei anderen, z.B. geistig behinderten Kindern, führt es jedoch zum Nicht-Zustandekommen von Integrationsmaßnahmen und zu Überweisungen in die entsprechende Sonderschulform, und dies sowohl bei Schulbeginn wie beim Übergang in die Sekundarstufe I (vgl. hierzu SANDER 1990 sowie SCHNEIDER 1991).
Es besteht Anlaß zu ernster Sorge, daß die flächendeckende Integration im Saarland unter diesen finanziellen Rahmenbedingungen zu einem Beispiel für einen Umformungsprozeß wird, der im schlimmsten Falle zu folgendem Zustand führen könnte: Kinder, deren Integration mit größeren ressourcenbezogenen Notwendigkeiten verbunden sind, werden eher in Schulen für Behinderte eingewiesen, Kinder, die bisher zumindest teilweise ohne besondere Unterstützung in der allgemeinen Schule verblieben, werden mit Integrationsmaßnahmen unter verbesserten Rahmenbedingungen in der allgemeinen Schule gehalten und für behindert erklärt. Integration droht so vor allem auf jenen Personenkreis beschränkt zu werden, auf den schon frühere Versuche zur integrierten Förderung von Kindern mit Lern- und Verhaltensproblemen zielten. Es wäre dies die schleichende Umformung von der Integration zur Prävention.
Letztlich wird es für die Zukunft darauf ankommen, mit dem "sozialpolitische(n) Dilemma von bestehender Mittelknappheit und dem Anspruch einer humanen Schule für Kinder und Pädagogen" (HINZ 1990a, 402) so umzugehen, daß einerseits das Machbare - was immer das auch konkret sein mag - getan wird, andererseits die Bedingungen so gestaltet werden, daß positive Erfahrungen möglich sind und Reibungsverluste weder zu einem Exodus von PädagogInnen wegen der vorhandenen Bedingungen noch zu Umformungstendenzen führen, wie sie im Saarland heraufzuziehen drohen.
In allen Integrationsprojekten gibt es mehr oder minder standardisierte Verfahren, nach denen die angemeldeten Kinder aufgenommen werden. Alte Kategorien wie die 'Sonderschulbedürftigkeit', die die Zugangsberechtigung von Kindern einzig an ihren Eigenschaften und an vorhandenen Institutionen festmachten, sind für diesen Zweck obsolet geworden (vgl. Kap. 3.5.1, HINZ 1991b). Abwandlungen, etwa in Gestalt der 'Integrations(un)fähigkeit' einzelner Kinder, haben sich nicht als förderlicher und angemessener, sondern nur als modernisierte Ausschlußkriterien in der Nachfolge der 'Bildungsunfähigkeit' der Nachkriegszeit erwiesen, mit der bestimmten Kindern der Zugang zu schulischer Bildung und Erziehung überhaupt unmöglich gemacht wurde (HETZNER & STOELLGER 1988, HINZ 1990b). Auch der Begriff des "sonderpädagogischen Förderbedarfs" führt hier nur bedingt weiter: Er koppelt zwar gegenüber der "Sonderschulbedürftigkeit" die Beschulung von SchülerInnen mit Behinderungen von bestimmten Institutionen ab, droht jedoch den betreffenden SchülerInnen ebenso wie ältere Begriffe den Stempel der Andersartigkeit aufzudrücken (vgl. Kap. 3.5.1 sowie HINZ 1992a).
Was also not tut, sind Verfahren der Aufnahme, die einerseits nach den Bedürfnissen und Notwendigkeiten einzelner Kinder fragen, andererseits die gegebenen und/oder herstellbaren notwendigen Rahmenbedingungen formulieren und zwischen beidem möglichst eine Passung erzielen (vgl. WOCKEN 1988c). Kinder ohne Behinderung werden - wie schulgesetzlich festgelegt - durch die Schulleitung aufgenommen. Für Kinder mit Behinderungen ist ein Verfahren notwendig, das bei genügendem Raum zur Flexibilität ein möglichst hohes Maß an pädagogischer Verantwortlichkeit, Gerechtigkeit und formaler Korrektheit enthalten muß. Zu diesem Zweck werden entweder in den meisten Projekten Gremien einberufen: im Saarland und in Berlin Förderausschüsse, in Hamburg Aufnahmekommissionen. Oder am Versuch beteiligte PädagogInnen bzw. in Berlins beiden ältesten Integrationsprojekten fachlich-pädagogische bzw. wissenschaftliche BegleiterInnen nehmen die Eingangsdiagnostik wahr (vgl. ZIELKE 1990a, HETZNER 1988c, HETZNER & STOELLGER 1988; für Bremen FEUSER & MEYER 1987, 17).
In ihrer Analyse des Übergangs vom Kindergarten zur Grundschule arbeiten COWLAN U.A. die Bedeutung der von beiden Institutionen gemeinsam getragenen Gestaltung heraus. Sie halten dies bei integrativer Erziehung für "besonders wichtig, um eine Kontinuität für die Kinder in einem so bedeutenden Lebensabschnitt zu ermöglichen, damit die Teams der Schulen die Kinder kennenlernen können, um eine ausgewogene Klassenzusammensetzung zu gewährleisten, um Kindern mit Behinderungen das Einleben in die Klasse zu erleichtern" (1991a, 35).
Insgesamt zeigt die Analyse von COWLAN U.A., daß sich Kinder in der Regel problemlos zu einer integrativen Klasse zusammenfinden, allerdings ist es für manche Kinder hilfreich, wenn eine Stammgruppe gemeinsam in die neue Institution wechselt. LehrerInnen betonen immer wieder, "daß sie selbst bei den Kerngruppen, die sich untereinander kennen, den selbstverständlichen Umgang miteinander beobachten konnten und so selbst einen unkomplizierten Zugang zur Gruppe und den Kindern mit Behinderung fanden, daß sich die Unbefangenheit der Kinder auf sie schnell übertrug" (1991b, 70). Die Existenz einer Stammgruppe ist also sowohl für manche Kinder als auch für die PädagogInnen hilfreich; das häufige Dogma, daß möglichst ganze Gruppen geschlossen von einer Stufe des Bildungssystems zur nächsten wechseln sollten, weil das für einzelne Kinder notwendig sei oder später beginnende Gemeinsamkeit nicht mehr so leicht gelingen könne, kann dagegen nicht bestätigt werden.
Weiter weisen COWLAN U.A. auf die besondere Bedeutung eines kontinuierlichen Einbezugs der Eltern hin (1991a, 36), der vorhandene Ängste, Befürchtungen, aber auch Hoffnungen und Erwartungen aufgreifen und so Ansätze eines gemeinsamen Verständnisses der Situation bei Eltern und Schule hervorbringen kann. Dabei gilt es, "die notwendige Eigenständigkeit der Institutionen und der Eltern zu verdeutlichen und zu respektieren" (1991b, 75). Auch und gerade in dieser Übergangssituation sind integrative Prozesse zwischen den Beteiligten vonnöten, um Einigungen über die Situation und die je vorhandenen Interpretationen herzustellen (vgl. hierzu auch den Bericht von BARON & HINZ 1989).
Erschwerend kommt in jenen Projekten, die nicht streng nach dem Regionalisierungsprinzip arbeiten, bei Aufnahmeverfahren hinzu, daß erfahrungsgemäß im Laufe der Jahre mit steigendem Bekanntheitsgrad immer mehr Kinder mit Behinderungen angemeldet werden, so daß das Aufnahmegremium entgegen seiner eigentlichen integrativen Intention mit der Auswahl von Kindern mit Behinderungen - mit quantitativer Selektion also - beginnen muß (vgl. COWLAN U.A. 1991a, 23-27, 35f.). So konnten z.B. in Integrationsklassen in Hamburger Grundschulen in den Jahren 1987 und 1988 weniger als 50 % der angemeldeten behinderten Kinder aufgenommen werden, weil das Angebot nicht der Nachfrage entsprechend ausgeweitet wurde (HINZ & WOCKEN 1988, 19); für die Berliner Fläming-Schule liegt der Anteil abgelehnter Kinder noch höher (HETZNER 1988c). Doch auch in den streng regionbezogenen Projekten stellt sich die Aufgabe, Bedürfnisse und Notwendigkeiten der behinderten Kinder zu dokumentieren und auf eine ausgewogene Zusammensetzung der Klasse zu achten. Sie soll weder eine 'Eliteklasse' noch eine 'Sonderklasse' sein, sondern dem Durchschnitt des Einzugsgebietes entsprechen.
Die prägnantesten Aussagen zur Eingangsdiagnostik hat die Saarbrüker Forschungsgruppe entwickelt. Ausgehend von einem ökosystemischen Behinderungsbegriff, der von einer ungenügenden Integration in das Mensch-Umfeld-System ausgeht (vgl. Kap. 3.5.1), stellt sich "für den diagnostischen Prozeß die Aufgabe, soziale und materiale Erleichterungen und 'Behinderungen' in den Umfeldern des Kindes (...) und seiner Familie aufzuklären, in gemeinsamer Beratung nach Veränderungsmöglichkeiten zu suchen und entsprechende pädagogische Handlungen zu planen" (HILDESCHMIDT & SANDER 1988, 220; vgl. HILDESCHMIDT 1988). Es geht nicht darum, Defizite und Defekte des einzelnen Kindes zu betrachten, sondern das Kind mit seiner Behinderung "im Schnittpunkt der Systeme Schule und Familie" zu sehen (SANDER U.A. 1987, 95). Wichtig bei dieser interdisziplinären Diagnostik ist, daß sie als "Entscheidungsprozeß eines Teams" (HILDESCHMIDT & SANDER 1988, 221) realisiert wird, in dem neben den zukünftigen HandlungspartnerInnen in der allgemeinen Schule auch bisherige Bezugspersonen (z.B. Eltern, ErzieherInnen, TherapeutInnen) und fachlich kompetente Kontaktpersonen (z.B. ÄrztInnen, SonderpädagogInnen) vertreten sind. Zum zweiten "erfolgt die Diagnose inhaltlich kind- und umfeldbezogen" (1988, 221), d.h. es geht auch um die vorhandenen oder zu schaffenden Bedingungen des Systems Schule, wozu u.a. Schulleitung, Kollegium, Klasse, LehrerInnen und anderes Personal gehören.
Der Förderausschuß orientiert sich an einem "Leitfaden für die Kind-Umfeld-Diagnose" (HILDESCHMIDT & SANDER 1988, 225-227) und geht in drei Schritten vor (1988, 222): Auf der Grundlage der zunächst gesammelten Informationen zur bisherigen und aktuellen Entwicklung des Kindes werden als zweites die Bedürfnisse, Interessen und Notwendigkeiten des Kindes mit der Aufnahmebereitschaft des Umfelds in Beziehung gesetzt. Schließlich wird drittens die Frage nach Veränderungsnotwendigkeiten und nach zusätzlicher personeller und materieller Ausstattung behandelt. Dies bildet dann die Grundlage für die Empfehlung des Förderausschusses, über den die Schulbehörde entscheidet. Damit ist der Prozeß der Kind-Umfeld-Diagnose jedoch keineswegs beendet; an die Einschulung schließt sich eine begleitende Beratung (vgl. CHRIST U.A. 1989) und spätestens nach zwei Jahren eine Überprüfung der ursprünglichen Diagnose durch den Förderausschuß an, so daß seine Entscheidungen immer revidierbar sind. Bedeutsam ist am saarländischen Modell die starke Aufwertung der Eltern, die als ExpertInnen für ihr Kind ernstgenommen werden.
In der Praxis kann ihre Rolle in Einzelfällen jedoch auch von Gefühlen des "Auf-der-Anklagebank-Sitzens" geprägt sein, insbesondere wenn im Förderausschuß eher defektorientierte Alltagstheorien als systemische Vorstellungen dominieren (vgl. CHRIST & JUNG 1989). Derartige Erfahrungen sind in Berlin von Eltern dokumentiert worden (ARBEITSKREIS NEUE ERZIEHUNG & ELTERN FüR INTEGRATION 1990). Sie erheben keinen Anspruch auf Repräsentativität, machen aber auf große Probleme aufmerksam, die insbesondere dann entstehen, wenn eine große Anzahl von Förderausschüssen eingerichtet wird und der ökosystemische Ansatz gegenüber bestehenden Alltagstheorien in den Hintergrund zu geraten droht. Zu warnen ist auch vor einer personellen Aufblähung, bei der der an sich positive überschulische Stadtteilbezug zu einer Eigendynamik in Richtung sozialer Dienste geraten kann. Dort besteht dann sogar die Gefahr, daß Kinder und ihre Eltern, um die es eigentlich gehen soll, zur Fortbildung und systemischen Verzahnung sozialer Dienste instrumentalisiert werden (vgl. HINZ 1992a).
Am saarländischen Vorgehen orientieren sich alle Integrationsprojekte, zumindest bezogen auf Fragestellung und Vorgehensweise. Modifikationen beruhen vor allem auf unterschiedlichen Ausgangsbedingungen: Wo, wie z.B. in Hamburg, eine Aufnahmekommission für eine Klasse zuständig ist, ergeben sich für die Rolle der Eltern Schwierigkeiten, denn die Eltern der angemeldeten Kinder können und dürfen nicht in die problematische Entscheidungsfindung hineingezogen werden, welche Kinder einen der bereitstehenden Plätze erhalten. Deshalb beschränkt sich ihre Mitwirkung in solchen Projekten auf das Angehört-Werden, das unverzichtbar ist. Es bringt jedoch Eltern in eine schwer ertragbare Situation, in der sie Gefühle der "Ängstlichkeit und Wut über die Abhängigkeit" (KöBBERLING & STIEHLER 1989, 131) erleben. Dies ist kein glücklicher Beginn der Kooperation zwischen integrationsorientierten Eltern und Schulen.
Wenn mehr Kinder für eine Klasse angemeldet sind als aufgenommen werden können, müssen nachvollziehbare Kriterien der Aufnahme angewandt werden. Die Hamburger Aufnahmekommissionen gehen hierzu nicht etwa nach der "Pflegeleichtigkeit" vor - dies wäre der Sprung von quantitativer zu qualitativer Selektion, die Kinder mit 'leichteren' Behinderungen bevorteilen und jene mit 'schwereren' benachteiligen würde (vgl. HINZ 1990b, 137). Sie berücksichtigen die Möglichkeit zur Weiterführung bestehender sozialer Kontakte, repräsentative Vielfalt, also eine Mischung von Arten und Schweregraden der Behinderungen und die Gewährleistung der Förderung innerhalb der Klasse (vgl. WOCKEN 1987c, BSB 1988b). Es können andere oder auch engere - und damit qualitative - Kriterien hinzukommen, so z.B. in der Berliner Fläming-Grundschule die Fähigkeit zur Teilhabe am binnendifferenzierten Unterricht, Orientierung an den Rahmenplänen, Gewährleistung sonderpädagogisch-therapeutischer Förderung, Ausschluß einer Häufung gleichartiger und schwerster Behinderungen und von gegenseitigen Beeinträchtigungen (HETZNER & STOELLGER 1988).
Aufnahmeverfahren sind jedoch auch an sich eine problematische Sache, denn sie sind extrem der Gefahr von Umformungsprozessen ausgesetzt. Dies beginnt bei der Tatsache, daß die zukünftigen PädagogInnen (mit Recht) auch nur solche Kinder aufnehmen könnten, deren Förderung sie sich zutrauen - und dieses bedeutet qualitative Selektion im Aufnahmeverfahren. Die Freiwilligkeit der PädagogInnen ist - jedenfalls mittelfristig - anerkannter Grundsatz. Bei ihr kann jedoch die ebenso allseits anerkannte Freiwilligkeit der Eltern enden. So wichtig die Freiwilligkeit der PädagogInnen ist, sie bildet gleichzeitig die Grundlage für das Dilemma, bei dem Eltern zu Bittstellern für ihre behinderten Kinder werden und bei dem einer Einführung von latenten Kriterien der 'Integrierbarkeit von Kindern mit Behinderungen' Tür und Tor geöffnet werden könnte (BRUNS 1989).
Hinzu kommt in vielen Fällen die Problematik, daß im Rahmen einer Kind-Umfeld-Diagnose notwendige personelle und materielle Ressourcen benannt worden sind und ihre Realisierung dann scheitert. Im Saarland, aber auch in anderen Projekten ist die zweite Seite der diagnostischen Medaille die Überweisung in eine Sonderschule. Eltern geraten damit in die Gefahr, daß sie für ihr Kind Integration fordern und Aussonderung ernten (HINZ 1992a). So können über Probleme der Ausstattung durch die Hintertür 'Grenzen der Integration' entstehen, die den in der Öffentlichkeit vertretenen Prinzipien eines prinzipiellen Nicht-Ausschlusses widersprechen (vgl. Beispiele aus Hamburg in HINZ 1990b).
Dieser Widerspruch zwischen integrativer Grundüberzeugung und administrativen Engpässen, die zu behördlich verfügter Selektion geraten können, gilt in noch stärkerem Maße für den zweiten Zeitpunkt administrativ geforderter diagnostischer Aktivität: den Übergang von der Primarstufe zur Sekundarstufe I, von der vierten zur fünften (bzw. in Berlin und Brandenburg von der sechsten zur siebenten) Klasse. Hier ist die Situation noch schwieriger, handelt es sich doch in der Regel um Grundschulgruppen, die als solche in die Sekundarschule übergehen wollen. Da aber zu diesem Zeitpunkt meistens ein Wechsel der Schule ansteht, der mit veränderten Umfeldbedingungen einhergeht, ist eine erneute Kind-Umfeld-Diagnose sinnvoll. Für diesen Zweck werden von den gleichen Personen (in Berlin) oder entsprechenden Gremien (in Hamburg Übernahmekommissionen genannt) wiederum Gutachten oder Empfehlungen erstellt, auf deren Grundlage von der Schulbehörde entschieden wird (vgl. für Berlin PREUSS-LAUSITZ 1990b, für Hamburg HEIMER 1989). Je nach bildungspolitischen Vorgaben gilt dabei entweder der prinzipielle Nicht-Ausschluß von Kindern weiter (Bonn, Hamburg, Köln), oder es werden Selektionskriterien gesetzt, so in Berlin unter der CDU-Regierung 1983 bis 1989 die Hauptschulempfehlung, die die Frage des Übergangs für einen Teil der SchülerInnen mit Behinderungen zur Frage der Verteilung auf Sonderschulen machte (vgl. STOELLGER 1983b, 1988, NOWAK 1988).
So kommt es zum zweiten Male zur konfliktbeladenen und angstbesetzten Konfrontation zwischen den unterschiedlichen Erwartungen von Eltern und (diesmal) den PädagogInnen der Sekundarschule: "Die Eltern haben sich für die Fortsetzung einer Pädagogik entschieden, die sie aus der Integrationsklasse in der Grundschule kennen und aufgrund ihrer positiven Erfahrungen beibehalten wollen" (KöBBERLING & STIEHLER 1989, 132), sie haben aber auch Befürchtungen in bezug auf die nun anstehenden Rahmenbedingungen. Bei den PädagogInnen werden die neuen Perspektiven "auch mit Befürchtungen und Verunsicherung verknüpft sein", denn von ihnen wird eine "pädagogische Neuorientierung und eine Veränderung ihrer pädagogischen Arbeit erwartet" (1989, 132). Dies ist dann keineswegs eine gute Anfangssituation für vertrauensvolle Kooperation während der Sekundarschulzeit.
In dieser Konstellation ist der zwiespältige Charakter solcher Übernahmekommissionen schon angelegt: Eltern wünschen die Fortsetzung des Bisherigen, PädagogInnen trauen sich evtl. weniger zu als ihnen angetragen wird, und zum dritten gibt die Schulbehörde Rahmenbedingungen vor, die sich an der Nähe zur Normalität orientieren sollen und nur bedingt auf die Situation der einzelnen übergehenden Klasse hin modifizierbar sind. Die Ambivalenz solcher Überleitungsgremien zwischen der Sicherung der Weiterführung integrativer Erziehung unter angemessenen Bedingungen und der administrativen Absicherung der Verantwortbarkeit unter gegebenen Bedingungen, die evtl. auch zur Funktion eines Selektionsinstrumentes geraten kann, ist offensichtlich (vgl. SCHMIDT 1989, zu den Hamburger Erfahrungen HEIMER 1989, KöBBERLING & STIEHLER 1989).
Auf dieser Ebene geht es um die gesellschaftlichen Normen, Werte und Begriffe, die im Kontext der schulischen Entwicklung unterschiedlicher Kinder wirksam werden. Die Frankfurter Forschungsgruppe definiert integrative Prozesse auf dieser Ebene als jene, "in denen Benachteiligungen abgebaut werden und die Verfassungsgrundsätze der Gleichberechtigung und sozialen Gerechtigkeit ihrer Verwirklichung näher kommen; dieser Anspruch bemißt sich insbesondere an Personen und Personengruppen, die durch strukturelle Gewalt von Ausgrenzung oder Benachteiligung bedroht sind" (REISER 1990a, 33).
Mit grundlegenden Veränderungen pädagogischer Praxis gehen gewöhnlich Veränderungen des theoretischen und ideologischen Überbaus einher, so auch im Falle der Integrationsentwicklung. War es schon vorher eine unzulässige Reduzierung von Kindern auf ein Persönlichkeitsmerkmal, z.B. von "Körperbehinderten", "Sprachbehinderten" etc. zu sprechen (oder noch schlimmer beispielsweise von "dem Geistigbehinderten", seinen Eigenschaften und Bedürfnissen; vgl. BOBAN & HINZ 1993), so ist eine Eingruppierung von Kindern nach dem bisher üblichen Beschulungsort innerhalb integrativer Beschulung völlig unsinnig und funktionslos geworden und allenfalls zum Zwecke des schnellen Überblicks für Außenstehende vertretbar (z.B. HINZ & WOCKEN 1988, BOBAN, HINZ & SCHLEY 1989). Doch auch andere Begriffe sind (im wahrsten Sinne des Wortes) frag-würdig geworden: Was meint beispielsweise der Begriff der Förderung, zumal wenn er mit dem Begriff des "Optimalen" verbunden und so in die bildungspolitische Diskussion eingeführt wird? Wie wird Leistung definiert angesichts einer Gemeinschaft höchst unterschiedlicher Kinder? Doch auch der Integrationsbegriff selbst ist eine Quelle von immer wiederkehrenden Mißverständnissen - begriffliche Unsicherheit aller Orten (SCHöLER 1988a). Über Begriffe können aber auch Umrisse des Menschenbildes und des Selbstverständnisses einer sich selbst so bezeichnenden 'Integrationspädagogik' deutlich werden (Kap. 3.5.1).
Weiter geht es in diesem Abschnitt um die Kritik der Integrationspädagogik an verschiedenen Ansätzen und Entwicklungen, die alle mit vorhandenen und z.T. sich verengenden Normalitätsvorstellungen zusammenhängen: Dies sind die Kritik an Förderansätzen und Ansätzen der Prävention (vgl. Kap. 2.1.1) und ihren konzeptionellen wie institutionellen Begrenzungen (Kap. 3.5.2), die Kritik an der inflationär ausgeweiteten 'Therapiewut' (Kap. 3.5.3) und die Kritik an medizinisch-gesellschaftlichen Uniformierungsprozessen wie der Pränataldiagnostik und der Gentechnologie, die zunehmend gesellschaftlichen Druck entwickeln (Kap. 3.5.4). Doch auch die Kritik von Betroffenen an der Integrationspädagogik und mögliche Gefahren sollen betrachtet werden (Kap. 3.5.5), sind sie es doch, für die diese Überlegungen und Konzeptansätze eine existentielle Bedeutung haben.
Als Begründungszusammenhänge für die Integration in der Schule wie in der Gesellschaft führt MUTH die Notwendigkeit an, Diskriminierungen abzubauen und Menschen mit Behinderungen human anzunehmen, eine Aufgabe, die angesichts der an Nichtbehinderten orientierten gesellschaftlichen Normen und einer übertriebenen Leistungsorientierung der Industriegesellschaft Menschen mit und ohne Behinderungen gestellt ist (1986, 26f.). Dazu gehört es, frühe Fixierungen auf Außenseiterpositionen, etwa durch schulische Ausgliederung, zu vermeiden (1986, 29). Mit der Integration in der Schule verbindet sich die Hoffnung, die bestehende kollektive Bezugsgruppenorientierung, "eine negative Interdependenz" (BäRSCH 1987, 57) abzubauen: 'Normale' Menschen ohne Behinderungen gelten unhinterfragt als positive Orientierung für Menschen mit Behinderungen, Menschen mit Behinderungen als negative Bezugsgruppe für solche ohne Behinderungen, von denen man sich distanziert. Insofern wird die Integration gesehen als ein "gesamtgesellschaftliches Problem" (BäRSCH 1982), als eine "menschliche Pflicht" (BäRSCH 1986) und eine "humane Notwendigkeit" (BäRSCH 1988). Es sind dies ethisch-moralische, normative Setzungen, die der Not bisheriger Aussonderung von Menschen mit Behinderungen aus der Gesellschaft, bis hin zu ihrer Vernichtung, eine bessere Zukunft mit mehr Gemeinsamkeit - nicht nur, aber auch in der Schule - entgegensetzen wollen. Entgegen der bisher vorherrschenden Theorie der Andersartigkeit von Menschen mit Behinderungen werden nun die Gemeinsamkeiten, wird das Verbindende betont. Zielperspektive ist auf institutioneller Ebene eine Schule für alle Kinder, die institutionelle Integration überflüssig machen kann, wenn keine Prozesse der Aussonderung stattfinden.
Weiter macht es einen wichtigen Unterschied, ob von der Integration behinderter Kinder oder von der Integration behinderter und nichtbehinderter Kinder gesprochen wird. Ein geradezu erschreckendes Beispiel für die erste Variante liefert BäRSCH (1990) mit seinem Aufsatztitel "Zur Reform des Sonderschulwesens: Auf dem Weg zur Integration?" Es ist jene ebenso schiefe wie eingeschränkte Sichtweise der Integration, wie sie u.a. auch von PAPE & LEMKE (1988) vertreten worden ist. Danach geht es zunächst nur um Kinder mit, nicht aber um Kinder ohne offensichtliche Behinderungen. Sie und ihre allgemeinen Schulen sollen Integration im Sinne einer solidarischen Haltung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe tragen. So bleiben Kinder mit Behinderungen eine Last, die quasi zusätzlich aufgebürdet wird (vgl. HINZ 1989b, 94f. und SCHLEY 1989a, 14).
Demgegenüber zielt Integration im hier von REISER übernommenen Sinne nicht auf Akte der Aufnahme von Kindern mit besonderen Bedürfnissen, denen leicht die Gefahr von Anpassungstendenzen an ein im wesentlichen unverändertes Ganzes eigen ist, sondern auf die Veränderung eben dieses Ganzen (vgl. hierzu Kap. 3.5.5 mit der Kritik von Betroffenen). Ziel der Integration ist eben auch "die Aufhebung der psychischen Verkrüppelung Nichtbehinderter durch ihre Einschränkung auf die herrschende Normalitäts- und Leistungsorientiertheit" (FEUSER 1982, 94). Die logische Weiterführung dieses Gedankens könnte im Begriff des gemeinsamen Unterrichts von Kindern mit und ohne Behinderungen liegen. Dabei würde auch deutlich, daß die Behinderung einen - u.U. bedeutsamen - Bestandteil der Persönlichkeit eines Kindes ausmacht, nicht aber deren Gesamtheit.
Damit kommt der Begriff der Behinderung ins Bild. In der Sonderpädagogik ging man traditionell vom medizinischen Modell einer Behinderung aus, die am einzelnen Menschen diagnostiziert wird. Im Rahmen einer "Sonderanthropologie für Behinderte" (PRENGEL 1989a, 182) entwickelte sich eine deutliche Hierarchie zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen, die "wie rassistische und misogyne Polarisierungen nach dem Muster monistischer Hierarchisierungen gestaltet" ist (1989a, 184). In diesen Zusammenhang ist auch die (erfolglose) Suche nach einer klaren, möglichst medizinisch faßbaren Definition des Phänomens 'Lernbehinderung' einzuordnen (vgl. hierzu EBERWEIN 1988b, 46).
Demgegenüber schlägt SANDER - an andere Sonderpädagogen wie BACH unnd BLEIDICK anschließend - ein systemisches Verständnis von Behinderung vor, bei dem entsprechend einer Systematik der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zwischen "impairment" (als medizinisch-organische Schädigung), "disability" (als individuelle/psychologische Leistungsminderung) und "handicap" (als soziale Behinderung) unterschieden wird (SANDER 1988, 79). Behinderung besteht dieser Sichtweise nach "in gestörter Integration des betreffenden Menschen in sein Umfeldsystem" (1988, 81). Durch Maßnahmen in den Umfeldbedingungen kann ein Mensch weniger behindert sein als zuvor. "Die Frage lautet dann nicht, welche Behinderung ein Mensch 'hat', sondern durch welche Umstände eine mögliche Entwicklung behindert wird" (REISER 1990c, 266).
Es entspricht exakt diesem Verständnis, wenn in der Integrationsklasse einer Hamburger Gesamtschule im Klassenrat von den SchülerInnen erregt diskutiert wird, worin denn die Behinderung einer Mitschülerin liege, die zwar bis 20 rechnen und Schreibschrift kaum lesen könne, aber sonst doch, eingeschränkt wie alle anderen auch, zu allem in der Lage sei, was sie tun wolle. Zuhause stellte dieses Mädchen den verdutzten Eltern gegenüber fest, sie sei übrigens überhaupt nicht behindert. Damit hat sie im Sinne SANDERs recht, stößt aber - und nicht nur bei Eltern - schnell auf Verständnisprobleme (vgl. DANNOWSKI U.A. 1989, 270).
Wie groß die terminologischen Probleme mit dem Begriff der 'Behinderung' sind, zeigt die große Variationsbreite ersetzender Begriffsvorschläge: Neben Kindern mit Behinderungen, offiziell behinderten Kindern, 'behinderten' oder benachteiligten Kindern wird von Gutachtenkindern, Kindern mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf, Kindern mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen oder Lebenserschwernissen gesprochen. Auch wurden schon "behinderte" und "normalbehinderte" Kinder gemeinsam unterrichtet (KOERNER 1987, 14). Gemeinsam haben diese Begriffe die Abgrenzung vom bisherigen wissenschaftlichen und Alltagsverständnis und die Unsicherheit, was an dessen Stelle treten soll. Klar ist allenfalls, daß die bisherigen Untergliederungen entsprechend den zuständigen Sonderschulformen nicht nur eine unzulässige Reduzierung auf einen Teil eines Persönlichkeitsmerkmals darstellen, sondern auch für die Praxis keinerlei Funktion und Aussagekraft mehr haben. Weiter muß sich das (sonder-)pädagogische Denken von der Orientierung auf Defekte und Defizite abwenden und den Fähigkeiten von Kindern zuwenden (vgl. SCHöLER 1988c, HINZ 1990a, 1991b).
Als pragmatischer Schritt wäre - nach italienischem, aber auch skandinavischem Vorbild - die Begrenzung des Behinderungsbegriffs auf die klarer faßbaren Sinnes-, Körper- und geistigen Behinderungen denkbar, die Lern-, Verhaltens- und Sprachprobleme aus dieser Etikettierung ausnehmen würden. Dieser Schritt wäre logisch doppelt begründbar: Zum einen würden unterschiedliche Entstehungszusammenhänge der beiden (wenn auch nicht eindeutig voneinander abgrenzbaren) großen Gruppen von Behinderungen, einerseits mit auch körperlich deutlichen Beeinträchtigungen, andererseits im Sozialisationsprozeß und in der Auseinandersetzung mit Schule entstehend (PRENGEL 1989a, 181), berücksichtigt. Zum anderen würde auf die unterschiedliche Spezifikation sonderpädagogischer Einrichtungen und eine dementsprechende pädagogische Begründbarkeit eingegangen: Die 'älteren Sonderschulen' für Kinder mit geistigen, Körper- und Sinnesbehinderungen können didaktisch und methodisch eher auf eigenständige Entwicklungen verweisen als die 'jüngeren Sonderschulen' für Kinder mit Lern-, Verhaltens- und Sprachproblemen (vgl. MöCKEL 1988). Diesem Vorschlag entspricht die Planung der Hamburger Schulbehörde, die Kinder mit derartigen Problemen nicht mehr auszusondern, sondern integrativen Grundschulen pauschal eine bestimmte Ausstattung zukommen zu lassen, ohne sie bestimmten, individuell definierten Kindern mit diagnostizierten Bedürftigkeiten zuzuordnen.
Der vorhandene Konsens innerhalb der Integrationspädagogik endet bei der Frage, ob die Kategorie Behinderung zukünftig überhaupt noch einen Sinn haben kann. Einerseits soll die Dichotomie behindert/nichtbehindert einem Kontinuum von Schwächen und Stärken aller Kinder weichen, das den Behinderungsbegriff überflüssig macht, weil sowieso alle Kinder etwas Unterschiedliches brauchen. Andererseits wird auf der Beibehaltung des Begriffs beharrt, ist er doch die Grundlage dafür, daß bei bestimmten Kindern von den allgemeinen Anforderungen der Schule und von der allgemeinen (personellen wie sächlichen) Ausstattung abgewichen wird, aber auch notwendiger Anstoß für die Trauerarbeit bezüglich der Behinderung (z.B. REISER 1990c, 270ff., 1990e, 17f.). Bei diesem Dissens könnten u.a. unterschiedliche Anteile wünschenswerter Utopien und realistischer Einschätzungen über die Entwicklungsmöglichkeiten von Schule eine Rolle spielen, die in die Stellungnahmen eingehen. Möglicherweise wäre die Not der Trauer bei einer anderen gesellschaftlichen Bewertung von Behinderung nicht mehr so groß. Der Dissens ist gleichzeitig auch Ausdruck der widersprüchlichen Tatsache, daß integrative Praxis die Schullaufbahnorientierung überwunden hat, nicht aber die Trennung der Schullaufbahnen selbst (1990c, 271, 1990e, 18f.). Deutlich wird dies u.a. in der Hamburger Praxis in der von PädagogInnen häufig beklagten Schizophrenie, daß Kinder drei Jahre lang so sein dürfen wie sie sind, ihnen dann im vierten Schuljahr plötzlich eine Schullaufbahnempfehlung gegeben werden soll, die sich an den Maßstäben der Anpaßbarkeit an Anforderungen hierarchisch geordneter Schultypen orientieren muß.
Werden Perspektiven des Behinderungsbegriffs diskutiert, können die Perspektiven der Behindertenpädagogik nicht unberührt bleiben. Hier beginnt der Dissens innerhalb der Integrationspädagogik schon bei der Frage, ob die Einrichtung von Sonderschulen ein "historischer Fehler" war, der jetzt korrigiert werden könne (EBERWEIN 1988d, 61, 1989, 10), oder ein "historisches Verdienst" (WOKKEN 1989, 4), Kinder mit Behinderungen überhaupt erst in das öffentliche Schulwesen einzubezogen zu haben (vgl. MöCKEL 1988, PRENGEL 1990c, 282).
Sicherlich hängt die Stellungnahme zu diesem Punkt u.a. von der betrachteten Schülerschaft ab: Im Hinblick auf Kinder mit Problemen im Bereich des Lernens, Verhaltens und der Sprache sind historisch insofern eher Fehlentwicklungen zu beklagen, als die allgemeine Schule sich nicht auf sie eingelassen, sondern sie ausgesondert und sich von ihnen entlastet hat. Die Entlastungsfunktion des Sonderschulwesens für die allgemeine Schule war eine zentrale Begründung für deren Ausweitung und wurde u.a. im "Gutachten zur Ordnung des Sonderschulwesens" der Kultusministerkonferenz von 1960 als offizielle bundeseinheitlichen Bildungspolitik verkündet (vgl. MUTH 1989, 22). Standesinteressen der Lehrerschaft haben diese Aussonderungsprozesse unterstützt (vgl. ELLGER-RüTTGARDT 1988, 43). Die Einbeziehung von Kindern mit Sinnes-, Körper- und geistiger Behinderung in das Schulsystem ist demgegenüber eher als Ausdruck integrativer Prozesse angesichts ihrer zuvor festgestellten 'Schulunreife' und 'Bildungsunfähigkeit' zu sehen. Aussonderung ging und geht primär von allgemeinen Schulen aus. Sonderschulen werden in dem Moment Schulen der Aussonderung, in dem sie das Prinzip der Subsidiarität verlassen und die Andersartigkeit ihres Klientels zur einzigen und dauerhaften Begründung für ihre institutionelle Existenz machen.
Weiter schließt sich hier die Frage nach dem Verhältnis von allgemeiner und Behindertenpädagogik an. Behindertenpädagogik hat bislang - nach eben jenem Subsidiaritätsprinzip - die Aufgaben übernommen, zu denen sich eine allgemeine Pädagogik nicht in der Lage zeigte. Sie konstituierte sich unter dem Leitgedanken einer "speziellen Förderung" (REISER 1990d, 299) und "auf dem Hintergrund der Bearbeitung von Defekten" (1990d, 299). Heute stellt sich angesichts der Integrationsentwicklung verstärkt die Frage nach dem Besonderen der Sonderpädagogik - und dies vorwiegend als Bemühung um Entmystifizierungsprozesse (EBERWEIN 1988d, REISER 1990d). REISER argumentiert zu diesem Punkt überzeugend in zwei Richtungen: Wo es um Hilfen bei spezifischen Frage- und Problemstellungen geht, gibt es "eine Reihe recht brauchbarer spezieller Hilfsmittel, Methoden und Geschicklichkeiten der Lehrer" (1990d, 300) in der Sonderpädagogik. Wo es jedoch - bei dem größten Teil sonderpädagogischer Arbeit - um Fragen von Erziehung, Lernen, Emotionalität und Verhalten geht, ist Sonderpädagogik "nichts anderes (...) als allgemeine Pädagogik" (1990d, 299), die unter erschwerten Bedingungen zu einer vertieften, grundlegenden Pädagogik wurde. Deren Aufwertung "bringt eine Entmystifizierung spezieller Fördermaßnahmen mit sich" (1990d, 300) zugunsten der Beobachtung von Kindern und deren Entwicklungen.
Die Problematik dieser Veränderungen des sonder- bzw. integrationspädagogischen Selbstverständnisses wird gleichzeitig dadurch verschärft, daß die legitimatorische Grundfigur der Bearbeitung von Defekten eine Defekt-Systematik in der Sonderpädagogik nach sich zieht. Dies hat, wie REISER für die Lernbehindertenschule feststellt, weniger zu einer vertieften allgemeinpädagogischen Praxis geführt, sondern vielmehr verbreitet zu einer verstärkten "Angleichung an eine verflachte Pädagogik der allgemeinen Schule" (1989b, 320; vgl. hierzu das Beispiel einer Hospitationsstunde in der zweiten Phase der LehrerInnenausbildung; 320f.) und zu "dem ungeeigneten Versuch, eine banalisierte und reduktionistische Unterrichtsweise als spezielle Förderung für Schwachsinnige auszugeben" (1989b, 318). Dieses Mysterium besonderer Pädagogik veranlaßt EBERWEIN zu der provokanten Forderung: "Wenn dem so ist, daß die Sonderschule sich durch ein besonderes Profil und durch besondere Attraktivität auszeichnet, dann schlage ich vor, die allgemeine Schule zugunsten von Sonderschulen abzuschaffen!" (1988d, 60).
Auf der Ebene der Ausbildungseinrichtungen fordert EBERWEIN im Sinne einer "dialektischen Aufhebung der Sonderpädagogik" die Integration sonderpädagogischer und allgemeinpädagogischer Institute zu Instituten für eine integrative Pädagogik (1988c, 344, 1989, 11). Wenn die Sonderpädagogik keine Legitimation für eine Eigenständigkeit mehr aufweise, müsse dies in ihrer institutionellen Verankerung deutlich werden. Ein erster Schritt in die Richtung einer Reintegration von allgemeiner und Sonderpädagogik wurde in der Universität Hamburg mit der Einrichtung einer institutsübergreifenden "Arbeitsstelle Integration" gemacht, in der Schul- und SonderpädagogInnen zusammenarbeiten.
Integrative Erziehung macht einen normativen Wandel der Rollendefinition und des Selbstverständnisses von PädagogInnen notwendig. Sie befinden sich einem Spannungsfeld zwischen Förderung und Entwicklung. Ging es bisher um spezielle - und als Forderung formuliert meistens um optimale - Förderung von Kindern mit Behinderungen, so scheint es zumindest in Teilen der Integrationspädagogik einen Umschwung zugunsten eines stärker entwicklungsorientierten Denkens zu geben. Für die PädagogInnen definiert sich ihre Rolle immer weniger entsprechend dem Bild eines Tankwarts, der den im wesentlichen passiven Kindern eine Menge an Wissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten einfüllt und sich über die danach abgegebenen Leistungen legitimiert. Der Gegenpol in Gestalt des Bildes eines Bibliothekars, der seiner Leserschaft offene Angebote macht und Situationen arrangiert, die sie dann mehr oder minder aktiv wahrnimmt, gerät mehr und mehr in den Blick (vgl. HINZ 1990a, 395, BOBAN & HINZ 1992, 1993). IntegrationspädagogInnen pflegen eher einen pädagogischen Garten und sorgen für genügend Licht, Luft und Dünger, als daß sie einen schweren schulischen Karren ziehen und SchülerInnen irgendwo hinbringen müssen. Diese Veränderungen der Rollendefinition sind es, auf die Jakob MUTH mit seinem vielzitierten Wort zielt: "Der Lehrer (und selbstverständlich auch die Lehrerin; A.H.) muß dazu seine pädagogische und didaktische Aggressivität aufgeben, die sich darin äußert, daß er ständig fragt, belehrt, fordert, diktiert, korrigiert, an die Tafel schreibt, bittet, befiehlt, vorträgt usw. Stattdessen sollte er die Kinder stärker aktivieren, sie miteinander arbeiten lassen, das Recht des Fragens auf ihre Seite geben, den Mut haben, sie auch Irrwege beschreiten zu lassen usw. Zurückhaltung ist auf der Seite des Lehrers die kardinale didaktische Tugend" (1986, 76).
Ein solches Verständnis schulischer Pädagogik läßt keinen minutiös und mit erwartetem SchülerInnenverhalten geplanten und ebenso durchgeführten Unterricht und keine in Grob- und Feinziele gegliederten Förderpläne für Kinder mit Behinderungen zu. Die PädagogInnen als wahrnehmende, erlebende und handelnde Subjekte "sind die 'Instrumente' der Förderung und Entwicklung, und es sind nicht die Förderpläne, Übungsreihen, Trainingsmaterialien, diagnostischen Techniken und instrumentellen Maßnahmen" (SCHLEY 1989e, 355). Dieses Selbstverständnis löst sich auch von der Vorstellung, "Pädagogik könne bei den Schülern bestimmte Lernziele erreichen" (1989a, 17), und auch von der "Grundauffassung, wir wüßten, was die Schüler wissen und können müßten, um ihre späteren gesellschaftlichen Rollen einnehmen zu können" (1989a, 17). Es bricht auch mit der weithin vertretenen "Überzeugung, daß man es nicht dem Kinde überlassen kann, wann und zu welchem Ziel es sich spontan entwikelt. Im Grunde hat der Erwachsene kein Vertrauen in den Anpassungs- und Lebenswillen des normalen Kindes, um so weniger in die Kompensationsmöglichkeiten des Behinderten" (ROSER 1987b, 44). Integrationspädagogisches Denken und Handeln "fühlt sich der Aufgabe der Sozialisation verpflichtet, dem Prozeß, in dem ein Mensch zum Gefährten seiner selbst wird, in dem er lernt, sich selbst vertraut zu werden und sich selbst zu verstehen" (SCHLEY 1989a, 17f.).
Diese Wendung in der Haltung gegenüber SchülerInnen ist der Integrationspädagogik jedoch weder automatisch noch exklusiv eigen. Weder ist eine Entwicklungsorientierung in Sonderschulen unmöglich und eine defizitorientierte 'Förderwut' unumgänglich, noch ist mit der Einrichtung von Integrationsklassen pädagogische Aggressivität per se verflogen. Entscheidend ist ein Verständnis von Lerngruppen als heterogene - und das zunächst unabhängig von Lernort und zugelassener Schülerschaft -, auf die offen und beobachtend zugegangen wird. IntegrationspädagogInnen sind hier allerdings im Vorteil, können sie doch auf ein wesentlich breiteres Anregungspotential von Kindern mit einer größeren Bandbreite bauen als SonderschullehrerInnen.
Eine solche Wendung im pädagogischen Selbstverständnis von der Förderung zur Entwicklung wird indes nur von Teilen der Integrationspädagogik vollzogen. In manchen Projekten werden nach wie vor Förderpläne für Kinder mit Behinderungen aufgestellt, so z.B. in der Berliner Uckermarkschule (vgl. ZIELKE 1990a, 53ff.), in anderen werden sie als Ausdruck pädagogischer Aggressivität abgelehnt und durch intensive Beobachtung und Reflexion der Entwicklung des Kindes - in teilweise sehr intensiver Kooperation mit den Eltern - ersetzt.
Doch auch innerhalb von Integrationsprojekten findet sich jene pädagogische Aggressivität (vgl. das Beispiel eines Hamburger Sonderschullehrers mit seinen Bemühungen um "intensive sonderschulpädagogische Förderung" in BOBAN & HINZ 1993). Auch in einem Beitrag des Berichts aus der Berliner Fläming-Grundschule (PROJEKTGRUPPE 1988) wird sie in erschrekender Weise deutlich: Dort wird in äußerer Differenzierung "klassenübergreifende Förderung" (SCHINNEN 1988a, 120) betrieben, zu der die Kinder jedoch nicht freiwillig kommen, weil die sozialen Bezüge unterbrochen werden. Deswegen u.a. wird die Förderlehrerin von Kindern verbal barsch attakiert, wenn sie sie abholen will. Die Förderkinder beleidigen sich im Förderunterricht gegenseitig, ca. ein halbes Jahr (!) vergeht, bis "auch bei geforderten Einzelleistungen gegenseitige Hilfen selbstverständlich sind" (1988a, 125) - hier wird pädagogische Aggressivität überdeutlich. Auch die Art der Darstellung unterstreicht dies: Ein Kind "weiß um seine letzte Chance" (1988a, 121), "mit einem Schreibblock bewaffnet" beobachtet die Kollegin die Kinder und notiert "die auftretenden Schwierigkeiten" (1988a, 127).
Auch Wissenschaftliche BegleiterInnen sind nicht frei von pädagogischer Aggressivität. Eine Vielzahl derartiger Postulate finden sich bei Georg FEUSER. Der Aufsatz "Integration: Humanitäre Mode oder humane Praxis?" (1986b) kann hierfür als Beispiel dienen. Schon im Untertitel geht es um "unverzichtbare Grundlagen und Formen der gemeinsamen Erziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder" (1986b, 22; vgl. auch 1986a). Im weiteren Text finden sich zahlreiche Ansprüche: "Integration ohne neues Menschenbild bleibt Fassade" (1986b, 22), "Integration ist unteilbar" (1986b, 24), wo grundlegende Bildungs- und Schulreform "nicht stattfindet, kommt es unter dem Mantel der Integration nur zu unverantwortlichen, gewaltsamen Anpassungen behinderter Kinder an nichtbehinderte und umgekehrt" (1986b, 25). Weiter geht es darum, "was integrative Erziehung und Bildung verlangt und sich pädagogisch repräsentieren und realisieren muß" (1986b, 25). Auch im Zwischenbericht zum Bremer Schulversuch (FEUSER & MEYER 1987) finden sich Beispiele: "Integrativer Unterricht verlangt letztlich im Sinne des Kompetenztransfers, ständig selbst neu zu lernen, seine Einstellungen und Haltungen zu revidieren, lieb und stabilisierend gewordene Rollen abzulegen und neue zu übernehmen und selbst die bisher Sicherheit und Stabilität, vor allem aber auch Anerkennung vermittelnde Praxis zugunsten einer neuen aufzugeben" (1987, 174). Hier wird Bereitschaft zur kompletten Persönlichkeitsveränderung verlangt. Und "der Lehrer selbst, an den höchste, subjektbezogene Ansprüche und solche hoher stabiler persönlicher Integrität gestellt werden müssen, ist kein Objekt. ... Jeder einzelne muß auf dem Hintergrund seiner Motive und Ziele ... als Subjekt für eine bestimmte Aufgabe unter bestimmten Bedingungen handlungsfähig gemacht werden" (1987, 177). Dieses ist über pädagogische Aggressivität hinaus eine paradoxe Forderung, denn einen Menschen als Subjekt handlungsfähig machen zu wollen - und damit das Subjekt als passiven Teil von Entwicklungsprozessen zu begreifen - , ist ein Widerspruch in sich selbst.
Praxis und Theorie der Arbeit mit integrativen, also bewußt heterogenen Lerngruppen führen notwendigerweise auch zu einem veränderten Begriff von Leistung (vgl. WOCKEN 1987a). Bezüglich der Inhalte von Leistungen geht es um den Weg von der verkürzten "kognitivistischen Ausrichtung der Arbeit", die vor allem auf Zuwächse an Wissen und Können zielt, zum "Postulat einer vielseitigen, ganzheitlichen Bildung" (1987a, 115), in der dem Postulat PESTALOZZIs folgend zum Lernen mit gleicher Wichtigkeit neben dem Kopf auch Herz und Hand gehören. Dies meint sowohl die Einbeziehung der bisher weitgehend vernachlässigten sozialen Dimension des Lernens, die beim integrativen Lernen immer im kognitiven Lernen enthalten ist, als auch die Berücksichtigung von Leistungsfreude und -motivation. Sie zu beachten, heißt, Leistungen zu individualisieren und den einzelnen SchülerInnen jene Angebote zu machen, mit denen sie sich fordern können, ohne sich zu über- oder zu unterfordern.
Für die Kriterien der Leistung gilt es, von einer sozialen Bezugsnorm zu einer individuellen Bezugsnormorientierung zu kommen (1987a, 118). Diese Notwendigkeit stellt sich mit der Konstituierung einer bewußt heterogenen Lerngruppe noch stärker als ehedem. Diese Erkenntnis hat unmittelbare Auswirkungen auf die Form der Leistungsbeurteilung: "In allen integrativen Klassen gilt die auf die persönliche Entwicklung bezogene verbale Beurteilung als Grundsatz" (REISER 1990c, 266), in Hamburger Integrationsklassen zumindest bis zum Ende der 6., in der Berliner Fläming-Schule bis zum Ende der 4. (NOWAK 1988, 32f.), in Bremen nur bis zum Ende der 2. Klasse (FEUSER & MEYER 1987, 211). Dabei wird z.B. in der Berliner Uckermark-Schule der doppelte Bezug, einerseits zur individuellen Entwicklung, andererseits zu den Anforderungen der Rahmenpläne in verbalen Beurteilungen explizit deutlich gemacht (HEYER 1990a, 85-94). In integrationspädagogischer Praxis kann nicht mehr wie gewohnt von unterschiedlichen Kindern Gleiches verlangt werden, denn unter dem Maßstab dessen, was z.B. 'der Bildungsgang der Grundschule' genannt wird, hätte ein Kind mit schwerster Behinderung niemals die Chance, etwas zu leisten. Kinder in Integrationsklassen sind - manchmal besser als ihre PädagogInnen - sehr gut in der Lage, Leistungen eines Kindes zu würdigen, die für sie selbst keine 'guten' Leistungen wären, die für jenes Kind aber 'sehr gute' Leistungen sind, wenn sie sie mit denen des gleichen Kindes vor z.B. einem halben Jahr vergleichen.
Bezogen auf die Aneignungsformen von Leistungen geht es um eine Erweiterung der bisher vorwiegend auf die abstrakte sprachliche Ebene bezogenen Aneignung, häufig in einem 'Heft- und Bleistift-Unterricht'. Sollen Lernprozesse bei allen Kindern ermöglicht werden, so muß eine integrative Schule auch alle Aneignungsmedien berücksichtigen. Nach Erkenntnissen der Lern- und Entwicklungspsychologie müssen daher auch die Medien der Handlung und der Anschauung im integrativen Unterricht einen zentralen Stellenwert haben (WOCKEN 1987a, 120f.). Von ihnen aus können auch jene Kinder besser abstrahieren, bei denen bisher konkretere Aneignungsformen für eher überflüssig gehalten wurden. Die bisher dominierende "Monokultur des sprachlichen Lernens" in der Schule (1987a, 121) muß diversifiziert werden, sollen alle Kinder ihre Fähigkeiten in einem tatsächlich integrativen Unterricht entwikeln können. Eine veränderte Sichtweise von Leistung kann abschließend eine Fabel verdeutlichen:
Es gab einmal eine Zeit, da hatten die Tiere eine Schule. Das Lernen bestand aus Rennen, Klettern, Fliegen und Schwimmen. Und alle Tiere wurden in allen Fächern unterrichtet. Die Ente war gut im Schwimmen; besser sogar noch als der Lehrer. Im Fliegen war sie durchschnittlich, aber im Rennen war sie ein besonders hoffnungsloser Fall. Da sie in diesem Fach so schlechte Noten hatte, mußte sie nachsitzen und den Schwimmunterricht ausfallen lassen, um das Rennen zu üben. Das tat sie so lange, bis sie auch im Schwimmen nur noch durchschnittlich war. Durchschnittsnoten aber waren akzeptabel, darum machte sich niemand Gedanken darum, außer der Ente. Der Adler wurde als Problemschüler angesehen und unnachsichtig und streng gemaßregelt, da er, obwohl er in der Kletterklasse alle anderen darin schlug, als erster den Wipfel eines Baumes zu erreichen, darauf bestand, seine eigene Methode anzuwenden. Das Kaninchen war anfänglich im Laufen an der Spitze der Klasse, aber es bekam einen Nervenzusammenbruch und mußte von der Schule abgehen wegen des vielen Nachhilfeunterrichts im Schwimmen. Das Eichhörnchen war Klassenbester im Klettern, aber sein Fluglehrer ließ ihn seine Flugstunden am Boden beginnen, anstatt vom Baumwipfel herunter. Es bekam Muskelkater durch die Überanstrengung bei den Startübungen und immer mehr "Dreien" im Klettern und "Fünfen" im Rennen. Die mit Sinn fürs Praktische begabten Präriehunde gaben ihre Jungen zum Dachs in die Lehre, als die Schulbehörde es ablehnte, Buddeln in das Curriculum aufzunehmen. Am Ende des Jahres hielt ein anormaler Aal, der gut schwimmen, etwas rennen, klettern und fliegen konnte, als Schulbester die Schlußansprache. |
Integrationspädagogisch kann es nicht um das Herbeiführen von durchschnittlichen Leistungen bei allen SchülerInnen anhand eines einheitlichen Maßstabes gehen; es gilt vielmehr, jedes Kind im Rahmen seiner Möglichkeiten, in seinem individuellen Profil zu unterstützen.
In einer Reihe von Untersuchungen ist den Effekten präventiver Maßnahmen bzw. den Folgen der unterstützenden Förderarbeit von SonderpädagogInnen in allgemeinen Schulen nachgegangen worden. Dabei zeigt sich, daß eine additive Konstruktion präventiver Maßnahmen zusätzlich zum allgemeinen Unterricht und mit der Zielrichtung der Förderung einzelner Kinder nicht nur kaum allgemeine positive Effekte zeigt, sondern sogar negative Effekte nach sich ziehen kann. Damit soll nicht negiert werden, daß derartige Systeme einzelne Kinder zu unterstützen vermögen. Diese übereinstimmende Linie ergibt sich aus den Untersuchungen von SPRINGER (1982), HAEBERLIN U.A. (1990) und REISER U.A. (1984).
SPRINGER berichtet über den Schulversuch Essen-Vogelheim, eine Schule mit einem problematischen Einzugsbereich. Ziel dieses Versuchs ist die Reduzierung der extrem hohen Sonderschulüberweisungsquote durch "die einfache Konstruktion eines strukturellen Annex an die bestehende Grundschule, der in die herkömmliche Schulorganisation kaum verändernd eingreift und im Grunde ohne großen organisatorischen und personellen Aufwand an jede Schule und jeden Schultyp angegliedert werden kann" (1982, 277f.). Dieses Ziel wird durch die Halbierung der Quote von Sonderschulüberweisungen zwar statistisch erreicht, jedoch fällt es angesichts einer Reduzierung an anderen Schulen mit ähnlichem Einzugsbereich ohne ein Förderzentrum "schwer, die Reduzierung an der Modellschule auf die organisatorische Veränderung der Schulstruktur durch die Einrichtung eines Förderzentrums zurückzuführen" (1982, 280) - positive Effekte des Förderzentrums sind demnach nicht sicher zu belegen. SPRINGER faßt die ernüchternden Ergebnisse des Versuchs u.a. in folgenden Kernpunkten zusammen:
"Die Lehrer haben die systemstrukturelle Erweiterung der Grundschule ... nicht als Entlastung ihrer täglichen Arbeit verspürt" (1982, 282). Die Einrichtung des Förderzentrums hat nicht zu einer "Erweiterung der Handlungskompetenz der Lehrer geführt" (1982, 282), vielmehr reagieren die LehrerInnen auf die weiterhin bestehende Aufgabe der Förderung schulschwacher Kinder "mit Ratlosigkeit und Resignation" (1982, 283). Weiter nimmt dieser Versuch keinen Einfluß auf "heimliche Theorien und nicht bewußtes Verhalten der Lehrer" (1982, 283). Es bleibt bei einem Konzept, das "sich an individuumbezogenen Defiziten orientiert, damit also Schulsystem und Organisationsrolleninhaber von einer Verantwortung für die als individuell oder sozio-kulturell bedingt definierten Defizite entlastet" (1982, 284).
SPRINGER stellt sogar negative Effekte des Förderzentrums fest, die sie in Anlehnung an ROGERS als Cooling-Out-Prozeß bezeichnet (1982, 288): Das Förderzentrum bekommt "in ihrem Definitionskonzept eine rechtfertigende, sie entlastende Funktion für die von ihnen ausgesprochenen Segregationsentscheidungen" (1982, 288). Hat das Kind die Chance einer Förderung im Förderzentrum nicht wahrnehmen können, kann es eher mit ruhigem Gewissen denn mit Verunsicherung ausgesondert werden. Schulschwäche erweist sich für die LehrerInnen des Versuchs "als organisatorisches Problem, das sie von der Notwendigkeit der Reflexion und Veränderung ihrer pädagogischen und interaktionalen Kompetenz entbindet" (1982, 294).
Die Haltung der LehrerInnen dem Versuch gegenüber ist von Ambivalenz geprägt, zum einen "aufgrund der ausbleibenden Zusammenarbeit mit den Experten" (1982, 289), zum anderen aufgrund des Gefühls einer Kompetenzbeschneidung durch Spezialisten in einer "Einrichtung, von der sie kaum etwas wußten, nichts erfuhren und wenig profitierten" (1982, 289). Die LehrerInnen im Schulversuch bezweifeln die Effektivität der im "'Schonraum' Förderzentrum erzielten Erfolge" (1982, 289) und wünschen sich stattdessen "kleinere Lerngruppen" oder die "Zusammenarbeit mit einem zweiten Lehrer, die sich direkt auf ihren Unterricht auswirken sollte" (1982, 290).
SPRINGER plädiert statt der externen Förderung in speziellen sonderpädagogischen Räumen für eine "Förderung schulschwacher Kinder innerhalb des Unterrichts" (1982, 308) durch den Einsatz einer zweiten Person in der Klasse. Separierte Formen provozieren nach SPRINGER eher eine Kompetenzspaltung statt einer -erweiterung (1982, 309). Mit einer solchen Alternative wäre der Weg "von einer Schülerhilfe zu einer Lehrerhilfe" zu finden. "Es soll also nicht eine Veränderung erster Ordnung im Vordergrund stehen, die den Fall behandelt, ohne die Stabilität der Situation zu gefährden, sondern eine Veränderung zweiter Ordnung, die auf die Neustrukturierung des Systems hinzielt" (1982, 313).
In die gleiche Richtung weisen die Ergebnisse der bereits mehrfach zitierten, umfangreichen Untersuchung von HAEBERLIN U.A. (1990) in den Klassen 4, 5 und 6 in der deutschsprachigen Schweiz, die sich auf Effekte unterschiedlicher Beschulungsformen auf den soziometrischen Status, die Leistungsentwicklung, die Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und die Selbsteinschätzung der emotionalen und sozialen Integration bei lernbehinderten Kindern beziehen. Dabei vergleichen HAEBERLIN U.A. solche in Klassen der Regelschule mit und ohne Heilpädagogischer SchülerInnenhilfe (HPSH) sowie in Hilfsschulklassen. Die HPSH ist in ihrer Aufgabenstellung deutschen PräventionslehrerInnen vergleichbar - bedauerlich ist, daß ihre konkrete Praxis in der Untersuchung nicht erfaßt wird.
HAEBERLINs Aussagen müssen demzufolge auf präventive Maßnahmen und können kaum auf integrative Erziehung bezogen werden. Dieses bestätigt auch SEITH, die in einer Umfrage zur HPSH darauf hinweist, daß mit dieser Einrichtung höchst unterschiedliche Vorstellungen verbunden werden: "Die einen hoffen, einen Schritt hin zur Integration zu machen, die anderen bewilligen und dulden das Modell aus 'pragmatischen' Erwägungen, die meist geographischer und verkehrstechnischer Art zu sein scheinen" (1991, 283). Die meisten Schulorte mit HPSH liegen denn auch "in ländlichen, geographisch abgelegenen und verkehrstechnisch nicht leicht erreichbaren Gebieten" (1991, 284). So scheint die HPSH - zumindest zum Teil - ein Entwicklungsvorhaben zu sein, das die organisatorischen Strukturen verändern und SchülerInnen mit Lernschwierigkeiten billiger und effektiver in der allgemeinen Schule statt in der weit entfernten und teuren Sonderschule fördern soll. Was dieses Modell von integrativen Ansätzen weiter unterscheidet, ist das Bestehenbleiben der Verpflichtung zum Erreichen gleicher Leistungsstände und der Ausschluß von Kindern mit anderen Behinderungen. SEITH warnt vor der "Gefahr, daß die HPSH zu einem Nachhilfe- oder Förderunterricht verkommt, dank dem die Regelschule reibungsloser funktioniert" (1991, 294). Es ist dies genau jene Gefahr, von der auch SPRINGER berichtet.
Im vorliegenden Zusammenhang sind vor allem die Ergebnisse zu den Wirkungen der HPSH interessant: Bei der soziometrischen Stellung lernbehinderter Kinder kann "nicht nachgewiesen werden, daß sich die soziometrische Stellung von schulleistungsschwachen Schülern durch Heilpädagogische Schülerhilfe wesentlich verändert" (HAEBERLIN U.A. 1990, 271).
Bezüglich der Einschätzung der eigenen Fähigkeiten stellen HAEBERLIN U.A. fest: "Am tiefsten wird die eigene Begabung von jenen schulleistungsschwachen Schülern eingeschätzt, welche innerhalb einer Regelklasse durch die Zuteilung zur Heilpädagogischen Schülerhilfe sichtbar dokumentiert erfahren, daß sie leistungsmäßig die schwächsten sind" (1990, 273). Das Fazit: "Heilpädagogische Schülerhilfe scheint somit auf die Selbsteinschätzung der eigenen Fähigkeiten eine eindeutig senkende Wirkung zu haben" (1990, 274).
Zu den Schulleistungen ergeben die Untersuchungen, "daß keine positiven Wirkungen der Heilpädagogischen Schülerhilfe auf die schulische Gesamtleistung von schulleistungsschwachen Schülern ausgehen" (1990, 275), jedenfalls im Vergleich mit schulleistungsschwachen SchülerInnen in Regelklassen ohne und mit HPSH, die nicht auf diese Kinder zielt. HAEBERLIN U.A. beziehen dieses Ergebnis ausdrücklich nur auf die untersuchte Praxis zum Untersuchungszeitraum und nicht auf präventive Maßnahmen schlechthin.
Auch zur Selbsteinschätzung der Beziehungen zu den Mitschülern sowie des subjektiven Befindens finden sich keine signifikanten Unterschiede zwischen lernbehinderten Kindern in Regelklassen mit und ohne HPSH. Damit gelingt auch in diesen Bereichen "kein Nachweis einer spezifischen Wirkung der Heilpädagogischen Schülerhilfe auf die emotionale (ebenso wie die soziale; A.H.) Integration von schulleistungsschwachen Schülern" (1990, 281).
HAEBERLIN U.A. warnen nach diesen Ergebnissen vor dem Schluß, präventive Maßnahmen nach Art der HPSH seien überflüssig und deshalb schlicht einzusparen. "Entscheidend sind aber Form und Intensität dieser Hilfe" (1990, 281). Vermutlich übt der Wirkungsbereich von HeilpädagogInnen - zwischen sechs und 25 Klassen - einen wichtigen Einfluß auf die Qualität präventiver Arbeit aus, können dies jedoch mit ihren Daten nicht nachweisen. Für die Arbeit in sechs Klassen stellen HAEBERLIN U.A. "nachweislich positive Wirkungen" fest (1990, 286).
Weitere Forschungsergebnisse von HAEBERLIN U.A. im Rahmen ihrer Vergleichsuntersuchung sind bereits dargestellt worden (vgl. Kap. 3.1.1 zur Leistungsentwicklung und Kap. 3.1.2 zur Selbstwahrnehmung). Interessant ist für diesen Abschnitt die Einordnung dieser Ergebnisse durch die Autoren und die vorgeschlagenen Konsequenzen. Die Kurzformel: "'Erfolg' bei der Leistungsförderung und 'Mißerfolg' bei der Bemühung um sozial-emotionale Integration von schulleistungsschwachen Schülern" (1990, 329) führen sie zurück auf ein "leistungsideologisch geprägtes schulisches Klima, an dessen Veränderung sich offenbar bisher in den Integrationsversuchen niemand gewagt hat" (1990, 329). Hier müßte allerdings der Begriff 'Integrationsversuche' durch 'Präventionsversuche' ersetzt werden. Sie ziehen als Konsequenz: "Solange in unseren Schulen die Leistungsfähigkeit die zentrale soziale Bewertungskategorie bleibt, können organisatorische Integrationsmaßnahmen (= Präventionsmaßnahmen; A.H.) die gruppeninterne Aussonderung von leistungsschwachen Schülern schwerlich verhindern" (1990, 330). Somit bleibt "der Selektions- und Zuweisungsapparat 'Schule' trotz der Integrationsversuche (s.o.; A.H.) voll erhalten" (1990, 331). HAEBERLIN U.A. weisen auf die Notwendigkeit der "Kritik an der negativen Bewertung von Leistungsschwäche" (1990, 331) und der "Hinwendung zum pädagogischen und gesellschaftlichen Ideal der personalen Gleichheit aller Menschen" (1990, 331) hin und gehen damit weit über den Rahmen der Organisation hinaus.
HAEBERLIN U.A. plädieren vor diesem Hintergrund für ein Konzept, das "sich räumlich und zeitlich innerhalb des Regelklassenunterrichts als Hilfe für den Regelklassenlehrer und für die gesamte Klasse versteht" (1990, 333). Im Hinblick auf zukünftige Versuche empfehlen sie u.a. das Aufgeben der Idee eines für alle Schüler einer Klassenstufe verbindlichen Lernzielkatalogs, die Einrichtung von Integrationsklassen mit dem Zwei-LehrerInnen-System und lernzieldifferentem Unterricht unter Verzicht auf den administrativen Zwang zu "typologisierende(n) Abklärungen" und ohne grundsätzlichen Ausschluß einer Behinderungsform (1990, 334f.). Die Autoren fordern die Weiterentwicklung vom präventiven Förderansatz zum Integrationsansatz, mit allen dort angestrebten normativen und institutionellen Veränderungen, ohne die präventive Ansätze ihr Anliegen, Aussonderung zu vermeiden, nicht erreichen können.
Diese Ergebnisse könnten in ihrer Gültigkeit angezweifelt werden, da es sich in dieser Untersuchung um eine relativ späte Phase innerhalb der Schulzeit handelt und die größten Effekte zu Beginn der Schulzeit zu erzielen sind. Hierzu kann ein weiterer Untersuchungsbericht Aussagen liefern. REISER U.A. (1984) haben im Frankfurter Präventionsversuch 1978 - 1983 den Zeitraum der beiden ersten Grundschulklassen und z.T. der bestehenden Eingangsstufe untersucht.
Die Aussagen zur Entwicklung von Schulleistungen und zum emotionalen Erleben von Unterricht werden folgendermaßen zusammengefaßt: "Wir können nicht davon ausgehen, daß die Arbeit des Sonderschullehrers einen generellen, auf das Jahrgangsniveau bezogenen Effekt hinsichtlich objektivierbarer Schulleistungen hat" (REISER U.A. 1984, 90). Dies schließt natürlich individuelle Hilfen und Erfolge nicht aus, ist jedoch strukturell ein Ergebnis, das nachdenklich macht. Gleiches gilt für die Untersuchungen zum subjektiven Erleben von Unterricht: "Unsere Annahme, daß die Kinder den Ko- und den Kleingruppenunterricht (durch SonderschullehrerInnen; A.H.) positiver einschätzen würden als den Klassenunterricht (durch GrundschullehrerInnen; A.H.), konnte also nicht bestätigt werden. Ein Einfluß des Schulversuchs auf die Selbsteinschätzung der Kinder konnte empirisch nicht nachgewiesen werden" (1984, 121). Auch hier zeigen sich in der insgesamt keine allgemeinen positiven Effekte eines Präventionsversuches, und dies in Hinblick auf die Leistungsförderung wie auf die emotionale Stabilisierung der Kinder. Gleichwohl werden individuelle Hilfen und Fortschritte gesehen (vgl. 1984, 316).
REISER U.A. ziehen aus dem Versuch die Konsequenz, daß "die Tätigkeit von Sonderschullehrern an Grundschulen solange keinen Fortschritt bringt, solange am Förderansatz festgehalten wird" (1984, 315) in dem Sinne, "daß das Kind 'normalisiert' werden muß, es werden besondere Anstrengungen unternommen, um seine Lerndefizite und unangemessenen Verhaltensweisen einem irgendwie gearteten Mindeststandard anzupassen" (1984, 315). Sie fordern stattdessen, "die Zielvorstellung des letztendlich doch 'erfolgreichen' Grundschulabschlusses fallen zu lassen" (1984, 316). Damit muß sich die Schule an die Bedürfnisse von Kindern anpassen und nicht umgekehrt, was u.a. ein konsequentes Aufgeben des Lernens im Gleichschritt bedeutet. Die Forschungsgruppe bezeichnet in einem Aufsatz die Veränderungen ihres Konzepts mit der Formulierung "vom Förderansatz zum Integrationskonzept" (AHLHEIM U.A. 1982). Damit verlagert sich der Schwerpunkt der Betrachtung weg von direkt auf die Anpassung einzelner Kinder gerichteten Maßnahmen und hin zu Interventionsstrategien innerhalb eines komplexen Bedingungsgefüges, in dem Kinder, LehrerInnen, die Schule als ganzes und das Umfeld mit verschiedenen Einflüssen aufeinander einwirken (vgl. 1984, 285ff.), innerhalb dessen eine möglichst große "integrative Wirksamkeit" erzielt werden soll (1984, 292). Damit unterstreichen REISER U.A. die Notwendigkeit der für Integrationsprojekte grundlegenden Prinzipien und Rahmenbedingungen (vgl. Kap. 3.4.2)
Wie sich die Entwicklung von einem defektorientierten Förderkonzept zu einem integrativen Ansatz vollziehen kann, zeigt FECHLER (1987b) in seinem Bericht über den Schulversuch mit einem "Kompagnon-Modell" in Hildesheim. Zunächst geht es gemäß dem Genehmigungsschreiben bei der Kooperation der LehrerInnen um die Abwendung von Schulversagen durch Beobachtung und nachgeordnete gezielte Förderung parallel und zusätzlich zum Unterricht in der Klasse. Später verlagert sich der Schwerpunkt jedoch auf das Kennenlernen der Lerngruppe, die Planung und Realisierung von Situationen im Klassenunterricht und die Verabredung und Einrichtung besonderer Fördermaßnahmen (vgl. 1987b, 46). Im Abschlußbericht des Schulleiters hat sich "der sonderpädagogische Charakter der Versuchsintention" verloren: Die Heterogenität der Lerngruppe wird nicht als Indikator für drohende Lernbehinderung angesehen, sondern als grundlegende Bedingung des Unterrichts, der durch ein Zwei-LehrerInnen-Team, das seine Bemühungen auf grundlegende Hilfen für erfolgreiches Lernen richtet, besser entsprochen werden kann. Hier geht es mehr um "die Eröffnung individueller Lernwege" (1987b, 47) als um individuelle Förderpläne, denn "solche Pläne verhindern Prävention und verschärfen Selektion" (1987b, 47).
Bedeutsam sind vor allem anderen die Möglichkeiten der Zweierbesetzung im Erstunterricht, mit deren Hilfe es tatsächlich zu Binnendifferenzierung und individualisiertem Unterricht - und einer Reduzierung der vorhandenen Komplexität kommen kann (vgl. Kap. 3.3.1). FECHLER gibt die Erfahrung wieder, daß solcher Unterricht "eine Ausnahme bleibt, wenn sie einem Lehrer allein zugemutet wird" (1987b, 48), und folgert: "Individuelle Hilfe und Förderung wird u.a. erst dadurch als aussondernd und diskriminierend erlebbar, daß zuvor ein reduziertes Bild von 'normalem' schulischem Lernen in der Situation des von einem einzigen Lehrer zu bewältigenden Anfangsunterrichts erworben wurde" (1987b, 48).
Angesichts dieser Entlastung von der Rolle des Einzelkämpfers verwundert es nicht, daß sich nach Abschluß des Schulversuchs das Kollegium der Schule entschließt, den Versuch weiterzuführen. Grundlegend ist das Prinzip der Rotation, nach dem die Rolle des Kompagnon-Lehrers immer nur für zwei Jahre übernommen werden kann und dann wieder von der Klassenlehrerrolle abgelöst wird. Dieses Prinzip hält FECHLER für die wichtigste Bedingung für das Gelingen des Versuchs, weil es das Sich-Einrichten in einer Spezialistenrolle verhindert. Es handelt sich "bei den Anforderungen an die Rolle des Kompagnon-Lehrers eben nicht um hochspezialisierte Kompetenzen für besondere, im Hinblick auf die Norm 'Unterricht' eher unwahrscheinliche Lernkontexte ..., sondern um Ableitungen aus der überfordernden Situation Unterricht selbst" (1987b, 53).
Zugleich macht FECHLER auch die Grenzen des Hildesheimer Versuchs deutlich. Er räumt ein, daß dem Kollegium LehrerInnen fehlen, die in der Lage sind, "Kinder mit speziellen Behinderungen zu betreuen" (1987b, 56). Weiter stellt sich auch in diesem Versuch das Festhalten an den Mindestzielen der Grundschule als Problem heraus, das einen normativen Druck zu einer individuellen Förderung auf jene Mindestziele zu und ohne direkten Bezug zum Klassenunterricht ausübt (1987b, 57).
Entscheidend für den sich entwickelnden Ansatz ist nach FECHLER (1990) eine sorgfältige Problembestimmung: Geht es um das Problem der "ProblemschülerInnen" oder geht es und das Problem des Unterrichts, einer heterogenen Lerngruppe als einzelne Lehrkraft nicht gerecht werden zu können? Mit Blick auf die Erfahrungen mit dem niedersächsischen Kooperationserlaß, der der Intention der ersten Problembestimmung folgt, stellt FECHLER die Frage, ob die von Grundschulen wahrgenommenen "positiven Ergebnisse dem 'Einsatz der SONDERschullehrerin in der Grundschule' zuzurechnen sind" (1990, 8). Wenn dem so sei, entstehe schnell der Eindruck, daß diese positiven Veränderungen von der Anwesenheit eben dieser SONDERpädagogInnen abhängig seien. Dies hält FECHLER "für unredlich und - strategisch gedacht - für gefährlich" (1990, 8), denn dann hätte eine Grundschule keine Chance, "aus eigenen Kräften diesen erstrebenswerten Entwicklungsprozeß für sich selbst einzuleiten" (1990, 8). Letztlich wäre dies bildlich gesprochen der drohende Herzinfarkt der Grundschulpädagogik, dem durch sonderpädagogische Notfallmedizin abgeholfen werden müßte.
FECHLER sieht im Gegensatz zu einer solchen Sichtweise die positiven Effekte der Kooperation primär begründet in der Anwesenheit von zwei LehrerInnen im Unterricht. "Die Begründung der Funktion einer Ko-Lehrerin muß zunächst auf die problematischen Eigenschaften von Unterricht, nicht primär auf die 'Schwäche des Schülers', die ja sozusagen nur eine abhängige Variable darstellt, bezogen bleiben" (1990, 10). Im Licht dieser Überlegungen wird um so klarer, daß es nicht um die 'Integration behinderter Kinder' gehen kann, für die 'der ganze Aufwand' betrieben wird, sondern daß es um die 'Integration von Kindern mit und ohne Behinderung' und um eine Veränderung und Weiterentwicklung von Schule gehen muß, die vor allem mit Hilfe der integrativen Möglichkeiten der Komplexitätsreduktion gelingen kann (vgl. Kap. 3.3.1).
Auch die Organisation als Zusammenarbeit zwischen einer Grundschule und einer benachbarten Schule für Lernbehinderte - über den Weg der Mitarbeit von SonderpädagogInnen im Unterricht der allgemeinen Schule - kann ein Weg zur Schule ohne Aussonderung sein. Dies gilt allerdings vermutlich nur dann, wenn diese als integrative Entwicklung vom Willen und der Zielperspektive der Beteiligten getragen und nicht administrativ behindert wird, wie Berichte aus Bremen zeigen (BLOCH U.A. 1984, 1986, SOCHUREK 1988).
Faßt man die dargestellten Untersuchungen zusammen, so wird die Problematik additiver präventiver Maßnahmen deutlich, die mit Blick auf die individuelle Förderung von Kindern mit Schwierigkeiten vor allem auf die separierte Fördersituation setzen. Bei ihnen verändert sich das System der Schule als ganzes nicht oder kaum, es bleibt also z.B. bei der Verpflichtung auf allgemein verbindliche Lernziele, aber auch bei dem herkömmlichen Unterricht der RegelschullehrerInnen:
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Für die SchülerInnen ziehen sie auf allgemeiner Ebene wenig positive Entwicklungsmöglichkeiten nach sich, sowohl in sozial-emotionaler als auch in schulleistungsbezogener Hinsicht; evtl. tragen sie zu stärkerer Stigmatisierung bei.
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Die RegelschullehrerInnen werwerben keinen Kompetenzzuwachs, sondern ggf. eine Beschneidung ihrer Kompetenzen und/oder ein Delegieren der Verantwortung und Zuständigkeit für aussondernde Entscheidungen an nun vorhandene ExpertInnen. So werden Anlässe zur Reflexion der bisherigen Unterrichtspraxis genommen, innovatives Potential wird eher vermindert.
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Im Hinblick auf die pädagogische Weiterentwicklung der allgemeinen Schule haben auf einzelne SchülerInnen zielende Präventionsversuche kaum oder keine Schubkraft, im Gegenteil drohen sie die Strategien schulischer Selektion zu verfestigen und zu verfeinern.
Als zusammenfassende Einschätzung additiver und auf den Förderansatz aufbauender Präventionsversuche kann FECHLERs Fazit angesehen werden: "Eine Sonderpädagogik, die allzu früh und bereitwillig ihre Dienste anbietet, reproduziert genau jene Verhältnisse, an denen Schüler schulschwach werden müssen. Ein Teufelskreis entsteht. Eine unbeweglich bleibende Grundschule lernt Hilflosigkeit aus der falsch plazierten Hilfsbereitschaft der Sonderpädagogik. Beide können einen moralischen Bonus für sich buchen, denn beide sorgen sich 'rechtzeitig' und 'gezielt' um das 'schulschwache Kind'. Daß die einen es mit Hilfe der anderen herstellen und die anderen es - wiederum mit der Hilfe der anderen - identifizieren und benennen, bleibt unerkannt und verschwiegen. Die Grundschule hat dann die Sonderpädagogik, die sie verdient (und umgekehrt)" (1987a, 53).
Demgegenüber müßte eine Weiterentwicklung angestrebt werden, die die Mitarbeit von SonderpädagogInnen in der allgemeinen Schule zu einer unterrichtlichen Teamarbeit mit gemeinsamer Reflexion und mit der Zielrichtung auf Veränderungen der Gesamtsituation in der Klasse werden läßt, die die Aussonderung von Kindern nicht mehr notwendig erscheinen lassen. Dieses wäre die konzeptionelle Entwicklung von "integrative(n) Förderversuchen, die grundsätzlich am Grundschulcurriculum festhalten", zu "Integrationsversuchen" (REISER 1988, 249). Diese Entwicklung müßte begleitet sein von vertretbaren Rahmenbedingungen, u.a. eine Beschränkung der Klassenzahl in der Zuständigkeit für PräventionslehrerInnen, aber auch das Entfallen der Verpflichtung zum Erreichen eines gleichen Niveaus bei den Lernzielen. Alle zitierten Berichte stimmen in dieser Richtung der Weiterentwicklung überein, wenn sie nicht gleich die Rahmenbedingungen und Arbeitsweisen von Integrationsklassen favorisieren.
In diesem Sinne erscheint der mit dem Referentenentwurf von 1989 eingeleitete Entwicklungsschritt der Hamburger Schulbehörde (BSJB 1989a, 1989b, BüRGERSCHAFT 1990) konsequent und richtig, die bisherige Tätigkeit von PräventionslehrerInnen in eine integrative Arbeit mit heterogenen Lerngruppen im Sinne der Teamarbeit innerhalb einer insgesamt nichtaussondernden Grundschule fortzuentwikeln. Denn die Präventionsarbeit ist zwar vom Anspruch her integrativ, in der Aufgabenbeschreibung durch die Schulbehörde jedoch auf die Förderung einzelner SchülerInnen gerichtet (BSB 1988a). In der Praxis findet sie weitgehend getrennt im speziellen sonderpädagogischen Raum statt (vgl. z.B. MALCHAU U.A. 1984, NöTZOLD 1989). Mit den eingeleiteten Veränderungen kann Schulreform möglich und einer Verfestigung und Verfeinerung schulischer Selektion durch die Hinzuziehung von SpezialistInnen strukturell entgegengewirkt werden. Die in Berichten betonten positiven individuellen Effekte präventiver Arbeit wären durch eine integrative Situation einer von den Fesseln einer Verpflichtung zum lernzielgleichen Lernen entbundenen Klasse zumindest nicht ausgeschlossen.
Die Notwendigkeit der Veränderung eigener Sichtweisen gilt nicht nur, wie in Kap. 3.5.1 deutlich wurde, für PädagogInnen, sondern ebenso für den Umgang mit Therapien und für die Arbeit von TherapeutInnen. Auch im Bereich der Therapie gilt es anzuerkennen, daß Kinder sich in einem aktiven Aneignungsprozeß entwikeln. Darin sollen sie von TherapeutInnen unterstützt werden. Wenn demgegenüber die bisherige Praxis vorwiegend durch defekt- und defizitorientiertes Vorgehen und die aggressive Bekämpfung von falschen Bewegungsmustern und Lautbildungen u.ä. charakterisiert ist, so könnte dies u.a. auch ein Hinweis sein auf mögliche innerpsychische Abwehrstrategien gegenüber den zu therapierenden Kindern (vgl. ALY U.A. 1981, 77 zur BOBATH-Ausbildung).
Seit langer Zeit haben es sich TherapeutInnen zur Aufgabe gemacht, an Defekten und Defiziten von Kindern zu arbeiten. Falsche Bewegungsmuster sollten gehemmt und nicht etwa genutzt und richtige Muster sollten gebahnt werden, falsche Lautbildungen wurden bekämpft, richtige angebahnt etc.. Ein solches therapeutisches Selbstverständnis kommt der Situation von Eltern entgegen, die gerade die Erfahrung haben machen müssen, daß das Kind, das sie bekommen haben, nicht mit dem übereinstimmt, was sie haben wollten; wesentliche Qualitäten fehlen ihm ('Hauptsache gesund', 'alles dran'). In dieser Krisensituation der Eltern ist verständlich, "daß man durch Behandlung und Therapie das Kind anders haben möchte; das setzt voraus, daß es nicht einfach als Kind, sondern als krankes Kind erlebt wird und im Grunde unsere Erwartungen nie befriedigt" (ROSER 1981b, 44). Die Erwachsenen erleben "die Behinderung als eine Katastrophe, der Defekt steht im Vordergrund und im Mittelpunkt steht, wenn wir genauer hinschauen, nicht das Kind, sondern das Bedürfnis der Erwachsenen, von der Norm Abweichendes zurechtzubiegen, zu heilen oder zu vertuschen" (ROSER 1987b, 42) - auch durch Therapie. Sie "inszeniert dabei ein ideales Selbstbild mit der Behauptung, sie fördere die Integrationsfähigkeit, indem sie die Behinderten zum selbständigen Leben befähigen" würde (SIERCK 1987, 108, der Beispiele aus seiner eigenen Geschichte für 'therapeutische' Anpassungsversuche anführt). Im Gegenteil wird jedoch "mit der Perfektion therapeutischer Praktiken das eigentliche Ziel, nämlich das Leben in der sozialen Umwelt, abstrakt (...) und (...) unerreichbar" (ROSER 1981a, 17).
MILANI-COMPARETTI & ROSER prägen für diese Konstellation den Begriff der "perversen Allianz von Eltern und Ärzten" (1982, 79) gegen das behinderte Kind (vgl. auch MILANI-COMPARETTI 1987 sowie Kap. 3.1.3). Die gemeinsame Fixierung von ÄrztInnen, TherapeutInnen und Eltern auf das Abweichende, das Defizit und den Defekt wendet sich gegen das Kind, indem sie seine Individualität als ein "zur Form und zur Norm zu führendes, amorphes Etwas" (ROSER 1987b, 40) sieht und seine ganze Persönlichkeit aus dem Blick verliert. ROSER weist darauf hin, "daß schon die Therapie an sich eine absondernde Wirkung hat und in der defektbetonten Behandlung mehr Schaden anrichtet, als es der Defekt selbst ergeben hätte, vor allem im Selbstgefühl des Betroffenen" (1981b, 44). Dies ist u.a. schon deshalb der Fall, weil "das betroffene Kind in den ersten Lebensjahren gar nicht weiß, was der Erwachsene von ihm will" (1981b, 44) - und es weiß auch nicht, daß das Ringen um seine "bestmögliche Entwicklung" - was immer damit gemeint sein mag - Ausdruck von elterlicher Liebe sein soll (vgl. hierzu auch den Erfahrungsbericht der Krankengymnastin PREISSLER 1990). Die Entwicklung der Selbstwahrnehmung ist somit vorgezeichnet: "Harte Arbeit, viel Therapie, viel Freude um den kleinsten Erfolg führen das Kind zur Wahrnehmung des Hauptgegenstandes: seine Behinderung" (ROSER 1987b, 40), "es erlebt sich als minderwertig, so sehr es auch geliebt werden mag, denn durch die Arbeit an ihm intuiert es früh seine Fehlerhaftigkeit" (1987b, 42).
Die 'perverse Allianz' läßt sich in mehreren Facetten verdeutlichen: Es geht um die Frage, wie viel, wie lange Therapie gegeben werden soll, weiter um Prozesse der Exotisierung und Inflationierung, um die Rolle der Eltern und die Bedeutung der Diagnosestellung.
MILANI-COMPARETTI & ROSER sprechen bezüglich der Menge an Therapie davon, daß eine "totalitäre und betrügerische These entstanden (sei): mehr Therapie = mehr Resultate" (1982, 79), und das je früher, desto besser. HOEHNE weist auf die gängige und selbstverständliche Praxis hin, schon bei Neugeborenen und Säuglingen "bei irgendeiner Auffälligkeit" Krankengymnastik zu verordnen (1984, 1). Hier werden entsprechend einer 'Medizin der Krankheit' alle Hoffnungen auf eine frühe und effektive Bekämpfung der Pathologie, der Ausfälle etc. gesetzt. Stattdessen sollten die Beteiligten entsprechend einer 'Medizin der Gesundheit' versuchen, das Kind in seiner Gesamtheit wahrzunehmen und in seiner Handlungsfähigkeit zu unterstützen. Das Jagen nach therapeutischen Erfolgen ist zudem von zweifelhaftem Wert, haben doch PraktikerInnen selbst für eine relativ gut faßbare Therapie wie die Krankengymnastik festgestellt, daß bei einem angenommenen Erfolg von insgesamt 75 % etwa 60 % auf "persönliche Zuwendung, liebevolle Annahme und motivierende Art der Therapeutin, weitere 10 % auf die unspezifische Stimulation von Wahrnehmung und Bewegung und nur die letzten 5 % auf die spezielle Krankengymnastik" zurückgehen (HOEHNE 1984, 4). Die Effektivität und der "wirkliche Therapieerfolg" (ALY 1982, 95) krankengymnastischer Methoden sollte also nicht überbewertet werden; häufig wird von einem exotisierenden "Methodenzauber" (ALY U.A. 1981, 70) gesprochen, mit dem SpezialistInnen ihre berufliche Identität sichern und hinter dem sie sich und ihre Ängste ggf. auch versteken können. So kommt es zur "Erstarrung der Angst zur Behandlungstechnologie" (NIEDECKEN 1989, 160).
Weiter wird die Exotisierung und Inflationierung von Therapie kritisiert. Es ist nach MILANI-COMPARETTI & ROSER "die Zwangsvorstellung aufgekommen, daß für den Behinderten alles besonders sein muß" (1982, 79). Mit der Inflationierung des Therapiebegriffs werden Kinder mit Behinderungen (und TherapeutInnen) zusätzlich exotisiert: "Der Alltag wird zur Therapie erklärt" (WUNDER 1982, 73); sie ersetzt vielfach das reale Leben in einer Gemeinschaft mit anderen Kindern und dient dazu, "ein künstlichen Lebens in den Institutionen aufrechtzuerhalten" (BUCH U.A. 1980, 144; vgl. auch FEUSER 1984a, 134-142). So wird dann aus Spielen Spieltherapie, aus Musik-Machen Musiktherapie, aus Schwimmen-Gehen Schwimmtherapie, aus Beschäftigung mit Dingen Beschäftigungstherapie, aus dem Miteinander-Sprechen Sprachtherapie, aus Reiten-Gehen Reittherapie, aus Turnen Physiotherapie, aus auf dem Spielplatz-Spielen Psychomotorik usw. usf. Eine Höchstform der Exotisierung bildet wohl eine "Waldtherapie für behinderte Jugendliche" (VANGEROW 1979), die in einem Drei-Stufen-Modell offensichtlich das Spazierengehen ersetzen soll. Und anstatt daß z.B. ein Kind das Parfüm hinter dem Ohr seiner Mutter, den Zwiebelgeruch in der Küche und den Tabakgeruch seines Vaters - oder des jeweils anderen Elternteils - erlebt, werden ihm diese Eindrücke, vom alltäglichen Kontext entfremdet, als "nackte Reize" im Sinne von Übungen fünfmal täglich offeriert (MILANI-COMPARETTI 1987, 232). Die Überspezialisierung und damit einhergehende Exotisierung Ende der 60er Jahre, die aber auch noch heute Gültigkeit haben dürfte, macht KOBI deutlich: Zu allein 14 SonderschullehrerInnenkategorien, weiter untergliedert nach Schulstufen und -fächern "gesellen sich in der Praxis die Heerscharen der Psycho-, Physio-, Ergo-, Moto-, Psychomoto-, Mal-, Atem-, Familien-, Gestalt-, Gestaltungs-, usw. Therapeuten, gefolgt von den '-iatern', den '-logen' und den '-agogen', die allesamt von Integration sprechen ..." (KOBI 1983, 202).
Weiter ist bezüglich der Dauer von Therapien kritisch zu hinterfragen, wie lange und bis zu welchem Alter Therapien durchgeführt werden sollen (vgl. HOEHNE 1984, 1987). Hier geht es um die mit zunehmendem Alter immer schwerwiegenderen Folgen psychischer und sozialer Stigmatisierung durch Therapie, die deren mögliche positive Effekte mehr und mehr überlagern. Da im Laufe des dritten Lebensjahres die Ausdifferenzierung motorischer Hirnfunktionen weitgehend abgeschlossen wird (1984, 2), sollten bereits im Kindergartenalter Therapien in der Form der Einzelmaßnahme kritisch überprüft und ggf. zurückgenommen werden; im Schulalter hält HOEHNE Bewegungstherapien "nur noch in ganz wenigen Fällen für sinnvoll" (1987, 65), und dies allenfalls dann, wenn Krankengymnastik in einer anderen Weise und mit anderem Selbstverständnis wirksam wird, indem "im Spiel des Kindes die therapeutischen Qualitäten entdeckt und diese ausgebaut werden" (1987, 65). Überaus problematisch sind für HOEHNE Therapien bei Kindern im Grenzbereich der Auffälligkeit, die mit - wenn auch richtigen, immer wieder wechselnden und nie das Kind als Ganzes beschreibenden, sondern nur stigmatisierenden - Diagnosen wie 'Minimale Cerebrale Dysfunktion' oder 'Sensorische Integrationsstörung' mit sechs oder sieben Jahren zur Therapie geschickt werden (1987, 69). Hier geht es häufig mehr um gesellschaftliche Normalitätsvorstellungen als um die Frage der Notwendigkeit - um eine Not zu wenden - von stigmatisierenden Therapien. Für Sonderschulen ergeben sich auch in diesem Bereich immer größere Legitimationsprobleme, denn einerseits konnten sie bislang ihre positiven Besonderheiten besonders durch Therapien und TherapeutInnen herausstellen, andererseits haben sie intern immer stärker mit Phänomenen der 'Therapiemüdigkeit' und 'Therapieresistenz' zu kämpfen - dies sollte Anlaß zur kritischen Reflexion der eigenen Praxis sein.
Auch die bezüglich der Rolle der Eltern in den 80er Jahren dominierende Auffassung, Eltern zu Co-Therapeuten zu machen, kann als Ausdruck der 'perversen Allianz' von ExpertInnen und Eltern gesehen werden. Diese Auffassung ist nur dort möglich, "wo den Eltern ihr Kind vom therapeutischen Apparat zuvor weggenommen worden ist" (ALY U.A. 1981, 31). Für das Kind birgt sie die Gefahr des Verlusts zweier existentiell wichtiger Dinge: Das Kind verliert "sein Kindsein und gleichzeitig seine Eltern. Das Kindsein wird zur Therapie. Die Eltern zu Therapeuten" (1981, 32). "Nichts ist gefährlicher für die Kind-Eltern-Beziehung, als Mutter und Vater zu Therapeuten zu machen" (MILANI-COMPARETTI & ROSER 1982, 85), auch deshalb, weil Eltern in eine Abhängigkeit von (früh-)fördernden ExpertInnen geraten können: Sie sind es, die den Eltern gleichsam eine Absolution erteilen können für ihre Tötungsphantasien dem Kind gegenüber und für die Schuldgefühle, wenn die Eltern folgsam all das tun, was die ExpertInnen im Sinne einer späteren gesellschaftlichen Nützlichkeit ihres Klientels für notwendig halten (vgl. NIEDEKEN 1989, 179-191).
Was Eltern demgegenüber primär bräuchten, sind anleitende BeraterInnen, denen es "in der frühen Krankengymnastik weniger um die Motorik und ihre Abweichungen (geht), sondern viel mehr um die Begleitung und Führung einer Familie bei ihrem Bejahungsprozeß" (HOEHNE 1984, 5) - und dies nicht etwa bezogen auf die Behinderung, sondern die Bejahung des Kindes, auch mit seinen Schwierigkeiten. Es ginge dann nicht mehr um das 'Behandeln' eines Kindes durch Therapie, sondern um die beobachtende Teilnahme und Unterstützung der Erfahrungen des Kindes und seiner Entwicklung in seiner alltäglichen Welt. Hinter dieser Auffassung steht die These, daß kindliche Entwicklung nicht im Sinne eines Reiz-Reaktions-Schemas gedacht werden kann, "sondern als eine Beziehung zwischen einer autonomen Haltung des Individuums, das sich aus eigener Aktivität seiner Umwelt anbietet, und dieser Umwelt" (MILANI-COMPARETTI 1987, 231). In diesem dialogischen Sinne sind die "Vorschläge" des Kindes (MILANI-COMPARETTI & ROSER 1982, 82) zu studieren und dementsprechende Gegenvorschläge zu machen. So kann ein kreativer "Dialog zwischen Vorschlägen und nicht ein Dialog zwischen Antworten" (MILANI-COMPARETTI 1987, 231) eingeleitet werden, der als offene Spirale denkbar ist. Leider sind bislang KrankengymnastInnen und andere TherapeutInnen für ein solches Arbeitsverständnis nicht ausgebildet und infolgedessen bei solcherlei Aufgaben leicht überfordert.
Eine besondere Wichtigkeit für die Entwicklung von Kindern hat die Stellung der Diagnose. In der 'Medizin der Krankheit' fügt sie den Eltern über schwer oder kaum verständliche Begriffe einen zusätzlichen Schock zu, auf den in der Regel verstärkte Tötungsphantasien und Schuldgefühle folgen. Damit fungiert sie "als Einbetonierung von Selbst- und Fremdwahrnehmung in der frühen Mutter-Kind-Beziehung" (NIEDECKEN 1989, 24) und sagt doch kaum etwas über konkrete Entwicklungsmöglichkeiten aus. Die Diagnose ist häufig die Grundlage für eine Endlos-Therapie mit unklaren Zielsetzungen, bei denen TherapeutInnen leicht "zu einer lebendigen Prothese für die Bewegungen eines Menschen werden" (ALY 1982, 96), anstatt seine Autonomie und Handlungsfähigkeit zu unterstützen und sich möglichst schnell überflüssig zu machen. Neben einer Diagnose, "der Feststellung einer bestehenden Wahrheit" (1987a, 99) fordert ROSER eine Prognose, also "die Erforschung einer möglichen Entwicklung, ... in der die Persönlichkeit der Eltern, ihre Wertwelt, die Gegebenheiten des Kindes und die fachlichen Kenntnisse eingebaut werden" (1987a, 99). Ausgehend von einer solchen Analyse (vgl. Kap. 3.4.3) kann dann für das Kind wie für die Eltern 'Normalität' im Sinne der Unterstützung von Autonomie und Handlungsfähigkeit im sozialen Umfeld erarbeitet werden.
Zusammenfassend kann für den Bereich der Therapie gesagt werden, daß es auch hier darum geht, eingeengte Normalitätsvorstellungen kritisch zu reflektieren und - entsprechend der bislang für LehrerInnen typischen pädagogischen Aggressivität - auch eine therapeutische Aggressivität abzulegen. Dementsprechend sind bei den ExpertInnen Veränderungsprozesse anzustreben, die sich vom Reiz-Reaktions-Schema einer therapeutischen Behandlung nach vorhandenen Methoden lösen und zu einem offenen Entwicklungsprozeß mit einem positiven Dialog zu gelangen versuchen. Dabei ginge es dann nicht mehr um die Bearbeitung von Defekten und Defiziten im Sinne einer aggressiven Verfolgung, sondern um die ganzheitliche Wahrnehmung der kindlichen Persönlichkeit mit ihren Möglichkeiten, Kompetenzen und Schwierigkeiten (vgl. auch Kap. 3.1.2).
Das Therapieverständnis einer 'Medizin der Gesundheit' ist bemüht (vgl. MILANI-COMPARETTI & ROSER 1982),
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primär die Kompetenzen und Schwierigkeiten eines Kindes zu sehen anstatt einen Behinderten zu behandeln und somit Normalität und Autonomie eines Kindes zu fördern anstatt einen Defekt heilen zu wollen,
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die Behandlung eines Kindes auf das "unbedingt Unerläßliche" (1982, 85) und den kleinstmöglichen Zeitraum zu beschränken,
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therapeutische Übungen und Sitzungen zu vermeiden und stattdessen die Erfahrungen im alltäglichen Leben zu beobachten, die darin enthaltenen therapeutischen Qualitäten wahrzunehmen und ihre Überleitung von Handlungen in Gewohnheiten zu unterstützen. Damit wird das Kind als "Hauptperson seiner eigenen Entwicklung" wahrgenommen (1982, 86).
Innerhalb der integrationspädagogischen Praxis sind aus dieser Kritik zwei Strategien des Umgangs hervorgegangen: In einigen Projekten arbeiten TherapeutInnen integriert im Unterricht mit, in anderen wird die Bedeutung der Therapie so relativiert, daß TherapeutInnen eher beratend mit den IntegrationspädagogInnen kooperieren. In solchen Projekten wird als Aufnahmevoraussetzungen festgelegt, daß eine separierte therapeutische Versorgung innerhalb der Grundschule entweder, was seltener der Fall ist, ermöglicht oder, was häufiger vorkommt, nicht erforderlich ist. Daß HOEHNEs Aussagen zur Notwendigkeit von Therapien im Schulalter einen hohen Realitätsgehalt haben, zeigen u.a. die Hamburger Erfahrungen, nach denen fehlende therapeutische Möglichkeiten als Grund für die Nichtaufnahme bislang nicht bedeutsam geworden sind (HINZ 1990a, 391).
Deutlich ist auch, daß - unabhängig von der organisatorischen Anbindung therapeutischer Fachkräfte innerhalb der Integration - letztendlich Pädagogik und Therapie "im Prinzip nicht voneinander unterschieden" sind (FEUSER 1984a, 134), wenn Therapie nicht mehr primär als Einzelbearbeitung von Defiziten und Defekten in einer Übungssituation definiert wird. Ein verändertes therapeutisches Selbstverständnis, das die bisherige Praxis und Theorie grundsätzlich hinterfragt, verspricht in der Entwicklung überdies weiterzuführen als Versuche, bisherige Ansätze nach Form und Systematik in die integrative Situation zu importieren, wie es z.B. RODUST (1988) in bezug auf die Sprachtherapie versucht. Anstatt defizitäre Abweichungen einzelner Kinder zu diagnostizieren und auf deren Abtrainieren zu zielen, gilt es vielmehr, die therapeutischen Qualitäten des gemeinsamen Lebens und Lernens verschiedener Kinder wahrzunehmen und auf dieser Basis Kinder in ihrer Entwicklung zu unterstützen. Hier erscheint es statt des Festhaltens am Begriff 'Therapie' und seinen häufigen heilenden bzw. aggressiven Implikationen sinnvoller, von pädagogischer Arbeit mit mehreren PädagogInnen in einer heterogenen Gruppe zu sprechen.
Im Zuge der Weiterentwicklung der Medizin sind Eingriffe möglich geworden, die Behinderungen teilweise zu verhindern vermögen. Diese Entwicklung wird getragen und vorangetrieben von Vorstellungen, möglichst viel Leid und Belastungen zu vermeiden und sie den Betroffenen und ihren Eltern zu ersparen. Dieses geschieht zum einen auf dem Wege humangenetischer Beratung und vorgeburtlicher Diagnostik, mit der bestimmte Schädigungsbilder tendenziell verhindert oder zumindest in ihrer Häufigkeit vermindert werden können, zum anderen im Zuge der medizinischen Entwicklung, wo gentechnologische Lösungen pädagogische und therapeutische Bemühungen teilweise ersetzen könnten. Es besteht schon die Vision eines gentechnologischen Zeitalters (vgl. BECK 1988). Weiter sind in den letzten Jahren verstärkte Diskussionen um die Sterilisation 'Einwilligungsunfähiger', also von Menschen mit geistiger Behinderung, und um die aktive Sterbehilfe bzw. um das Lebensrecht von alten Menschen mit schweren Krankheiten oder Behinderungen sowie schwerstbehinderten Neugeborenen zu beobachten.
Aus der Betroffenenperspektive stellt sich die Situation in Umkehrung eines verbreiteten und selbstverständlichen Satzes nicht nur dar als problematische Eltern-Kind-Beziehung und als "Risiko, nichtbehinderte Eltern zu bekommen" (SIERCK 1989). Sie erscheint auch als zunehmend existenzbedrohend, da innerhalb der sich vollziehenden gesellschaftspolitischen Entwicklungen - zentriert um die Stichwörter Humangenetik, Gentechnologie, Zwangssterilisation und aktive Sterbehilfe - im verbreiteten, 'normalen' Denken kein Platz für Leiden, Krankheit und Behinderung bleibt. Es geht in diesem Abschnitt also um Prozesse, die gesellschaftliche Normen in integrativer oder in aussondernder Richtung verändern und bei denen, wie die Charakterisierung der aktuellen Diskussionen bereits deutlich macht, eine bis zur Existenzbedrohnung für Menschen mit Behinderungen reichende aussondernde Grundtendenz vorhanden ist.
Eine solche Entwicklung weist also neben ihren gewollten positiven oder zumindest gut gemeinten Wirkungen Schattenseiten auf: Häufig wird das Ziel der Vermeidung von Schädigungen mit der Verachtung von Geschädigten kombiniert und Geschädigte werden zum Zwecke der Abschrekung instrumentalisiert. Daß dies beispielsweise auch innerhalb der Literatur - und selbst in der 'friedensbewegten' Kinder- und Jugendliteratur - geschieht, machen in erschrekender Weise die Bücher von Gudrun Pausewang deutlich, in denen ein ganzes "Menü der Behindertenfeindlichkeit" (BOBAN & HINZ 1990) aufgetischt wird. Hier muß Behinderung als Abschrekungsmittel, als schlimmere Alternative zum Strahlentod, als Aufforderung zur aktiven Sterbehilfe und als Rechtfertigung von Mord herhalten, um die Gefahren einer unbeschränktem Fortschrittsglauben entsprungenen Atompolitik deutlich zu machen (vgl. auch CHRISTOPH 1990, 92-97). Auch die Ökologiebewegung huldigt verstärkt einem "Gesundheits-Fetisch" (CHRISTOPH & MüRNER 1990) und trägt indirekt zur wachsenden gesellschaftlichen Verachtung von Menschen mit Behinderungen bei, wenn sie auf einem Aufkleber einen verendeten, teilweise nur noch aus Gräten bestehenden Elbfisch an Krüken darstellt.
Im folgenden sollen die Diskussionsfelder im medizinischen Bereich betrachtet werden: die humangenetische Beratung, die Gentechnologie und ihre Perspektiven, die Sterilisation 'Einwilligungsunfähiger' und die sog. aktive Sterbehilfe.
Der humangenetischen Beratung und als einem ihrer Kernstüke der pränatalen Diagnostik liegen die einfache Gleichung "Behinderung = Leid" zugrunde. Leid gilt es zu verhindern, also sorgen wir für die Verhinderung des Leids und ggf. der Leidenden (SIERCK & RADTKE 1989). Es ist dies die Logik eines unbegrenzten medizinischen Fortschrittsmodells, das entsprechend dem Gotteskomplex (RICHTER 1986) Leid durch Technologie und technischen Aufwand zu verhindern und damit gleichzeitig abzuspalten versucht. Dabei wirken die gleichen Abspaltungsbedürfnisse und Normalitätsvorstellungen bei verschiedenen Menschen und Berufsgruppen zusammen (vgl. BOBAN & HINZ 1988b):
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Eltern wünschen sich selbstverständlich ein gesundes, nichtbehindertes Kind; sie hoffen, durch pränatale Diagnostik eine Sicherheit dafür zu bekommen.
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Ärzte sehen als ihre Aufgabe, Eltern und den zukünftigen Kindern selbst Leid zu ersparen; mit ihrem hippokratischen Eid haben sie sich dazu verpflichtet.
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Für Ökonomen und aus finanz- und sozialpolitischer Perspektive können humangenetische Maßnahmen zur Geburt von mehr nichtbehinderten Kindern beitragen, was angesichts der bestehenden Alterspyramide und der dadurch, aber auch durch hohe Betreungskosten für behinderte Menschen bedingten gesellschaftlichen Kosten begrüßt wird.
Hier ist eine normenbezogene Kontinuität zwischen rassehygienischen bzw. sozialdarwinistischen Vorstellungen und humangenetischer Arbeit, eine kontinuierliche Entwicklung "vom Erbgesundheitsgericht zur humangenetischen Beratung" (SIERCK & RADTKE 1989) festzustellen, deren Wurzel u.a. in der durchgängigen Abspaltung von eigener Schwäche, Dysfunktionalität, Unfähigkeit, Ängstlichkeit etc. liegt, die um so heftiger - bis hin zu Asylierung, Existenzbedrohung und kollektiver Vernichtung - bei anderen verfolgt wird. In dieser psychologischen Wurzel gibt es keine Unterschiede zwischen der wilhelminischen Ära, dem Dritten Reich und der heutigen Zeit. Für Betroffene existentiell wichtige Unterschiede bestehen hingegen in den Formen und Ausprägungen der Abwehr, zunächst in damaliger Zeit als Anstaltsverwahrung, später als Massenvernichtung, heute hingegen (noch) sozial abgefedert teils als rehabilitative Abwehr (vgl. Kap. 3.5.3), teils als präventive, humangenetische und in Zukunft zumindest in der Zielperspektive als gentechnologische Verhinderung. Akzeptanz von Menschen mit Behinderung ist dagegen in keiner der angesprochenen Epochen anzutreffen.
Was für den Umgang mit dem Phänomen Behinderung bleibt, ist die Einsicht: Normalitätsvorstellungen und Kosten-Nutzen-Denken tragen nicht nur zur Ausbreitung humangenetischer Beratungsangebote bei, sondern entwickeln gleichzeitig einen sozialen Druck, der die freiwillige Beratung als Angebot zur Farce und deren Inanspruchnahme und die ggf. folgende Abtreibung selbstverständlich werden läßt. Wenn hiervor gewarnt und die Freiheit der individuellen Entscheidung der Eltern betont wird, zu der der Arzt nur durch Informationen beitragen könne (z.B. NEUHäUSER 1986, 110), erscheint dies fast als naiv und realitätsfremd. Schädigungen und mit ihnen Geschädigte geraten mittlerweile immer stärker unter einen gesellschaftlichen Druck der Unnötigkeit und der Überflüssigkeit. Die Verantwortung für sie droht zunehmend individuellen Versäumnissen und individueller Schuld der Eltern zugerechnet zu werden. Entscheiden sie sich für ihr behindertes Kind, "dann ist dies nicht mehr unbedingt bewunderungswürdig, sondern möglicherweise Dummheit und Ängstlichkeit" (CHRISTOPH 1990, 52). "Ich mußte mich rechtfertigen, weil ich nicht traurig war", überschreibt JöDICKE-RIEGER (1991) ihre Situation, nachdem sie unter Verzicht auf die Fruchtwasseranalyse ihr zweites Kind mit Down-Syndrom zur Welt gebracht hat. Ungeborene Kinder werden so einem "ersten Staatsexamen im Mutterleib" (BOBAN & HINZ 1988b, 465), einem Verfahren vorgeburtlicher Selektion unterworfen: "Die pränatale Diagnostik verwandelt das Auf-die-Welt-Kommen in einen embryonalen Hindernislauf. Jeder 'Fortschritt' läßt die Hindernisse anwachsen" (BECK 1988, 37). Wer ihn besteht, wird geboren, wer nicht, wird abgetrieben; so wächst der "leise Zwang zum perfekten Kind" (1988, 54). Dies hat auch Auswirkungen auf lebende Menschen mit Behinderungen: Wenn die Geburt eines behinderten Kindes unzumutbar ist, "müssen wir Krüppel als gleichsam bereits 'ausgewachsene Zumutungen' Schuldgefühle gegenüber unseren Müttern haben" (CHRISTOPH 1983, 35). Letztlich gilt die Botschaft: Behinderung ist ein angsterregendes, vermeidbares, abtreibungs- und damit tötungswürdiges Phänomen.
Weitergehende Perspektiven zur Verhinderung von Behinderung und Leid verspricht die Gentechnologie. Sie verlegt den Zeitpunkt möglicher Selektion von der Schwangerschaft in die Zeit noch davor. Die Hoffnungen in die Gentechnologie zielen darauf, daß "wir mit nie zuvor dagewesenen Möglichkeiten die Kernprobleme der Menschheit (Hunger, Umweltzerstörung, Energiemangel, Erbkrankheit, AIDS) lösen" (BECK 1988, 40). Die Schattenseiten einer solchen Gentechologie und Fortpflanzungsmedizin mit ihren euphorischen Fortschrittsperspektiven liegen in ihren gesellschaftlichen Auswirkungen, vor allem in der Gefahr einer "Ersetzung sozialer durch gentechnologische 'Lösungen'. Der gentechnische Text als Operationsgebiet ... verspricht leise, kostengünstige, umfassende und durchgreifende Präventiv'lösungen' für soziale Probleme und Konflikte" (1988, 43). Eines dieser sozialen Probleme ist das der oder genauer gesagt das mit den Menschen mit Behinderungen.
BECK faßt seine Überlegungen zur gentechnologischen Zukunft in der Formel "Modernisierung der Barbarei: das Zeitalter der Eugenik" (1988, 31) zusammen, in dem die Gaskammern des Dritten Reiches funktionell durch die sterilen "Labor-KZs" (1988, 53) der GentechnologInnen, zudem noch mit einer je nach Forschungsinteresse unterschiedlich definierbaren Grenze zwischen Tod und Leben, abgelöst werden. Zu befürchtende Konsequenzen sind: "statt Sozial-, Bildungs-, Familien-, Umweltpolitik: Genpolitik" (1988, 43). Verbesserungen der Lebensbedingungen, aber auch ökonomischer Bedingungen für Betriebe durch die Auswahl ihrer Mitarbeiter nach neuen Kriterien wie Persönlichkeitseigenschaften oder der Resistenz gegenüber Umweltstoffen werden so auf neue Weise denkbar.
Auf eine alte politische Eugenik, "direkt an Leib und Seele mit Gesetz und Gas" (1988, 53) folgt nun eine neue, technologische und industrielle, also profitable, "abstrakte Reagenzglas-Eugenik" (1988, 53), die "im Maßstab und nach den Prinzipien industrieller Massenproduktion auf den leisen Sohlen der Gesundheitsvorsorge und mit dem wissenschaftlichen Segen der Genberatung schon heute ihren Siegeszug" (1988, 53) antritt. Auch hier in diesem Zukunftsszenario ist kein Raum und keine Bearbeitungsmöglichkeit für Leid, Probleme, Krankheit oder Behinderung - außer einer präventiven gentechnologischen.
Die zunehmenden Diskussionen um einen juristischen Handlungsbedarf hinsichtlich der Möglichkeit zur legalen Sterilisation von 'einwilligungsunfähigen' Personen in den letzten Jahren und eine entsprechende Regelung im Rahmen eines neuen Betreuungsgesetzes werden von Betroffenen, aber auch von Betreuenden unterschiedlich wahrgenommen. Zum einen wird verlangt, daß eine in der juristischen Grauzone, wenn nicht gar in der Illegalität vollzogene Praxis der Sterilisation nun in engen, kontrollierten Grenzen legalisiert werden muß. Zum anderen Anknüpfungspunkte an historische Vorläufer gesehen, an Zwangssterilisationen des Dritten Reiches im Rahmen des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" (vgl. SIERCK & RADTKE 1989, 147f.). Sie waren 1933 mit einer engen Indikation eingeführt und später immer weiter ausgeweitet worden. Ähnliches wird nun für die heutige Situation befürchtet. Insbesondere in bezug auf eine mögliche - als schlimmere Alternative diskutierte - Abtreibung wird der Wechsel der Argumentationsperspektive von der Zumutbarkeit für die einzelne Frau zu der Zumutbarkeit für die Gesellschaft (1989, 144) problematisiert.
Bezogen auf die Frage von Normalitätsvorstellungen geht es hier darum, unter welchen Bedingungen eine Sterilisation von Menschen, meist Frauen ohne Einwilligungsfähigkeit bzw. mit geistiger Behinderung legal sein und freigegeben werden soll. Dabei spielt z.T. auch die Frage einer vererbbaren Schädigung eine Rolle, jedoch auch die Frage der Zumutbarkeit der Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung (vgl. PIXA-KETTNER 1991). Gerade die Perspektive der Zumutbarkeit für die Gesellschaft, die als Kriterium herangezogen zu werden droht, verweist auf normative Vorstellungen, die ein Leben als Kind eines Menschen mit geistiger Behinderung für ein nicht "qualitätsvolles oder zumutbares Leben" (SIERCK & RADTKE 1989, 144) halten. Damit geht wiederum eine Disqualifizierung von Menschen mit geistiger Behinderung einher: Das Augenmerk wird nicht z.B. auf mögliche Wohnformen gelenkt, in denen ein gedeihliches Aufwachsen der Kinder von Menschen mit geistiger Behinderung gelingen könnte, sondern auf das Ausschließen von Schwangerschaften entsprechender Menschen von vornherein. Dieses entspricht einer Dauerabtreibung mit eugenischer Indikation für die Eltern, mit der wiederum Kosten-Nutzen-Denken und Kategorien einer Zumutbarkeit im Umfeld von Behinderung zum Tragen kommen.
Ähnliche Grundstrukturen weist die verstärkte Diskussion um aktive Sterbehilfe auf, wobei es wieder direkt um das Lebensrecht von Menschen mit Behinderungen geht. Betroffene weisen bei dieser Diskussion darauf hin, daß mit publizistischem Eifer die Unzumutbarkeit eines Lebens mit Behinderung zur Schau gestellt und somit wiederum zu einem gesellschaftlichen Klima der Verachtung von Geschädigten und Kategorien eines "lebensunwerten Lebens" beigetragen wird. Bei solchen Bestrebungen taucht die alte Argumentation der Erlösung, die u.a. im Dritten Reich gepflegt und in Perfektion praktiziert wurde, in verschiedener Couleur verstärkt wieder auf: CHRISTOPH & MüRNER (1990) berichten über die Gesellschaft für Humanes Sterben, die in jüngster Zeit mit einer 'Erlösungsphilosophie' für alte Menschen mit schweren Krankheiten und Behinderungen auftritt. Statt sich für eine Verbesserung der Situation dieser Menschen einzusetzen, soll die schnellere, 'menschenwürdige' Beendigung ihres Lebens ermöglicht werden.
CHRISTOPH nennt das, was unter dem Begriff der 'aktiven Sterbehilfe' diskutiert wird, eine Diskussion um "Hinrichtungen", und zwar in dem Sinne, daß um Sterbehilfe Bittende letztlich nicht sterben wollen, sondern sterben wollen sollen, denn die Umwelt meint, sie nicht mehr ertragen zu können. Auch hier gilt die Unzumutbarkeitsthese, die sich gegen das Lebensrecht und eine angemessene Betreuung älterer Menschen mit Behinderungen und/oder schweren Krankheiten wendet. Es ist jene Unzumutbarkeit, die CHRISTOPH im Zusammenhang mit der Ökologiebewegung in der Zeit nach Tschernobyl und deren These, daß die Lebenden die Toten beneiden werden, zu der Erkenntnis veranlaßt: "Es gibt Entsetzlicheres als den Atomtod. Nämlich mich" (CHRISTOPH & MüRNER 1990, 10; vgl. hierzu auch SIERCK 1988). CHRISTOPH wendet sich auch bereits gegen Diskussionen über die Sterbehilfe. "Denn wenn Fragen wie 'Sterbehilfe statt Rehabilitation?' erst einmal tabubrecherisch in einem seriösen Rahmen gestellt werden, wird ja impliziert, daß die Antwort sowohl nein als auch ja lauten kann" (1990, 39). Insofern spricht sich CHRISTOPH für die Tabuisierung solcher Fragen aus.
Die Debatte um aktive Sterbehilfe kristallisiert sich jedoch nicht nur um das Ende des Lebens, sondern auch um dessen Anfang. Insbesondere im Zusammenhang mit einer Vortragsreise des australischen Bio-Ethikers SINGER 1989 durch Deutschland nahm die Diskussion um das Lebensrecht schwerstbehinderter Säuglinge einen ungeahnten Aufschwung (vgl. hierzu die intensive Diskussion in der Zeitschrift für Heilpädagogik und in der Behindertenpädagogik 1989/1990). SINGER fordert in seiner "praktischen Ethik" (1984) offen eine Unterteilung in lebenswertes und lebensunwertes Leben. Die entscheidende ethische Trennungslinie soll nicht mehr, wie durch das Christentum grundgelegt, zwischen dem Leben von Menschen und Tieren gezogen werden, sondern nach utilitaristischer Ethik zwischen dem Leben von Personen und Nicht-Personen. SINGER "scheint es, daß etwa die Tötung eines Schimpansen schlimmer ist als die Tötung eines schwer geistesgestörten Menschen, der keine Person ist" (1984, 135). "Sein Maßstab, nach dem er alles Leben bewertet wissen will, heißt Personalität, im wesentlichen verstanden als Bewußtsein von sich selbst, Vernunftbegabtheit und Kommunikationsfähigkeit" (ANTOR 1988b, 480). Solcherlei Gedankengänge haben fatalerweise Eingang in die bundesdeutsche Sonderpädagogik gefunden (z.B. ANSTöTZ 1988). Zugunsten einer größeren Sicherheit in der Einschätzung und eines größeren Spektrums von erkennbaren Behinderungen hält SINGER es sogar im Sinne eines größtmöglichen Glücks für sinnvoller, ein Neugeborenes im Alter von etwa einer Woche zu töten als es vor der Geburt abzutreiben (1984, 186 f.). Als Beispiele für solcherart Überlegungen führt er nicht nur schwerste Behinderungen an, sondern z.B. das Down-Syndrom, Spina bifida ('offener Rücken') und Hämophilie ('Bluterkrankheit') - also auch Behinderungen, bei denen es keine Diskussion um den Status der Personalität gibt. Hier geht es um das Leiden, das sie vermeintlich verursachen - also wiederum offenbar um die Frage gesellschaftlicher Zumutbarkeit. Daß sich Betroffene gegen Diskussionen über solche Ethik massiv wehren und entsprechende Veranstaltungen verhindern wollen, kann nicht verwundern, denn ihr Lebensrecht droht zur Disposition gestellt zu werden.
Abschließend kann ein Zitat von CHRISTOPH den direkten Zusammenhang zwischen immer enger werdenden medizinisch-gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen und der Integration(spädagogik) deutlich machen: "Persönlich, so hört man durch Wohlfahrtssprüche, sind Behinderte Menschen wie Du und ich. Allgemein politisch müssen die Menschen wie Du und ich verhindert werden. Wie ist es zum Beispiel möglich, für die Integration von behinderten (und nichtbehinderten; A.H.) Kindern einzutreten, wenn sich zugleich das Bedauern aufdrängt, daß diese Kinder überhaupt geboren wurden und dieses Bedauern nicht zur kritischen Auseinandersetzung mit Normalitätsvorstellungen führt, sondern zur verstärkten Vermeidung von Wohlfahrtsschützlingen?" (CHRISTOPH & MüRNER 1990, 140). Dies ist eine Mahnung an die Integrationspädagogik, in ihrer kritischen Distanz gegenüber dem "Wahnsinn der Normalität" (GRUEN 1989) und in ihrer eigenen Neuorientierung konsequent zu bleiben und nicht in die alte sonderpädagogische Ambivalenz von Fürsorge für und Bekämpfung von 'Krüppeln' und anderen Menschen mit Behinderungen zurückzuverfallen.
Zum Abschluß soll ein Aspekt angesprochen werden, der zwar über die professionelle Integrationspädagogik hinausgeht, für ihre Entwicklung jedoch von großer Wichtigkeit ist. Gerade Beispiele, in denen pädagogische Aggressivität deutlich wird (vgl. Kap. 3.5.1), erregen bei Betroffenen den Verdacht eines eines alten pädagogisch-aggressiven Weins in neuen integrativen Schläuchen. Sie befürchten, daß sich hier Modernisierungsprozesse vollziehen, bei denen sich zwar die Organisation schulischen Lernens, nicht jedoch das hierarchische Gefälle im Sinne eines Herrschaftsverhältnisses zwischen Betroffenen und Betreuenden ändert. Sie befürchten, daß auch bei der Integrationspädagogik "die Helferrolle als Herrschaftsinteresse nichtbehinderter 'Behinderten-(Be)-Arbeiter'" (FREHE 1982) weiterhin wirksam und die verbreitete fatale Verbindung von Hilfe und Herrschaftsausübung nicht reflektiert, geschweige denn aufgehoben wird. Konkret wird die Gefahr artikuliert, "daß wir 'Behinderten' von Objekten der Betreuung nun zu Objekten der 'Integration' werden" (DAOUD-HARMS 1988, 347). Insofern favorisieren sie eine emanzipatorische Entwicklung in autonomen Gruppen, anstatt sich weiter einem durch Herrschaft bestimmten 'Dialog' mit nichtbehinderten Helfern auszusetzen, in dem sie doch eine normenbezogene Minusvariante menschlichen Lebens bleiben (vgl. SIERCK 1982, CHRISTOPH 1983).
So beschreiben auch VertreterInnen der Anfang der 80er Jahre entstandenen Krüppelgruppen ihr Unbehagen bei Integrationstreffen, wo sie bei Eltern jene gesellschaftlichen ausgrenzenden Normen weiterwirken sehen: "Wer aber genau hinsieht, bemerkt, daß auch durch die Reihen der integrationswilligen Eltern (und ebenso durch die der PädagogInnen; A.H.) der flotte 'Marlboro-Cowboy' reitet und daß, mehr oder weniger sichtbar, die Tips zur Schönheitspflege von 'Brigitte' oder 'Für Sie' spazierengetragen werden" (SIERCK 1987, 105). Ein offensichtlicher Widerspruch: "Da die alte Weisheit, daß von Aussonderung bedroht ist, wer nicht in die Reklame-Welt paßt; dort die Mütter und Väter, die sich gegen den Wegschluß ihrer Kinder wehren, dabei jedoch die Ideale weitertragen, die der Integration im Wege stehen" (1987, 105).
Hier gibt es bei VertreterInnen der Krüppelgruppen (entsprechend auch in anderen autonomen Gruppierungen) die deutliche Befürchtung, daß über Veränderungen durch Integration gesprochen wird und dabei doch alte Normen der Anpassung unhinterfragt weiterbestehen. Die "gesellschaftliche Unterlegenheit" (DAOUD-HARMS 1986, 144) von Menschen mit Behinderung bleibt erhalten, ihr Selbstwertgefühl wird von Dankbarkeit gegenüber den 'Normalen' bestimmt.
Tendenzen in ähnlicher Richtung gibt es bei Gehörlosen (vgl. Kap. 3.1.4). In der Gehörlosengemeinschaft wird der Integrationsanspruch immer wieder als oralsprachliche Anpassungsleistung gegenüber einer Gesellschaft empfunden, die Gehörlose als minderwertig, als nicht im normalen Sinne kommunikationsfähig und als behindert ansieht. Demgegenüber kann in der Gemeinschaft der Gehörlosen eher gleichberechtigt kommuniziert werden und damit auch das Gefühl des Integriert-Seins entstehen (vgl. VOIT 1991, 190). Mit der zunehmenden Anerkennung der Gebärdensprache wächst auch das Selbstbewußtsein der Gehörlosengemeinschaft und ihr Selbstverständnis - "weg vom Behindertenstatus, hin zum Status der sprachlichen Minderheit" (VOIT 1991, 190; vgl. HOFMANN 1991).
Auch in der Bewertung von Integrationsmaßnahmen kann u.U. unhinterfragtes Normalitätsdenken wirksam sein. SIERCK (1989, 10) berichtet von einem italienischen Integrationsversuch, dessen - zunächst so empfundenes - Scheitern in der Hoffnung begründet war, daß das betreffende Mädchen sich mehr und mehr den Vorstellungen einer Normalität - mit zunehmenden Kontakten und sozialen Beziehungen und angemesseneren Verhaltensweisen - annähern sollte, was es jedoch nicht tat (vgl. RAITH & RAITH 1982, 75). Derartige Bewertungsmaßstäbe zeugen von harmoniebestimmten Vorstellungen eines gemeinsamen Lebens und Lernens in der Schule, die auch bei integrationsbewegten - nichtbehinderten - Eltern in Deutschland verbreitet sind (vgl. z.B. OLEJNIK & GäBLER 1986). Was in der Perspektive Betroffener zu bleiben droht, ist der "Objektstatus der 'Behinderten' als Arbeitsgegenstand ihrer Betreuer und Erforscher" (DAOUD-HARMS 1988, 350), der durch eine "Integration" unverändert bleibt, die lediglich auf "'Akzeptanz' der 'Behinderten' durch die 'Nichtbehinderten'" zielt, auf die "Akzeptanz des 'Anders-Seins', der 'Schwäche' und des 'Übels' in den 'behinderten' Kindern" (1988, 350). Unter diesem Aspekt klingt auch die oft zu hörende Formel "In der Integrationsklasse lernen die nichtbehinderten Kinder, besser mit Behinderten umzugehen" eher so, als würden Kinder das Hantieren mit Objekten oder mit technischem Gerät erlernen, als daß sich etwas Gleichwertiges, Gleichberechtigtes ereignete. Als notwendig wird von Betroffenen vielmehr die Veränderung der Zuschreibungsattribute zur Behinderung herausgestellt, durch die der Objektstatus beendet und Menschen mit Behinderungen gleichwertige Möglichkeiten der Selbstentwicklung haben wie alle anderen.
Vor diesem Hintergrund ist es nur verständlich, wenn beispielsweise SIERCK sich zwar dafür ausspricht, daß "der Alltag auf dem Spielplatz, in der Schulklasse, in der S-Bahn oder im Büro nicht länger von dem Anblick der Auffallenden verschont bleiben darf" (1987, 110); für ihn "ist eine Integration aber nur dann wünschenswert, wenn ich das Recht habe, mich auszuschließen" (1987, 110).
In diesem Zwischenfazit geht es um die Fragestellung, wie weit Theorie und Praxis der Integrationspädagogik das zugrundeliegende dialektische Verständnis von Gleichheit und Verschiedenheit einlösen können, das dieser Arbeit zugrunde liegt. Dabei wird der Systematik der Ebenen integrativer Prozesse gefolgt.
Zur Person-Ebene integrativer Prozesse können die folgenden Aussagen gemacht werden:
Bezüglich der kognitiven Entwicklung zeigen empirische Vergleichsuntersuchungen von Schulleistungen durchgängig, daß nichtbehinderte Kinder in Integrationsklassen im fachlichen Bereich (Rechnen, Lesen) mindestens ebenso gute Leistungen erbringen wie in Regelklassen. Kinder mit Lernbehinderungen zeigen in Klassen der allgemeinen Schule eine deutlich positivere Leistungsentwicklung, und dies sowohl unter den im Vergleich zu Integrationsklassen ungünstigeren Bedingungen einer ambulanten sonderpädagogischen Unterstützung eines Präventionsansatzes, als auch ohne jegliche sonderpädagogische Hilfestellung. Für Kinder mit anderen Behinderungen in Integrationsklassen ist eine überraschend deutlich positive Grundtendenz in kognitiver wie in sozialer Hinsicht festzustellen, die mit dem großen Anregungspotential der heterogenen Lerngruppe in Verbindung gebracht wird. Nach den vorliegenden Aussagen erweist sich die wesentlich größere Heterogenität der Lerngruppe in Integrationsklassen zumindest nicht als hinderlich, für einen Teil der Kinder als förderlich für die Leistungsentwicklung.
Auch bei der Persönlichkeitsentwicklung und Selbstwahrnehmung der nichtbehinderten SchülerInnen in Integrationsklassen zeigen sich im Vergleich mit anderen Klassen positive Effekte: Sie lassen in höherem Ausmaß die Nähe von Kindern mit Abweichungen zu, zeigen ein höheres Maß an sozialer Akzeptanz; im Bereich der sozialen Kognitionen weisen sie eine stärkere Fähigkeit zur Rollenübernahme auf und bilden ein komplexeres moralisches Urteil. Demgegenüber zeigt sich bei lernbehinderten SchülerInnen im Schweizer Präventionsprojekt eine negativere Einschätzung der eigenen Leistungen, der sozialen Beziehungen und des subjektiven Befindens als bei nichtbehinderten SchülerInnen und als in Sonderschulklassen. Hier schlagen die leistungsideologischen Normen der Gesellschaft auf das Selbstbild der SchülerInnen durch, während in Sonderschulen eine gewisse Abschottung gegenüber einer realistischen Selbsteinschätzung vorhanden ist. Gleichwohl zeigt eine Vielzahl von Berichten, daß sich insgesamt eine positive Tendenz bei behinderten Kindern zu einem größeren Selbstbewußtsein ergibt. Wichtig ist die offensive Bearbeitung des Themas Behinderung bei Eltern, PädagogInnen und im Rahmen der Klasse. Daß die Befindlichkeit von Kindern mit Behinderungen im Grundtenor positiv ist, zeigen auch Befragungen der Kinder.
Entscheidend für integrative Prozesse auf der Person-Ebene ist die Persönlichkeit der PädagogInnen. Je mehr sie in der Lage sind, ihre ungebliebten Anteile wahrzunehmen und die anderer nicht aussondernd oder rehabilitativ abwehren zu müssen, desto besser sind die Chancen für integrative Prozesse bei und mit KollegInnen, Eltern und Kindern. Deutlich ist auch die Bedeutung flankierender Maßnahmen wie kollegialer Praxisberatung oder Supervision, die Angebote für eine prozeßbezogene Begleitung für PädagogInnen bereithalten.
Der Streit in der Gehörlosenpädagogik macht eine falsche Alternativstellung zwischen einer oral- und einer gebärdensprachlich orientierten Sprachentwicklung deutlich: Während sich die erste integrativ gibt, faktisch aber als Anpassungsstrategie fungiert, gerät die zweite in den Verdacht des Separatismus und bildet doch die Basis für die integrative Anerkennung der sprachlichen Besonderheiten.
Zur Interaktion-Ebene integrativer Prozesse können die folgenden Aussagen gemacht werden:
Bei den emotionalen Beziehungen in Integrationsklassen ergibt sich eine alltägliche Bandbreite von Beziehungen. Die (hohe) Anforderung, daß die Behinderung bei den sozialen Beziehungen überhaupt keine Rolle spielen soll, wird weitgehend, aber nicht ganz erfüllt; die (kleinen) Unterschiede gehen vor allem auf Kinder mit Lern- und Verhaltensproblemen zurück. Insgesamt gibt es ein bemerkenswert dichtes soziales Netz, das Kinder mit Behinderungen einbezieht und im Laufe der Schulzeit eine gleichbleibend gute bis positiv steigende Tendenz zeigt. Angesichts der negativ besetzten gesellschaftlichen Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderungen erweisen sich die Integrationsklassen als bisher erfolgreichste Möglichkeit zur sozialen Integration. Die Freizeitkontakte der behinderten Kinder sind zwar etwas geringer als die der nichtbehinderten, zeigen jedoch im Laufe der Schulzeit zunehmende Tendenz. Hierbei ist die Wohnortnähe und die gegenseitige Erreichbarkeit ohne großen Organisationsaufwand besonders bedeutsam. Im Vergleich zu Schülern einer Schule für Lernbehinderte zeigt sich bei behinderten Kindern in Integrationsklassen ein stärkerer Bezug zu MitschülerInnen und weniger Zentrierung auf die Familie in den Freizeitkontakten.
Die Kontaktsituation in Integrationsklassen stellt sich dar als dichtes soziales Gefüge, das für behinderte wie nichtbehinderte SchülerInnen mehr soziale Kontakte und individuelle Zuwendung, mehr gegenseitige Hilfestellung, aber auch mehr Konflikte bereithält als in Regelklassen.
Erfahrungsberichte von PraktikerInnen machen ebenfalls deutlich, daß sich auch zwischen Kindern mit und ohne Behinderung intensive Beziehungen entwickeln, die nicht nur Harmonie und Faszination, sondern auch heftige Konflikte enthalten. Die Pflege solcher Beziehungen und des gegenseitigen Verständnisses (mit allen konflikthaften Anteilen) wird von PädagogInnen als wichtiger Teil ihrer Arbeit gesehen. In gemeinsamen Reflexionssituationen werden in der Sek I auch Verhaltensweisen von PädagogInnen und Konflikte mit ihnen bearbeitet, vor allem dann, wenn es Probleme mit Veränderungen der PädagogInnenrolle gibt.
Für die Handlungsebene können zusammenfassend folgende Aussagen gemacht werden:
In Klassen mit einer bewußt heterogenen Lerngruppe kann Unterricht nicht mehr von einem Lehrer allein bewältigt werden. Je nach Zusammensetzung der Klasse ist eine zumindest zeitweise, besser jedoch ständige Anwesenheit von zwei PädagogInnen als integrative Möglichkeit der Komplexitätsreduzierung für die Bewältigung des Unterrichts mit einer heterogenen Lerngruppe notwendig. Die kooperative Arbeit mehrerer PädagogInnen ist eine geeignete Problemlösung; sie stellt sich jedoch auch als zentrales Problem der Integrationspädagogik heraus.
Die Kooperation im Team läßt sich theoretisch in drei miteinander verwobene Bereiche untergliedern: Beim Persönlichkeitsproblem geht es um die Bewältigung von Offenheit der eigenen Rolle und Person, beim Sachproblem um die Bewältigung von Heterogenität bei Kindern und KollegInnen und damit verbundene Aufgabenzuweisung, beim Beziehungsproblem um die Bewältigung von Interdependenz mit der Teilung von Autonomie und Befriedigung, und schließlich beim Organisationsproblem um die Rahmenbedingungen des Umfeldes, die Kooperation erleichtern oder erschweren können. Besonders brisant ist hierbei die Frage der Rollendefinition und Aufgabenverteilung, hier stehen sich zwei Auffassungen gegenüber: die eine favorisiert das gleichberechtigte Zwei-LehrerInnen-Team mit Rollentausch, die andere sieht das Team aus GrundschullehrerIn und ErzieherIn mit stundenweiser Assistenz durch SonderpädagogInnen mit einer per se asymmetrischen, hierarchischen Struktur vor. Teamprobleme sind als notwendige Phasen der Arbeit zu betrachten, die keineswegs als Eingeständnis eines Scheiterns, sondern eher als Chancen zu produktiver Weiterentwicklung zu sehen sind.
Den Kern integrativer Pädagogik machen jene Strukturen aus, in denen verschiedene Kinder gemeinsam arbeiten und lernen. Welche Kriterien solche gemeinsamen Gegenstände oder gemeinsamen Lernsituationen erfüllen sollen, ist bislang noch nicht hinreichend präzise gefaßt. Für den Unterricht ist die Individualisierung von Zielen, Methoden und Bewertung notwendig. Zahlreiche Elemente eines schüler- und handlungs- und projektorientierten Unterrichts, wie sie z.T. schon aus reformpädagogischen Ansätzen bekannt sind, werden aufgenommen und weiterentwickelt. Integrative Pädagogik zeigt sich damit keineswegs als neue oder spezielle Pädagogik, die auf anderen Strukturen aufbauen würde als bisherige. Sie entwickelt aber aufgrund bewußt gewollter Heterogenität der Gruppe andere Qualitäten. Es sind teilweise jene Qualitäten, die endlich Ernst machen mit dem, was eine kindgerechte Schule schon immer wollte. Diese theoretische Analyse bestätigt sich in ersten Untersuchungen, die sich Akzentverschiebungen zu mehr Aktivität der SchülerInnen und weniger Lenkung durch LehrerInnen zeigen. In Integrationsklassen entwickeln sich nach je gegebenen Voraussetzungen durchaus unterschiedliche Unterrichtsstrukturen mit ihnen je innewohnenden Vor- und Nachteilen. In allen Strukturen gelingt es, durch die immer wieder hergestellte Verknüpfung von gemeinsamen und individuellen Vorhaben integrative Wirkung zu erzielen.
Für die integrationspädagogische Praxis als neues Arbeitsfeld sind PädagogInnen nicht ausgebildet. Insofern stellt sich verstärkt die Notwendigkeit vielfältiger Angebote der Aus- und Fortbildung für diesen Bereich, sowohl unter dem Sach- wie auch unter dem personenbezogenen Aspekt. Hier sind sowohl die kooperative Beratung im Team und Supervision, aber auch Kontakt- und Aufbaustudiengänge im Planungs- und im Realisierungsstadium. Als notwendig erweist sich auch eine strukturelle und inhaltliche Veränderung der ersten und zweiten Phase der LehrerInnenausbildung, die auf die Veränderungen des Praxisfeldes eingehen müssen, und die die bisherige Trennung von Ausbildungsgängen überwinden muß.
Als bisher nicht befriedigend gelöst muß die sonderpädagogische Unterstützung für Kinder mit Behinderungen gelten. Hier gilt es integrationsunterstützende Formen ambulanter sonderpädagogischer Arbeit zu entwickeln. Je nach Häufigkeit des Bedarfs können ExpertInnen an einzelnen Schulen oder in sog. Förderzentren angesiedelt werden. Kontrovers wird diskutiert, ob diese Entwicklungsarbeit durch neue Institutionen oder durch Sonderschulen geleistet werden soll. Den jeweiligen Perspektiven entspricht die Betonung der Veränderung oder der Ausweitung von Sonderpädagogik.
Für die Institution-Ebene können zusammenfassend folgende Aussagen gemacht werden:
Bei integrativer Erziehung kann Schule nicht mehr als spezialisierte, routinierte Unterrichtsveranstaltung aufgefaßt werden, sondern sie muß im Sinne der Organisationsentwicklung ihr Konzept und ihre Arbeitsformen reflektieren und sich in einem kreativen Prozeß um flexible, auch unkonventionelle Lösungen bemühen. Zielperspektive ist dabei die integrative Schule ohne Aussonderung, die alle Kinder des Umfeldes aufnimmt.
Vom rechtlichen Status her befindet sich die Integrationspädagogik auf dem Weg von vereinzelten Schulversuchen zu einer Verallgemeinerung als schulgesetzliches Regelangebot. In zumindest drei Bundesländern sind schulgesetzliche Änderungen erfolgt, die die Verantwortung und Zuständigkeit der allgemeinen Schule für alle Kinder, auch jene mit Behinderungen, festschreiben, Eltern schrittweise ein Wahlrecht zwischen integrativem oder getrenntem Schulbesuch ihres behinderten Kindes zugestehen und Sonderschulen zu Förderzentren umgestalten.
Integrative Erziehung ist auf eine Reihe von konzeptionellen, personellen, räumlichen und finanziellen Rahmenbedingungen angewiesen.
Konzeptionelle Rahmenbedingungen betreffen - teilweise potentiell widersprüchliche - tragende Grundprinzipien, an denen sich integrative Pädagogik orientiert: Integrationspädagogik setzt auf die Freiwilligkeit aller Beteiligten, schließt grundsätzlich kein Kind nach Art und Schwere der Behinderung aus, in ihr wirken PädagogInnen unterschiedlicher Profession zusammen, sie bemüht sich um Wohnortnähe, läßt das Lernen mit unterschiedlichen Lernzielniveaus zu und betrachtet diagnostisch Kinder in ihrer Einbindung in das Umfeld.
Personelle Rahmenbedingungen beziehen sich je nach Klassenzusammensetzung auf die Gewährleistung des Zwei-PädagogInnen-Systems und die Reduzierung der Klassenstärke (meist bis 20 Kinder). Dabei erweist sich die Koppelung personeller Ressourcen an einzelne Kinder mit Behinderungen als legitimatorisch sinnvoll, inhaltlich aber problematisch. Wo Integrationsprojekte Kinder mit Behinderungen aus einem größeren Einzugsbereich aufnehmen, ergeben sich bezüglich ihrer hohen Anzahl, aber auch in den Anteilen der Behinderungsarten Verzerrungen.
Finanzielle Rahmenbediungungen schaffen den Rahmen, innerhalb dessen integrative Erziehung möglich wird. Die Bedingung der Kostenneutralität hat im Saarland Umformungsprozesse in Gang gesetzt, die zu einer verstärkten Nicht-Aufnahme von Kindern mit umfänglicherem Betreuungsbedarf beizutragen und tendenziell von der Integration zur Prävention zu führen drohen. Zumindest solange ein Sonderschulsystem parallel zur integrativen Erziehung zu finanzieren ist, ist integrative Erziehung nur mit finanziellen Mehrbelastungen realisierbar.
Auch in Integrationsprojekten müssen Aufnahmeverfahren für Kinder mit Behinderungen durchgeführt werden, um ihre Bedürfnisse und Notwendigkeiten zu dokumentieren und - nach Möglichkeit - die Rahmenbedingungen dementsprechend herzustellen. Dazu taugen alte Verfahren der Sonderschulüberweisung mit ihrer Zuweisung von Schülern zu bestimmten Schularten jedoch nicht. Deshalb werden Förderausschüsse bzw. Aufnahme-/Übernahmekommissionen eingerichtet, die mit einem Team aus SpezialistInnen, inklusive der Eltern als ExpertInnen für ihr Kind, einen inhaltlich kind- und umfeldbezogenen Vorschlag für notwendige Veränderungen der Schulsituation erarbeiten und Hinweise für didaktische Planungen geben. In den unterschiedlichen Realisierungschancen wird jedoch die Zwiespältigkeit derartiger Gremien deutlich: Wo planerische Eckwerte Vorrang vor den Notwendigkeiten vor Ort gewinnen, drohen diese Gremien der Sicherstellung einer förderlichen Situation unter der Hand zu Selektionsinstrumenten behördlicher Entscheidungen zu werden. Dies gilt für den Schulanfang und für den Übergang in die Sekundarstufe.
Für die Gesellschaft-Ebene können zusammenfassend folgende Aussagen gemacht werden:
Die Integrationspädagogik ist in Veränderungen ihres theoretischen und ideologischen Überbaus begriffen. Alte sonderpädagogische Begriffe, die implizit einer Theorie der Andersartigkeit von Menschen mit Behinderungen vertreten, sind für integrationspädagogische Praxis und Theorie nicht mehr tauglich. Dies beginnt mit dem Begriff der Behinderung, die nicht mehr als Zuschreibung zu einer Person, sondern als Einbindungsproblematik in das Umfeld aufzufassen ist. Gleiches gilt auch für Selbstverständnis und Rollendefinition der PädagogInnen, die sich zunehmend vom pädagogisch aggressiven Förderdenken zum Denken in Entwicklungsdimensionen hin verändern; es gilt auch für den Leistungsbegriff, der über kognitive Dimensionen hinaus erweitert und individualisiert verstanden wird.
Wichtig für die Integrationspädagogik ist die Auseinandersetzung mit ähnlichen Ansätzen, etwa der sonderpädagogischen Förderung von Kindern mit Lern- und Verhaltensproblemen durch SonderpädagogInnen an allgemeinen Schulen. Untersuchungen zeigen übereinstimmend die Problematik additiv angelegter sonderpädagogischer Förderung, die entgegen den ursprünglichen Erwartungen die Kompetenzen der allgemeinen PädagogInnen nicht erweitert, sondern zum Delegieren der Verantwortung für 'Problemfälle' an SpezialistInnen beiträgt. Bei diesen in einer Defizitorientierung verhaftet bleibenden Ansätzen sind keine generellen Effekte in Richtung auf ein höheres Wohlbefinden und eine kognitive Annäherung der speziell geförderten Kinder an den allgemeinen Standard nachzuweisen - bei Anerkennung aller individuellen Hilfen, die ermöglicht werden. Entwicklungskonzepte müssen primär am Problem der Unterrichtssituation und nicht an 'ProblemschülerInnen' ansetzen. In allen Untersuchungen wird empfohlen, den individuellen Förderansatz aufzugeben und durch ein Zwei-PädagogInnen-System zu ersetzen sowie die Verpflichtung, gleiche Ziele auf gleichem Niveau zu erreichen, aufzuheben. Oder es wird gleich ein Übergang zu Integrationsklassen favorisiert.
Weiter hat sich die Integrationspädagogik mit der Frage von Therapien auseinanderzusetzen. Hier kritisiert sie eine 'Therapiewut', die auf Defekt- und Defizitbearbeitung abzielt und die Wahrnehmung der Kinder auf ihre Besonderheiten fixiert. Einer solchen Haltung entsprechen Tendenzen zu einer Inflationierung von Therapie, zu einer Therapeutisierung und damit Verkünstlichung kindlicher Beschäftigungen und zu einer Heranziehung der Eltern zu Co-TherapeutInnen. So kann es zu einer 'perversen Allianz' beteiligter Erwachsener kommen, die mehr der Abwehr eigener Ängste gegenüber dem Phänomen Behinderung entspricht als daß sie dem Kind hilft. Oft wird sie vielmehr Schaden anrichten. Anpassung an die Normalität gewinnt so die Priorität vor der Handlungsfähigkeit des Kindes.
Die Integrationspädagogik setzt sich kritisch mit medizinisch-gesellschaftlichen Uniformierungsprozessen auseinander, die sich in vorgeburtlicher Diagnostik und Gentechnologie, in zunehmenden Diskussionen um die Sterilisation sog. einwilligungsunfähiger Personen und in der sog. aktive Sterbehilfe zeigen. Menschen mit Behinderungen werden dabei mehr und mehr zu einem vermeidbaren, ggf. den Eltern stärker individuell anzulastenden und abtreibungs- und damit tötungswürdigen Phänomen gemacht. So drohen sich gesellschaftliche Normen und Werte in existenzgefährdender Weise zuungunsten von Menschen mit Behinderungen zu verändern, nach der Grundthese: Behinderung ist eigentlich unzumutbar.
Darüberhinaus hat sich die Integrationspädagogik den unmittelbar Betroffenen und ihrer Kritik zu stellen, denn in ihrer Anwaltsfunktion für Kinder mit Behinderungen kann sie immer nur unvollkommen sein. Betroffene warnen vor der Gefahr, daß im Zeichen der Integration lediglich die Organisationsform sonderpädagogischer Betreuung verändert wird, daß Kinder mit Behinderung aber ebenso wie im System der separierten Beschulung wiederum nur Objekte pädagogischen Handelns Nichtbehinderter sein könnten. Angesichts dieser Gefahr eines 'alten Weins in neuen Schläuchen' mahnen sie vor allem das selbstkritische Überdenken von Normalitäts- und Hierarchievorstellungen an, betonen also die Bedeutung integrativer Prozesse auf der Person- und der Interaktion-Ebene. Gleichzeitig reklamieren sie für sich auch das Recht auf eine selbstbestimmte, emanzipatorische, kollektive Separierung in Gruppierungen Gleichbetroffener.
Zusammenfassend kann festgestellt werden: Wenn die aufgezeigten materielle, konzeptionelle und personelle Bedingungen gegeben sind, kann das gemeinsame Leben und Lernen von Kindern mit und ohne Behinderungen als pädagogisches Entwicklungsprojekt zu allseits positiver Anregung gelingen. Hierbei erscheint die Überwindung des Ein-LehrerInnen-Systems und seine Ersetzung durch ein zumindest partielles Zwei-PädagogInnen-System hilfreich und notwendig.
Inhaltsverzeichnis
- 4.1 Zur Heterogenität der Kulturen
- 4.2 Aussagen zur Person-Ebene
- 4.3 Aussagen zur Interaktion-Ebene
- 4.4 Aussagen zur Handlungsebene
- 4.5 Aussagen zur Institution-Ebene
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4.6 Aussagen zur Gesellschaft-Ebene
- 4.6.1 Zur begrifflichen Bestimmung von Ausländerpädagogik und Interkultureller Erziehung im Verhältnis zur Allgemeinen Pädagogik
- 4.6.2 Kritik an Förderansatz und Bikultureller Bildung
- 4.6.3 Auseinandersetzung mit Antirassistischer Erziehung
- 4.6.4 Kritik an Ethno- und Eurozentrismus sowie Rassismus
- 4.6.5 Kritik von Betroffenen
- 4.7 Zusammenfassung wesentlicher Aussagen der Interkulturellen Erziehung zur Bewältigung der Heterogenität der Kulturen
Mit der zunehmenden Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte aus dem Mittelmeerraum und dem Nachzug der dazugehörigen Familien seit den 50er Jahren ergibt sich für das deutsche Bildungssystem eine neue, veränderte Situation: Es ist nun nicht mehr nur mit der Heterogenität von Lerngruppen mit deutschen Kindern konfrontiert, sondern steht vor der Aufgabe, eine noch größere Heterogenität zu bewältigen: Kinder mit anderem kulturellen Hintergrund sind seit den Beschlüssen der Kultusministerkonferenz (KMK) 1964 nicht nur zum Schulbesuch verpflichtet, sondern sie haben auch das Recht auf eine Bildung, die der deutscher Kinder gleichwertig ist.
Die Entstehungsgeschichte dieser Herausforderung durch kulturelle Heterogenität zeigt sehr deutlich, daß sich die pädagogische Fragestellung als Reflex auf politische und ökonomische Phänomene entwickelt hat: "Mehrere demographische Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, zunächst vor allem die Arbeitsimmigration, dann aber auch das Asylbegehren vieler Menschen aus Spannungsgebieten oder aus Ländern mit einem autoritären Regime und schließlich auch die Zuwanderung sogenannter Aussiedler aus osteuropäischen Ländern haben den Anstoß gegeben für Entwürfe einer interkulturellen Erziehung. Dazu kommt die europäische Einigung mit der am Horizont sich abzeichnenden völligen wirtschaftlichen Integration neben der internationalen Verflechtung überhaupt" (AUERNHEIMER 1990, 36). Demnach ist kulturelle Heterogenität in deutschen Schulen letztlich nur auf der Grundlage internationaler ökonomischer und politischer Entwicklungen zu verstehen, denn die Arbeitsmigrationsbewegungen sind eine "Folge des wirtschaftlichen Ungleichgewichts im internationalen Maßstab. Dieses Ungleichgewicht hat eine lange Geschichte, es ist Ergebnis kolonialer Ausbeutung, teilweise auch der Ausbeutung peripherer Regionen durch die Zentren innerhalb nationaler Grenzen, und wird heute befestigt und verstärkt durch die Wettbewerbsverzerrungen auf dem internationalen Markt zugunsten der USA, Europas und Japans. Die wirtschaftliche Stärke der reichen Länder und Regionen bedingt ihre Anziehungskraft für die Menschen aus ärmeren Regionen" (1990, 36).
Mit dieser Feststellung kann auch der Stellenwert der pädagogischen Fragestellung im Gesamtzusammenhang deutlich gemacht werden: Pädagogik bewegt sich auch hier nicht im gesellschaftsleeren Raum, sondern ist - vielleicht noch stärker und direkter fühlbar als anderswo - eingebunden in gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen, die ihre Möglichkeiten und Unmöglichkeiten mitdefinieren. GAMM spricht in diesem Zusammenhang von einer "Konfrontation mit objektiven Verhältnissen, denen gegenüber die Begrenztheit pädagogischer Maßnahmen schmerzlich bewußt wird" (1981, 204). RADTKE warnt, Schulpolitik "darf nicht zum Ersatz von Gesellschaftspolitik werden" (1987, 50). "Die Schule ist oft genug dazu verurteilt, auf Dinge zu reagieren und Lösungen für sie zu versuchen, die nur durch Veränderungen etwa der Finanzpolitik, des Ausländerrechts, der Wohnungs- und Mietpolitik etc. zu verändern sind" (STEINMüLLER 1989, 136), insofern haftet ihr leicht der "Stempel der Sisyphusarbeit" an (SAYLER 1991, 19). HAMBURGER schließlich bringt diese Problematik auf den polemischen Punkt, indem er davor warnt, Politik durch Pädagogik ersetzen zu wollen (1983; vgl. auch BORRELLI 1982).
Wenn jedoch Pädagogik völlig durch Politik determiniert würde, nähme dies nicht nur PädagogInnen jeglichen Handlungsspielraum, sondern machte Pädagogik letztlich überhaupt überflüssig. So wendet sich KRüGER-POTRATZ gegen eine geforderte Priorität der Politik gegenüber der Pädagogik: Sie hält dies für "ein Argument, das sich auch so lesen ließe: daß mit ausländischen Kindern pädagogisch nicht erfolgreich gearbeitet werden könne, bevor sie nicht politisch zu 'Einheimischen' gemacht worden seien, und das vergißt, ... daß einheimisch zu sein noch keine Garantie für Chancengleichheit ist" (1983, 173). In die gleiche Richtung zielt auch HOHMANNs rhetorische Replik auf HAMBURGER: "Könnte man nicht ebenso gut fragen, ob denn Pädagogik durch Politik zu ersetzen sei?" (1989, 12). Natürlich können weder politische Probleme pädagogisch gelöst werden noch umgekehrt (RUHLOFF 1986, 187). Beide Stellungnahmen - von HAMBURGER wie von HOHMANN - scheinen allerdings von einer falschen Alternativvorstellung auszugehen, denn nicht Politik oder Pädagogik sind für MigrantInnen notwendig, sondern Politik und Pädagogik. Bei den folgenden Ausführungen zur Interkulturellen Erziehung ist die Abhängigkeit der Pädagogik von politischen Rahmenbedingungen jeweils mitzubedenken.
Die quantitative Entwiklung der Beschulung ausländischer Kinder in der deutschen Schule mögen einige Aussagen verdeutlichen:
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"Im Jahr 1965 wurden insgesamt 35.135 ausländische Schüler in der Bundesrepublik Deutschland einschließlich West-Berlin registriert. Das entsprach damals weniger als einem Prozent. 1970 waren es bereits knapp 160.000 Schüler oder 1,77 %. Zu Beginn des Schuljahres 1981/82 wurden demgegenüber 816.000 ausländische Schüler gezählt, was einem Anteil von 7,4 % entsprach. Innerhalb eines Zeitraums von knapp 10 Jahren, und zwar vor allem nach dem Anwerbestopp im Jahre 1973, hatte sich die Zahl der schulpflichtigen ausländischen Jugendlichen etwa vervierfacht" (KARGER & THOMAS 1986, 103). Zudem erhöht sich die Verschiedenartigkeit der schulischen Situation "durch die unterschiedliche Ballung von Migranten nach Nation, Bundesland, Region, Stadtteil bis hin zur Schulart" (1986, 103), was die AutorInnen am Beispiel von West-Berlin belegen.
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"Im Schuljahr 1985/86 betrug der Anteil ausländischer Schüler an allgemeinbildenden Schulen in Berlin 19,8 %, der türkischer Schüler betrug 12,6 %. Damit stieg der Anteil ausländischer Schüler seit 1972 von 4,2 % auf z.Zt. 19,8 %" (STEINMüLLER 1989, 136).
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"- Im Schuljahr 1985/86 besuchten etwa 780.000 ausländische Kinder allgemeinbildende Schulen.
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Nach einem Höchststand von 845.000 (im Schuljahr 1982/83) ist die Tendenz aufgrund der verstärkten Rückwanderung bis 1985 rückläufig, ab 1986 relativ konstant. ...
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Der Anteil an ausländischen Schülern an beruflichen Schulen betrug im Länderdurchschnitt 4,1 %" (POMMERIN 1988c, 20).
Diese quantitative Entwicklung macht deutlich: Die Anwesenheit von SchülerInnen unterschiedlicher Herkunft ist kein eingrenzbares und an SpezialistInnen delegierbares Faktum, sondern eine Herausforderung, auf die das deutsche Schulsystem, Pädagogik und PädagogInnen insgesamt reagieren müssen.
Die qualitative Situation für SchülerInnen anderer ethnischer und kultureller Herkunft Mitte der 70er Jahre faßt BOOS-NüNNING wie folgt zusammen:
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"Ein Teil der schulpflichtigen ausländischen Kinder besucht keine Schule.
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Die meisten ausländischen Kinder gehen zur Grund- und Hauptschule, nur in selteneren Fällen wird eine höhere Schule erreicht.
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Der größte Teil der in der Bundesrepublik lebenden ausländischen Kinder erreicht keinen Schulabschluß.
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Es ist zu vermuten, daß ein Teil der sonderschulbedürftigen ausländischen Kinder nicht an Sonderschulen überwiesen wird.
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Nur ein Bruchteil der berufsschulpflichtigen ausländischen Jugendlichen kommen der Berufsschulpflicht nach" (1982a, 58; zur Wahrnehmung beteiligter LehrerInnen vgl. auch BOOS-NüNNING & HOHMANN 1982).
Die sozialen Konsequenzen verdeutlicht BOOS-NüNNING am Beispiel von Untersuchungsergebnissen aus Köln: "Wenn nur etwa ein Viertel der ausländischen Schüler im Stadtbezirk Köln den Hauptschulabschluß erreicht, heißt das, daß dem weitaus größten Teil der Zugang zu einem qualifizierten Beruf versperrt ist, da ein Ausbildungsverhältnis nur eingegangen werden kann, wenn ein solcher Abschluß vorliegt. Deshalb sind über drei Viertel der ausländischen Schüler auf Hilfsarbeiter- und Anlernberufe verwiesen" (1982a, 59).
Auch wenn sich diese katastrophale Situation, dieses Versagen des deutschen Schulsystems nicht grundsätzlich geändert hat (vgl. TUMAT 1986b, 82), muß gleichwohl gesehen werden, daß sich positive wie negative Entwicklungen vollzogen haben (vgl. hierzu BOOS-NüNNING & HENSCHEID 1987). Dazu haben u.a. zahlreiche Modellversuche beigetragen (vgl. BLK 1987), auch wenn für deren Einrichtung neben der problematischen Bildungssituation der MigrantInnenkinder auch Befürchtungen und Abwanderungsbewegungen von deutschen Eltern und Sorgen um den sozialen Frieden in Schulen und Stadtteilen bestimmend gewesen sind (BOOS-NüNNING 1987, 253). Insgesamt können die Veränderungen der Bildungssituation von MigrantInnenkindern in den 80er Jahren mit den Stichwörtern Normalisierung und Hierarchisierung gekennzeichnet werden, d.h. es gibt einerseits eine Annäherung an Bildungsverläufe deutscher Kinder, andererseits nimmt die Bandbreite der Bildungsverläufe zu (KLEMM 1987; vgl. hierzu Kap. 4.2.1).
Entscheidend für die Grundsituation in der Schule ist die schlichte Tatsache, daß die bundesrepublikanische Gesellschaft faktisch - entgegen allen regierungsamtlichen Beteuerungen - eine multikulturelle Gesellschaft ist und daß die Schule diese multikulturelle gesellschaftliche Situation nicht ignorieren kann, sondern auf sie angemessen reagieren muß: durch Interkulturelle Erziehung (so das Definitionsmoment Interkultureller Erziehung bei vielen AutorInnen, so NITZSCHKE 1982, 11, ESSINGER & GRAF 1984, 20, ESSINGER 1986b, 238, KLEMM 1985, 176f., HOHMANN 1989, 12, AUERNHEIMER 1990, 2).
Hiermit ist gleichzeitig der Kern der pädagogischen Fragestellung umrissen: Wie bewältigt das deutsche Schulsystem diese Dimension von Heterogenität? Wie GOGOLIN provokativ formuliert, stellt sich die Frage, "ob sprachliche und kulturelle Vielfalt Lust oder Last ist" (1989, 31).
Dieser Fragestellung soll nun im folgenden entsprechend der Systematik nachgegangen werden, wie sie in Kap. 2.1.3 vorgestellt und in Kap. 3 angewandt wurde. Davor soll allerdings das Umfeld, also die Frage nach der Entwicklung zur Interkulturellen Erziehung und ihrem Selbstverständnis behandelt werden. Damit können die referierten empirischen Ergebnisse und konzeptionellen Entwürfe in den Zusammenhang der jeweiligen Diskussion des Fachgebietes eingeordnet werden. Vor allem aber kann dort untersucht werden, ob und welche Parallelen es in der Fragestellung von Gleichheit und Verschiedenheit gibt.
Somit setzt sich das vierte Kapitel aus den folgenden Abschnitten zusammen: Zunächst wird die Entwicklung zur Interkulturellen Erziehung aufgezeichnet und es werden deren Grundlage und wesentliche Elemente beschrieben (Kap. 4.1). Daran anschließend werden unter der gleichen Fragestellung im Rahmen der bekannten Systematik Aussagen zu den Ebenen der Person (Kap. 4.2), der Interaktion (Kap. 4.3), der Handlung (Kap. 4.4), der Institution (Kap. 4.5) und der Gesellschaft (Kap. 4.6) aufgezeichnet. Wesentliche Aussagen faßt der Abschnitt am Schluß (Kap. 4.7) zusammen.
In Kapitel 2.2. ist als Vorverständnis dieser Arbeit formuliert worden, daß ein dialektisches Verständnis von Gleichheit und Verschiedenheit ebenso für die kulturelle Heterogenität maßgeblich sei. Dies gilt es zunächst anhand der Entwicklung zur Interkulturellen Erziehung zu überprüfen. Wenn es richtig ist, daß die Bedeutung des Konzepts einer Interkulturellen Erziehung "weniger Ergebnis seiner eigenen Kraft als des Scheiterns anderer bisher eingeschlagener Wege ist" (KLEMM 1985, 177), ist es notwendig, sich die Vorgeschichte dieses erziehungswissenschaftlichen Arbeitsbereichs bezüglich der Bildungskonzepte für ausländische Kinder und der Phasen der Theoriebildung zu vergegenwärtigen (Kap. 4.1.1). Weiter ist - insbesondere im Vergleich mit integrationspädagogischen Ansätzen - der Verwendungszusammenhang des Integrationsbegriffs zu betrachten (Kap. 4.1.2). Schließlich soll das Konzept der interkulturellen Erziehung in seinen wesentlichen - übereinstimmend genannten - Zielsetzungen, Charakteristika und in seinem Problem- und Diskussionsgehalt dargestellt werden (Kap. 4.1.3).
Die Zielsetzungen von Bildungskonzepten für ausländische Kinder bezeichnet KLEMM mit den Stichwörtern "Rotation", "Integration" und "Option für Integration oder Rückkehr" (1984, 95; vgl. analog dazu AUERNHEIMER 1984, 23). Nach dem Rotationskonzept kehren die ins Land geholten Arbeitskräfte nach einiger Zeit ins Heimatland zurück, ihre Kinder werden vor allem durch segregierten Unterricht in Nationalklassen auf ein zukünftiges Leben im Heimatland vorbereitet. Im Rahmen dieses Konzepts "hat der Begriff 'Wahrung der kulturellen Identität' den offenen Rückkehrgedanken abgelöst" (NEUMANN 1981b, 36). Das Integrationskonzept erwartet demgegenüber ein dauerhaftes Verbleiben in Deutschland und setzt auf eine schnelle Einschulung in Regelklassen. Die Optionsvariante will beide Perspektiven, eine Zukunft in der Bundesrepublik wie im Heimatland, offenhalten. Sie ist als 'Doppelstrategie' ab den 70er Jahren offizielle Ausländerbildungspolitik und wird in Beschlüssen der Kultusministerkonferenz - wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen und Prioritätsverlagerungen - deutlich (vgl. Kap. 4.5.1). Die Bedeutung dieser Prinzipien für die Bewältigung von Heterogenität wird im folgenden erörtert.
Beim Rotationskonzept wird die Frage der Bewältigung kultureller Heterogenität für die deutsche Schule nicht real: "Dieses Konzept, das vor allem die ersten Jahre der Ausländerbeschäftigung bestimmt hat, gründet auf die Vorstellung, daß ausländische Arbeitnehmer - und damit auch ihre Kinder - nur für einen eng begrenzten Zeitraum in der Bundesrepublik bleiben würden. ... Diesem Konzept entspricht eine Bildungspolitik, die in Anbetracht von kurzer Verweildauer und von Rückkehrperspektiven der Ausländer segregierende Schulmodelle und Unterrichtsformen fördert, zumindest aber duldet" (KLEMM 1985, 177). Die Logik ist deutlich: Ausländische Kinder kommen aus dem Heimatland, besuchen in Deutschland eigene Klassen oder Schulen und kehren nach einiger Zeit, in möglichst ungebrochener kultureller Kontinuität, in ihr Heimatland zurück. Kulturelle Heterogenität wird durch völlige Separierung bewältigt, der Pol kultureller Verschiedenheit dominiert so, daß ein gemeinsamer Schulbesuch nicht sinnvoll erscheint. Die schulische Separierung entspricht dabei der dominierenden Vorstellung von gesellschaftlicher Separierung: Es werden ausländische Arbeitskräfte gebraucht, importiert und wieder exportiert - mehr nicht. Für die betroffenen Kinder hat dies während der Migration äußerst problematische Folgen: "Ausländische Kinder können im nationalen Getto keine stabile Identität entwickeln. Was sie dann bestenfalls lernen, ist, sich in einer Scheinwelt einzurichten, die weder mit der Realität ihrer derzeitigen Umgebung übereinstimmt noch mit der Realität des Landes, das ihre Eltern einst verlassen haben. Trennende Maßnahmen - zumal wenn sie sich über einen längeren Zeitraum erstreken - schützen das ausländische Kind nicht, sondern isolieren es; sie stabilisieren nicht seine Persönlichkeit, sondern verengen seinen Blickwinkel; sie bereiten es nicht auf ein Leben 'draußen' vor, sondern schränken seinen Kommunikationsradius ein und verzerren die Wirklichkeit" (POMMERIN 1988c, 21). Es braucht nicht extra betont zu werden, daß dieses Konzept schon angesichts der heutigen faktischen multikulturellen Realität als gescheitert angesehen werden muß.
Das Integrationskonzept geht in die entgegengesetzte Richtung, jedoch mit ebenso problematischen Folgen: "Durch die zu Beginn der 'Ausländerproblematik' jahrelang praktizierte 'direkte Integration' waren sowohl die ausländischen Kinder als auch die deutschen Mitschüler und nicht zuletzt die betroffenen Lehrer hoffnungslos überfordert. Wir haben inzwischen einsehen müssen, daß es nicht genügt, ausländische Kinder in das 'deutsche Sprachbad einzutauchen', in der Hoffnung, daß sich wie von selbst ein Kontakt zwischen ausländischen und deutschen Kindern ergibt, durch den das ausländische Kind beinahe naturwüchsig die deutsche Sprache schnell und sicher erwirbt" (POMMERIN 1982, 141). Allenfalls kann diese "beschleunigte Integration" (KLEMM 1985, 178) als Erfolg verbuchen, "aus der Gruppe der ausländischen Schüler die assimilationswilligsten herauszulösen und die Anderen, die die große Mehrheit darstellen, nicht zu integrieren, sondern zu marginalisieren" (1985, 178).
Dieser Versuch der Bewältigung kultureller Heterogenität setzt darauf, daß sich kulturelle Heterogenität durch die schlichte sprachliche Gemeinsamkeit ausländischer und deutscher Kinder in einer Schule und Klasse quasi von selbst erledigt. Diese Hoffnung auf die Lösung des Problems durch naturwüchsige Anpassung kann natürlich nicht aufgehen; damit wird kulturelle Heterogenität als pädagogische Herausforderung ausgeblendet und die Marginalisierung eines Großteils der ausländischen SchülerInnen in Kauf genommen. "Die 'direkte Integration' hat lediglich eines bewirkt: Sie hat dem ausländischen Kind die kulturellen Wurzeln entzogen, hat es heimatlos und sprachlos gemacht" (POMMERIN 1988c, 21).
Diese verleugnende Variante der Anpassungsstrategie wird abgelöst durch eine andere, die "in sprachlicher Inkompetenz ausländischer Kinder (in Mutter- und Zweitsprache) einen zentralen Erklärungsfaktor für Schulversagen sieht" (KLEMM 1985, 178). "Als Folge der gescheiterten 'direkten Integration' wurden Vorbereitungsklassen eingerichtet, in denen ausländische Kinder für ein bis zwei Jahre in nationale und internationale Vorbereitungsklassen zusammengefaßt wurden" (POMMERIN 1982, 142). Damit ist der Wandel von der ausblendenden zur kompensatorischen Anpassungsstrategie vollzogen.
Mit den beiden Varianten der Anpassungsstrategie ist gleichzeitig eine erste Phase der Theorieentwicklung innerhalb der Ausländerpädagogik gekennzeichnet, wie NIEKE sie charakterisiert: "Ausländerpädagogik als kompensatorische Erziehung und Assimilationspädagogik" (1986, 462). Diese Phase sieht er gekennzeichnet durch die Hinwendung zum "Problem kaum vorhandener Deutschkenntnisse bei den ausländischen Schülern" (1986, 462). "Es galt, den ausländischen Schülern möglichst schnell so viel Deutsch beizubringen, daß sie dem Unterricht überhaupt folgen konnten" (1986, 462). Zentrales Anliegen ist in dieser Phase also der Ausgleich von sprachlichen Defiziten. Unausgesprochen wird damit "faktisch eine Assimilation - eine Anpassung an die selbstverständlichen Deutungsmuster, Werte und Normen der deutschen Majorität - betrieben" (1986, 463). Der Sozialisationsprozeß ausländischer Kinder wird als reiner Anpassungsprozeß verstanden: "Völlige Anpassung wird mit erfolgreicher Sozialisation gleichgesetzt. Defizite würden nur da auftreten, wo diese Anpassung nicht vollständig erreicht wird" (NEUMANN 1981a, 17). Um diese Angleichung an deutsche Normen und Standards zu ermöglichen, werden spezielle Klassen und Kurse eingerichtet, die die SchülerInnen in möglichst kurzer Zeit befähigen sollten, dem Unterricht in Regelklassen zu folgen.
Dem separierenden Rotationskonzept wie den beiden Varianten der Anpassungsstrategien des Integrationskonzepts ist eines gemeinsam: Sie basieren auf einer monokulturellen Logik und "beschränken sich auf das Entweder-Oder zweier Kulturen" (PRENGEL 1989a, 76), die ein Miteinander unterschiedlicher Kulturen nicht vorsieht, ja nicht einmal zuläßt. Und sie "vernachlässigen damit allesamt die in den letzten Jahren immer stärker ins pädagogische Blickfeld geratene kulturelle Realität der Arbeitsmigration" und "die Bildung von Migrantenkulturen" (1989a, 76). In dieser Logik verfährt das Schulsystem zweigleisig, es "integrierte (...) die integrationswilligen und -fähigen Schüler und eröffnete ihnen, im Laufe der Zeit in immer stärkerem Maße, den Zugang zur Realschule und den Gymnasien, seltener zur beruflichen Ausbildung, kaum zu privilegierten beruflichen Positionen. Gleichzeitig wurden ausländische Schüler ausgesondert: in separate Klassen; in Fördergruppen, die vordringlich nicht Förderung der ausländischen Schüler, sondern Entlastung der Regelklassen zum Ziel haben; in Sonderschulen; in berufsvorbereitende Maßnahmen nur für Ausländer" (BOOS-NüNNING & HENSCHEID 1987, 286; ähnlich auch schon AKPINAR 1979, 126). Für MigrantInnen bleiben unter diesen Umständen nur zwei Entwicklungsperspektiven: "Der Migrant muß erkennen, daß sein kulturelles Werte- und Normsystem, seine sozialisierten Verhaltensweisen in der neuen Umgebung nicht mehr tragen; er wird in seiner Identität verunsichert. Das hat eine Dichotomie zur Folge: Entweder schließt sich der Migrant einer gettoartigen Gruppe an, die ihn streng nationalistisch in seiner Tradition bestätigt; bekannt hierfür sind z.B. die Koranschulen. Oder er paßt sich so an deutsche Verhältnisse an, daß er sogar seine Herkunft verleugnet" (ESSINGER 1986b, 238). Es sind dies die beiden Seiten einer homogenisierenden Strukturierung innerhalb des Schulsystems: Anpassung oder Aussonderung.
Hier führt auch nicht das Optionskonzept weiter, das zumindest etwas wie kulturelle Pluralität verspricht. Es gibt in seiner Widersprüchlichkeit von Lebensperspektiven jedoch auch keine Orientierungshilfen. "Diese in der Zielsetzung zweigleisige, inhaltlich jedoch einseitig, weil monokulturell orientierte Erziehung war nicht in der Lage, zur Aufhebung der Ursachen bei der schulischen Misere von Migrantenkindern beizutragen" (KULA 1986, 247). So hält auch das Optionskonzept - wie Rotation und Integration - an der homogenisierenden Logik fest.
Das offensichtliche Scheitern dieser Ansätze - sowohl des Rotationskonzepts, das durch die gesellschaftliche Entwicklung faktisch widerlegt wird, als auch der Anpassungsstrategien in ihrer ausblendenden und kompensatorischen Variante - führt ab etwa 1980 zu einer zweiten Phase ausländerpädagogischer Theorieentwicklung. Sie wird von NIEKE als "Kritik der Ausländer-Sonderpädagogik und der Assimilationspädagogik" (1986, 463) bezeichnet. Die Bemühungen gehen nun dahin, "eine Alternative zur herkömmlichen auf Migrationsprobleme bezogenen Bildungspolitik und 'Ausländerpädagogik' zu finden" (HOHMANN 1989, 6). Dabei weitet sich der Blick von den pädagogischen Problemen "auf deren Ursachen im gesellschaftlichen, vor allem im politischen Bereich" (NIEKE 1986, 463) und von der schulischen Ebene zur außerschulischen Jugend- und Sozialarbeit. Es erfolgt auch eine Hinwendung zur beruflichen Bildung (AUERNHEIMER 1990, 7). In dieser Phase werden die Herkunftskulturen der MigrantInnen stärker betrachtet, um ein besseres Verständnis für die kulturellen Voraussetzungen und das Umfeld der Migrantenkinder zu gewinnen, statt von ihnen germanozentristisch jene Voraussetzungen zu fordern, die (eher) von deutschen Kindern erwartet werden können.
Aus der Kritik an den bisherigen konzeptionellen Ansätzen und dem Scheitern der praktischen Bemühungen gewinnt schließlich die Idee der Interkulturellen Erziehung ihre Dynamik (KLEMM 1985, 178). Sie wendet sich gegen zwei "Tendenzen: Einseitige Anpassungsforderungen der einheimischen Gesellschaft gegenüber den Migranten sowie segregationistische Tendenzen" (HOHMANN 1983, 6). So beginnt eine dritte, sich Mitte der 80er Jahre abzeichnende Phase der Theoriebildung: "Interkulturelle Erziehung für eine multikulturelle Gesellschaft" (NIEKE 1986, 464). Sie "versucht, nicht mehr sonder-, sondern allgemeinpädagogisch auf ein Strukturproblem der Schule im Verhältnis zu ihren heterogenen Klienten zu reagieren" (RADTKE 1987, 51). Auf der Grundlage der Anerkennung einer faktischen multikulturellen Gesellschaft wendet sich nun das Interesse stärker vom Studium der Herkunftskulturen der Betrachtung sich entwikelnder Migrantenkulturen zu. Hier kommt es schließlich zu einem dialektischen Verständnis kultureller Heterogenität: "Ausländische Kinder lassen sich weder als 'Defizit'-Wesen, die lebenslanger kompensatorischer Maßnahmen bedürfen, charakterisieren, noch als Individuen, die bis auf wenige Ausnahmen erfolgreich das deutsche Bildungssystem durchlaufen und keinerlei Fördermaßnahmen mehr in Anspruch nehmen müssen" (POMMERIN 1988c, 18). Weiter wird ein grundsätzlicher Perspektivenwechsel gefordert: Statt von den Anforderungen der Schule müsse man von den Bedürfnissen und Schwierigkeiten der ausländischen SchülerInnen mit der deutschen Schule ausgehen (BOOS-NüNNING U.A. 1983, 344). Ebenso müsse auch von den Defiziten der einsprachigen, deutschen und von den besonderen Kompetenzen der ausländischen SchülerInnen gesprochen werden (GOGOLIN 1987, 26).
Zudem wendet sich die Diskussion um die Beschulung ausländischer Kinder und Jugendlicher einer grundsätzlichen Ebene zu. Es werden nun stärker theoretische Fragen des Multikulturalismus thematisiert, so z.B. die kontroverse Frage, ob es kulturuniversalistische Standpunkte zu vertreten gelte, die verbindliche Gemeinsamkeiten aller Kulturen oder zumindest die Gemeinsamkeit einer notwendigen Überwindung der Beschränktheit eigener Kulturen postulieren, oder eher kulturrelativistische Standpunkte, die die prinzipielle Gleichwertigkeit aller Kulturen in ihrer Verschiedenheit vertreten (vgl. Kap. 4.1.3).
In dieser Zeit entsteht auch der auf ELWERT zurückgehende Ansatz der Binnenintegration (ELWERT 1982, 1984, HANSEN 1984). ELWERT geht von folgender These aus: "Eine stärkere Integration der fremdkulturellen Einwanderer in ihre eigenen sozialen Zusammenhänge innerhalb der aufnehmenden Gesellschaft ... ist unter bestimmten Bedingungen ein positiver Faktor für ihre Integration in die aufnehmende Gesellschaft" (1984, 51f.). Er meint damit den "Zustand, in dem für das Mitglied einer Subkultur der Zugang zu einem Teil der gesellschaftlichen Güter einschließlich solcher Werte wie Vertrauen, Solidarität, Hilfe usw. über soziale Beziehungen zu anderen Mitgliedern dieser Subkultur vermittelt ist" (1984, 53). So können positive Möglichkeiten entstehen für die Entwicklung von Selbstvertrauen und Selbstbewußtsein, für die Vermittlung von Handlungswissen und die Etablierung als pressure-group (ELWERT 1984, 54; vgl. auch HANSEN 1984) als Voraussetzung für die Auseinandersetzung mit einer fremden Umwelt. In diesem Sinne kommentiert AUERNHEIMER die positiven Möglichkeiten des Ansatzes der Binnenintegration: "Wenn man die Eingliederung neuer ethnischer Minderheiten auch als kollektiven Prozeß der kulturellen Transformation betrachtet, der die Schaffung einer Migrantenkultur zum Ergebnis hat, die Voraussetzung für die produktive Auseinandersetzung mit den Migranten ist, so bekommt die Einwandererkolonie oder ethnische Gemeinde eine positive Bedeutung, nicht bloß eine Funktion als vorübergehender Schonraum" (1990, 101). Hiermit sind positive Möglichkeiten des Erlebens von Gleichheit innerhalb der Subkultur aufgezeigt, die für die Auseinandersetzung mit Verschiedenheit in der Gesellschaft insgesamt stabilisieren können. Sie können dem unmittelbaren Anpassungsdruck, in unserem Falle einer drohenden Germanisierung, entgegenwirken helfen.
In der Zusammenschau ergibt sich die folgende Struktur der Bewältigungsstrategien kultureller Heterogenität: In einer ersten Phase stehen idealtypisch mehrere Konzepte nebeneinander, die als Gemeinsamkeit eine monokulturelle Orientierung aufweisen und lediglich ein kulturelles Entweder-Oder zulassen.
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Das Rotationskonzept setzt auf Separierung in eigenen schulischen Systemen mit der Perspektive baldiger Rückkehr ins Heimatland,
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das Integrationskonzept setzt auf eine schnelle Eingliederung mittels quasi naturwüchsiger - vor allem sprachlicher - Assimilation,
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das Kompensationskonzept setzt auf positiv diskriminierende Verfahren besonderer Förderung, die die im Integrationskonzept geforderte Assimilation ermöglichen sollen.
Im Integrations- wie im Kompensationskonzept bilden deutsche Werte, Normen unhinterfragt die Standards schulischer Erziehung. Beide stellen damit Varianten einer Anpassungsstrategie an deutsche Verhältnisse dar. In einer zweiten Phase der Theoriebildung werden diese Konzepte und ihr (Miß-)Erfolg problematisiert und kritisiert, kulturelle Hintergründe der ausländischen SchülerInnen werden deutlicher herausgestellt, die Berechtigung von kultureller Verschiedenheit betont und die hierarchischen Tendenzen bisheriger Ansätze kritisiert. In der sich herausbildenden dritten Phase schließlich kommt es zu Versuchen einer Ergänzung unterschiedlicher kultureller Hintergründe, d.h. zum Versuch, kulturelle Heterogenität ohne Anpassungsdruck und Aussonderungsdrohung in einem Miteinander des Verschiedenen in Interkulturalität zu bewältigen. Die Notwendigkeit für interkulturelle Ansätze ergibt sich schon aus der Feststellung, "daß eine nur monokulturelle, monoethnische Pädagogik in der multikulturellen Situation unzureichend ist und insbesondere einer durch kulturelle Begegnung initiierten Entwicklung nicht gerecht wird" (KULA 1986, 4). Hierbei können auch Prozesse der Binnenintegration innerhalb einer MigrantInnensubkultur positive Wirkungen haben.
Bereits in Kap. 4.1.1 ist mit der Behandlung des Integrationskonzeptes eine große Diskrepanz zwischen diesem und dem Selbstverständnis einer Integrationspädagogik, wie in Kap. 2 und 3 dargestellt, deutlich geworden. Deshalb soll hier in einem Exkurs auf die Verwendung des Integrationsbegriffs eingegangen werden.
Integration ist seit deren Beginn ein zentraler Begriff der ausländerpolitischen und damit auch -pädagogischen Diskussion. Häufig ist seine Unklarheit, seine "Vagheit und seine fehlende Eindeutigkeit" (HOHMANN 1989, 10; vgl. schon HOHMANN 1982b) beklagt worden. Er wurde als das unklare "bildungspolitische Lösungswort, die Beschwörungsformel, mittels derer das unabsehbar vielgestaltige Problem in einem Aufgabenzusammenhang gebannt zu werden scheint" (RUHLOFF 1982c, 6), bezeichnet. "Der Begriff der Integration ist so vielseitig wie die Zahl derer, die mit Integration 'von Amts wegen' befaßt sind" (REICHOW 1987, zit. in DJI 1988, 8). Unterschiedliche Zugänge von verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen aus haben eine Vielzahl von Definitionen und Systematiken hervorgebracht (vgl. etwa BAYAZ & WEBER 1984, ARIN 1986, 145-150).
Als verkündetes Ziel der regierungsamtlichen Ausländerpolitik wurde und wird er gemeinhin als Forderung an die ausländische Bevölkerung verstanden. Dies gilt auch bei verbaler Distanzierung von assimilativen Forderungen; dann werden konkrete Forderungen an die ausländische Bevölkerung gestellt (Deutsch lernen, sich auf Arbeitsbedingungen einstellen etc.), die durch allgemeine Erwartungen an die Bereitschaft der deutschen Gesellschaft zur Aufnahme relativiert werden (z.B. SAUSEN 1987, 37). Häufig bedeutet der Integrationsbegriff nicht viel mehr als den "Wunsch nach möglichst unauffälliger Existenz von Minderheiten" (REICHOW 1987, zit. in DJI 1988, 8; vgl. auch KöPCKE-DUTTLER 1982). So kritisiert z.B. ARIN nach Durchsicht offizieller Verlautbarungen in aller Schärfe, "daß im politisch-pragmatischen Sinne die 'Integration' den Umstand impliziert, in dem sich der/die Ausländer/Ausländerin an das herrschende Normative anpaßt, d.h. die Sprache beherrscht, die Anforderungen des Arbeitsmarktes erfüllt und sich möglichst 'unauffällig' verhält. Anders ausgedrückt: von ihm/ihr wird das 'sich-Einfügen' in vorhandene Herrschaftsstrukturen und -hierarchien, das 'Anerkennen' und 'Hinnehmen' des eigenen Platzes in der untersten Skala der gesellschaftlichen Macht- und Statushierarchie als 'Integrationsleistung' abverlangt" (1986, 145). Es wird ein "wirtschaftlich erzwungener Integrationswille" gegeißelt, der "an Zweideutigkeit und Heuchelei nicht mehr zu überbieten ist" (SCHMIDT 1981, 62).
Angesichts dieser verdeckten Anpassungsforderung kann es nicht verwundern, daß der Integrationsbegriff - zumal bei ausländischen AutorInnen - entsprechend kommentiert und kritisiert wird. Dies machen schon einige Buch- und Zeitschriftentitel deutlich: "Integration: Anpassung an die Deutschen?" (BAYAZ, DAMOLIN & ERNST 1984a), "Handlungsfähigkeit statt 'Integration'" (KALPAKA 1986), "Die Legende von der 'Ausländerintegration'" (ARIN 1986). Integration wird gar als "eines der beharrlichsten Begriffsgespenster unserer Zeit" bezeichnet (BAYAZ, DAMOLIN & ERNST 1984b, 7) und unter dem Titel "Abschaffung der Vorbereitungsklassen = Integration?" (MEYER-INGWERSEN & NEUMANN 1981) als ideologische Begleitmusik eines bildungspolitischen Sparkurses verdächtigt.
Mit dem Integrationsbegriff lassen sich ganz unterschiedliche, ja geradezu gegensätzliche Sachverhalte semantisch ummanteln: Bezeichnen die einen mit dem Integrationsproblem eine Frage der Gerechtigkeit, zielen andere auf Vergesellschaftung, während dritte ein Kulturproblem damit verbinden und vierte - wenn überhaupt - primär ein Ordnungs- und Verfassungsproblem sehen (BRUMLIK 1984, 80). So ist der Integrationsbegriff "je nach wissenschaftlicher und/oder politisch-ideologischer Zielsetzung, tausendfach definiert oder mißbraucht worden" (BAYAZ & WEBER 1984, 158f.). Damit ist er aussagemäßig praktisch entwertet worden.
Auf die Schule bezogen wird mit der Integration eine Haltung bezeichnet, die "mit der mehr verschleiernden als hilfreichen Forderung der 'Integration ausländischer Schüler in das deutsche Schulsystem'" darauf zielt, "daß die ausländischen Kinder, solange sie hier in unserem Land sind, auch das Unterrichtssystem unseres Landes übernehmen müßten" (ESSINGER 1986b, 237; ähnlich auch BOOS-NüNNING & HENSCHEID 1987, 286). Hinter dieser bildungspolitischen Vorgabe wird langfristige Methode vermutet: "Integration bedeutet ... die Aufgabe, ausländische Heranwachsende zwar nicht zu Deutschen werden zu lassen aber doch wie Deutsche. ... Die Förderung der Integration im Sinne einer Vorstufe zur völligen Angleichung, zum Deutschwerden ist das Ziel. Erst sollen junge Menschen so leben können 'wie ...', dann - vielleicht in der nächsten oder übernächsten Generation - werden sie, obgleich 'ungewollt', selbst Deutsche sein" (RUHLOFF 1982b, 6), "wie einst die Polen im Ruhrgebiet, so daß man sie nach einigen Generationen nur noch an den Namen erkennen kann" (KALPAKA 1986, 3).
Wohin ein solches Verständnis von Integration befürchtetermaßen führen kann, wird mehrfach karikierend beschrieben: "Das Endprodukt dieser Integration ist der 'weiße Neger', die vielfach gebrochene Persönlichkeit eines Individuums, das als Karikatur einer Figur mit typisierten Verhaltensweisen und Einstellungen herumläuft" (HOFF 1981, 63), "auf unsere Situation bezogen, ein türkischer Gastarbeiter, der perfekt deutsch spricht, Schweinswürstl mit Sauerkraut ißt, Bier trinkt und seine Kinder in die deutsche Regelklasse schickt" (SCHREINER 1983, 23, sowie 1986, 248). Zusammenfassend schreiben KALPAKA & RäTZEL: "So bedeutet letztlich die Forderung nach Integration, was sie nicht sein will: Assimilation. In der Integrationsforderung konzentriert sich unserer Ansicht nach die ideologische Funktion von Ethnozentrismus und Rassismus" (1986b, 53; vgl. Kap. 4.6.4). BORRELLI bringt die Integrationskritik auf den Punkt: "Die pädagogische Bedeutung des Integrationsbegriffes ist in der Negation des gängigen Integrationsbegriffes zu suchen" (1984, 40).
Zu dieser Vielzahl von assimilationskritischen Stellungnahmen bildet es einen eigentümlichen Widerspruch, wenn innerhalb der interkulturellen Erziehung der Begriff einer Integrationsfähigkeit im Sinne einer (nicht vorhandenen) Fähigkeit ausländischer Kinder verwendet wird. So wird etwa geschrieben, daß die Einbeziehung in die Kindergartenerziehung ausländischen Kindern die Möglichkeit eröffnet hätte, "integrationsfähig zu werden" (DOMHOF 1984, 36). Oder PIROTH schreibt: "Nach wenigen Jahren intensiver Sprachförderung im Rahmen des regulären Unterrichts sind ... die meisten Schüler von den Sprachkenntnissen her integrationsfähig, während andere kaum Fortschritte gemacht haben" (1982, 17). Geradezu erschrekend erscheint ein weiteres Beispiel aus dem Modellversuch in Berliner Gesamtschulen (THOMAS 1987a): Dort wird zur Erfassung der Eingangsvoraussetzungen in die 7. Klasse eine Einschätzung der GrundschullehrerInnen erhoben, "ob der betreffende Schüler voll integriert, voll integrationsfähig, integrationsfähig unter der Bedingung von Fördermaßnahmen oder zur Zeit nicht integrationsfähig sei" (KARGER 1987, 130). Da nur die in die Sekundarstufe I der Gesamtschule aufgenommenen SchülerInnen untersucht werden, kann das Untersuchungsergebnis nicht überraschen: "Die Kategorie 'derzeit nicht integrationsfähig' war kein einziges Mal angegeben worden" (1987, 166). Eine Steigerung selektiven Denkens mit Hilfe des Integrationsfähigkeitsbegriffs ist schwerlich vorstellbar!
Die in der ausländerpädagogischen Debatte dominierende Abwehrhaltung einem assimilativ besetzten Begriff gegenüber kann allerdings nicht einfach als zufällig verstanden werden, da er nun einmal als bildungspolitisches Schlagwort dementsprechend eingeführt wurde und besetzt ist. Folgt man den immer wiederholten Definitionen, daß Integration die Wiederherstellung eines Ganzen (von lat. integratio) bezeichnet und sinngemäß sowohl auf die Einbeziehung eines Teils in ein Ganzes, als auch auf die Verbindung der Vielfalt von einzelnen Personen oder Gruppen zu einer gesellschaftlichen und kulturellen Einheit zielen kann (so z.B. SCHMIDT 1981, 49), so ist hier bereits die Problematik des Begriffs grundgelegt: Das Verbindungsverständnis meint die gemeinsame Weiterentwicklung der Einheit, bei der sich alle Teile verändern, das Eingliederungsverständnis dagegen legt eine einseitige Anpassungsleistung des einzubeziehenen Teils an ein im wesentlichen unverändertes Ganzes nahe. Dieses Eingliederungsverständnis scheint deutlich zu einem assimilativen Verständnis von Integration beizutragen, das besonders in der ausländerpädagogischen Diskussion sehr heftig diskutiert und von Betroffenen wie von Beobachtenden abgelehnt wird.
Mit diesem assimilativen Integrationsverständnis ist jedoch auch innerhalb der ausländerpädagogischen Debatte nur eine Seite charakterisiert. Es gibt einige Versuche, zu einem anderen Integrationsverständnis zu kommen: "Ich meine, wir müssen uns dazu durchringen, auch als Integration anzuerkennen, wenn ausländische Mitbürger in ihrem Sosein hier leben wollen, wenn sie in der Diasporasituation bewußt ihre Identität pflegen wollen, wenn sie nicht als deutscher Türke, sondern als Türke in Deutschland leben wollen" (SCHREINER 1983, 23). Es müsse "ein Integrationsbegriff angestrebt werden, unter dem abweichendes Verhalten toleriert wird, fremdartige Gewohnheiten anerkannt werden, Mehrsprachigkeit selbstverständlich ist, Religionsausübung Privatsache bleibt und die Begegnung mit Menschen anderen kulturellen Hintergrundes erstrebenswert wird" (HOFF 1981, 63). Auf die bildungspolitische und schulische Situation bezogen stellt BEERMANN fest, Integration müsse als dialogischer Prozeß (1987, 295) verstanden werden, der dazu beiträgt, "daß der ausländische Schüler nicht (mehr) als Objekt von Integrationsmaßnahmen, sondern als Subjekt von Integrationsprozessen zu sehen" sei (1987, 297). Und NAUMANN beschreibt als Integrationsziel nicht die kulturelle Homogenisierung, sondern eine "Identität auf der Grundlage ethnischer wie soziologischer wie kultureller Pluralität" (1990, 25). Diese Standpunkte versuchen sich gegen assimilative Momente abzugrenzen und die Berechtigung von Verschiedenheit und prinzipielle Gleichwertigkeit zu betonen.
SCHREINER und HOFF machen deutlich, daß Integration und Identität - wie in der Doppelstrategie und zahlreichen politischen Erklärungen behauptet - kein Gegensatzpaar sind. BEERMANN stellt hierzu fest, daß die Entwicklungsperspektive von Kindern "mit der Zielformulierung 'soziale Integration und Erhaltung der sprachlichen und kulturellen Identität' insofern mißverständlich ausgedrückt ist, als sie den Begriff Identität nur einseitig zuordnet. Die Frage der Erhaltung der sprachlichen und kulturellen Identität stellt sich für die Schule somit nicht nur - und nicht einmal primär - unter dem Aspekt einer möglichen Rückkehr dieser Kinder in die Heimat ihrer Eltern, sondern zumindest ebenso sehr unter dem Aspekt ihrer weiteren Persönlichkeitsentwicklung auch für die Situation, daß sie hier sind und bleiben. Integration und Identität bilden einen Zusammenhang, eingeflochten in die Persönlichkeitsentwicklung des einzelnen Schülers" (1987, 296). Damit stellt Integration in der Debatte um kulturelle Heterogenität etwas dar, was nicht Identität zerstört, sondern Identitätsentwicklung beeinflußt und anregt.
Wie BEERMANN betonen auch andere AutorInnen den Prozeßcharakter der Integration (DJI 1988, FURTNER-KALLMüNZER 1988). Diese Deutungen stellen den Integrationsbegriff nicht dem Begriff eines Erhalts der Identität gegenüber, sondern vertreten als komplementären Begriff den der Marginalisierung: Integration und Marginalisierung sind demnach als Begriffe zu verstehen, "die das Verhältnis von Mehrheit und Minderheit strukturell, sozial, kulturell und subjektbezogen kennzeichnen. Hauptkennzeichen von 'Integration' ist ein gleichberechtigtes Verhältnis zwischen Mehrheit und Minderheit. 'Marginalisierung' ist der Prozeß der Ausgrenzung der Minderheiten aus den Institutionen, aus den sozialen und kulturellen Bezügen der Mehrheit ohne gleichzeitige Einbindung in entsprechende Institutionen und Bezüge der Minderheiten selbst, verbunden mit der Entwicklung ethnisch definierter Unterschiede" (FURTNER-KALLMüNZER 1988, 138).
Interessanterweise verschwindet der weithin mit dem Verständnis einer assimilatorischen oder kompensatorischen Ausländerpädagogik verbundene Begriff mit Beginn der Diskussion um Interkulturelle Erziehung nicht, sondern bleibt neben dem Begriff der interkulturellen Erziehung erhalten. Er geht sogar mit letzterer punktuell als "interkulturelle Integration" (vgl. HOHMANN 1989, 10) oder als "multikulturelles Integrationsverständnis" (DICKOPP 1982, 44) eine Symbiose ein.
Jüngst gibt es sogar einen Versuch, "die Bezeichnungen 'Ausländerpädagogik' und 'Interkulturelle Pädagogik' zunehmend abzulösen und zu ersetzen durch den Terminus 'Integrative Pädagogik'" (SAYLER 1991, 27). Begründet wird dies mit den definitorischen Problemen, die sowohl bei der Ausländerpädagogik als auch bei der Interkulturellen Pädagogik in übergroßer begrifflicher und konzeptioneller Heterogenität als nicht befriedigend lösbar angesehen werden. Eine 'integrative Pädagogik', die sich in bewußter Abgrenzung von allen assimilatorischen Tendenzen aus gestaltpädagogischen Ansätzen herleitet, scheint indessen wenig Klärungshilfe gegenüber bisherigen Begriffen bringen zu können. Begriffliche Generalisierung trägt nicht unbedingt zu größerer Konkretisierung von Begriffen und Konzepten bei.
In diesem Abschnitt geht es zunächst um das Vorverständnis und gesellschaftliche Voraussetzungen der Interkulturellen Erziehung, anschließend werden Grundzüge und Prinzipien dargestellt und schließlich theoretisch nicht hinreichend geklärte Fragen des Kulturbegriffs und die kontrovers diskutierte Frage eines Kulturrelativismus und -universalismus angesprochen.
Die Notwendigkeit Interkultureller Erziehung leitet sich aus jenen gesellschaftlichen Phänomenen ab, die durch die Migrationsbewegungen hervorgerufen worden sind (vgl. HOHMANN 1989, 6f. und REICH U.A. 1989, 130f.): Migration ist zu einem dauerhaften Merkmal der bundesrepublikanischen Gesellschaft geworden, so daß "Sprachen- und Kulturenvielfalt ... zu Bildungsvoraussetzungen aller, Einheimischer und Immigrierter, werden" (REICH U.A. 1989, 130). Der dauerhafte Status einer faktisch multikulturellen Gesellschaft zwingt dazu, "in den verschiedenen Bereichen, d.h. u.a. auf kulturellem, sozialem, wirtschaftlichem und politischem Gebiet Stellung zur Frage des Zusammenlebens mit ethnischen Minderheiten zu beziehen" (HOHMANN 1989, 6); denn "ein Handeln in den Grenzen nationaler Bildungssysteme (ist) rückständig geworden" (REICH U.A. 1989, 130). Verstärkt wird dieser "Prozeß zunehmender Internationalisierung" (NIEKE 1984, 87) und "kultureller und sprachlicher Pluralisierung" (REICH U.A. 1989, 130) im Zuge der europäischen Einigung und der Umstrukturierung in Osteuropa, die zu einer zunehmenden wirtschaftlichen und politischen Verflechtung beitragen.
Für die Schule hat dies unmittelbare Konsequenzen: "Problematisiert werden insbesondere die Institutionen, die auf einem national-kulturellen Selbstverständnis des Bildungssystems gründen: die Verpflichtung auf nationale Werte in den Lehrplänen, die Verbindung von Lehramt und Staatsangehörigkeit, die Einsprachigkeit der öffentlichen Bildungseinrichtungen, der ethnozentristische Geschichtsunterricht" (1989, 130). Dieses bedeutet "die Abkehr von Modellen kompensatorischer Erziehung" (HOHMANN 1989, 6) und macht "die Entdekung des Bildungswertes von Sprache und Kultur der Herkunftsländer und der Migrantenkultur in den Aufnahmeländern" (1989, 6f.) notwendig.
Angesichts dieser Phänomene kommt es darauf an, "mittelfristige Integrationsstrategien zu entwikeln, die der kulturellen Pluralisierung der Gesellschaft Rechnung tragen, ohne Gleichheitsgrundsätze zu verletzen" (REICH U.A. 1989, 131f.). Diese programmatische - und damit immer auch tendenziell utopische und vergebliche (ZIMMER 1980) - Aussage umreißt das Anliegen Interkultureller Erziehung im Sinne einer ergänzenden Bewältigungsstrategie kultureller Heterogenität: Universale Gleichheitsrechte im Sinne einer "Bildung für alle" (HOHMANN 1989, 7) bilden die verbindliche Grundlage, gleichzeitig muß kulturelle Verschiedenheit zu ihrem Recht kommen können. Dies ist die Formel eines dialektischen Verständnisses von Gleichheit und Verschiedenheit der Kulturen. Sie steht neben anderen gesellschaftlich-politischen Möglichkeiten der Bewältigung von kultureller Heterogenität: "Multikulturalismus in seinen verschiedenen Varianten ist ... nur eine politische Möglichkeit neben zwei anderen Alternativen, nämlich der kulturellen Assimilation einerseits und der Separation von Minderheiten andererseits" (AUERNHEIMER 1990, 2). Damit sind die drei möglichen Bewältigungsstrategien kultureller Heterogenität genannt: Anpassung, Aussonderung und schließlich Interkulturelle Ergänzung, die sich "gegen Segregation und kulturelle Überformung zugleich" (ZIMMER 1987, 234) wendet.
Der unüberschaubaren Vielzahl von Definitionsversuchen Interkultureller Erziehung soll hier keine weitere hinzugefügt werden; Einigkeit besteht allenfalls darüber, daß es bisher keine eindeutige Definition gibt (vgl. z.B. HOHMANN 1983, 4f.). Von daher erscheint es sinnvoller, übereinstimmend als wesentlich angesehene Prinzipien und Essentials Interkultureller Erziehung anzuführen:
Wie bereits angedeutet, ist Interkulturelle Erziehung die pädagogische Reaktion auf die gesellschaftlich vorhandene kulturelle und sprachliche Vielfalt. Im Englischen wird durchgängig von "multicultural education", im Französischen von der "education interculturelle" gesprochen (AUERNHEIMER 1990, 3). Im deutschen Sprachgebrauch betont das "Inter"- mehr als das "Multi"kulturelle Verbindung und Begegnung unterschiedlicher Kulturen (HOHMANN 1989, 12). Interkulturelle Erziehung gilt "als allgemeines Bildungsziel für alle, auch für die Angehörigen der Majorität" (NIEKE 1984, 87) und richtet sich damit an "alle Menschen, die in einer als kulturell pluralistisch erfahrenen Gesellschaft zusammenleben: Ausländer und Einheimische, Majorität und Minorität, 'Schwarze' und 'Weiße'" (HOHMANN 1989, 13). Auf die Schule bezogen geht sie damit von heterogenen Klassen aus und sucht nicht nach Objekten einer mehr oder minder angleichenden Förderung. Das bedeutet jedoch nicht, daß einfach alle gleich behandelt werden, so daß sie - dem populären Leitwort entsprechend - miteinander leben und lernen. Interkulturelle Erziehung muß auch "Sorge dafür tragen, daß die minoritären Mitglieder auf dem Wege 'positiver Diskriminierung' in ihrer individuellen und sozialen Identität so weit gefestigt werden, daß sie sich auf den Prozeß des 'Inter' überhaupt erst einlassen können" (KLEMM 1985, 181). Hier wird das deutlich, was PRENGEL das Dilemma der Assimilationspädagogik genannt hat: Positive Diskriminierung, auch im Sinne kompensatorischer Förderung, ist "einerseits im Interesse der Überlebenschancen der Eingewanderten unverzichtbar" (1989a, 89), basiert aber zugleich auf einem monokulturellen Weltbild, "welches die Heimatkulturen ... ausblendet, ignoriert und damit auch entwertet" (1989a, 89). Deutlich wird diese Ambivalenz auch darin, daß KLEMM (1985) den Begriff der positiven Diskriminierung positiv sieht, KALPAKA (1986) und CZOCK (1986) ihn negativ besetzen.
Interkulturelle Erziehung bedingt eine Veränderung des Charakters von Erziehung und Schule im ganzen, und zwar in Richtung auf ein gemeinwesenorientiertes Selbstverständnis und damit in Richtung auf einen sich der Umwelt öffnenden Unterricht. Diese Notwendigkeit entspringt der "Idee, daß interkulturelle Erziehung ... die gesellschaftliche Realität, also die multikulturelle Gesellschaft, abzubilden habe, wenn sie die jungen Menschen auf ein Leben darin vorbereiten will" (HOHMANN 1989, 15). Hier gibt es deutliche Berührungspunkte mit Ansätzen einer Community Education (vgl. z.B. KLEMM 1985, 186, HOHMANN 1989, 14), auch wenn deren Praxis häufig nicht den theoretischen Postulaten zu entsprechen vermögen (AUERNHEIMER 1990, 233).
Interkulturelle Erziehung zielt auf drei Teilaspekte, die mit den Stichwörtern: "Begegnung mit anderen Kulturen - Beseitigung von Barrieren, die einer solchen Begegnung entgegenstehen - Herbeiführen von kulturellem Austausch und kultureller Bereicherung" (HOHMANN 1989, 16) umschrieben werden können. Sie versteht sich somit als Friedenserziehung und als "Erziehung zur internationalen Verständigung gleichsam vor der eigenen Haustür" (ZIMMER 1987, 233; vgl. ZIMMER 1986), die sich um den Abbau von Vorurteilen, um Empathie, Solidarität und Konfliktfähigkeit bemüht und gegen das Nationaldenken wendet (ESSINGER & GRAF 1984, ESSINGER 1986a, 1986b, ESSINGER & KULA 1987). Dies ist mehr, als mit der Forderung von AUERNHEIMER (1984, 23) und DIETRICH (1984, 27) nach friedlicher Koexistenz ausgedrückt wird. Interkulturelle Erziehung zielt damit darauf, "die Kinder der Minderheiten und der jeweiligen Mehrheit dazu zu befähigen, ihre eigene Kultur zu entwickeln, mit anderen Kulturen zu kommunizieren und in einer kulturell zunehmend differenzierten Lebenswelt selbstbestimmt zu handeln" (REICH U.A. 1989, 132). Jedoch darf interkulturelles Lernen nicht nur auf die Beschäftigung von InländerInnen mit fremden Kulturen beschränkt werden, es geht auch um die "Forderung an die Inländer, die Tiefenstrukturen ihrer eigenen Kultur, die sie verinnerlicht haben und in interkulturelle Kommunikation einbringen, genauer zu reflektieren" (NESTVOGEL 1987b, 39).
In diese Zielformulierungen gehen Anteile beider unterscheidbarer Richtungen interkultureller Erziehung ein, die idealtypisch - teils als sich ergänzende Dimensionen, teils als unversöhnliche Gegensätze verstanden - als Begegnungspädagogik und als Konfliktpädagogik bezeichnet werden (HOHMANN 1989, 15f.). Die eine setzt den Schwerpunkt auf den bereichernden interkulturellen Austausch durch Begegnung, dessen Realisierung durch zu beseitigende Barrieren erschwert wird. Die andere sieht die Notwendigkeit der bewußten Bewältigung von interkulturellen Konflikten in einer hierarchischen Situation und grenzt sich ab von allen "Vermeidungs- oder Neutralisierungstendenzen" (HOHMANN 1983, 7). Mit der Konfliktorientierung ist eine große Nähe zu Ansätzen antirassistischer Erziehung erreicht (vgl. hierzu Kap. 4.6.3).
Interkulturelle Erziehung vollzieht sich in der methodisch-didaktischen Gestaltung auf schul- und unterrichtsorganisatorischer, curricularer und interaktioneller Ebene. Sie wendet sich "gegen Maßnahmen der Segregation ausländischer Kinder" (ZIMMER 1987, 234). Es geht für alle Beteiligten darum, "vorzudringen zur Fähigkeit der interkulturellen Kommunikation, zur Achtung interkultureller Vielfalt und Einsicht in die eigene kulturelle Befangenheit, zur Fähigkeit der kategorischen Analyse von Kulturen und der Teilhabe an ihren Einrichtungen" (HOHMANN 1989, 16f.). Interkulturelle Erziehung wird demnach als fächerübergreifendes Prinzip verstanden, nicht als Fach, Lernbereich oder Maßnahme (z.B. NIEKE 1984, 89, ESSINGER 1986b, 244). Nicht eine einzelne Maßnahme oder Leistung an sich, sondern "die pädagogischen Entscheidungen und deren Zusammenhang (sind) als interkulturell zu qualifizieren, die den Maßnahmen und Leistungen vorausgehen" (HOHMANN 1989, 19). Damit droht die Interkulturelle Erziehung zwar in die gleiche Unverbindlichkeit zu geraten wie die Verkehrs- oder Gesundheitserziehung, jedoch ließen sich interkulturelle Ansätze in wenigen Bereichen nicht damit vereinbaren, daß in anderen weiterhin in gewohntem - und unreflektiertem - Germanozentrismus gelehrt und gelernt würde. Denn gleichzeitig ist sie auch "der Stachel im Fleische eines ethnozentristischen Bildungsbegriffs" (ZIMMER 1987, 235). "Um die monokulturelle Ausrichtung der Schule zu überwinden" (AUERNHEIMER 1990, 174), müssen Curricula und Schulbücher überarbeitet werden; so erst kann eine "multiperspektivische Allgemeinbildung" (1990, 174) zustandekommen.
Trotz aller Heterogenität interkultureller Ansätze lassen sich nach AUERNHEIMER deutlich Grenzen einerseits zum Konzept einer antirassistischen Erziehung wie andererseits zu dem einer bikulturellen Bildung ziehen, wenngleich auch Verbindungslinien und Gemeinsamkeiten vorhanden sind: "Bei dem einen Ansatz steht die sozialstrukturell und ideologisch bedingte Ungleichheit im Brennpunkt, bei dem anderen das Problem der Identitätsbildung im Spannungsfeld von Mehrheits- und Minderheitskultur. Die antirassistische Erziehung stützt sich daher auf gesellschaftstheoretische Analysen, das Programm einer bikulturellen Bildung vor allem auf Thesen über den Zusammenhang zwischen Sprache und Identitätsentwicklung. Die tendenzielle Einseitigkeit der ersteren liegt im Fokussieren der gesellschaftlichen Bedingungen, die der letzteren im Insistieren auf der Muttersprache und Herkunftskultur, während die interkulturelle Erziehung in der Gefahr ist, beides zu vernachlässigen" (1990, 173). Die Auseinandersetzung zwischen interkultureller und antirassistischen Erziehung wird in Kap. 4.6.3 aufgenommen, die zwischen interkultureller Erziehung und bikultureller Bildung in Kap. 4.6.2.
Ungeklärte theoretische Probleme beginnen im Bereich Interkultureller Erziehung bereits bei der Frage, was mit dem Begriff Kultur gemeint sei (KLEMM 1985, 181ff.). Konsens ist nach KLEMM dabei immerhin, daß Kultur sich nicht in enger Begriffsfassung nur auf menschliche 'Spitzenproduktionen', "die menschlichen Hervorbringungen also, die der Verschönerung des Alltags dienen" (1985, 182) beschränken darf. Dann wäre der Alltag von MigrantInnen ausgeblendet und sie wären doch auf Anpassung an deutsche Kultur oder an Rückbesinnung auf die Heimatkultur, die dann zur exportierten Folklore geriete, (beides in engem Begriffsverständnis) zurückverwiesen (vgl. GöTZE & POMMERIN 1986, 124). Vielmehr bildet Kultur in erweiterter begrifflicher Fassung (horizontaler Aspekt; KLEMM 1985, 182) das ganze "Repertoire an Kommunikations- und Repräsentationsmitteln" einer Gesellschaft oder gesellschaftlichen Gruppe (AUERNHEIMER 1989, 386). Kultur ist damit nicht einfach mit Gesellschaft identisch, sondern bildet jenes Symbolsystem, das "Verständigung, Handlungsorientierung und Selbstvergewisserung" ermöglicht (PRENGEL 1989a, 102). Bereits hier ist die wichtige Feststellung abzuleiten, daß Kultur nie statisch verstanden werden kann, sondern sich immer in prozeßhaften Veränderungen befindet. Neben diesem horizontalen Aspekt ist ein vertikaler Aspekt bedeutsam, nämlich die Überlegung, daß sich Kultur nie im herrschaftsfreien Raum bewegt, sondern "daß Kulturen (so wie verschiedene Gruppen oder Klassen) in einer Stufenfolge und in Opposition auf der Skala der kulturellen Macht zueinander stehen und daß den Machtverhältnissen, die zwischen den Klassen bestehen, die Machtverhältnisse zwischen den Kulturen entsprechen" (KLEMM 1985, 183). Damit lassen sich auch hierarchische Strukturen zwischen Stammkulturen und Subkulturen festhalten. Und es ist auch naheliegend, daß die Behauptung einer statischen und/oder homogenen "nationalen Kultur" eine Fiktion ist (GöTZE & POMMERIN 1986, 123, SAKAR 1987), wie am Beispiel der kurdischen Bevölkerung in der Türkei augenfällig wird.
Diese Überlegungen haben unmittelbare Bedeutung für die Migrationssituation und für die Interkulturelle Erziehung: Die Migrantenkultur ist sowohl als Subkultur des Herkunftslandes als auch die des Ziellandes zu verstehen, und in dieser Situation ist gleichzeitig die Offenheit für die Dynamik ihrer Weiterentwicklung enthalten. Damit ist klar, daß "die Arbeit mit Kindern von Arbeitsimmigrantinnen nicht von zwei starren Kulturen ausgeht, sondern von Veränderungsprozessen in der Herkunftskultur und in der Aufnahmekultur sowie von der Entwicklung von Migrantenkulturen" (PRENGEL 1989a, 102). Letztere sind daher nicht als defizitär im Sinne von Kulturbruch und Kulturschock zu begreifen (so auch CZOCK 1986, 92), sondern als "kreative Leistungen der wandernden Menschen, welche die für ihr Überleben notwendigen Verständigungen miteinander und mit ihrer Umwelt hervorbringen" (PRENGEL 1989a, 102).
Weiter ist allerdings auch zu fragen, ob der Kulturbegriff tatsächlich das wesentliche der Migrantensituation kennzeichnet oder "ob statt des Begriffs der Kultur nicht der der Ethnie, der Rasse oder vielleicht sogar der Kaste (...) geeigneter ist, die tatsächlich bestehenden Unterschiede und Beziehungen zwischen den verschiedenen Gruppen zu charakterisieren" (HOHMANN 1989, 22; vgl. Kap. 4.6.4). Diese Frage bleibt in der Literatur weitgehend unbeantwortet; nicht zufällig ist immer wieder in Kombinationen von sprachlicher und kultureller, von kultureller und ethnischer Verschiedenheit die Rede. Für den Zweck dieser Arbeit erscheint jedoch ein - wie oben skizzierter - erweiterter Kulturbegriff vertretbar, der sich von Vorstellungen einer statischen (Hoch-)Kultur wie nationaler Kulturen absetzt und sprachliche wie ethnische Verschiedenheit einschließt.
Eine weitere Kontroverse schließt sich an die Frage des Kulturbegriffs an, nämlich die Diskussion darüber, ob Interkulturelle Erziehung eher kulturrelativistische oder kulturuniversalistische Standpunkte zu vertreten habe - eine international breit diskutierte Frage, die in der Bundesrepublik viel zu wenig aufgenommen worden ist (KLEMM 1985, 179; vgl. auch SAYLER 1991). Dies ist beileibe keine rein theoretische Diskussion, sind PädagogInnen doch ständig in der Situation, sich zu Konfliktlinien zwischen Beteiligten verhalten und damit zu kultureller Heterogenität Stellung nehmen zu müssen.
Kulturuniversalistische Positionen betonen die Notwendigkeit, über- oder transkulturelle Normen zu entwickeln, die für alle am Zusammenleben Beteiligten gelten müßten. Derartige Positionen gehen etwa von der "Vorstellung universeller Menschlichkeit" (PRENGEL 1989a, 92) aus und vertreten die Hypothese, kulturelle Entwicklung müsse "auf universalen für alle Menschen geltenden und quasi natürlichen Grundwerten, universalen und moralischen Prinzipien" basieren (DICKOPP 1986, 46). Interkulturell könne Pädagogik nur sein, "wenn sie ihre Begründungen und Ziele transkulturell verankert" (1986, 42). Die Hinwendung zu solchen Orientierungen geht einher mit der Herauslösung aus der irrationalen Befangenheit in der eigenen Kultur, die z.B. in der Religion deutlich werde (BORRELLI 1986b; vgl. RUHLOFF 1982b). Für die Interkulturelle Erziehung ist es unabdingbar notwendig, überkulturelle Orientierungen zu diskutieren, "denn die Lehrkräfte in einer Klasse, auch einer Schule mit Kindern unterschiedlicher kultureller Herkunft bewegen sich in einem Handlungsfeld, in dem Spielregeln gebraucht werden, die für alle gelten" (PRENGEL 1989a, 94). Doch gleichzeitig setzen sich universalistische Positionen immer der Gefahr aus, einem latenten Ethno- und Eurozentrismus (vgl. hierzu weiter Kap. 4.6.4) zu huldigen, indem sie einen Universalismus behaupten, der sich bei näherer Betrachtung als falscher Universalismus erweist, denn "es gibt keine Person und keine Instanzen, die in der Lage wären, wirklich für alle zu sprechen" (1989a, 97). PRENGEL verweist hier z.B. auf die Piaget-Kritik, die ihm ethnozentristische und androzentristische Gebundenheit vorwirft (1989a, 95), aber auch auf den partikularen Geltungsbereich der Menschenrechte (1989a, 97), die z.T. als gemeinsame Basis gesehen werden (vgl. GöTZE & POMMERIN 1986, 124).
Kulturrelativistische Positionen betonen dagegen die Anerkennung der Verschiedenheit und Gleichwertigkeit aller Kulturen. Sie vertreten im Zuge der Kritik am Ethno- und Eurozentrismus das Anliegen, andere Kulturen nicht weiterhin als unterentwickelt, zurückgeblieben, minderwertiger zu betrachten und die euroamerikanische Kultur "im Sinne des ihr eigenen Fortschrittsglaubens als Spitze der Menschheitsentwicklung" (PRENGEL 1989a, 96) anzusehen. Diese Kritik an abendländischen Höherwertigkeitsvorstellungen ist integraler Bestandteil und Anspruch Interkultureller Erziehung. Und doch zieht sie sich leicht den Vorwurf der Beliebigkeit zu, die jede kulturelle Tradition - und stehe sie auch noch so der eigenen entgegen - als gleichwertig annimmt. Als Beispiel hierfür werden immer wieder die patriarchalischen Verhältnisse in türkischen Familien herangezogen, die besonders die Töchter unterdrücken: "Kulturrelativismus bedeute darum Gleichgültigkeit gegenüber den Unmenschlichkeiten fremder Kulturen" (PRENGEL 1989a, 105).
Als dialektische Aufhebung dieses Gegensatzes im Sinne einer Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit postuliert PRENGEL eine "interkulturelle Pluralität" (1989a, 106). Sie dürfe "nicht in eins gesetzt werden mit moralischer Anerkennung, mit Für-Gut-und-Richtig-Halten alles dessen, was geschieht, aber auch nicht mit Kritikverboten. Verschiedenheit der Kulturen anerkennen heißt, grundsätzlich die Tatsache anerkennen, daß Menschen kulturell geprägt sind und daß solche Prägung spezifische Möglichkeiten und Grenzen - Kreativität und Einschränkung, Entfaltung von Lebensfreude und Leiden unter Ausbeutung und Unterdrückung, also kulturspezifische Formen von Hierarchiebildung, Herrschaft und Gewalt - mit sich bringt" (1989a, 110). PRENGEL zieht folgendes Fazit (1989a, 111): "Über gemeinsame Normen kann nicht einseitig entschieden werden, sie können sich immer nur herstellen - und oft stellen sie sich nicht her. Solcher Dissens ist nicht harmonistisch zu glätten, sondern auszuhalten!"
In diesem Abschnitt geht es um jene empirischen und konzeptionellen Erkenntnisse, die sich mit der Person der SchülerInnen in der interkulturellen Situation befassen. Wie schon im dritten Kapitel, so ist dies der Bereich, der am schwierigsten zu untersuchen ist. Auch hier kann nur mit Hilfe unterschiedlicher Zugänge indirekt auf Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung geschlossen werden:
Bildungsbeteiligung und Befunde von Leistungsuntersuchungen können helfen, Aufschluß über die kognitive Entwicklung von SchülerInnen zu gewinnen (Kap. 4.2.1), Aussagen zur Identitätsentwicklung können helfen, den Rahmen zu erhellen, innerhalb dessen sich die Entwicklung der SchülerInnen vollzieht (Kap. 4.2.2), die Beschäftigung mit Vorurteilen bzw. Selbst- und Fremdwahrnehmung der Beteiligten kann Hypothesen entwickeln über die subjektive Wahrnehmung der Beteiligten, und hier sowohl der beteiligten SchülerInnen wie der Erwachsenenwelt, insbesondere der PädagogInnen (Kap. 4.2.3), und Aussagen zur Sprachenproblematik können die Situation der SchülerInnen und konzeptionelle Überlegungen anhand dieses wichtigen Anteils der Persönlichkeitsentwicklung konkretisieren (Kap. 4.2.4). Damit ist das Vorgehen in diesem Abschnitt skizziert.
Die meisten Untersuchungen zu Bildungsbeteiligung und Schulleistungsentwicklung sind durch eine Orientierung am Vergleich zwischen ausländischen und deutschen SchülerInnen gekennzeichnet. Damit ergibt sich die Problematik, daß angesichts der ungleichen Voraussetzungen, die aber gleichen Anforderungen unterworfen werden, letztlich nicht mehr als das Ergebnis kompensatorischer Bemühungen erfaßt werden kann. Unter diesem Vorbehalt sind die beschriebenen Untersuchungsergebnisse zu sehen.
Die häufigste Hilfskonstruktion, die Bildungsbeteiligung von Migrantenkindern zu erfassen, ist die Zuordnung zu den Schulformen des gegliederten Schulwesens und die damit verbundenen (Un-)Möglichkeiten des Übergangs in das Berufsleben. Damit kann tendenziell eine leistungsmäßige Streuung im Vergleich zwischen deutschen und Migrantenkindern festgestellt werden.
Wie bereits in Kap. 4 dargestellt, gehören Migrantenkinder zu den benachteiligten Gruppen im Bildungswesen. Es heißt, "hinter das 'katholische Arbeitermädchen vom Lande' ... sei das 'muselmanische Türkenmädchen in der Großstadt' getreten" (KLEMM 1987, 19). Diese Feststellung kann für die zweite Hälfte der 70er Jahre mit folgenden Aussagen verdeutlicht werden: Ausländische SchülerInnen sind gegenüber ihren deutschen MitschülerInnen deutlich schlechtergestellt (86 bzw. 83 % in Grund- und Hauptschulen gegenüber 64 bzw. 55 %). Diese Tendenz verschärft sich noch dadurch, daß sie kaum der tendenziellen Abwanderung ihrer deutschen MitschülerInnen in höhere Bildungsgänge folgen können (in Realschulen von 11% auf 15%, in Gymnasien von 18% auf 23 %) . Bei ihnen erfolgen Wanderungsbewegungen zum einen allenfalls in Richtung auf die Realschule (3,3 % auf 4,4 %), nicht aber bis zum Gymnasium (6,6 % auf 6,5 %), zum anderen verstärkt in Richtung auf Sonderschulen (2,7 % auf 4,3 %). Ausländische Kinder können damit kaum von der allgemeinen Bildungsexpansion der 70er Jahre profitieren. Hier deuten sich bereits jene differenzierenden Tendenzen an, die KLEMM (1987) als Normalisierung und Hierarchisierung bezeichnet.
Normalisierung bedeutet, daß sich die Bildungsbeteiligung ausländischer Kinder und Jugendlicher insgesamt deutlich erhöht hat. Sie ist durch folgende Tendenzen gekennzeichnet (hierzu weitgehend übereinstimmend: KLEMM 1987, BOOS-NüNNING & HENSCHEID 1987, 282ff.):
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Fast alle ausländischen Kinder und Jugendlichen kommen ihrer Schulpflicht nach.
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Die Quote der SchulabgängerInnen mit Abschlüssen hat sich deutlich erhöht (in NRW 1986: 23 % ohne Abschluß, 43 % mit Hauptschul-, 34 % mit höherem Abschluß; KLEMM 1987, 19).
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Der Anteil ausländischer SchülerInnen in weiterführenden Schultypen nimmt zu. Im Gymnasium haben ausländische SchülerInnen bereits mit deutschen Arbeiterkindern gleichgezogen (1987, 19).
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Der Anteil der 15 - 24jährigen ausländischen SchülerInnen in Schulen und Hochschulen hat sich von knapp 10 % 1972 auf ein Drittel 1985 erhöht und erreicht damit fast den Anteil deutscher SchülerInnen (KLEMM 1987, 19).
KLEMM interpretiert diese Entwicklung als "eine Anpassung an die qualitativen und quantitativen Grundmuster bei gleichaltrigen Deutschen", dies "unabhängig davon, ob diese Entwicklung als ein Bemühen um bessere Qualifikation oder als Verdrängung aus dem Beschäftigungssystem gedeutet wird" (1987, 19).
Die Bedeutung dieser Verbesserungen muß jedoch relativiert werden: "Zwar ist absolut gesehen der Besuch ausländischer Schüler an Realschulen und Gymnasien etwas gestiegen, ebenso die Quote der Hauptschulabschlüsse, jedoch fand in derselben Zeit eine mehr als 50%ige Steigerung der Rate deutscher Schüler an weiterführenden Schulen statt, so daß letztere sich immer mehr nach oben absetzen - man könnte von einer Unterschichtung sprechen. Die Wettbewerbschancen der jungen Ausländer auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt sind damit nochmals verschlechtert" (BERTRAM 1987, 90; so auch BOOS-NüNNING & HENSCHEID 1987, 282f.). Bei dieser strukturellen Benachteiligung lassen sich mit NIEKE vier Stufen unterscheiden: Auf die Benachteiligung beim Schulerfolg folgen Diskriminierungen beim Eintritt in die Berufsausbildung, in deren Verlauf und schließlich beim Eintritt in die Berufstätigkeit (vgl. 1991). Doch auch darin, "daß eine benachteiligte Gruppe wie die der ausländischen Jugendlichen ihre Erfolge im allgemeinbildenden Schulsystem nicht in berufliche Chancen umsetzen kann, liegt wieder ein Stück 'Normalität' des deutschen Schulsystems" (KLEMM 1987, 21).
Hierarchisierung heißt, daß sich innerhalb der Normalisierungsprozesse eine hierarchische Struktur dergestalt verfestigt, daß einerseits Tendenzen zu stärkerer Beteiligung an höheren Bildungsgängen, andererseits eine Zunahme der Beteiligung an ausgegrenzten Bildungsgängen, so im Sonderschulbereich, zu verzeichnen ist. Zur Hierarchisierung gehören nach KLEMM Prozesse der Polarisierung, Segmentation und der Regionalisierung (1987, 20). Sie sind u.a. in folgenden Phänomenen sichtbar:
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Der Preis für den Zugang zu höheren Bildungsgängen scheinen stärkere Vereinzelung und ein verstärkter Anpassungsdruck an deutsche Verhältnisse zu sein. Dies zeigt sich auch in geringerer Teilnahme an Muttersprachlichem Unterricht. KLEMM spricht hier von "der beschleunigten Integration und der Preisgabe ihrer Herkunft ... als Tribut für den 'Aufstieg durch Bildung'" (1987, 20), ganz im Sinne einer assimilativ-integrativen Anpassungsstrategie (vgl. Kap. 4.1.2).
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Die Quote der Sonderschulüberweisungen und der SchülerInnen an Sonderschulen nimmt deutlich zu: von 1976 bis 1984 von 3,7 % auf 13,7 % (BOOS-NüNNING 1990, 557). In Hessen befinden sich 1986/87 2,9 % aller deutschen, aber 5,2 % aller ausländischen Kinder in Sonderschulen (zit. in PORTMANN 1988, 77). Ungeachtet aller Unterschiede zwischen Herkunftsländern wie zwischen deutschen Bundesländern geht die Überrepräsentanz im Sonderschulbereich ausschließlich auf die Schule für Lernbehinderte zurück. In Hessen z.B. befinden sich 1983 innerhalb des Sonderschulwesens fast 80 % aller ausländischen, aber nur 63 % aller deutschen Schüler in Sonderschulen in diesem Schultyp (BOOS-NüNNING 1990, 558). Die Schule für Lernbehinderte entwikelt sich mehr und mehr zu einer Gettoschule für ausländische SchülerInnen. Dies ist offensichtlich ein Ergebnis verstärkter ethnisch-kultureller Selektion (vgl. PREUSS-LAUSITZ 1986c, 93). Einen erfolgversprechenden Ansatz für individuelle Hilfen, insbesondere bei drohender schulischer Aussonderung, praktiziert das italienische Konsulat in Frankfurt (LIGUORI-PACE 1988).
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Weiter zeigen sich - neben regionalen - große ethnische Unterschiede in der Bildungsbeteiligung: Während türkische SchülerInnen weitgehend von höheren Bildungsgängen ausgeschlossen bleiben, haben jugoslawische und griechische SchülerInnen bereits deutsche Arbeiterkinder anteilig am Gymnasialbesuch überholt (KLEMM 1987, 20).
Beide Prozesse, Normalisierung und Hierarchisierung, greifen ineinander und lassen angesichts der Heterogenität von Entwicklungsverläufen deutlich werden, "wie fragwürdig der Anspruch des deutschen Schulsystems, 'leistungsgerecht' auszulesen, auch bei der Gruppe der ausländischen Schüler ist. Zugleich ermutigen diese Daten, denn sie verweisen darauf, daß trotz aller unverkennbaren Schwierigkeiten bei der Unterrichtung ausländischer Schüler pädagogische Anstrengungen Erfolg haben können" (KLEMM 1987, 21).
Ohnehin ist in vielen Untersuchungen deutlich, daß nicht allein schulische Einflußfaktoren die Schullaufbahn von Migrantenkindern bestimmen, sondern daß außerschulische Faktoren sie nachhaltig beeinflussen (vgl. z.B. GLUMPLER 1985, 34). Andererseits entfällt damit nicht die Verpflichtung des deutschen Schulwesens, wenn es schon keine gleichwertige Ausbildung für Migrantenkinder zu bieten vermag, ihnen zumindest keine zusätzlichen Steine in den Weg der Schullaufbahn zu werfen. Als problematisch erweisen sich für die Schullaufbahnverläufe von Migrantenkindern fehlende Schullaufbahnkontinuität, also häufige Wechsel zwischen Klassen, Schulen und Schultypen, mangelnde Passung zwischen Zweitspracherwerbsbedingungen und Leistungsanforderungen und eine geringe Differenziertheit des Angebots an weiterführenden Schulen (GLUMPLER 1988, 40ff.).
Dabei weist GLUMPLER darauf hin, daß die Schullaufbahn von türkischen SchülerInnen gegenüber türkischen Schülern durch Faktoren wie stärkere soziale Kontrolle und ein höheres Maß an Hausarbeit und Kinderbetreuung zusätzlich belastet ist (1987, 24). Auch wenn sich GLUMPLERs Analyse auf türkische SchülerInnen unter den Bedingungen des Bayrischen Modells (vgl. Kap. 4.5.1) bezieht, so ist sie in dem Sinne verallgemeinerbar, daß Brüche in der schulischen Anforderungs- und Fördersituation für Migrantenkinder unter jedweden schulorganisatorischen Vorgaben zu erwarten sind und sich in jedem Fall erschwerend auswirken.
Mehr noch als für die generelle und damit unschärfere Gliederung in unterschiedliche Schultypen weist die direkte Untersuchung von Schulleistungen das Problem des germanozentristischen Blickwinkels auf, dem alle SchülerInnen trotz höchst unterschiedlicher Voraussetzungen unterworfen werden. Zudem beziehen sie immer nur jene SchülerInnen ein, die sich - in einem selektierenden Schulsystem - in den entsprechenden Schulen und Klassen befinden, erfassen also nicht die Gesamtbreite ausländischer bzw. deutscher SchülerInnen. Trotzdem sollen hier drei Untersuchungen wiedergegeben werden, die sich mit Schulleistungen im Grundschulbereich und in der Sekundarstufe I beschäftigen. Dies geschieht nicht zuletzt deshalb, weil auch die ausländischen SchülerInnen im Hinblick auf nachschulische Möglichkeiten Anspruch auf eine schulische Forderung und Förderung haben, die sie deutschen SchülerInnen gleichzustellen erlaubt.
DICKOPP (1982) berichtet über Schulleistungsuntersuchungen im Rahmen des Krefelder Modells (zu den Bedingungen vgl. Kap. 4.5.2). Dabei vergleicht er die Schulleistungen der ausländischen SchülerInnen mit denen deutscher Arbeiterkinder. In den zu Schulbeginn durchgeführten Untersuchungen (Wortschatztest für Schulanfänger, Frankfurter Test für Fünfjährige - Wortschatz) wird deutlich, "daß deutsche Arbeiterkinder erheblich besser als ihre ausländischen Mitschüler abschneiden. Verfolgt man die sprachliche Entwicklung vom ersten zum zweiten Schuljahr, so zeichnet sich hier sogar eine Vergrößerung des Unterschieds ab. Benachteiligt sind die ausländischen Kinder nicht nur durch einen Mangel an deutschem Sprachschatz, sondern auch in der Beherrschung der im deutschen Kulturbereich verwendeten Begriffe" (1982, 102ff.). Diese Unterschiede in der Sprachentwicklung können nicht überraschen. Die grundlegende Bedeutung der Sprache wird auch in den allgemeineren Schulleistungstests deutlich: "Die im zweiten, dritten und vierten Schuljahr durchgeführten allgemeinen Schulleistungstests bestätigen die nicht ausgeglichenen begrifflichen und sprachlichen Defizite. In allen Bereichen, in denen die deutsche Sprache relevant wird: Wortschatz, Leseverständnis, Sprachverständnis sowie Rechtschreibung schnitten die ausländischen Kinder eindeutig schlechter ab. Die Abstände - wiederum bezogen auf die deutschen Arbeiterkinder - verminderten sich zwar, wurden jedoch nicht ausgeglichen" (1982, 105f.). Für die Verminderung der Leistungsunterschiede wird dem auf die Inhalte des Integrationsunterrichts zielenden Muttersprachlichen Unterricht des Krefelder Modells besondere Bedeutung beigemessen (zur Frage der Sprachentwicklung vgl. im einzelnen Kap. 4.2.4).
ROTH (1985b) berichtet von einer Examensarbeit von RIEGER aus dem Jahr 1980, in der der Notendurchschnitt 228 deutscher und 44 ausländischer Kinder in Grund- und Hauptschulen verglichen wird. Dabei ergibt sich das Ergebnis, daß in der Grundschule die Leistungen der ausländischen Kinder in Deutsch um 0,8 (3,1 gegenüber 2,3) und in Mathematik um 0,9 (3,1 gegenüber 2,2) Notenpunkte schlechter bewertet werden als die deutscher Kinder. In der Hauptschule liegen sie fast ebenso viel, auf verschobenem Niveau (Deutsch 3,8 gegenüber 3,2, Mathematik 4,1 gegenüber 3,2) niedriger. Das gleiche Bild, wenn auch abgeschwächt, zeigen die Zensuren in Betragen (2,6 gegenüber 2,1) und Mitarbeit (2,5 gegenüber 2,2). Lediglich in Sport ist das Verhältnis umgekehrt (2,2 gegenüber 2,5). ROTH schließt daraus, daß die ausländischen Kindern "vor allem in den Kernfächern" in Grund- zur Hauptschule ein "hohes Leistungsdefizit" (1985b, 16) aufweisen.
Diese Untersuchung ist mit mehreren Problemen behaftet: Zunächst sagt sie etwas über die subjektive Wahrnehmung der Schulleistungen durch die zensurengebenden PädagogInnen aus, was nicht unbedingt mit direkten Leistungsmessungen übereinstimmen muß. LUKESCH vermutet, daß in Untersuchungen, die Daten über die Einschätzungen von PädagogInnen erheben, "interaktionsbedingte Störfaktoren einfließen, die zu einer nicht leistungsgemäßen Beurteilung der Ausländerkinder führen" (1983, 267). Er zitiert eine Untersuchung mit objektiven Leistungstests, in der sich ergeben habe, daß die Unterschiede im Leistungsniveau zwischen deutschen und ausländischen SchülerInnen, "gemessen am Anteil der aufgeklärten Varianz" "relativ gering" (1983, 267) seien - besonders auffällig sei dies in Deutsch. In der Einschätzung der Leistungen durch deutsche PädagogInnen kann also ein erster Verzerrungsfaktor liegen. Besonders problematisch kann dieser Faktor in den Bereichen der Mitarbeit und des Betragens werden, denn hier ist nicht nur der Subjektivität der PädagogInnen Tür und Tor geöffnet, sondern hier wird u.U. auch germanozentristisch die kulturelle Verschiedenheit selbst mitbewertet; schließlich ergeben sich hier besonders schnell Bewertungen, die eher Aussagen über den Unterricht als über das Verhalten von SchülerInnen treffen.
Diese Bedenken gelten, was Verzerrungsfaktoren durch die subjektive Wahrnehmung von LehrerInnen angeht, auch für die Untersuchungen von SCHRADER, NIKLES & GRIESE zum Meldeverhalten und zu Schulleistungen ausländischer und deutscher Kinder, die sich vermutlich auf den Grundschulbereich beziehen. Sie stellen fest, daß sich ausländische Kinder weniger am Unterricht beteiligen als deutsche (von den ausländischen Kindern melden sich 51 % oft und 31 % manchmal, von den deutschen 56 % oft und 41 % manchmal; 1979, 153). Dies gilt jedenfalls für ausländische Kinder in Regelklassen. Hypothesen für eine Begründung liefern sie jedoch nicht. Auffällig ist der höchste Anteil von häufigen Meldungen bei ausländischen Kindern in Nationalklassen (62 % melden sich oft, 27 % manchmal). Bei der Frage, ob sie gleich drangenommen werden, wenn sie sich gemeldet haben, gibt es jedoch kaum Unterschiede.
Ein Vergleich zuungunsten ausländischer SchülerInnen ergibt sich auch beim Vergleich ihrer Schulnoten mit denen deutscher Kinder in Regelklassen in den Fächern Deutsch und Rechnen: "Im Durchschnitt (...) liegen die Zensuren der ausländischen Kinder in Deutsch und Rechnen/Mathematik um eine Stufe unter der der deutschen Kinder. In beiden Fächern erzielen die ausländischen Kinder im Durchschnitt die Note 'ausreichend', die deutschen Kinder 'befriedigend'" (1979, 155). Dies sagt nicht nur etwas über die Leistungsfähigkeit von ausländischen und deutschen SchülerInnen aus, sondern vermutlich auch über die Wahrnehmung ihrer LehrerInnen und damit über die durch Zensurengebung sich vollziehende ethnische Selektivität des deutschen Schulwesens.
GROTH U.A. berichten von Leistungsuntersuchungen in den Klassen 5 - 9 einer Integrierten Gesamtschule, die auf Zeugnisnoten und Kurszuweisungen basieren. Dabei sind "bei den Durchschnittsnoten - mit Ausnahme in Klassenstufe 6 - keine drastischen Leistungsdifferenzen zu beobachten. Es gab Jahrgangsstufen, in denen die ausländischen Schüler geringfügig bessere Notenschnitte und höhere A-Kursanteile (...) aufwiesen (...), aber auch solche, in denen sie etwas hinter dem Leistungsstand ihrer deutschen Mitschüler zurückblieben" (1986, 500). Die Unterschiede in der 6. Klasse sehen GROTH U.A. als Folge von thematisch bedingt höheren Sprachanforderungen, die in späteren Klassen aufgeholt werden können.
Für die Interpretation der letztgenannten Untersuchung muß allerdings berücksichtigt werden, daß in die Untersuchung wiederum nur ein bestimmter - selektierter - Teil ausländischer Kinder einbezogen werden kann: eben jene SchülerInnen, die überhaupt in die Gesamtschule aufgenommen worden sind und sich dort leistungsmäßig haben halten können.
Letztlich ergeben die angeführten Schulleistungsuntersuchungen, zumal angesichts ihrer punktuellen Ausschnitthaftigkeit, keine generell verallgemeinerbare Linie, daß etwa ausländische SchülerInnen generell schlechtere Leistungen erbringen als ihre deutschen MitschülerInnen. Zumindest gilt dies für jene Untersuchungen, die sich auf eine bestimmte Schülerpopulation innerhalb des hierarchisch aufgebauten Schulwesens beschränken - und dies trifft auch für die Grundschule und die Gesamtschule zu, solange sie SchülerInnen in Sonderschulen aussondert.
Häufig wird die Forderung erhoben, es müsse Migrantenkindern ermöglicht werden, ihre Identität zu wahren. Von dieser Forderung, die unterstellt, daß eine entsprechende Identität bereits entwickelt ist, wird jedoch die Notwendigkeit ganz unterschiedlicher Maßnahmen abgeleitet, sei es Muttersprachlicher Unterricht, sei es bikulturelle und zweisprachige Erziehung oder seien es separierte AusländerInnenklassen. Bei Aussagen zur Identitätsentwicklung wird - wie schon im 3. Kapitel - deutlich, daß es in diesem Bereich allenfalls Ansätze zu einer theoretischen Diskussion gibt, keineswegs jedoch gesicherte empirische Aussagen. Dies verwundert insofern nicht, als diese komplexen Prozesse wesentlich schwieriger zu untersuchen sind als andere, die etwa in Interaktionen konkret zu beobachten sind.
Viele Aussagen zur Identitätsentwicklung von Migrantenkindern basieren auf der Theorie des symbolischen Interaktionismus (vgl. z.B. BOOS-NüNNING 1983, 4). Danach geht es mit Bezug auf GOFFMAN um die Entwicklung von Ich-Identität, d.h. die Leistung, Rollenerwartungen von außen mit der eigenen Persönlichkeit in Einklang zu bringen (vgl. SCHREINER 1983, 1986). Auf die vorliegende Arbeit bezogen formuliert hieße dies, eine innerpsychische Balance zwischen den individuellen Anteilen als Pol der Verschiedenheit und den gemeinsamen Anteilen als Pol der Gleichheit herzustellen, die weder in gesichtslosen Opportunismus, noch in unverständlichen Individualismus mündet.
Für ausländische Kinder stellt sich damit die Herausforderung, "das Wertesystem der Bundesrepublik und des Heimatlandes voneinander abzugrenzen und die entsprechenden Normen situationsspezifisch sinngemäß und zweckmäßig anzuwenden" (BOOS-NüNNING 1983, 5), wobei ein "Geflecht von Normen und Verhaltensorientierungen (entsteht), in das beide Kulturen und die Migrantensituation eingehen" (BOOS-NüNNING 1983, 5). Damit bildet Identität keinen Gegensatz zum Begriff der Integration (vgl. hierzu auch Kap. 4.1.2), denn beide Begriffe bezeichnen - im hier verwendeten Sinne - einen dialektisch verstandenen Prozeß zwischen den Polen der Gleichheit und der Verschiedenheit, der Einigungen anstrebt.
Identität kann auch nicht als nationale Identität verstanden werden, denn die Bevölkerung eines Landes ist nicht homogen, was allein schon die kulturelle, soziale, geographische und ökonomische Situation angeht. Es kann für die Sozialisation der MigrantInnen nicht gleichgültig sein, "ob sie aus ländlichen oder großfamiliären Verhältnissen kommen, ob sie akademische oder sonstige Ausbildung mitgebracht haben, oder ob sie Erfahrungen als Arbeitnehmer/innen im Arbeitsleben hatten oder nicht" (SAKAR 1987, 225; ähnlich auch z.B. NEUMANN 1982, 124, BOOS-NüNNING 1983, 5, ARIN 1986, 149). Und über diese durch die unterschiedliche Situation im Herkunftsland bedingte Heterogenität hinaus müssen jene Aspekte und Prozesse betrachtet werden, die mit der Migrationssituation zusammenhängen. Einer solchen Sichtweise geht es darum herauszufinden, "welche für sie spezifischen Handlungsmuster relevant werden, um divergierende Situationen und unterschiedliche Handlungserwartungen auszuhalten und eine Handlungsfähigkeit zu entwikeln. Bei einer solchen Definition kommt es dann zwangsläufig darauf an zu versuchen, wie der ausländische Jugendliche seine Persönlichkeitsstruktur (Ich-Identität) im Kontext der unterschiedlichen Ansprüche entwickelt und wie von den verschiedenen Sozialisationsinstanzen die Entwicklung von Handlungsfähigkeit beeinflußt bzw. beeinträchtigt wird" (STüWE 1987, 139).
Die in der Ausländerpädagogik weit verbreitete generelle These einer durch die Migrationssituation gestörten Identitätsentwicklung, die mit dem zentralen Begriff des 'Kulturschocks' verbunden ist, wird zunehmend kritisiert. In der Ausländerpädagogik, so CZOCK, "herrscht breite Einigkeit darüber, daß sie (die gestörte Identitätsentwicklung, A.H.) aus dem 'Zusammenprallen' verschiedener kultureller Bezugswelten resultieren. Im Topos vom 'Kulturkonflikt' hat der dabei unterstellte (Problem-)Zusammenhang zwischen Migration und Identitätsentwicklung eine eingängige Kurzfassung erhalten. Bei systematischer Umkehrung der Perspektive erweist sich dieser Topos jedoch als Beschwörungsformel für die fraglos problematische Situation der Migrantenkinder: Es ist dann nicht das Aufeinandertreffen verschiedener kultureller Bezugssysteme, das per se zu Problemen in der Identitätsentwicklung führt, es sind vielmehr die Bedingungen, denen die Aufnahmegesellschaft die Migranten und ihre Kinder unterwirft und die den Rahmen abgeben, in dem sich die Identitätsentwicklung vollziehen kann" (CZOCK 1986, 92).
Festzuhalten bleibt vorläufig, daß in diesem Bereich sichere, empirisch belegte Aussagen noch völlig fehlen. Selbst für Themen, die schon häufiger untersucht worden sind, ergibt sich kein klares Bild, so etwa für die Frage, ob ausländische Kinder in besonderem Maße psychische Störungen aufweisen und ob bzw. wie diese Störungen mit der Migrationssituation zusammenhängen. Hierzu führt BOOS-NüNNING aus, daß Untersuchungen einen Anteil zwischen 10 bis 15 % psychisch kranker und 70 % verhaltensauffälliger Kinder benennen, andere Untersuchungen wiederum der These einer besonderen psychischen Belastung von Migrantenkindern widersprechen (1990, 559). Der deutlich höhere Anteil an ausländischen Kindern in Schulen für Lernbehinderte und deren Unterrepräsentanz in den anderen Sonderschulformen (1990, 560), aber auch die großen Unterschiede zwischen den Bundesländern bei der Sonderschulüberweisung scheinen eher für eine verstärkte ethnisch-kulturelle Selektion innerhalb des deutschen Schulsystems zu sprechen. Auch BOOS-NüNNING hält hier das "Schulversagen (besser: das Versagen der Schule, mit ausländischen Kindern umzugehen), (...) nur (für) die manifesteste und statistisch nachweisbare Form" (1990, 561).
Interaktion zwischen verschiedenen Menschen ist immer beeinflußt von inneren Bildern, die sich jeder der Beteiligten vom anderen und von sich selbst macht. Damit ergibt sich die Problematik von Vorurteilen und Stereotypenbildungen (vgl. hierzu auch die individuelle Ebene des Ethnozentrismus in Kap. 4.6.4). Vorurteile und Stereotypenbildungen sollen im folgenden auf zwei Ebenen betrachtet werden: zwischen ausländischen und deutschen Kindern sowie zwischen ausländischen Kindern und deutschen PädagogInnen.
Hier geht es um die Frage, welches Bild sich ausländische und deutsche Kinder voneinander und von sich selbst machen. ROTH (1985b) gibt eine Befragung von 230 deutschen Grund- und HauptschülerInnen in der Examensarbeit von RIEGER aus dem Jahr 1980 wieder, in der gefragt wurde, "warum wohl manche deutschen Schüler nicht neben ausländischen sitzen wollten" (1985b, 61).
Demnach weisen zwei Drittel der Befragten den ausländischen SchülerInnen den Grund zu: 44 % sehen deutlich negative Eigenschaften und/oder Verhaltensweisen als ursächlich an, 19 % formulieren 'neutral' Fremdheit und Kontaktschwierigkeiten. Nur 14 % sehen den Grund bei den deutschen SchülerInnen und ihren Vorurteilen. Zumal angesichts eines zu vermutenden Anteils von im Sinne sozialer Erwünschtheit abgegebener Stellungnahmen ist dies ein erschreckendes Bild, demzufolge die Wahrnehmung von Migrantenkindern aus der Perspektive von deutschen Kindern und Jugendlichen vorwiegend negativ besetzt und von Vorurteilen bestimmt ist.
Mit einem anderen Zugang nähern sich FEIL & FURTNER-KALLMüNZER diesem Thema. Sie beschäftigen sich mit solchen Phänomenen, bei denen kulturelle Heterogenität in der Selbst- und Fremdwahrnehmung eine Rolle spielt (vgl. auch FURTNER-KALLMüNZER 1988). Im einzelnen stellen sie fest (FEIL & FURTNER-KALLMüNZER 1987, 465),
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"daß deutsche und ausländische Kinder voneinander Bilder entwikeln, in denen das 'Deutsch-Sein' bzw. das 'Ausländersein' den Inhalt der Bilder bestimmt;
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daß deutsche und ausländische Kinder und Jugendliche voneinander Sichtweisen entwikeln, in denen die nationale Zugehörigkeit bzw. die Zugehörigkeit zu einer ethnisch definierten Minderheit der Ausgangspunkt jeweils negativer Stereotypisierung ist;
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daß soziale Verkehrskreise von deutschen und ausländischen Kindern und Jugendlichen sich ausschließen;
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daß Konflikte in Interaktionen nicht als Konflikte zwischen Personen, sondern als Konflikte zwischen national oder ethnisch definierten Gruppenmitgliedern ausgetragen werden."
Die Untersuchung hierzu von FEIL (1987) stützt sich auf Aufsätze von 310 Münchner GrundschülerInnen, die z.T. Regelklassen, z.T. italienisch- und türkisch-muttersprachliche Klassen besuchen. Zentrales Thema der Aufsätze - Phantasie-, Erlebnis-, Reizwort-, Bildergeschichten - sind Konflikte und ihre Lösung, so in 75 % der Geschichten der Kinder aus Regelklassen und in 25 % derer von Kindern aus muttersprachlichen Klassen (im folgenden nach FEIL 1987, 480ff.):
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Bei Kindern in Regelklassen geht es vor allem um Konflikte zwischen deutschen und ausländischen Kindern um das Mitspielen-Lassen ausländischer Kinder, die zu 64 % in ein 'Happy End' und zu 36 % im Ausschluß ausländischer Kinder münden. Wo der Ausgang des Konflikts negativ beurteilt wird (27 %), sieht FEIL bei entsprechenden Kommentaren Belehrungen von Erwachsenen durchscheinen ("auch Menschen", "nur anders als wir", "mehr Phantasie"; 1987, 481), so daß das Zusammenspielen mit ausländischen Kindern als 'gute' Tat erscheint.
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Bei Kindern in muttersprachlichen Klassen spielen relativ zu Konflikten die unmittelbare Ablehnung und die Frage, ob sie deutsche Freunde haben, eine größere Rolle (ca. 50 %; davon die Hälfte ohne deutsche Freunde; 1987, 481).
Für FEIL werden in den Aufsätzen eine Reihe von stereotypen Vorstellungen bei ausländischen und deutschen Kindern deutlich, die sich in verschiedene Dimensionen fassen lassen:
Ausländerstatus und Ausländerproblem: Der Begriff Ausländer findet sich in vielen Aufsätzen als negatives Stereotyp, das an sich schon als Begründung für Ablehnung und Abgrenzung ausreicht. Bei Kindern aus Regelklassen findet sich direkte Ablehnung bei ca. einem Drittel der Aufsätze, indirekte Ablehnung in Form von moralischen Appellen bei ca. 12 %. Bei Kindern aus muttersprachlichen Klassen taucht Ablehnung als eigene Erfahrung von Diskriminierung und Aussonderung auf. 25 % von ihnen schreiben, daß sie kaum oder keine deutschen FreundInnen haben, 20 % sehen dies "in Verbindung mit vorurteilsvollem Verhalten der deutschen Kinder ihnen gegenüber" (1987, 483).
Charaktereigenschaften und Mentalität: "Die Kinder hantieren ... mit der Zuschreibung der 'üblichen' Eigenschaften ebenso wie mit der einfachen Feststellung der 'Andersartigkeit', ohne dies näher zu beschreiben" (1987, 483). Gastarbeiter werden als nette, freundliche, hilfsbereite und arbeitsame Menschen dargestellt. Negativ tauchen Eigenschaften bei ausländischen wie bei deutschen Kindern auf (frech, grob, aggressiv).
Hygiene- und Sauberkeitsvorstellungen: "Das den deutschen Kindern geläufigste Stereotyp ist, daß Ausländer 'stinken'" (1987, 484), daß sie schmutzig und dreckig seien. Dies wird jedoch nie direkt oder in Ich-Form geäußert, allenfalls als positive Überraschung von Sauberkeit.
Sitten und Lebensgewohnheiten: Die häufigsten ethnischen Schimpfwörter beziehen sich auf türkische Kinder als 'Knoblauchfresser' und italienische als 'Spaghetti-' oder 'Makkaronifresser'. Gewohnheiten, die über Äußerlichkeiten hinausgehen, spielen bei deutschen Kindern keine Rolle. Solche Schimpfwörter über deutsche Kinder tauchen in den Aufsätzen ausländischer Kinder nicht auf.
Sprache: "Die Kinder aus Regelklassen beschreiben Sprachschwierigkeiten nicht als prinzipielles Kontakthindernis. Sie machen allerdings deutlich, daß man verstehen wollen muß bzw. die Sprache als Mittel des Ausschlusses von ausländischen Kindern benutzen kann" (1987, 485f.). Sprachprobleme tauchen ca. in einem Fünftel der Aufsätze aus Regelklassen auf. Aus muttersprachlichen Klassen erwähnen nur 12 Kinder die Sprache, davon vier im Sinne einer Kontaktschranke.
Die Ablehnung ausländischer aus der Sicht deutscher Kinder wird von dem Widerspruch gekennzeichnet "zwischen 'Ablehnung von ausländischen Kindern' und 'ein nettes Kind sein zu wollen'" (1987, 487), der sich durch die meisten Aufsätze zieht. FEIL interpretiert diese Widersprüchlichkeit jedoch nicht im Sinne des in der Erwachsenenwelt herrschenden 'Ich habe nichts gegen Ausländer, aber ... ', da sie nicht emotional untermauert sind. Vielmehr sieht sie sie als Teil eines ständigen Prozesses von Annäherung und Ablehnung: "Vorurteile können einem Kind in diesem Prozeß des Hin- und Hers von Zuneigung und Ablehnung eine 'Argumentationshilfe' sein" (1987, 487). Dieser Hypothese entspricht, daß sich in den Aufsätzen ErzählerInnen häufig gemeinsam mit den ausländischen Kindern gegen die bösen, gemeinen, weil ablehnenden deutschen Kinder wenden. Das Bedürfnis nach Harmonie sieht FEIL im Herstellen von Gemeinsamkeiten deutlich werden, und sei es in der problematischen Formel des 'Auch-Menschen'. Durch Perspektivenwechsel wird die emotionale Betroffenheit deutlich gemacht, die Kinder können jedoch die ablehnenden Verhaltensweisen nicht intellektuell kritisieren und verfallen deshalb auf aus der Erwachsenenwelt bekannte "Gefühle und Moralismus" (1987, 488).
Ablehnungserfahrungen und Reaktionsweisen ausländischer Kinder aus muttersprachlichen Klassen beschreibt FEIL wie folgt: Die türkischen Kinder beschreiben ihre Erfahrungen sehr drastisch: "Deutsche Kinder 'schlagen', 'raufen', 'jagen sie weg'" (1987, 489). Relativierung und Perspektivenwechsel liegen außerhalb der Möglichkeiten, eher ein Handeln nach der Devise 'wie du mir, so ich dir', das für FEIL die Ablehnung einer Opferrolle deutlich macht. Verstärkte Solidarität mit der eigenen und gegen die dominierende andere Nationalität ist die Folge dieser Reaktion. Bei den italienischen Kindern wird die Identifikation mit der eigenen Nationalität überdeutlich: Bei einem Drittel der Kinder kommt es in den Aufsätzen zu Distanzierungen vom Deutschen und zur Identifikation mit dem Italienischen. FEIL sieht dennoch eine Zwiespältigkeit: "Die Kinder erleben in muttersprachlichen Klassen die Ausgrenzung von deutschen Kindern institutionell und 'Italienisch-Sein' ist für sie erstens ein Merkmal, das sie durch die Schulzeit begleitet, und zweitens verbleibt im sozialen Vergleich der italienischen mit den deutschen Kindern letztendlich nur das Kriterium der Nationalität, das sie als Ausgrenzung und zugleich als Möglichkeit ihrer positiven Selbstdarstellung wahrnehmen" (1987, 490). Von Kindern in Regelklassen wird eine solche starke Identifikation mit der nationalen Gruppe nicht beschrieben, auch dann nicht, wenn das Verhältnis zwischen ausländischen und deutschen Kindern nicht gut ist und häufig mit Ausgrenzungen endet (1987, 491). FEIL interpretiert die Ergebnisse der Kinder aus muttersprachlichen Klassen in gewissem Sinne als deren 'Erfolg': "Das ursprüngliche pädagogische Anliegen, die Möglichkeit der Rückkehr für ausländische Kinder aufrechtzuerhalten, scheint in der Fremde mit der Stärkung eines nationalen Bewußtseins einherzugehen, das um so einfacher zu erreichen ist, je mehr man als 'nationale oder ethnische Gruppe' Ablehnung erfährt und auf die 'fremde' nationale Zugehörigkeit von außen festgelegt wird" (1987, 491).
FEIL leitet aus den Ergebnissen ihrer Untersuchung eine Forderung an die Erwachsenen ab: "Ihnen fällt die Aufgabe des Erklärens von Vorurteilen zu und das ist das Gegenteil davon, die Kinder auf 'Bravsein', 'Nichtstreiten' und 'soetwas tut man nicht' zu verpflichten. Sollte sich nämlich unsere These verfestigen lassen, daß Kinder im Alter bis zu zehn Jahren die Vorurteile der Erwachsenenwelt kennen bzw. gelernt haben, jedoch von deren emotionaler Verankerung noch nicht gesprochen werden kann, weil vorurteilsvolles Verhalten im Widerspruch zum kindlichen Gerechtigkeitssinn steht, so könnte sich die Widerlegung von Vorurteilen auf der kognitiven Ebene als wirksam erweisen" (1987, 491). Eltern, besonders aber "Pädagogen können verhindern, daß die vorläufigen Urteile der Kinder zu Vorurteilen pervertiert werden" (1987, 492). Damit ist PädagogInnen die gemeinsame Reflexion mit Kindern über Vorurteile aufgegeben - und zunächst einmal die Aufgabe, sich mit ihren eigenen Vorurteilen auseinanderzusetzen.
PädagogInnen, die mit ihrem Unterricht interkulturelles Lernen praktizieren und ethnozentristischen Vorurteilen entgegenwirken wollen, müssen zunächst ihre eigenen Vorurteile reflektieren, "denn eurozentristische und rassistische Einstellungen sind Bestandteil eines jeden: Großeltern, die rassistisch erzogen wurden, erzogen ihre Kinder; Eltern, die rassistisch erzogen wurden, erzogen ihre Kinder ... Es wird nötig sein, zunächst einmal diese Kette zu durchbrechen" (ESSINGER 1988, 61).
Daß die schulische und pädagogische Realität dieser Notwendigkeit weitgehend nicht entspricht, verdeutlicht FURTNER-KALLMüNZER in ihrer Auswertung von Fallberichten über Freundschaften zwischen ausländischen und deutschen Kindern und Jugendlichen. Dort stellt sie fest, daß die erwachsene Umwelt solche Freundschaften erschwert, "daß die ... Freundschaften zum Teil gerade aufgrund der Widerstände aus der sozialen Umgebung besonders eng und bedingungslos sind" und "daß die Kinder und Jugendlichen zum Teil erstaunliche Widerstände überwinden, sich gegen die Erwachsenen durchsetzen, sich miteinander befreunden, obwohl die Familien und die weitere soziale Umgebung die Freundschaften nicht unterstützen" (1988, 145). Die Autorin weist auf die besondere Bedeutung von PädagogInnen und ihr - im Hinblick auf derartige Freundschaftsbildungen häufig problematisches - Berufsverständnis hin: "Lehrer haben primär die Aufgabe, 'Wissen zu vermitteln' und Kinder entsprechend ihrer Leistungen zu selegieren. Für soziale Lernprozesse und das soziale Klima in ihren Klassen fühlen sich viele Lehrer 'nicht zuständig', können sich zum Teil auch gar nicht zuständig fühlen, da sie oft in vielen wechselnden Klassen eingesetzt werden" (1988, 161). Das Selbstverständnis der PädagogInnen als Schlüsselfrage interkultureller Erziehung betont auch TREPPTE, wenn sie in ihrem Bericht über eine Gelsenkirchener Grundschule auf die Ausweitung pädagogischer Tätigkeiten über den unterrichtlichen Rahmen hinaus und in den sozialpädagogischen Bereich hinein hinweist (1987, 9).
PädagogInnen sind als Personen in ihrer Reflexionsfähigkeit gefordert; sie müssen sich "fragen:
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wie tolerant sie der mehrkulturellen Gesellschaft und Schule gegenüberstehen,
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wie tolerant sie den Migranten gegenüber auch privat wirklich sind,
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inwiefern sie selbst bestimmte Vorurteile haben und woher diese stammen (zum Beispiel in sogenannten Witzen und Sprüchen über Ausländer),
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inwiefern sie wirklich bereit sind, sich auf ihre Schüler und deren Familien einzulassen,
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ob sie Migrantenkindern genügend Chancen geben, mit ihren Erfahrungen und Ansichten zu Wort zu kommen" (BELKE U.A. 1986, 436).
So richtig die Folgerung: "Interkultureller Unterricht ohne interkulturell handelnde Lehrer ist unmöglich" (BELKE U.A. 1986, 436) ist, so konsequenzlos bleibt diese Feststellung in der Literatur meistens. Daß diese Anforderung der Selbstreflexion kaum in Arbeitszimmern von LehrerInnen zu Hause zu leisten sind und - auch institutionelle - Rahmenbedingungen für kollegiale Beratung oder Supervisionsangebote zu schaffen wären, wird selten angesprochen. Daß die Bedeutung dieses Aspekts in der Literatur nicht entsprechend wahrgenommen wird, zeigt sich auch in der geringen Anzahl von diesbezüglichen Untersuchungen.
FEIL & FURTNER-KALLMüNZER (1987) zitieren eine Untersuchung von FEIL & SCHöNHAMMER, die ein widersprüchliches Ergebnis bezüglich der Vorurteile von ErzieherInnen in Kindergärten ergeben hat, das auf PädagogInnen übertragbar sein dürfte. "Erstens: Im beruflichen Selbstverständnis ist die Vorurteilsfreiheit konstitutiv. Vorurteile kommen hier nur über einen Umweg ins Spiel, nämlich über den Mentalitätsbegriff. In der Feststellung, daß ausländische Kinder eine 'andere Mentalität' haben und in deren inhaltlichen Ausführungen lassen sich einige der gängigen Vorurteile wiederfinden. Zweitens: die Haltung der Erzieherinnen ist auch über ihr Selbstverständnis als 'Staatsbürger' bestimmt; auf dieser Ebene ist von Vorurteilsfreiheit wenig zu spüren" (1987, 463).
ROTH (1985b) wendet sich ebenfalls der Frage subjektiver Wahrnehmung von PädagogInnen, hier von LehrerInnen zu. Dabei stellt er Untersuchungen mit gegensätzlichen Ergebnissen gegenüber: MALHORTA hatte keine sonderlich negativen Beurteilungen ausländischer Kinder durch ihre LehrerInnen festgestellt (zit. in ROTH 1985b, 64). KRUMM ermittelt dagegen in einer nicht repräsentativen Untersuchung deutliche Unterschiede in der Wahrnehmung ausländischer und deutscher Kinder durch ihre 31 LehrerInnen (zit. in ROTH 1985b, 66): Demnach nehmen sie bei ausländischen Kindern tandenziell schlechtere Schulleistungen, eine spontanere und erregbarerer Emotionalität und eine geringere Lernmotivation wahr. Gleich oder problematischer werden eine Vielzahl von kognitiven, motorischen, sozialen und emotionalen Fähigkeiten und Fertigkeiten gesehen. Für ROTH zeigt dieses Ergebnis, "daß man ohne Übertreibung von zwei deutlich unterschiedlichen Schülergruppen sprechen kann - in der Wahrnehmung vieler Lehrer" (1985b, 67).
In einer Untersuchung wendet sich CZOCK (1986) auf der Grundlage von Unterrichtsbeobachtungen in Deutschstunden den subjektiven Problemdeutungen von LehrerInnen bezüglich der Förderung ausländischer Kinder zu. Sie kommt zu folgendem Ergebnis: "Die sprachlichen Schwierigkeiten der Migrantenkinder, die zu bearbeiten als originärer Teilbereich der pädagogischen Tätigkeit anzusehen wären, finden sich in den Deutungen der Lehrer wieder als 'Behinderungen' ihrer Tätigkeit" (1986, 99). Was Ziel des Unterrichts sein soll, wird zu seiner Voraussetzung umgedeutet: "Die Schüler scheitern nicht an einem ihren Lernbedürfnissen unangemessenen Unterricht, sondern sie scheitern, weil 'da einfach Lücken sind'. Daß das konkrete Unterrichtsgeschehen und das eigene Unterrichtshandeln aus den Problemdeutungen ausgespart bleibt, kann vor dem Hintergrund dieser 'Umdeutung' dann auch plausibel erscheinen" (1986, 100). An vorhandenen Problemen zu arbeiten wird dann vom eigenen Unterricht abgekoppelt und auf organisatorischer Ebene an ein Förder- und Therapieinstrumentarium delegiert.
Weiter "finden sich Problembegründungen, die an dem Sozialisationshintergrund der Migrantenkinder ansetzen" (1986, 100f.): das häusliche Bildunsgsmilieu, aber auch die Andersartigkeit der Sozialisation im Herkunftsland bedingen in den Deutungen der LehrerInnen Integrationsprobleme. "Mit der Integrationsproblematik erhalten die schulischen Probleme zwar eine soziale Dimension, indem die Ursache jedoch im außerschulischen Bereich verortet wird, entheben sich die Lehrer der Möglichkeit, hier strukturierend Einfluß zu nehmen. Die unterschiedlichen Sozialisationshintergründe, die doch gerade im Integrationsprozeß von den Migrantenkindern produktiv zu bearbeiten wären, stellen sich in den Deutungen der Lehrer als Störvariablen der Integration dar" (1986, 101).
Grundlage dieser Problemdeutungen ist nach CZOCKs Interpretation der Versuch, mit der Konstruktion der Defizit-These verlorene Handlungssicherheit herzustellen: "Sind die Probleme, die die Migrantenkinder im Unterricht haben, erst einmal auf deren Defizite zurückgeführt, läßt sich an bekannte Handlungsschemata anknüpfen. ... Die Plausibilisierungsanstrengung, die sie mit dem Verweis auf außerschulische Problemfaktoren und innerschulische Organisationsprobleme unternehmen, dient auch der Selbstüberzeugung, weil anders die eigenen Orientierungen in Frage zu stellen wären" (1986, 102).
Aus dieser Untersuchung ist abzuleiten, "daß es bei der Begegnung mit den fremden Kindern auch um die Balance der Identität der Migrationspädagogen geht. ... Erst die Reduktion des Migrationsproblems auf ein Sprachproblem und die Behandlung der Sprache als ein Objekt von Exerzitien eröffnet dem naiven Drang, im eigenen Sein zu beharren, ... in der Fördermaßnahmenpädagogik eine institutionalisierte Abwehr- und Verleugnungsmöglichkeit" (CZOCK & RADTKE 1985, 76). Basis dieser "Fördermaßnahmen-Pädagogik" (RADTKE 1985, 475), die einen Teil ihrer originären Aufgaben organisatorisch an SpezialistInnen delegiert, ist also nach CZOCK & RADTKE die Möglichkeit, sich der innerpsychischen Auseinandersetzung mit der Herausforderung interkulturellen Unterrichts entziehen und diese damit zurückweisen zu können.
RADTKE (1985) unterzieht diese Hypothese einer weitergehenden Analyse und interpretiert das Vorherrschen der Maßnahmenpädagogik als Abwehrmöglichkeit von Angst, letztlich "vor dem Fremden in uns selbst und die Unsicherheit vor dem Verlust der fraglosen Intersubjektivität und des Selbstverständlichen" (RADTKE 1985, 482). Abgewehrt wird nach RADTKE zum einen "der ethnozentristische Impuls, der als unerwünscht und unzulässig, zumal nach dem 'Rassismus'-Trauma des Dritten Reiches, nicht an die Oberfläche treten darf" (1985, 482), zum zweiten "gefährden die Fremden durch ihr Anderssein die in der eigenen Kultur mühsam erbrachten Verdrängungsleistungen" (1985, 482), und drittens droht Verunsicherung durch die in der interkulturellen Interaktion nicht mehr funktionierende "Unterstellung reziproken Verhaltens bei seinem Gegenüber" (1985, 483). Vermehrt auftretende Mißverständnisse und Konflikte legen es "nahe, die Interaktion mit dem Fremden, die man sozial nicht bewältigen kann, professionell oder methodisch zu kanalisieren in Maßnahmen, die die Unsicherheit im Handeln durch technische Operationen beheben sollen" (RADTKE 1985, 483). So kann die individuelle Dimension des Ethnozentrismus (vgl. Kap. 4.6.4) hinter einem Mantel organisatorischer Fördermaßnahmen verborgen werden. Und auch jene KollegInnen, denen "es nicht 'zumutbar' erscheint, ausländische Kinder zu unterrichten, auch wenn sie nicht so weit gehen und gegen diese 'Zumutung' beim Verwaltungsgericht klagen" (1985, 476), können sich hinter dem Delegieren dieser pädagogischen Aufgabe an SpezialistInnen und dem Abgeben eigener Verantwortlichkeit verstecken.
Weil zudem, so RADTKE, "die 'magischen' Diagnose-, Differenzierungs- und Förderungsmaßnahmen wie Riten bereitgestellt werden, werden die Kinder, vor jedem realen Kontakt, schon als problematische Interaktionspartner stigmatisiert, vor denen deshalb Grund zur Angst besteht, weil zu ihrer Behandlung aufwendige Maßnahmen vorgesehen sind und administrativ bereitgehalten werden" (1985, 483f.). So ergibt sich ein Teufelskreis exotisierender Abwehr, der als self fullfilling prophecy zum immer gleichen Ergebnis führt: Migrantenkinder werden den Hegemonialansprüchen der deutschen Gesellschaft unterworfen, ihre Verschiedenheit wird im Sinne einer innerpsychischen Stabilisierung von MigrationspädagogInnen abgewehrt. Dabei kanalisiert die Maßnahmenpädagogik deren Ängste, und "sie präsentiert sich, in der Abwehr des gewöhnlichen Ethnozentrismus, als engagierte, ausländerfreundliche Form der Bewältigung des Ausländerproblems" (1985, 484). Damit ist den Interessen der deutschen Gesellschaft wie denen der handelnden LehrerInnen gedient. Um so wichtiger erscheint eine - auch institutionelle - Unterstützung und Begleitung dieser Prozesse der Auseinandersetzung.
Im innerpsychischen Bereich sind denn wohl auch die größten Probleme zu erwarten, was eine sich als ergänzend verstehende Bewältigung von kultureller Heterogenität in der Schule angeht. Die innerpsychische Auseinandersetzung von PädagogInnen mit kultureller Heterogenität und den eigenen - ungeliebten - Anteilen vorurteilsbeladener Abgrenzung und deren bisher dominierender Verleugnung dürfte der Bereich sein, in dem sich die Weiterentwicklung der Schule zu einer demokratischen Schule für alle am problematischsten gestalten dürfte. Denn hier geht es nicht um Techniken oder Methodiken, sondern um die Persönlichkeit der einzelnen PädagogInnen, an deren Haltungen vorbei noch so gute konzeptionelle Entwürfe nur minimale Wirkung erzielen können.
Eines der am breitesten diskutierten Themen auf der Person-Ebene ist die Frage der Sprachentwicklung. Insbesondere seit der Veröffentlichung des "Memorandums zum Muttersprachlichen Unterricht" der Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände in der Bundesrepublik und Berlin-West (BAGIV) (BAGIV 1983, vgl. WINTERS-OHLE 1989) wird diese Frage verstärkt - und mehr im Sinne der Betroffenen - diskutiert. Gleichwohl liegt auch hier der Schwerpunkt stärker auf konzeptionellen Entwürfen als daß empirische Untersuchungen vorlägen. Trotzdem soll diese Diskussion hier aufgenommen werden. Dabei soll die Fragestellung leitend sein, inwieweit die Verschiedenheit der Sprachen als Ausdruck und Medium kultureller Heterogenität innerhalb der Schule wahrgenommen und pädagogisch berücksichtigt wird.
Untersuchungen aus den USA zeigen, daß das Vorhaben einer Sprachförderung in Erst- und Zweitsprache mit vielen Schwierigkeiten verbunden ist und ihre Effektivität von zahlreichen rahmenbildenden Faktoren abhängt, so z.B. der Vorbildung der LehrerInnen, der Gestaltung des Sprachunterrichts, dem Raum für praktische kommunikative Anwendung sowie flankierenden sozialpädagogischen Maßnahmen (GRAF 1987).
STEINMüLLER untersucht in West-Berlin die Entwicklung des Zweitspracherwerbs türkischer Jugendlicher unter den vorherrschenden deutschen Rahmenbedingungen, die im wesentlichen auf eine Nichtwahrnehmung der erstsprachlichen Bildungsbedürfnisse hinauslaufen. Er kommt in seiner siebenjährigen Verlaufsuntersuchung bei den Jugendlichen auf ihre deutsche Sprachentwicklung bezogen zu dem Ergebnis, "daß wesentliche Bereiche unterentwickelt sind" (1989, 142): Deklinationen, Satzbildungen und Satzgefüge und Flexion von Verben. Dies sind seiner Interpretation nach jene Bereiche, "die für die geistige Verarbeitung von Erfahrungen, von Erkenntnissen, für die Aneignung von Welt, für die Selbstpräsentation sowie für das Verständnis und die Verarbeitung abstrakten Wissens notwendig sind" (1989, 142). Ein ähnlich problematisches Ergebnis zeigt die Untersuchung der Türkischkenntnisse der gleichen SchülerInnen. Dort stellt STEINMüLLER "Defizite im Türkischen" vor allem im Bereich von Wortschatz und Wortbedeutung und in der Ausdrucksfähigkeit fest (1989, 142). Als Fazit resümiert er, "daß die große Mehrzahl der türkischen Schüler - in einzelnen Bereichen sogar bis zu 70 % - in keiner der beiden Sprachen in der Lage ist, Sachverhalte, Zusammenhänge, Abläufe etc. inhaltsgerecht und altersadäquat zu formulieren" (1989, 142f.).
Weiter analysiert STEINMüLLER anhand von Spracherwerbsbiographien den Zusammenhang der Entwicklung von Erst- und Zweitsprache. Dabei wird "deutlich, daß diejenigen türkischen Schüler die besten Kenntnisse der deutschen Sprache erworben haben, deren Erstspracherwerb etwa bis zum 10./11. Lebensjahr konsequent und ungestört verlaufen konnte, auch unter Verwendung der Hilfestellungen, die der muttersprachliche Unterricht einem Kind in diesem Prozeß bieten kann" (1989, 143). Von diesem Ergebnis leitet er die Forderung nach dem "Unterricht in der Erstsprache vom Beginn der Schulzeit im Rahmen der Regelschule" ab (1989, 143). Damit bestätigt STEINMüLLER - wie schon andere Untersuchungen, die allerdings nur beschränkte Aussagekraft haben (BAUR & MEDER 1989, 121) - die 'Interdependenzhypothese'. Sie "geht davon aus, daß eine Wechselwirkung zwischen der Unterrichtssprache und der Kompetenz, die das Kind in seiner Muttersprache vor seiner Einschulung entwickelt hat, besteht" (CUMMINS 1982, 39). Das bedeutet, daß "bei ethnischen Minoritäten, die einer zweiten, dominanten Mehrheitssprache ausgesetzt sind, die Muttersprache eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielt" (BAUR & MEDER 1989, 120).
BAUR & MEDER entwickeln darüberhinaus ein Testinstrument zur Erhebung sprachlicher Daten, mit dessen Hilfe sie die sprachlichen Fähigkeiten 72 jugoslawischer, 76 griechischer und 55 türkischer SchülerInnen in der deutschen und in der Muttersprache, differenziert nach Jahrgangsstufen (5/6, 7/8, 9/10), Unterrichtsform (vormittags integriert bzw. nachmittags) und Schulform (Haupt-, Real-, Gesamtschule und Gymnasium) vergleichen (1989, 125-129).
Für die jugoslawischen SchülerInnen stellen BAUR & MEDER fest, daß sich die Sprachfähigkeit in beiden Sprachen kontinuierlich verbessert, daß sie bei integriertem Muttersprachlichen Unterricht höher sind als bei nachmittäglichem und daß die serbokroatischen Fähigkeiten der HauptschülerInnen und die deutschsprachigen Fähigkeiten der GymnasiastInnen besonders hoch sind (1989, 125f.; bei den HauptschülerInnen liegt dies an ausschließlich vormittäglichem Muttersprachlichen Unterricht). Bei den türkischen SchülerInnen stellen sie fest, daß sich die Sprachfähigkeit in beiden Sprachen zwischen den Stufen 5/6 und 7/8 verbessern, danach jedoch nicht. Vor- bzw. nachmittäglicher Unterricht und die Schulformen sind nicht zu vergleichen, da alle SchülerInnen Gesamtschulen mit integriertem vormittäglichem Türkischunterricht besuchen (1989, 126f.). Die griechischen SchülerInnen zeigen ebenfalls einen kontinuierlichen Leistungsanstieg, allerdings liegt bei ihnen im Gegensatz zu den JugoslawInnen die Fehlerzahl bei integriertem vormittäglichem wesentlich höher als bei nachmittäglichem Griechischunterricht. Er wurde ausschließlich in 6. und 7. Stunden erteilt (1989, 127f.).
In ihrer summarischen Auswertung stellen BAUR & MEDER fest, daß alle ausländischen Schülergruppen, die am Muttersprachlichen Unterricht teilnehmen, ihre Sprachfähigkeiten in beiden Sprachen verbessern (1989, 128f.). Es fehlt allerdings der Vergleich mit den entsprechenden Gruppen ohne Teilnahme an diesem Unterricht, so daß letztlich nur die Überlegenheit eines in den Vormittag integrierten Muttersprachlichen Unterrichts festgehalten werden kann. Auch fehlt eine Erklärung für das unterschiedliche Niveau zwischen den Nationalitätengruppen (in beiden Sprachen hatten die JugoslawInnen die geringste Fehlerquote, in der Muttersprache gefolgt von TürkInnen und GriechInnen, in der Zweitsprache Deutsch dagegen gefolgt von GriechInnen und TürkInnen). Bezüglich des Verhältnisses der beiden Sprachen stellen BAUR & MEDER fest, "daß in allen drei Nationalitäten bessere Muttersprachenkenntnisse mit besseren Deutschkenntnissen einhergehen, was eindeutig für die Gültigkeit der Interdependenzhypothese spricht: Gute Muttersprachenkenntnisse werden demnach nicht anstelle oder auf Kosten des Deutschen als Zweitsprache erworben, sondern unterstützen dessen Erwerb" (1989, 130; Hervorh. i. O.). Daraus leiten sie klare schulpolitische Konsequenzen ab: "Wenn bei der angestrebten Sozialisation der Ausländerkinder in der deutschen Schule und Gesellschaft der Muttersprache eine wichtige und grundlegende Bedeutung zukommt, dann gehört auch der Muttersprachliche Unterricht als curricular und organisatorisch gleichwertiges Fach an die deutsche Schule" (1989, 134).
Die Effekte unterschiedlicher Beschulungsformen griechischer Jugendlicher für die Sprachkenntnisse in der Erst- und Zweitsprache untersucht KALPAKA in Hamburg anhand von Interviews mit Selbstaussagen der Betroffenen. Gruppe A besucht deutsche Regelklassen, Gruppe B nimmt deutsche und griechische Bildungsangebote wahr, Gruppe C besucht die griechische Sekundarschule, das Lykion.
Die Ergebnisse zeigt eine durchgängige Tendenz. Je stärker Griechisch bzw. Deutsch in der jeweiligen Beschulungsform eine Rolle spielen, desto besser sehen die Jugendlichen ihre Sprachkenntnisse: Sehr gut Griechisch sprechen 20 % in Gruppe A, 32 % in Gruppe B und 50 % in Gruppe C. Ihre Deutschkenntnisse sehen in Gruppe C 43 %, in Gruppe B 71 % und in Gruppe A 87 % als sehr gut an. Entsprechend erleben 37 % der Gruppe A, 15 % der Gruppe B und 3 % der Gruppe C Verständigungsschwierigkeiten im Griechischen, im Deutschen sind es 0 % der Gruppe A, 6 % der Gruppe B und 16 % der Gruppe C (1986, 181f.).
KALPAKA schließt aus diesen Ergebnissen, "daß der Verlust der gemeinsamen Muttersprache zwischen den heranwachsenden Kindern und Jugendlichen und ihren Eltern in der Emigration sich bei der Persönlichkeitsentwicklung der Kinder hinderlich auswirken kann und überhaupt bei ihrer Sozialisation, sei es in der Schule, in der Freizeit oder im Beruf usw., negative Auswirkungen im Hinblick auf ihre Handlungsfähigkeit haben kann" (1986, 186). Mit dieser Interpretation wird die Notwendigkeit der (Weiter-)Entwicklung der Erstsprache in den Vordergrund gestellt. Die vorstehende Tabelle macht aber ebenso deutlich, daß sich am ehesten die Gruppe B einer mehrsprachigen Situation entsprechend entwikeln konnte: Bei Gruppe A kann die Einschätzung der Griechisch-, bei Gruppe C die der eigenen Deutschfähigkeiten nicht befriedigen. Zudem kommt bei der Einschätzung der eigenen Griechischfähigkeiten nach KALPAKAs Interpretation ein negativer Verzerrungsfaktor hinzu, stellt man die Tatsache in Rechnung, daß wesentlich mehr Jugendliche einen deutschen Fragebogen benutzten als angaben, keine Schwierigkeiten im Griechischen zu haben oder sehr gut zu sprechen (1986, 185).
Wie sich auch in den dargestellten Untersuchungen gezeigt hat, ist die übereinstimmende Grundlage für die konzeptionelle Diskussion die Notwendigkeit, daß die Erstsprache der Migrantenkinder in schulische Bemühungen einbezogen werden muß. Denn "wenn man berücksichtigt, daß Zweisprachigkeit vor allem da zum Problem wird, wo Einsprachigkeit für das normale gehalten wird, ... und vor allem der Tatsache Rechnung trägt, daß Zweisprachigkeit für die ausländischen Kinder nicht wählbar, sondern durch ihre Lebenssituation auferlegt ist, muß man die Forderung vertreten, daß dieser natürlichen Zweisprachigkeit im Unterricht der deutschen Schule, aber auch im muttersprachlichen Unterricht Rechnung getragen werden muß" (BOOS-NüNNING 1981c, 80). Dabei können jedoch mit dieser Forderung nach Muttersprachlichem Unterricht, wie schon bei der Forderung nach Bewahrung der eigenen Identität, wiederum sehr unterschiedliche Ziele verfolgt werden (vgl. Kap. 4.2.1). So ist es wichtig darauf hinzuweisen, daß nicht allein die Tatsache des (nicht) erteilten erstsprachlichen Unterrichts entscheidend ist, "sondern die bildungspolitischen Rahmenbedingungen, in die er eingebettet ist" (KULA 1986, 252), die dann nämlich auf ihre Funktion und Wirkung auf Möglichkeiten der sprachlichen Entwicklung zu befragen wären. Als zwei konzeptionelle Grundrichtungen können hier skizzenartig Ansätze mit einer bikulturellen und einer interkulturellen Orientierung unterschieden werden.
Ansätze einer bikulturellen und bilingualen Erziehung beabsichtigen, "den einzelnen Schüler mit dem nötigen Wissen, mit der nötigen psychischen Stabilität auszurüsten, damit er die mehrheitsgesellschaftliche Diskriminierung seiner sprachlichen Fähigkeiten, seiner kulturellen und sozialen Herkunft ertragen kann" (GOGOLIN 1988, 94). Sie wollen ausländische SchülerInnen so weit stabilisieren, daß sie sowohl in der Situation im Herkunftsland, als auch in der Situation in Deutschland handlungsfähig werden und bleiben. Jene sollen einen "Bilingualismus auf hohem Niveau" entwickeln, mit dessen Hilfe sie sich gegen Vorurteile wehren und sie widerlegen können sollen (vgl. FTHENAKIS U.A. 1985, 281f.). Kritisiert werden diese Ansätze aus interkultureller Perspektive - bei Anerkennung der Verdienste um die Durchsetzung der Notwendigkeit einer Berücksichtigung der Erstsprachen - , weil Probleme der Sprachentwicklung dem Migrantenkind zugeordnet werden und die monokulturelle Ausrichtung der deutschen Schule stabilisiert wird (vgl. KULA 1986, GOGOLIN 1988, GOGOLIN & NEUMANN 1988).
Interkulturelle Ansätze streben im Sinne einer Erweiterung des Zusammenhangs an, die gesellschaftlich vorhandene "'Muttersprache' Zweisprachigkeit" (GOGOLIN 1987) in der schulischen Bildung zu verankern. Diese Zielsetzung bezieht sich also sowohl auf die Erstsprache der ausländischen SchülerInnen, die nicht immer mit der dominierenden Sprache im Herkunftsland identisch sein muß, als auch auf eine sprachliche Entwicklung in der Zweitsprache Deutsch. Hinter diesem Ansatz steht die Überzeugung, daß die Schule, will sie auch Kindern von MigrantInnen eine umfassende Entwicklung ermöglichen, auf eine angemessene, gleichberechtigte Berücksichtigung der Erstsprachen nicht verzichten kann. Gibt die deutsche Schule die Pflege der Erstsprachen in die Verantwortung der jeweiligen Konsulate ab, so bedeutet dies, daß dieser wichtige Aspekt der kindlichen Entwicklung aus dem Bildungsauftrag der deutschen Schule ausgeblendet wird. Bedeutsam ist die Erstsprache nicht nur im Hinblick auf eine 'spätere Rückkehr in das Heimatland' oder in einer möglichen Funktion für den deutschen Spracherwerb, sondern "sie ist für das ausländische Kind die Sprache seiner Primärsozialisation und des Wissenserwerbs in den ersten Lebens-, ja meistens auch in den ersten Schuljahren. Und sie ist nicht zuletzt die Sprache des Elternhauses und die, mit der die Ausländerkinder in der Öffentlichkeit identifiziert werden und sich selbst identifizieren" (ORHAN 1984, 90). BOOS-NüNNING weist auf die Notwendigkeit hin, beide Kulturen zu stützen, "Kompetenz in beiden Sprachen" zu fördern (1983, 8) und die Herkunftssprachen und -kulturen ausländischer SchülerInnen als Bildungspotential zu betrachten (1983, 12). Mit der Nichtberücksichtigung oder sogar Unterdrükung der Erstsprache werden die elementaren Bildungsbedürfnisse von Migrantenkindern vernachlässigt und letztere in ihrer Entwicklung behindert: "Eine - an welche Bedingungen auch immer geknüpfte - Verweigerung Erstsprachlichen Unterrichts ist einer aktiven personalen und sozialen Schädigung der Kinder durch die Schule gleichzusetzen" (GOGOLIN 1988, 100). Dieses wäre als quasi strafrechtsrelevante unterlassene pädagogische Hilfeleistung anzusehen.
Doch selbst wenn muttersprachlicher Unterricht innerhalb der deutschen Schule stattfindet, genügt dies noch nicht ausländerpädagogischen, geschweige denn interkulturellen Maßstäben. Gefordert wird von VertreterInnen der Interkulturellen Erziehung eine kontinuierliche, alle Schultypen umfassende muttersprachliche Versorgung, die Migrantenkindern die notwendige koordinierte zweisprachige Entwicklung ermöglicht (z.B. Boos-Nünning 1981c, 82, 1983, 10, BELKE U.A. 1986, 430) und die Gefahr einer 'doppelseitigen Halbsprachigkeit' vermeidet (z.B. HAAS 1984, 94, KALPAKA 1986, 189, BAUR & MEDER 1989, 120, STEINMüLLER 1989, 142f.). Im Sinne einer solchen schulischen Versorgung dürfen die zweisprachigen Kenntnisse von Kindern mit nichtdeutscher Muttersprache nicht als Defizite und Lücken im deutschen Spracherwerb, als "'gestörte' sprachliche Entwicklung" (GOGOLIN 1987, 26), sondern müssen als besondere sprachliche Qualifikationen verstanden werden. Die zweisprachigen Kinder "haben dadurch ihren deutschen Mitschülern und Lehrern sprachliche Kenntnisse und Fähigkeiten uneinholbar voraus" (1987, 26). Stärken müssen auch als solche anerkannt und dürfen nicht als Schwächen definiert werden (ENDERS-DRAGäSSER 1984, 59). GOGOLIN weist hier insbesondere auf den Bereich metasprachlicher Fähigkeiten hin (1987, 28), in dem Migrantenkinder einsprachigen Kindern weit überlegen seien. Sie entwikelt den Begriff einer "lebensweltlichen Zweisprachigkeit", die "eine Komposition aus emigrantensprachlichen Mitteln, zweitsprachlichen Mitteln und aus 'besonderen Fähigkeiten Zweisprachiger'" beinhaltet (1987, 28; vgl. hierzu auch den entsprechenden Begriff der "Migrationszweisprachigkeit" bei LUCHTENBERG 1991, 79). Diese zweisprachlichen Kenntnisse und Fähigkeiten sollten im Unterricht einer sprachlich gemischten Gruppe auch als solche deutlich und pädagogisch nutzbar werden. Die in vielen Klassen vorhandene, durch lebendige Kinder repräsentierte "Sprachenvielfalt im Unterricht" (REICH 1987) bietet damit einen "unvorstellbarer Reichtum an menschlichen Möglichkeiten" (GOGOLIN & NEUMANN 1988, 63). An diese Sichtweise einer Bereicherung durch die mehrsprachige Situation einer Klasse schließt sich die Forderung an, einsprachig aufgewachsenen deutschen Kindern nicht die Chance auf die Entwicklung von Zweisprachigkeit zu nehmen und die Förderung der Zweisprachigkeit als Auftrag für alle Kinder zu verstehen (GOGOLIN 1987, 29). Dies erscheint nicht nur angesichts der zunehmenden europäischen Einigung sinnvoll, sondern entspricht der Gegenwart und Zukunft einer mehrsprachigen Gesellschaft.
In diesem Abschnitt geht es um jene empirischen und konzeptionellen Erkenntnisse, die sich mit der Interaktion zwischen SchülerInnen sowie zwischen PädagogInnen und SchülerInnen hinsichtlich der interkulturellen Situation befassen.
Dabei werden zum einen soziometrische Untersuchungen herangezogen, die sich mit den Sympathiebeziehungen in gemischten Klassen beschäftigen (Kap. 4.3.1). Weiter werden Aussagen und Untersuchungen zu Freundschaftsbeziehungen ausgewertet (Kap. 4.3.2). Schließlich wird auf die Bedeutung des Verhaltens der PädagogInnen als wichtigem Faktor für das Unterrichtsgeschehen eingegangen (Kap. 4.3.3). Auffällig ist, daß in der Literatur keine direkten Beobachtungen der Interaktion zwischen den SchülerInnen zu finden waren.
GROTH U.A. untersuchen das "soziale Innenleben" (1986, 506) einer Integrierten Gesamtschule in Mannheim mit Hilfe soziometrischer Verfahren. Dabei stellen sie fest, daß gegenüber dem Anteil am Jahrgang "ein geringerer Anteil der insgesamt abgegebenen Nennungen auf ausländische Schüler entfiel" (1986, 506). Demnach werden ausländische SchülerInnen insgesamt etwas weniger wahrgenommen als deutsche SchülerInnen. Weiter ist der Anteil der negativen Wahlen aller SchülerInnen für ausländische höher (ca. 55 %) als für deutsche (49 %) SchülerInnen, d.h., "daß ausländische Schüler etwas stärker mit Ablehnungen bedacht wurden" (1986, 506). Die stärkere negative Bewertung stammt von deutschen MitschülerInnen (58, 5 % negativ, 41,5 % positiv). Die höheren Werte bei negativen Wahlen sind wechselseitig; auch ausländische SchülerInnen stehen ihren deutschen MitschülerInnen eher kritisch gegenüber (52, 5 % negativ, 47,8 % positiv). Demgegenüber sind positive und negative Wahlen zwischen den ausländischen SchülerInnen ausgeglichen. Wie GROTH U.A. feststellen, ist hierbei die Streuung zwischen den Klassen größer als der Gesamtunterschied: In drei Klassen finden sich "deutliche Anzeichen für ein Konfliktpotential innerhalb und zwischen beiden Schülergruppen" (1986, 506), in den anderen fünf Klassen kommt es zu einer "weitgehenden Ausgewogenheit der gegenseitigen Wahrnehmung" (1986, 506). Insgesamt schließen GROTH U.A. aus ihren Ergebnissen auf eine positive Grundtendenz, zumal im Vergleich mit früheren Untersuchungen wie der von BOOS-NüNNING (1982a).
BOOS-NüNNING referiert die zu jener Zeit vorliegenden Ergebnisse zur "sozialen Integration ausländischer Kinder" und führt gegensätzliche Ergebnisse an: Während bei Lehrerbefragungen kaum Unterschiede in der sozialen Situation ausländischer und deutscher Kinder wahrgenommen werden, ergibt der größere Teil soziometrischer Untersuchungen, "daß sich die ausländischen Kinder als soziale Randgruppe darstellen, die von den Klassenkameraden entweder abgelehnt oder zumindest nicht positiv gewählt wird" (1982a, 69). Auf diesen Widerspruch weist auch LUKESCH hin: Einerseits zeigen soziometrische Untersuchungen die "marginale Stellung der Ausländerkinder im Klassenverband" (1983, 267), "d.h. sie werden zwar nicht akzentuiert abgelehnt, gehen aber auch bei den Sympathiewahlen häufig leer aus" (1983, 267), andererseits ergeben sich in der Eigenwahrnehmung der Schüler-Schüler- wie in der Lehrer-Schüler-Beziehung durch Ausländerkinder keine oder kaum Unterschiede (vgl. auch GLUMPLER 1985).
Differenzierend vermutet schon BOOS-NüNNING (1982a), daß je nach der Anzahl ausländischer Kinder in einer Klasse entweder bei mehreren ausländischen Kindern eine Tendenz zur Innengruppenbildung oder bei einzelnen ausländischen Kindern eine Tendenz zu notwendigen Kontaktbemühungen deutlich werden würde. Diese Aussage bestätigt GLUMPLER: "In deutschen Regelklassen, in die mindestens zwei türkische Schüler gleichen Geschlechts aufgenommen worden waren, bildeten sich vorwiegend Banknachbarschaften türkischer Schüler" (1985, 227).
BOOS-NüNNING referiert zur sozialen Situation auch eigene Untersuchungsergebnisse: Bei einem durchschnittlichen Anteil von 19 % entfallen nur 4 - 5 % der Wahlen deutscher auf ausländische SchülerInnen; ausländische SchülerInnen werden von deutschen mit 9 % ebenfalls unterdurchschnittlich abgelehnt. Umgekehrt richten ausländische Kinder weniger Aufmerksamkeit auf deutsche, als es deren Anteil von 80 % entsprechen würde: ca. 40 % positive und ca. 33 % negative Wahlen. Dies bestätigt die von BOOS-NüNNING vertretene "These von der Isolation ausländischer Kinder in den deutschen Klassengemeinschaften" (1982a, 70).
Ähnlich negative Ergebnisse referiert auch ROTH, der Ergebnisse einer Untersuchung in 18 Grund- und Hauptschulklassen aus der Examensarbeit von RIEGER aus dem Jahr 1980 zitiert:
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"Deutsche Schüler wurden etwa doppelt so oft gewählt wie ausländische Mitschüler.
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Ausländische Schüler vereinigen mehr als das Doppelte an negativen Wahlen (Ablehnungen) auf sich.
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Dieser Trend ist in der Hauptschule stärker als in der Grundschule, was mit dem Alter, aber auch mit der Selektion zu tun haben dürfte. Untersuchungen zeigen, daß eine Korrelation zwischen Vorurteilshaftigkeit und intellektueller Aufgeklärtheit besteht.
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Sowohl in den Wahlen als auch in den Ablehnungen bleiben die Ethnien bevorzugt unter sich, allerdings ist dieser Ethnien-Effekt nicht so stark wie die Geschlechtertrennung.
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Die Ablehnung zeigt sich um so deutlicher, je größer die physische Nähe wird: Einen Ausländer als Tischnachbarn zu akzeptieren und damit ständig neben sich zu haben, wird offensichtlich eher abgelehnt als mit ihm auf Reisen zu gehen oder ihn zu einem Fest einzuladen, beides Ereignisse von kurzer Dauer. In allen Fällen aber überwiegt die Ablehnung bzw. die niedrigere Rangposition der Ausländerkinder" (in ROTH 1985b, 61).
Ob sich im Verlauf der 80er Jahre die soziale Situation von Migrantenkindern gebessert hat oder ob die Ergebnisse von GROTH U.A. keinen generellen Trend andeuten, kann hier nicht geklärt werden. Im Zuge der Prozesse von Normalisierung und Hierarchisierung (KLEMM 1987) wären auch zwei gegenläufige Tendenzen denkbar (vgl. Kap. 4.2.1).
GAMM macht 1981 die pauschale Aussage, daß ausländische Kinder "in dauerhafte Freundschaftsbeziehungen kaum einbezogen" werden (1981, 205). Dieses gilt es im folgenden genauer zu betrachten.
DAMANAKIS untersucht die sozialen Beziehungen ausländischer und deutscher HauptschülerInnen. Alle griechischen (201), italienischen (74) und türkischen (96) HauptschülerInnen im siebten, achten und neunten Schuljahr sowie 150 deutsche SchülerInnen aus den gleichen Klassen Ludwigshafens werden befragt. Bedeutsam ist dabei, daß 229 der 371 ausländischen SchülerInnen (= 62 %) nationalhomogene Klassen (90 % der GriechInnen, 48 % der TürkInnen, 0 % der ItalienerInnen) und 142 (= 38 %) deutsche Regelklassen besuchen (10 % der GriechInnen, 52 % der TürkInnen, 100 % der ItalienerInnen) (1984, 78).
Dementsprechend zeigen sich bei den befragten ausländischen SchülerInnen unterschiedliche Situationen: Während griechische SchülerInnen zu 97 % griechische FreundInnen und zu 64 % deutsche FreundInnen und türkische SchülerInnen zu 93 % türkische und zu 73 % deutsche FreundInnen angeben und damit quantitativ FreundInnen aus dem Herkunftsland vor deutsche FreundInnen liegen, stehen bei den italienischen SchülerInnen deutsche FreundInnen mit 90 % an erster und italienische FreundInnen mit 75 % an zweiter Stelle. FreundInnen anderer Nationalitäten stehen bei allen befragten Gruppen an dritter Stelle. Hier spiegeln sich die Kontaktmöglichkeiten in den unterschiedlichen Klassen deutlich wider.
Dementsprechend gestalten sich auch die Aussagen über Freundschaften und Sympathien der befragten deutschen HauptschülerInnen. Demnach haben 99 % der deutschen SchülerInnen deutsche und 67 % ausländischen FreundInnen; nach Nationalitäten differenziert ergibt sich das entsprechende Bild: Italienische SchülerInnen sind die gefragtesten ausländischen FreundInnen (48 %), mit größerem Abstand gefolgt von griechischen (24,7 %) und türkischen (18 %) FreundInnen. Verstärkt werden die ohnehin schon deutlichen Unterschiede zwischen den Nationalitäten durch eine unterschiedliche Intensität der Freundschaften: DAMANAKIS stellt bei der Häufigkeit gegenseitiger Besuche zu Hause fest, daß ein höherer Anteil der italienischen ihre deutschen FreundInnen zu Hause besuchen (48,6 %) als bei den griechischen (13 %) und türkischen (9,3 %) (1984, 79). Er schließt daraus, "daß in den Angaben von Griechen und Türken in bezug auf ihre Freundschaften mit Deutschen gewisse Wunschvorstellungen enthalten sind" (1984, 79).
In seiner weiteren Analyse stellt DAMANAKIS heraus, daß für die Entwicklung sozialer Beziehungen folgende Faktoren wesentlich sind: Sympathie oder Antipathie zu der jeweiligen Nationalität, also das Bild, das die deutsche Majorität von der jeweiligen Gruppe - auch ohne Kontakterfahrungen - hat. Vorhandene Stereotypen werden durch soziale Beziehungen lediglich bestätigt oder modifiziert. Der Besuch eines deutschen Kindergartens trägt offensichtlich dazu bei, daß ausländische Kinder mehr Kontakte und Freundschaften zu deutschen Kindern aufbauen (1984, 80). Das jeweilige Wohnviertel und sein Anteil ausländischer EinwohnerInnen hat auch einen großen Einfluß. Je höher ihr Anteil ist, desto quantitativ und qualitativ höher sind soziale Beziehungen zu Landsleuten und anderen ausländischen SchülerInnen und desto geringer sind sie zu deutschen SchülerInnen. Weitere Faktoren sind die Familie und ihre Kontaktsituation sowie der Faktor Zeit im Hinblick darauf, wieviel Zeit die SchülerInnen bisher im Herkunftsland und in Deutschland verbracht haben und wie ihre Zukunftsperspektiven aussehen.
Schließlich - für die vorliegende Fragestellung besonders interessant - hat die Form der Beschulung, in gemischten Regelklassen oder in homogenisierten Nationalklassen, einen wesentlichen Einfluß auf die sozialen Beziehungen. Hierzu vergleicht DAMANAKIS die Freundschaften der ausländischen mit deutschen SchülerInnen in den beiden Schulformen (DAMANAKIS 1984, 80): Die griechischen SchülerInnen in Regelklassen stehen hier mit 94,4 % an der Spitze, gefolgt von den italienischen SchülerInnen in Regelklassen (90,5 %). Am Schluß der Skala stehen die griechischen NationalklassenschülerInnen mit 61 %. Warum die türkischen SchülerInnen in Nationalklassen (80 %) mehr Freundschaften mit deutschen SchülerInnen haben als die in Regelklassen (65,2 %), erklärt DAMANAKIS nicht. Deutlich wird jedoch bei den griechischen SchülerInnen, daß "der besuchte Klassentyp schwerwiegender als der 'Nationalstatus' ist" (1984, 80).
KALPAKA (1986) untersucht in ihrer Arbeit ebenfalls die Kontakte griechischer Jugendlicher in der Schule. Dabei vergleicht sie wie schon bei den Sprachkenntnissen (Kap. 4.2.4) Gruppe A (deutsche Regelklasse), Gruppe B (deutsche und griechische Angebote) und Gruppe C (griechische Sekundarschule).
Wie vorherzusehen war, bestehen graduelle Unterschiede zwischen den Gruppen: Während Gruppe A in deutschen Regelklassen fast zu gleichen Teilen eher mit deutschen MitschülerInnen bzw. mit deutschen und griechischen MitschülerInnen Kontakt haben (43 % bzw. 47 %), zeigt sich bei Gruppe C im griechischen Lykion ein problematischer Anteil von SchülerInnen, die nur Kontakte zu Landsleuten pflegen (27 %) - 40 % der Gruppe C pflegen nur oder eher Kontakte mit Landsleuten. Im Sinne des Miteinander des Verschiedenen zeigt Gruppe B (deutsche und griechische Angebote) das ausgewogenste Bild von Kontakten, die deutsche und griechische MitschülerInnen umfassen (56 %; KALPAKA 1986, 243).
Zum außerschulischen Bereich führt ROTH (1985b) wiederum die Examensarbeit von RIEGER von 1980 an (vgl. Kap. 4.3.1), in der deutsche SchülerInnen nach der Häufigkeit außerschulischer Kontakte mit ausländischen SchülerInnen gefragt werden. Danach ergibt sich folgendes Bild: Fast die Hälfte der Befragten (47 %) haben keinerlei außerschulische Kontakte mit ausländischen SchülerInnen. ROTH interpretiert dieses Ergebnis wie folgt: "Wenn auch die Ablehnungen im außerschulischen Bereich nicht so hoch erscheinen wie in der Schule, so bleibt das Verhältnis von eindeutigen Ablehnungen zu eindeutigen Akzeptierungen doch gleichermaßen ungünstig" (1985b, 62).
Im Unterschied zur von ROTH zitierten Untersuchung wendet sich KALPAKA der Häufigkeit der Kontakte griechischer Jugendlicher mit deutschen Freunden und Bekannten zu, nimmt also die Perspektive der MigrantInnen ein. Dabei zeigt sich wiederum die bekannte Grundtendenz. Je mehr Kontakte durch die gemeinsame Schule möglich sind, desto mehr Chancen auf Kontakte mit deutschen Jugendlichen ergeben sich auch außerhalb der Schule: Häufige Kontakte geben 60 % der Gruppe A, 32 % der Gruppe B und 27 % der Gruppe C an. Weiter lassen die Angaben der Gruppe B vermuten, daß sie über das größte Spektrum an Freizeitkontakten verfügt - mit griechischen und deutschen Jugendlichen, in großer Streuung von Häufigkeiten: 32 % haben oft, 26 % manchmal, 32 % selten, 6 % nie Kontakte mit deutschen Jugendlichen (KALPAKA 1986, 244). Bei der Frage nach dem Zusammenhang der Kontakte wird deutlich, daß die Befragten der Gruppen A (63 %) und B (64 %) vorwiegend mit KollegInnen bzw. MitschülerInnen, die der Gruppe C dagegen eher im Bereich der Nachbarschaft (39 %) oder einer Clique (39 %) Kontakte mit deutschen Freunden pflegen (KALPAKA 1986, 245).
KALPAKA kommentiert: "Daß die ausländischen Jugendlichen aus den deutschen Regelklassen eher Kontakt zu deutschen Mitschülern finden werden ... , wird auch hier für die griechischen Jugendlichen bestätigt. Es ist aber noch lange kein Beweis dafür, daß die anderen Jugendlichen, die keine Regelklassen besuchen, isoliert sind, wie sehr oft angenommen wird; denn ... sind es über die Hälfte (57 %) der Befragten aus der Gruppe C (vom Lykion), die Kontakte zu deutschen Jugendlichen pflegen und in ihrer Freizeit etwas mit ihnen unternehmen, und zwar oft bzw. manchmal" (1986, 245). Dennoch kommt KALPAKA nicht umhin festzustellen: Es "sind bei Gruppe C nur 17 % der Freunde Schulkameraden, während es bei den anderen Gruppen 63 % bzw. 64 % sind" (1986, 245). Sie führt dies auf das Fehlen deutscher KlassenkameradInnen, aber auch auf lange Anfahrtswege zur einzigen griechischen Schule Hamburgs zurück.
In der Literatur wird immer wieder hingewiesen auf die Schlüsselstellung, die Selbstverständnis und Verhalten der PädagogInnen in der Erziehung einnehmen (vgl. auch Kap. 4.2.3). So schreibt etwa TREPPTE über die Entwicklung einer Gelsenkirchener Grundschule hin zu einer gemeinwesenorientierten, interkulturellen Schule: "Ausgangspunkt ist jeweils das eigene Selbstverständnis als Lehrer, das einer Revision und des Umdenkens bedarf: Eine Kollegin beschafft einem bedürftigen Kind, das keine anderen Möglichkeiten hat, Winterschuhe; eine andere reklamiert im Geschäft eine Rechnung, die offensichtlich zu Ungunsten eines Vaters ausgestellt wurde, der sich nicht zu wehren wußte. Mütter, die sich spontan zu einem Unterrichtsbesuch entschließen, werden herzlich aufgenommen; auf Elternsprechtagen wird so anschaulich gesprochen, daß auch bildungsferne Eltern nachvollziehen können, was gemeint ist" (1987, 9). Ein - hier etwas idealisiert dargestelltes und in seinen massiven sozialarbeiterischen Hilfsmaßnahmen schon fast wieder problematisches - verändertes Selbstverständnis der PädagogInnen hat enorme Auswirkungen auch auf die Interaktion mit den Kindern. Kinder mit anderer Erstsprache müssen nicht mehr als 'Defizitwesen' wahrgenommen werden.
ROTH zitiert zu diesem Punkt eine Untersuchung von HAUSCH & HAUSCH aus dem Jahr 1977, bei der 14 LehrerInnen in 36 Deutsch- und Sportstunden in ihrem Zu- und Abwendungsverhalten jeweils drei deutschen und ausländischen Arbeiterkindern gegenüber beobachtet wurden. Dabei zeigt sich nach ROTH,
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"daß die verbale Interaktion in den Deutschstunden stärker war als in den Sportstunden,
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daß den ausländischen Schülern insgesamt signifikant weniger Beachtung geschenkt wird als den deutschen.
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Dieser Unterschied ist in den Deutschstunden wesentlich größer als in den Sportstunden.
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Bei den 'Anweisungen' (...) sind die Unterschiede vor allem in den Deutschstunden besonders gravierend.
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In den Sportstunden, in denen die Beachtung von deutschen und ausländischen Schülern sich insgesamt weniger stark unterscheidet, sind die ablehnenden Reaktionen der Lehrer gegenüber den Ausländern besonders hoch.
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Die weitere Analyse dieser Ergebnisse hat gezeigt, daß zwischen den Lehrern erhebliche Unterschiede bestehen.
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Erhebliche Unterschiede bestehen auch zwischen Grund- und Hauptschule: Ausländische Hauptschüler werden stärker benachteiligt als solche in der Grundschule" (1985b, 68f.)
CZOCK & RADTKE (1984; vgl. auch CZOCK 1986) wenden sich diesem Thema, dem Verhalten von LehrerInnen, auf anderem methodischen Wege mit qualitativen Unterrichtsbeobachtungen zu. Dabei erkennen sie im Unterricht von Regelklassen, vor allem im Fach Deutsch, zwei generalisierte Verhaltensweisen der LehrerInnen, die sie als 'ignorierende Toleranz' und als 'positive Diskriminierung' bezeichnen. CZOCK & RADTKE charakterisieren diese beiden Grundstrategien folgendermaßen: "'Ignorierende Toleranz' unterstellt die Gleichheit aller Schüler unter Ausklammerung der ethnischen und kulturellen Besonderheiten. 'Positive Diskriminierung' dagegen zeigt sich als engagierte Form der Förderung ausländischer Kinder durch Sonderbehandlung" (1984, 34). Beidem ist gemeinsam: "Beide Verhaltensstrategien, die die Pole eines Kontinuums von Verhaltensweisen ausmachen, ziehen dem Unterricht eine Struktur ein, in der ein geheimer Lehrplan der Diskriminierung sichtbar wird" (CZOCK 1986, 96). Es geht also um die Auseinandersetzung mit Gleichheit und Verschiedenheit und um eine dialektische Aufhebung ohne Anpassung oder Separierung - auf der Ebene des Verhaltens von LehrerInnen.
Die ignorierende Toleranz beschreibt CZOCK folgendermaßen: "Solange die ausländischen Schüler im Unterricht nicht durch Mängel auffallen, werden sie wie deutsche Schüler behandelt. In den Unterrichtsstunden bleiben etwaige ethnische, kulturelle oder sprachliche Besonderheiten der Kinder ausgespart. Der Themenkanon ist auf die deutschen Kinder ausgerichtet, ob ihre Lebenshintergründe und -erfahrungen darin aufgehen, ist schon fragwürdig. Die Erfahrungen der Migrantenkinder bleiben jedoch auf jeden Fall ausgeklammert. Wieviel sie vom jeweils verhandelten Unterrichtsstoff verstehen und zu welchen Interpretationen sie kommen, bleibt unthematisiert. Sie sitzen still, zum Teil beschäftigungslos, weil sie die gestellte Aufgabe nicht verstanden haben, auf ihren Plätzen, während das Unterrichtsgeschehen weiterläuft. Auch wenn der Unterricht so angelegt ist, daß die Möglichkeit zu einer gleichberechtigten Teilnahme aus Unachtsamkeit vergeben wird, ... geht von der wiederum zugrunde gelegten impliziten Gleichheitsannahme eine Benachteiligung aus: Die türkischen Kinder können ihre besonderen Kenntnisse als 'Kulturexpertise' im Unterricht nicht zur Geltung bringen und bleiben stumm. Daß sie (auch) von den deutschen Mitschülern nicht einbezogen werden, wenn es beispielsweise darum geht, sich gegenseitig aufzurufen, bleibt im Unterricht unthematisiert" (1986, 97). CZOCK ordnet diese Verhaltensstrategie in das Spektrum des Umgangs mit Gleichheit und Verschiedenheit ein: "Auf dem Wege dieser ignorierenden Toleranz (...) stellt sich unversehens die 'Normalsituation' der Nichtbeachtung, des Übergehens und des Nicht-zur-Kenntnisnehmens ein, die auch den außerschulischen Alltag der Migranten prägt. Die Unterstellung einer prinzipiellen Gleichheit aller Schüler erscheint als Toleranz gegenüber den 'fremden' Kindern. Diese Toleranz ist jedoch vordergründig: Weil sie kulturelle Unterschiede ignoriert, sie zugunsten einer imaginären Gleichheit tabuisiert, setzt sie die ethnozentristische Praxis, die die ganze Gesellschaft bestimmt, wohlmeinend fort" (1986, 97).
Zur positiven Diskriminierung führt CZOCK aus: "Werden die Unterschiede zu den deutschen Schülern zur Kenntnis genommen, sind es die Defizite oder Mängel, die sie gegenüber ihren deutschen Mitschülern haben. Dann kann nicht mehr weiter von Gleichberechtigung ausgegangen werden. Die Defizite fordern eine Sonderbehandlung heraus. Entweder wird die Bearbeitung in der jeweiligen Stunde angegangen, oder sie wird an Sondermaßnahmen delegiert. Hervorgebracht wird in diesem vermeintlichen Engagement für Migrantenkinder jedoch nur, was sie (noch) nicht können. Sie sind die, die nicht mithalten können, die letztlich den Unterricht verzögern, und wenn sie dafür auch noch ein ungerügtes Aufheulen ihrer deutschen Mitschüler ernten, weil 'sie es immer noch nicht kapiert haben', dann wird deutlich, daß auch diese Strategie die soziale Integration nicht unmittelbar fördert. Kulturelle und ethnische Besonderheiten assoziieren sich in diesem Arrangement - nicht zuletzt als Lehrstück für die deutschen Mitschüler - mit sprachlichen und fachlichen Defiziten. Unter der Hand verkehrt sich das, was als Förderung ausgegeben wird, in sein Gegenteil und wird zur psychischen Dauerbelastung der Kinder" (1986, 97f.).
So wird der heimliche Lehrplan der sprachlichen, ethnischen und kulturellen Anpassung an das Deutsche unhinterfragt durch das Verhalten von PädagogInnen an alle SchülerInnen, deutsche wie ausländische, weitervermittelt, wo er Selbst- und Fremdwahrnehmung nachhaltig beeinflußt (vgl. Kap. 4.2.3). Hier gibt es offensichtlich eine übereinstimmende Grundlinie von bisherigen Ergebnissen, seien sie methodisch auf quantitativem oder qualitativem Wege ermittelt. Erfahrungsberichte wie der von TREPPTE (1987) können hier einen noch weitgehend entfernten Horizont der Entwicklung angeben, in dessen Richtung sich Schule und konkret auch das Selbstverständnis von PädagogInnen entwikeln sollte.
Die Herausforderung der Handlungsebene läßt sich schlicht mit folgendem Satz umreißen: Die vorhandene kulturelle und sprachliche Heterogenität von Lerngruppen muß unterrichtlich bewältigt werden. Dies sollte interkulturellen Vorstellungen nach nicht in der traditionellen, selektiven Weise geschehen, sondern ohne Anpassungsdruck und ohne Aussonderungsdrohung aufgrund vorhandener kultureller und sprachlicher Verschiedenheit. Hierzu erscheint die Behandlung folgender Aspekte wesentlich:
Zunächst wird die Berücksichtigung der Zweisprachigkeit bei Migrantenkindern betrachtet und die Notwendigkeit von zweisprachigen LehrerInnen festgestellt. Hierzu erscheint eine gleichberechtigte Kooperation zwischen ausländischen und deutschen LehrerInnen eine wichtige Bedingung (Kap. 4.4.1). Weiter geht es um die Frage der didaktischen Grundlage eines interkulturellen Unterrichts und um seine Elemente. Hierbei stellt sich die Frage, ob es einer besonderen Didaktik der Interkulturellen Erziehung bedarf (Kap. 4.4.2). Schließlich wird die Frage der Aus- und Fortbildung für interkulturelle Praxis und die Frage der Beratung und Begleitung dieser innovativen Arbeit angesprochen (Kap. 4.4.3).
Notwendig erscheint hier die Feststellung, daß es auch im Bereich der didaktischen Fragen wenig empirische Untersuchungen und damit auch nur wenig gesicherte Erkenntnisse gibt. Wurden in den 70er Jahren - entsprechend kompensatorisch ausgerichtet - viele Untersuchungen innerhalb der Schule und des Unterrichts durchgeführt, so scheint es in den 80er Jahren nur noch wenig Untersuchungen eines - sich nun interkulturell verstehenden - Unterrichts zu geben. Lediglich Erfahrungsberichte über die interkulturelle Arbeit liegen vor. Sie können tendenziell eine Richtung angeben, in der die Einlösung einer Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit auf der Handlungsebene am ehesten zu erwarten ist.
Wie in Kap. 4.2.4 deutlich geworden ist, ist die Einbeziehung der Erstsprache der Migrantenkinder eine notwendige Bedingung im Hinblick auf die Persönlichkeitsentwicklung. Erst durch sie kann die Schule der Gleichheit und Verschiedenheit von Kindern mit unterschiedlicher Erstsprache gerecht werden und die gesellschaftlich vorhandene Mehrsprachigkeit abbilden.
In der Literatur wird immer wieder darauf hingewiesen, daß die Berücksichtigung der Erstsprache aller Kinder nur gelingen kann, wenn es einen Anteil kontinuierlichen erstsprachlichen Unterrichts gibt. Der kann wiederum nur von LehrerInnen gestaltet werden, die dafür ausgebildet sind (vgl. Kap. 4.4.3) oder - noch besser - 'native speakers' der betreffenden Erstsprache sind (z.B. GRIESE 1985, 304, BELKE U.A. 1986, 426). Denn "in der realen historischen Begegnung von Kulturen bedeutet die Angehörigkeit zu einer Community eine nicht austauschbare Qualifikation" (HOHMANN 1989, 20). Die durch Zugehörigkeit zu einer Minderheitskultur - wenn damit auch nicht hinreichend - qualifizierten LehrerInnen können nicht einfach durch solche aus der Mehrheitskultur ersetzt werden, und seien letztere noch so gut ausgebildet.
In ihrer Auswertung mehrerer Modellprojekte in verschiedenen europäischen Ländern kennzeichnet GOGOLIN als zentrales Problem wie als entscheidenden Parameter für die Innovationskraft der Modellversuche die persönliche Situation der LehrerInnen, denn "der Unterricht mit Kindern ethnischer Minderheiten stellt die Lehrer der multikulturellen Schule vor eine Vielfalt ungewohnter, ungewöhnlicher Aufgaben" (1988, 197). Auch aus dieser Perspektive - und nicht nur aus der Notwendigkeit der Berücksichtigung der Erstsprachen heraus - stellt sich die Notwendigkeit der Kooperation zwischen zwei LehrerInnen, von denen eine(r) ein(e) zweisprachige(r) LehrerIn ist. Dabei sieht GOGOLIN eine direkte Verbindung zwischen der Qualität der Kooperation und der Innovationskraft der Versuche: So "kam es überall da zu weitreichenden innovativen Unterrichtsversuchen, wo zweisprachige Lehrer am pädagogischen Handeln gleichberechtigt beteiligt waren und wo sie ihre Stimme laut machten. In den Modellversuchen, in denen zweisprachige Lehrer der Erwartung kultureller Fügsamkeit entsprachen, in denen sie nicht in gemeinsamen Unterricht einbezogen wurden oder darin nur Helferfunktion besaßen, drangen die Sprachen der Minderheiten in Herzstücke der Inländerschule (...) nur in ihrer schulisch kodifizierten Form ein" (1988, 197f.). Eine innovative Qualität des mehrsprachigen Unterrichts für alle Kinder wurde erreicht, wo zwei LehrerInnen gleichberechtigt unterrichteten. Dort "kamen Augenblicke 'symmetrischer und inhaltsreicher Kommunikation' zustande - Augenblike, in denen die Äußerungen der zweisprachigen Kinder den Status gleichberechtigt legitimen Wissens besaßen. ... Sie (diese Kinder; A.H.) setzen damit Signale dafür, daß sie ihren einsprachigen Lehrern Kompetenzen voraus haben, und sie entziehen sich in diesen Momenten der Kontrolle und Zensur durch den Inländerlehrer" (1988, 198).
Mit dieser Aussage ist auch gleichzeitig das subjektive Bedrohungspotential für einsprachige LehrerInnen beschrieben: Das Erleben der überlegenen Sprachkompetenz zweisprachiger Kinder "setzt Lehrer der Gefahr aus, sich als Professionsinhaber in Frage gestellt zu sehen" (1988, 198). GOGOLINs Konsequenz ist daher folgerichtig: "In der gegenwärtigen Bildungswirklichkeit bedarf es der Anwesenheit zweisprachiger Lehrer im Unterricht mit dem Erziehungsziel Zweisprachigkeit, da die Einforderung und Durchsetzung von Autonomie und Legitimität für die Sprachen der Minderheiten von einsprachigen Lehrern offenbar als existenzielle Bedrohung ihrer persönlichen professionellen Autonomie und Kompetenz wahrgenommen wird" (1988, 198f.). Auf entsprechende Erfahrungen in den USA weist auch KLEIMANN (1987) hin, der die Notwendigkeit des Team-Teaching auch auf bessere Möglichkeiten des sozialen Lernens bezieht.
GOGOLIN kennzeichnet die Anwesenheit zweisprachiger LehrerInnen als "eine Bedingung für das Gelingen" innovativer Versuche, gleichzeitig aber auch als "eine Quelle für Verunsicherungen" (1988, 199), und zeigt ihre Ambivalenz auf: Die "verunsichernde, konfliktbelastete wie als befriedigend erlebte Kooperation mit Lehrern, denen die Inländerseite ihre Anerkennung professioneller Kompetenz nicht verweigern konnte, barg in sich die Chance zu pädagogischer Neuorientierung, zum Perspektivenwechsel in der Wahrnehmung und Bewertung der spezifischen Fähigkeiten und Bedürfnisse zweisprachiger Kinder" und "zur Überwindung der ethnozentristischen monolingualen Perspektive" (1988, 200).
Die Notwendigkeit gleichberechtigter Kooperation wird auch in einem Erfahrungsbericht über Kooperationsunterricht in türkischen Klassen in Berlin betont (KOLBECK & WENNEKES 1981). Dort werden dem Bericht zufolge türkische LehrerInnen als Übersetzungshilfen und in unterrichtsunterstützender Funktion eingesetzt. So positiv auch die vermehrt mögliche Zuwendung und gezielte individuelle Hilfe für einzelne SchülerInnen gesehen wird, so sehr werden gleichzeitig auch die türkischen LehrerInnen abgewertet, denn sie stellen lediglich Hilfskräfte in einem von deutschen LehrerInnen geplanten und gestalteten Unterricht dar: "Der türkische Lehrer ist kein richtiger Lehrer, denn er erklärt ja nur noch einmal das Vorgegebene in der Muttersprache" (1981, 56). Daß er (oder sie) in der türkischen Klasse in allen sozialen Belangen den deutschen KollegInnen überlegen ist, dringt dagegen weniger in das Bewußtsein aller Beteiligten. Angesichts dieser Situation treten KOLBECK & WENNEKES für "einen zweisprachigen Klassenlehrer" ein (1981, 58), der als einzige Möglichkeit erscheint, "die Aufspaltung der Kinder in zwei Sprachbereiche - konkrete türkische Umgangssprache und abstrakte deutsche Schulsprache" - zu entschärfen (1981, 58). Weiter plädieren sie u.a. dafür, daß die türkischen KollegInnen eigenständigen Unterricht erteilen sollen. Türkische und deutsche KollegInnen "müßten gleichberechtigt in der Unterrichtsdurchführung sein. Dies beinhaltet eine gemeinsame Planung und eine sich ergänzende Interaktion im Unterricht" (1981, 59). Damit erscheint der gemeinsame Unterricht als anspruchsvolle, richtige und notwendige Perspektive.
Die Herausforderung eines interkulturellen Unterrichts besteht darin, daß die Heterogenität der SchülerInnen aus verschiedenen Kulturen und Sprachen unterrichtlich bewältigt werden muß, ohne einerseits in Muster offener sozialer Isolation in nationalen Klassen oder verdeckte soziale Isolation innerhalb gemischter Klassen zu verfallen und andererseits einen germanozentristischen, Anpassung fordernden Unterricht zu praktizieren. Diese Herausforderung ist dadurch charakterisiert, "daß das Ausmaß ihrer (der SchülerInnen; A.H.) Lernvoraussetzungen, Lernfähigkeiten und Lernformen außerordentlich groß ist. ... Aber auch ohne gleichzeitigen Besuch muttersprachlicher Klassen in Deutschland sind - selbst wenn man sich auf die Betrachtung zweier Nationen beschränkt - die Verschiedenartigkeiten der Schüler einer gemischten Klasse so groß, daß weder der Lehrer ihnen mit den herkömmlichen Mitteln und Methoden gerecht werden kann noch die Schüler - die ausländischen wie die deutschen - in ähnlicher Weise gefördert werden können, wie es in national homogenen Klassen möglich wäre. Schier unüberschaubar wird die Situation, wenn man sich vergegenwärtigt, daß normalerweise ja nicht nur Angehörige zweier Nationen am Unterricht teilnehmen, sondern drei oder mehr Nationen vertreten sind, für die eine entsprechende Analyse der Schule und des Unterrichts im Herkunftsland ergeben würde, daß diese sich in ähnlich ausgeprägter Weise von der Situation sowohl in Deutschland als auch in den anderen Herkunftsländern unterscheiden. Die Multinationalität aber ist in deutschen Klassen mit Ausländerkindern die Regel und nicht die Ausnahme" (HOPF 1984, 49f.).
Während HOPF vor allem die problematische Seite der Heterogenität herausstellt und sich auf die Förderung von Kindern bezieht, zeigt POMMERIN Chancen und Möglichkeiten von Entwicklungsanreizen durch Heterogenität auf: "Wenn es ... gelingt, in einer multinationalen Lerngruppe durch wiederholte positive Kontakte zwischen den Kindern verschiedener Nationen Aufgeschlossenheit gegenüber Fremdartigem zu wecken - und hier liegt die Initiative sicherlich beim Lehrer - und wenn die Heterogenität eingebrachter Wirklichkeitsaspekte als legitime Lebenswelten zugelassen wird, ist es nicht länger unverbindlicher Liberalismus, wenn wir sagen, daß ausländische und deutsche Kinder voneinander lernen können. Bisher hat wohl niemand bestritten, daß ausländische Kinder von ihren deutschen Mitschülern profitieren; ungewöhnlich mutet eher der Hinweis auf einen gegenseitigen Informationszuwachs an" (1977, 121).
Wie POMMERIN (1977, 121 und 1982, 143f.) machen auch andere AutorInnen deutlich, daß für sie Interkulturalität etwas Dialogisches ist, das ebenso die deutschen Kinder betrifft: Ziel kann nicht nur sein, "die ausländischen Kinder zur Bewältigung der durch Migration entstandenen Situation zu befähigen, vielmehr müssen auch den einheimischen Kindern entsprechende Fähigkeiten vermittelt werden" (HOHMANN 1982c, 174).
Für die didaktische Einlösung dieser interkulturellen Vorsätze wird auf jene Orientierungen und Elemente verwiesen, die schon seit reformpädagogischer Zeit wie im Zuge der Grundschulreform den Zielhorizont einer kindgemäßeren schulischen Arbeit ausmachen (sie brauchen deshalb auch nicht näher ausgeführt zu werden):
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Orientierung an der Lebenswelt und den Erfahrungen der Kinder bzw. Situationsorientierung (POMMERIN 1982, 147, BAYER 1984, 113, RöBER-SIEKMEYER 1983, 37f., SCHMITT 1985a, 74, BELKE U.A. 1986, 435, TREPPTE 1987, 10, ZIMMER 1987, 236, HOHMANN 1989, 18, BAYAM U.A. 1990);
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Notwendigkeit innerer Differenzierung und Individualisierung (BUNK 1982, 237, GöBEL 1981, 89ff., BAYER 1984, 113, GLUMPLER 1985, 409, SCHMITT 1985a, 80, STRüFING 1985, 9, ZIMMER 1987, 242, für die Sek I: THOMAS 1987b, 42f.);
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Öffnung des Unterrichts mit Formen Freier Arbeit, Wochenplanarbeit und Projektorientierung (HOPF 1984, 71, TOMSCHIK 1983, BAYER 1984, GLUMPLER 1985, 409, BELKE U.A. 1986, 435, HOHMANN 1989, 19);
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Öffnung der Schule zum Gemeinwesen hin (z.B. TREPPTE 1987, 10, ZIMMER 1987, 244, ESSINGER 1988).
Ergänzt werden diese Prinzipien in der Literatur häufig durch ein HelferInnen- und TutorInnenprinzip, das vor allem in Erfahrungsberichten immer wieder betont wird (vgl. POMMERIN 1977, 121, SCHMINCK-GUSTAVUS 1981, TOMSCHICK 1983, 28f., SCHMITT 1985a, 80, STRüFING 1985, 9). Die offensichtliche Verschiedenheit von Kindern aus unterschiedlichen Kulturen läßt dieses Prinzip hier wohl naheliegender erscheinen als in der allgemeinpädagogischen Literatur.
Besonders im Bericht von SCHMINCK-GUSTAVUS wird das Prinzip einer positiven Nutzung der Verschiedenheit von SchülerInnen deutlich, das sie zur tragenden Leitidee "Schüler als Lehrer" in ihrem Unterricht mit türkischen und deutschen Kindern macht. Durch sie wird großes emotionale und kognitive Potential freigesetzt: Bei den türkischen Kindern vollziehen sich auf sozialer, kognitiver und auf der Persönlichkeitsebene deutliche Entwicklungen (1981, 141), bei den deutschen Kindern ergeben sich neben einer grundsätzlichen Solidarität ebenfalls kognitive Entwicklungen durch die intensive Reflexion über die eigene Sprache (1981, 143).
Gleichwohl zeigt SCHMINCK-GUSTAVUS auch die Problematik einer von vornherein eingeplanten Asymmetrie der Beziehungen auf, nach der die deutschen Kinder eher die helfenden und die türkischen eher diejenigen sind, denen geholfen wird: Die türkischen SchülerInnen trugen deutlich "ihre Freude über die Errungenschaft deutlich zur Schau, indem sie sich förmlich an ihren 'Lehrer' klammerten. Auch die 'Lehrer' erfuhren durch diese Anhänglichkeit ihrer türkischen 'Kinder' eine gewisse Aufwertung" (1981, 137). So kommen einige Mädchen einer Parallelklasse zur Lehrerin, "weil sie auch 'die niedlichen kleinen Türken' unterrichten wollten" (1981, 137). Dieses - wohl entwicklungsgemäße - symbiotisch geprägte Stadium wird jedoch zunehmend abgelöst von einem Verhalten, in dem neben Annäherung auch Abgrenzung möglich ist: Die türkischen Kinder verweigern sich zunehmend ihren deutschen 'LehrerInnen', begehren gegen Strenge auf, beschweren sich über Lärm und Unruhe in der deutschen Klasse, finden zu gemeinsamem Klassenbewußtsein (vgl. 1981, 138f.).
In diesem Sinne betonen andere AutorInnen die Wichtigkeit gegenseitiger Hilfestellungen, und dieses, ohne daß festlegende Stereotypen entstehen etwa in der Art, "daß ausländische Arbeiterkinder von ihren deutschen Klassenkameraden alle lebensnotwendigen Kenntnisse, Fähigkeiten und Instrumentarien erwerben, die durch Schule vermittelt werden, und daß deutsche Kinder von ihren ausländischen Mitschülern Höflichkeit, Liebenswürdigkeit, südländisches Temperament, Achtung vor Respektspersonen, und was sonst noch am ausländischen Kind ... gelobt wird, lernen können" (POMMERIN 1977, 121).
Letztlich sind alle vorgestellten Orientierungen und Elemente keine spezifischen, sondern die jeden Unterrichts, der eine möglichst gute Entwicklung der SchülerInnen in allen Bereichen ermöglichen will, ohne einen Teil von ihnen zu über- und einen anderen Teil zu unterfordern. Die didaktische Grundlage der Interkulturellen Erziehung ist also durchaus keine spezielle, die von der allgemeinen schulpädagogischen abzugrenzen wäre.
Daß es jedoch nicht einfach nur um eine 'gute' Allgemeinpädagogik geht, zeigen z.B. die kritischen Äußerungen von GOGOLIN zur Praxis der Projektpädagogik, der sie vorwirft, "daß bis heute der Gesichtspunkt spezifischer Erfordernisse, die durch die multikulturelle Gesellschaft für die multikulturelle Schule entstehen, weitgehend unberücksichtigt blieb" (1988, 122f.). Prinzipien wie Kindgemäßheit und Erfahrungsorientierung müssen sich der interkulturellen Herausforderung entsprechend auch um die Situation von Kindern anderer Herkunft kümmern und ihre Situation in der Migration berücksichtigen.
Dies gilt natürlich zu allererst für den Bereich der Spracherziehung, in dem eine koordinierte zweisprachige Alphabetisierung mit dem Ziel einer bewußten Zweisprachigkeit favorisiert wird (NEHR U.A. 1988, 7f.) und Vorteile von Eigenfibeln herausgestellt werden (KOTTMANN-MENTZ 1984, 88f.). Im Vordergrund soll die kommunikative Funktion der Sprache stehen und nicht etwa der grammatikalisch richtige Sprachdrill mit seinen kontraproduktiven Folgen (RADTKE 1985, 476f., SCHMITT 1985b, 82, GRAF 1987, 300f., PUHAN-SCHULZ 1989, 5f.). Dafür sind projektartige Vorhaben, die sich z.B. an FREIRE und FREINET orientieren, gut geeignet (z.B. SCHMITT 1985a, KINKEL 1988, POMMERIN 1988d, PUHAN-SCHULZ 1989), aber auch Kommunikationsspiele am Schulanfang (NAEGELE & HAARMANN 1986) oder Vorhaben im Bereich des Darstellenden Spiels (MERLIN 1986).
Gleiches gilt auch für den Bereich des Sachunterrichts: Auch dort geht es darum, "allen Kindern der Klasse gemeinsame Erlebnisse, Erfahrungen, Kenntnisse durch Anschauung zu vermitteln. ... In aller Regel steht ein Ereignis, ein Vorhaben, eine Unternehmung mit realem Anlaß am Beginn oder am Ende der schulischen Arbeit" (RöBER-SIEKMEYER 1983, 42). Anregend erscheint auch der Ansatz einer "interkulturellen Heimatkunde" (BERGER & ZIMMERMANN 1989), der dazu ermuntert, "allen Kindern unterschiedliche Lebensformen 'vor Ort' sichtbar zu machen. (...) Daß verschiedene Lebensformen gleichzeitig und nebeneinander existieren, miteinander verflochten sind - das fällt leicht durch das Netz der Fächertrennung" (1989, 6). "Eine 'interkulturelle Heimatkunde' macht so die soziale Realität der Kinder in und außerhalb der Schule zum Thema" (1989, 7).
Interkulturelle Ansprüche erfordern auch für alle anderen Lernbereiche und Fächer zu Reflexion, z.B. über die Relativität üblicher Vorgehensweisen, heraus, so z.B. im Bereich Mathematik (LöRCHER 1985, 107, HOHMANN 1989, 17).
Leider liegen bisher nur wenig Untersuchungen über Prozesse und Effekte eines interkulturellen Unterrichts vor, der bewußt zur Zweisprachigkeit erziehen will. Bislang gibt es eher eine stillschweigende, quasi private Praxis und von der Basis her wachsende Erfahrungen, die in Erfahrungsberichten (z.B. KINKEL 1988) und in Zeitungsmeldungen (z.B. SCHMITT 1991) deutlich werden. Immerhin gibt es aber inzwischen eine Reihe von Materialien, die bisherige Erfahrungen von LehrerInnen aufnehmen und sich als orientierende und anregende Hilfen verstehen, so z.B. innerhalb des Fernstudiums Erziehungswissenschaft das Projekt "Ausländerkinder in der Schule", das auch auf das gemeinsame Lernen mit ausländischen und deutschen SchülerInnen eingeht (vgl. GONDOLF U.A. 1983) und als Fortbildungsmaterial gedacht ist.
Auf curricularer Ebene besteht Konsens darüber, daß die Inhalte zu 'internationalisieren' sind und ihre monokulturelle Ausrichtung verändert werden muß, auch wenn "es mit einer Bereinigung der Lehr- und Lernmittel von Ethnozentrismen nicht getan" ist (HOHMANN 1989, 17; vgl. hierzu Kap. 4.6.4). Immerhin ist es ein wichtiger Schritt, die Perspektive der Unterrichtsinhalte auf Interkulturalität hin zu öffnen. "Soll interkulturelle Erziehung nicht zu einem isolierten Unternehmen werden, so ist eine Neuorientierung des gesamten Curriculums mit einer Konzentration auf 'Schlüsselprobleme unserer individuellen und gesellschaftlichen Existenz' ... erforderlich" (AUERNHEIMER 1990, 223). AUERNHEIMERs Bezug auf KLAFKI muß mit der Kritik verbunden werden, daß in dessen "Konturen eines neuen Allgemeinbildungskonzepts" (KLAFKI 1985) wie auch in anderen Entwürfen zur Allgemeinbildung unausgesprochen eine "monokulturelle Perspektive" (GOGOLIN & NEUMANN 1988, 62) deutlich wird und internationalisiert werden müßte.
In diesem Sinne fordern BELKE U.A. einen "mehrkulturellen Unterricht", d.h. besonders "in den kultursensitiven Fächern Geschichte, Geographie, Religion, Sozialkunde jede Gelegenheit zu ergreifen, verschiedene Sichtweisen zu erarbeiten, auch dort, wo sie sich nicht harmonisieren lassen. Mehrkultureller Unterricht muß gerade im Aufzeigen solcher Konflikte bestehen, trotz derer Menschen zusammenleben müssen" (1986, 434). Einige plastische Beispiele mögen dies verdeutlichen. So fragen BELKE U.A. zum Geschichtsunterricht: "Könnte man die Belagerung Wiens durch die Türken 1529 auch anders sehen als eine Bedrohung des christlichen Abendlandes durch fanatische Heiden? Etwa als europäisches Machtvakuum mit zerbröckelndem ideologischen Überbau, das Kräfte von außen anzog? Bedeutete dies das Ende der gemeinsamen europäischen Tradition und Kultur, zumal Franz I. von Frankreich mit den Heiden paktierte?" (1986, 434) In Mathematik sollten in einer multinationalen Klasse neben den inländischen Maßen auch die Bezeichnungen in anderen Sprachen der Kinder der Klasse benutzt werden (vgl. REICH 1987, 32f.).
Daß dies nicht nur für stärker wissenschaftsorientierte Fächer in der Sekundarstufe gilt, machen BELKE U.A. am Beispiel des Sachunterrichts deutlich: Die Themen "Familie, Brotbacken, Wohnen, Kleidung, Wasser, Wetter, Feuerwehr, Berufe, aber auch Licht und Schatten (Tradition des Schattenspiels) usw." (1986, 435) können und sollen internationalisiert angegangen werden (vgl. hierzu auch die Aufstellung bei SCHREINER 1983, 25f.). Schon ein Haus zu zeichnen, bietet sich für die Verdeutlichung kultureller Heterogenität an (STEFFEN 1981, 56).
So kann als vorläufiges Fazit festgehalten werden, daß interkulturelle Erziehung nach den vorliegenden Erkenntnissen und Erfahrungen nicht einer speziellen Didaktik bedarf. In sie gehen keine anderen Elemente ein als in Vorstellungen der allgemeinen Didaktik. Erfahrungsberichte verweisen auf die schulreformerischen Prinzipien und Elemente der allgemeinen Pädagogik. Dennoch ist für bewußte Interkulturelle Erziehung eine besondere Qualität vonnöten, die Bedürfnisse und Hintergründe von Migrantenkindern berücksichtigt. So wird denn auch meist "darauf verwiesen, daß eine Verfeinerung und situative Anpassung der herkömmlichen Didaktik ausreicht, um den Ansprüchen der Adressaten der interkulturellen Erziehung gerecht zu werden" (HOHMANN 1989, 18). Die Gültigkeit dieser Aussage hängt allerdings "davon ab, wie spezifisch die allgemeine Didaktik auf die Ansprüche der Adressaten einzugehen vermag" (1989, 18).
Zum Themenbereich der Aus- und Fortbildung finden sich in der Literatur nur wenig Aussagen, zumal was konkrete Erkenntnisse und Erfahrungen betrifft.
Konsens besteht über die Notwendigkeit der Fortbildung für PädagogInnen angesichts einer Aufgabe, für die sie weithin nicht angemessen ausgebildet sind. Insbesondere eine dezentrale, praxisnahe Fortbildung wird gefordert, die neben fachlichen auch persönlichkeitsbezogene Anteile enthält, auf eigene Einstellungen und Werthaltungen eingeht (so z.B. GLUMPLER 1985, 408, GOGOLIN 1988, 201). Daß Angebote wie z.B. Supervision wichtig sind, macht GOGOLIN in der Auswertung von Modellversuchen klar, denn "der Versuch, in intensiven Lehrerfortbildungsmaßnahmen Veränderungen von Wahrnehmungen und impliziten Theorien durch die Vermittlung von Kenntnissen hervorzurufen, mißlang" (1988, 201).
Daß Fortbildungsangebote den großen Bedarf für eine angemessene(re) Unterrichtung ausländischer und deutscher Kinder nicht decken würden, war früh abzusehen. Schon die KMK hatte 1971 darauf hingewiesen, daß "die Lehrerausbildung (...) in Zukunft durch entsprechende Angebote die besonderen Aufgaben des Unterrichts für ausländische Schüler berücksichtigen" solle (zit. in SCHERON & SCHERON 1984c, 122). Auch die Forschungsgruppe ALFA (Ausbildung von Lehrern für Ausländerkinder) wies nach ihrer Gründung 1973 auf "die Unmöglichkeit der Bewältigung der schulischen Aufgaben zur Unterrichtung von Ausländerkindern allein durch Fortbildung" hin (SCHERON & SCHERON 1984c, 123) und forderte Studienangebote. Diese Forderung findet sich in vielen Publikationen, sowohl in bezug auf die grundständige Lehrerausbildung als auch in bezug auf spezielle Aufbaustudiengänge (z.B. PIROTH 1982, 84, GLUMPLER 1985, 408, TUMAT 1986c, 296). Dennoch kann nach SCHERON & SCHERON auch für den Beginn der 80er Jahre von einer generellen Institutionalisierung spezifischer Angebote nicht die Rede sein. Immerhin werden jedoch an vielen Universitäten und Pädagogischen Hochschulen spezifische Angebote eingerichtet, sei es als Aufbau-, Kontakt-, Zusatz-, Fern-, Ergänzungsstudium, Studienschwerpunkt, Wahlpflichtfach oder Diplomstudiengang (vgl. hierzu die Übersicht in SCHERON & SCHERON 1984c, 133-173).
Doch selbst die bestehenden Studienangebote finden nicht uneingeschränkte Zustimmung. AUERNHEIMER problematisiert die eingerichteten Studiengänge in dreifacher Hinsicht: "Erstens steht die Aufteilung der Studienganganteile (der sprachwissenschaftlichen, erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Anteile) auf verschiedene Fachbereiche und Fächer einer integrierten Sicht der Problematik im Wege. ... Zweitens entspricht das starke Gewicht der Sprachförderung in den Studienangeboten, so wichtig diese auch sein mag, noch immer dem kompensatorischen Ansatz in der Ausländerpädagogik. ... Da drittens Ausländer, und zwar gerade ausländische Fachkräfte aus Schule und Sozialarbeit, in der Regel nicht die formellen Zugangsvoraussetzungen für die Hochschulen mitbringen und die Behörden auch kein Entgegenkommen zeigen, ist ihre Beteiligung an den einschlägigen Studiengängen gering" (1990, 10).
Zur Frage der obligatorischen Einführung in Fragen der Interkulturellen Erziehung im Rahmen des grundständigen Pädagogikstudiums zieht AUERNHEIMER darüberhinaus ein eher ernüchterndes Fazit: "Die Ansätze zur geforderten Verankerung der interkulturellen Erziehung im normalen erziehungswissenschaftlichen Studienangebot für künftige Pädagogen sind bisher bescheiden geblieben" (1990, 12). So bleiben entsprechende alte Forderungen erschreckend aktuell.
Über die Bedarfe der Aus- und Fortbildung hinaus zeigt GOGOLIN weiteren Beratungsbedarf für interkulturell arbeitende PädagogInnen auf: "Das pädagogische Personal der multikulturellen Schule hat für den nötigen Perspektivenwechsel so viel zu lernen und zu leisten, daß es der Institutionalisierung von Instanzen pädagogischer Beratung und Begleitung bedarf, die dauerhaft Hilfe leisten und die pädagogischen Prozesse in den Schulen kontinuierlich unterstützen können" (1988, 201f.). Wie solche unterstützenden Systeme - zumal über Modellversuche hinaus - aussehen und funktionieren können, ist anhand der vorhandenen Literatur nur schwer abzulesen. Lediglich über die 1981 in sieben Städten des Ruhrgebietes eingerichteten Regionalen Arbeitsstellen zur Förderung ausländischer Kinder und Jugendlicher (RAA), die ab 1986 Regelangebot in 11 Städten sind, gibt es Informationen in der Literatur (vgl. HOHMANN 1989, 8, BARTNITZKY & SCHLOTMANN 1988, 50-57). Die Aktivitäten "umgreifen Schule, Familie, Freizeit und Beruf der jungen Ausländer und verbinden sie im Sinne von Community Education" (HOHMANN 1989, 8). Inzwischen wird das Arbeitsfeld so erweitert, daß es sich "vom Elementarbereich bis zur Weiterbildung mit ausländischen Familien" (BARTNITZKY & SCHLOTMANN 1988, 50) erstreckt. HOHMANNs Einschätzung zufolge wird dieser Versuch sehr gut angenommen, "vor allem auch die Herstellung und Verbreitung pädagogischer Medien sorgten für eine ungemein hohe Fruchtbarkeit des Versuchs" (1989, 8) - so wird dieser Versuch ausgeweitet und als Regelangebot trotz hoher Personalkosten weitergeführt.
Die Institution-Ebene ist jene Ebene, in der der Zusammenhang von Ausländerbildungspolitik und Ausländerpolitik am unmittelbarsten deutlich wird (vgl. Kap. 4). Wie weit institutionelle Bedingungen Interkulturelle Erziehung unterstützen oder hemmen bzw. wie weit sie die Forderung eines dialektischen Verhältnisses von kultureller Gleichheit und Verschiedenheit zulassen, ist Gegenstand dieses Abschnittes. Dabei sind drei Problemaspekte zu berücksichtigen.
Zunächst werden die gesetzlichen Festlegungen betrachtet, die den Rahmen für die Beschulung ausländischer Kinder bilden: auf Bundesebene die (nicht verbindlichen) Beschlüsse der Kultusministerkonferenz sowie auf Länderebene die (verbindlichen) administrativen Richtlinien und Hinweise der Kultusministerien (Kap. 4.5.1). Weiter geht es um jene Rahmenbedingungen, mit denen in interkulturellen Schulversuchen Erfahrungen gemacht worden sind. Wegen deren begrenzter Zahl werden auch entsprechende Forderungen für interkulturelle Versuche berücksichtigt (Kap. 4.5.2). Einen speziellen Problemaspekt bildet die Frage einer Diagnostik für ausländische SchülerInnen. Auch hier gilt es, die Einlösung eines dialektischen Verständnisses von Gleichheit und Verschiedenheit zu prüfen.
Wie die deutschen Kinder unterliegen auch Kinder aus anderen Kulturen ab dem sechsten Lebensjahr bzw. ab dem Zeitpunkt ihrer Einreise nach Deutschland der Schulpflicht (BOOS-NüNNING 1981a, 27). Eine Ausnahme machen deutsche Behörden bei Kindern von AsylbewerberInnen: "Lediglich die Bundesländer Bayern, Hessen und Niedersachsen bejahen die Schulpflicht für diese Kinder, d.h. sie sehen sich ihrerseits verpflichtet, schulische Angebote bereitzustellen. ... Hamburg, Baden-Württemberg und Berlin räumen immerhin eine schulische Betreuung auf Wunsch oder Antrag der Erziehungsberechtigten ein" (AUERNHEIMER 1990, 54).
Grundlage der Beschulung ausländischer Kinder sind die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz (KMK), auf die sich die Richtlinien und Erlässe der Kultusministerien in den Bundesländern stützen, wenngleich die KMK-Empfehlungen nicht verbindlichen Charakter haben und weite Interpretationsräume bieten (BOOS-NüNNING 1981a, 27). Die Empfehlungen der KMK schreiben in der Regel den am wenigsten einschränkenden Kompromiß fest, der von allen - mit der Kulturhoheit ausgestatteten - Bundesländern mitgetragen werden kann. Diese Empfehlungen sind gleichzeitig auch das Abbild der Interessenlage in der Ausländerpolitik und spiegeln auch deren Veränderungen wieder. Dabei sind im Rückblick eher die Interessen der Mehrheit als die der Minderheiten maßgeblich (vgl. BOOS-NüNNING & HENSCHEID 1987, 277).
BOOS-NüNNING & HENSCHEID (1987) zeigen diese ausländerpolitischen Veränderungen und zunehmende Erfahrungen mit der Realisierung in deren Rahmen in ihrem Rückblick auf die Geschichte der KMK-Empfehlungen auf (vgl. BOOS-NüNNING 1981a, tabellarische Übersichten bei JACOBS 1982 und Kap. 4.1.1):
Der erste Beschluß der KMK von 1964 legt die Schulpflicht fest und enthält schon die später deutlicher werdende Doppelstrategie: "Der Eintritt in die deutsche Schule ... sollte durch 'geeignete Maßnahmen' ... ermöglicht und erleichtert werden; der Förderung in ihrer Muttersprache wurde 'eine besondere Bedeutung zugemessen'" (BOOS-NüNNING & HENSCHEID 1987, 278).
Die Mißstände in vielen Vorbereitungsklassen und eine verstärkte 'Ausländerdiskussion' führen zum KMK-Beschluß von 1971: Danach sollen ausländische Kinder "ohne erhebliche Sprachschwierigkeiten" gleich, sonst nach in der Regel einjährigem Besuch einer Vorbereitungsklasse "in die ihrem Alter oder ihren Leistungen entsprechende Regelklasse eingeschult werden" (1987, 278) Die Teilnahme am Muttersprachlichen Unterricht wird zur Kann-Bestimmung, wobei den Ländern überlassen bleibt, ob sie selbst die Verantwortung dafür übernehmen oder sie den Konsulaten überlassen wollen. "Das Schwergewicht der 71er Empfehlungen lag deutlich auf dem Pol 'Integration'. Damit standen sie durchaus im Widerspruch zur damaligen Ausländerpolitik, die noch von einer 'naturwüchsigen' Rotation ausging" (1987, 278).
Die Entwicklung mit dem starken Ansteigen ausländischer Kinder in der deutschen Schule führt "unter der Prämisse einer 'beschränkten Belastbarkeit' der deutschen Klasse zu segregativen Maßnahmen" (1987, 279). Mehrer Bundesländer (Baden-Württemberg, Bayern, Berlin) schaffen separierte Organisationsformen, die mit der KMK-Empfehlung 1976 legalisiert werden. Dort wird - zeitgleich mit dem allgemeinen Anwerbestop - die Doppelstrategie mit den beiden Perspektiven, der Integration in das Aufnahmeland und der Reintegration in das Heimatland, als offizielle Doktrin verkündet, die dem Sinne nach bis heute gilt. Für BOOS-NüNNING & HENSCHEID liegt die Bedeutung dieser Empfehlung "in der faktischen Rücknahme des Integrationskonzeptes. Daß an seine Stelle nun gleichrangig die Ziele 'Integration' und 'Offenhalten der Möglichkeit zur Reintegration' getreten sind, steht zwar in der Präambel ..., die vorgeschlagenen Maßnahmen entsprechen jedoch beiden Zielvorstellungen nicht" (1987, 280). Dieses begründen sie damit, daß dem Ziel der Integration gleich drei vorgeschlagene segregative Beschulungsformen (nationale Ersatzschulen, besondere Klassen, zweisprachige Klassen) zuwiderlaufen und dem Ziel der Reintegration im Bereich des Muttersprachlichen Unterrichts klare Bemühungen hätten folgen müssen, was nicht der Fall ist.
Deutlich wird anhand dieses Rückblicks auf die staatliche Ausländerbildungspolitik zweierlei: Zum einen zeigt er, daß - zunächst noch verdeckt, später dann als offizielle Richtschnur - die Doppelstrategie "Integration und Reintegration" ihre Grundlage bildet (vgl. Kap. 4.1.1). Diese Doppelstrategie ist nicht nur gescheitert, wie übereinstimmend festgestellt wird (GRIESE 1985, 299, KULA 1986, 247, BOOS-NüNNING & HENSCHEID 1987). Sie greift auch zu kurz, weil für die schulische Situation nicht allein die Zukunftsorientierung bedeutsam ist, sondern auch die Gegenwart selbst: So stehen "auf der einen Seite (...) die Befürworter der 'Integration ausländischer Kinder in den deutschen Regelklassen', auf der anderen die Befürworter einer 'auf der Muttersprache basierenden schulischen Erziehung'" (KALPAKA 1986, 48). Stattdessen müsse es um "die Möglichkeit (gehen,) selbstbewußt aufzuwachsen, sich in seiner Persönlichkeit zu entwikeln und zu entfalten und als vollkommener und gleichberechtigter Mensch leben zu können - unabhängig davon, ob es nun in der Bundesrepublik Deutschland bleibt, oder in die Heimat zurückkehrt, oder auch in einem dritten Land leben soll" (1986, 48).
Zum zweiten zeigt sich in diesem Rückblick ein administratives Hin- und Herpendeln zwischen verschiedenen Bewältigungsstrategien von Heterogenität, bei dem einmal der Akzent mehr auf 'Integrationsorientierung' (= Anpassungsstrategie), das andere Mal mehr auf 'Reintegrationsorientierung' (= Separierungsstrategie) gelegt wird. Im Sinne der in Kap. 4.1.1 beschriebenen Bearbeitungsstrategien zeigt sich, daß nach einer stillschweigenden Separierungsstrategie der Rotation 1971 das Pendel zur Anpassungsstrategie der 'Integration' in ihrer ausblendenden Variante ausschlägt, während es 1976 aufgrund der offensichtlichen Erfolgslosigkeit von der ausblendenden Variante der Anpassungsstrategie zu deren positiv diskriminierender Variante wechselt. Es bleibt jedoch durchweg bei einer homogenisierenden Bewältigungsstrategie; ein interkultureller Ansatz läßt sich in der regierungsamtlichen Rahmensetzung - und dies bis heute - nicht finden.
Was die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz auf einem kleinsten gemeinsamen Nenner als Rahmen festlegen, formt sich - nach spezifischen Interessen und Werthaltungen - in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich aus. In der Literatur werden meist zwei Bundesländer betrachtet, die Extremvarianten innerhalb des Spektrums der Konkretisierung deutlich machen: Bayern und Berlin (vgl. BOOS-NüNNING 1981a, 1981b, 1982b, BOOS-NüNNING & HENSCHEID 1987).
Bayern hat seine Priorität auf das Offenhalten der Zukunft ausländischer Kinder gesetzt und daraus folgernd ein Primat Muttersprachlicher Angebote aufgebaut (BOOS-NüNNING 1981a, 30, 1981c, 73, 1982b, 120). Dabei wird argumentiert, "daß erst, wenn sich die Schüler Lerninhalte über die Muttersprache angeeignet haben und außerdem die Zweitsprache Deutsch im begleitenden systematischen Unterricht verfügbar gemacht worden sei, ein Übertritt von ausländischen Kindern in Klassen mit deutscher Sprache sinnvoll sei" (1981a, 30). Bei ungenügenden deutschen Sprachkenntnissen werden die SchülerInnen in Muttersprachliche Klassen oder Klassen mit muttersprachlichem und deutschem Unterricht aufgenommen. Dort werden sie nach eigenen Lehrplänen, die die Schuljahre 1 - 9 umfassen, unterrichtet, Deutsch als Unterrichtssprache beginnt ab der 5. Klasse.
Als wesentliches Merkmal des Bayerischen Modells sieht BOOS-NüNNING die zweisprachigen Klassen, in denen ausländische LehrerInnen nach gesonderten Lehrplänen unterrichten und in denen ausländische Kinder ihre neunjährige Schulzeit in einer national homogenen Klasse absolvieren können (1982b, 120) - die also "ihrem Inhalt nach als Nationalklassen bezeichnet werden können" (1981a, 31). Auch GRIESE kritisiert "das sog. 'Bayerische Modell' mit seiner stark an Rückkehr orientierten Betonung des muttersprachlichen Unterrichts, die an der gegenwärtigen und wohl auch zukünftigen Lebens- und Arbeitssituation der Kinder und Jugendlichen vorbeigeht" (1985, 301). KULA zufolge können "Bilingualität und Bikulturalität ... nicht durch Auseinanderdividierung von deutschen und Migrantenkindern erreicht werden. ... Das Bayrische Modell dient zur Konservierung ethnischer Traditionen und schränkt somit die Möglichkeiten der wechselseitigen Einflußnahme von beteiligten Kulturen ein, da es im wesentlichen auf die Vermittlung einer monokognitiven Denkerfahrung ausgerichtet ist" (1986, 251). Somit kann der Bayerische Weg der Beschulung ausländischer Kinder als im wesentlichen durch das Primat einer Separierungsstrategie geprägt angesehen werden; gleiches gilt auch für Baden-Württemberg (BATSALIAS-KONTéS 1987, 4).
Berlin verfolgt mit seinen administrativen Bestimmungen als anderen Weg ein 'Integrationsmodell' (BOOS-NüNNING 1981a, 32) und hat sich auf die "Priorität der deutschen Sprache" (1981c, 76) festgelegt. Politische Vorgabe ist, "daß es eine Segregation von Schülern unter Gesichtspunkten der Nationalität nicht geben soll" (STEINMüLLER 1989, 138). Dementsprechend sollen ausländische SchülerInnen möglichst schnell in deutsche Regelklassen eingegliedert werden. Sofern sie nicht ohne Hilfen dem deutschsprachigen Unterricht in der Regelklasse folgen können, bekommen sie entweder fünf bis zehn Förderstunden. Andernfalls werden sie in Vorbereitungsklassen zusammengefaßt, die durch intensives Deutschlernen einen möglichst schnellen Übergang in deutsche Regelklassen ermöglichen sollen. Muttersprachlicher Unterricht wird in die Zuständigkeit und unter Aufsicht der Konsulate gegeben, die diesen bis zu fünf Stunden wöchentlich an zwei Nachmittagen anbieten (BOOS-NüNNING 1981a, 33). Widersprüchlich, wohl der 'begrenzten Belastbarkeit' geschuldet, wie politischerseits argumentiert wird, erscheint dagegen die Regelung, daß ab einem bestimmten Prozentsatz ausländischer SchülerInnen entweder diese auf umliegende Schulen verteilt werden sollen oder, wenn dies nicht zumutbar erscheint, besondere Klassen ("Ausländer-Regelklassen"; vgl. STEINMüLLER 1989, 139) für sie einzurichten sind, die aber in deutscher Sprache und nach deutschen Lehrplänen unterrichtet werden (BOOS-NüNNING 1981a, 33).
Auch dieser integrationsorientierte Kurs wird wegen seiner problematischen Entwicklungen kritisch kommentiert: "Es gab aber nicht nur die forcierte Überleitung in Regelklassen, die dann, wenn sie die Kinder unvorbereitet mit nicht zu bewältigenden Anforderungen konfrontiert, dem Integrationskonzept geradezu widerspricht, es wurde auch eine Vielzahl von inner- und außerschulischen begleitenden Maßnahmen in die Wege geleitet. Entsprechend dem Verständnis von Integration als Anpassung an 'unsere' Gesellschaft und der Einschätzung der ausländischen Kinder und ihrer Eltern als defizitär in nahezu jeder Hinsicht, handelt es sich dabei um im weitesten Sinne kompensatorische Programme" (BOOS-NüNNING & HENSCHEID 1987, 281f.). Auch GRIESE kritisiert "das sog. 'Berliner Modell', das auch von großen Teilen der Gewerkschaften und Kirchen vertreten wird und ganz auf die 'Karte der Integration' setzt - jedoch mehr im Sinne von Assimilation, von Ein- oder Unterordnung, wodurch die Betroffenen 'deutsch werden ohne Deutsche zu sein'" (1985, 301; vgl. Kap. 4.1.2). KULA merkt zum Berliner Modell an, daß "die Multikulturalität nur in ihren Problemstellungen wahrgenommen" wird; "die Chancen, die aus ihr für eine Erziehungspraxis erwachsen, werden nicht zur Kenntnis genommen" (1986, 254). Struktur der Unterrichtsangebote und Kritik machen deutlich, daß das Berliner Modell auf eine Strategie möglichst schneller Anpassung an deutschsprachigen Unterricht setzt; Bezüge zur Erstsprache und bisherigen Kultur werden auf den Status einer privaten Nachmittagsbeschäftigung reduziert und damit abgewertet.
Wie in Berlin, so wird auch in Hamburg ein "strenges Integrationskonzept" verfolgt (NEUMANN 1986, 65). Nach den "Richtlinien und Hinweise für die Erziehung und den Unterricht ausländischer Kinder und Jugendlicher in Hamburger Schulen" (BSB 1986) gilt in Hamburg "das Ziel, ausländischen Kindern und Jugendlichen so schnell wie möglich dieselben Bildungschancen einzuräumen, die Deutschen offenstehen und sie in das deutsche Schulsystem und die Gesellschaft zu integrieren. Gleichzeitig soll aber auch erreicht werden, daß ausländische Kinder und Jugendliche ihre nationale und kulturelle Identität bewahren und entfalten können" (1986, 1). Die Priorität liegt also auf der schnellstmöglichen 'Integration'. Gemäß diesem Ziel sieht die BSB eine Vielzahl vor von "Fördermaßnahmen für ausländische Kinder und Jugendliche in Hamburger Schulen, die keine oder sehr geringe Deutschkenntnisse haben" (1986, 1; vgl. BSB 1986). Neben vielen 'integrationsfördernden' sind lediglich zwei Maßnahmen vorgesehen, "die prinzipiell einem interkulturellen Bildungskonzept zuzurechnen sind" (NEUMANN 1986, 65): die Erteilung von islamischem Religionsunterricht in Verbindung mit Muttersprachlichem Unterricht und die Möglichkeit für ausländische - in der Praxis jedoch nur für türkische - SchülerInnen, in der 5. Klasse statt Englisch Türkisch zu wählen (vgl. BSB 1986, 28-32). Sie gehören zu jenen von der Behörde vorgesehenen "Maßnahmen zur Wahrung der sprachlichen und kulturellen Identität" (1986, 32), durch die "zugleich bei deutschen Kindern und Jugendlichen mehr Verständnis für die Eigenarten und die Mentalität ihrer ausländischen Mitschüler" (BSB 1986, 1) geweckt werden sollen. Daß "dadurch ... die Voraussetzungen für interkulturellen Unterricht und gegenseitige Toleranz geschaffen" (1986, 1) werden, erscheint allerdings fraglich: Wichtige Voraussetzungen für interkulturellen Unterricht scheinen weniger spezielle - und damit immer zugleich stigmatisierende - Fördermaßnahmen zu sein als vielmehr u.a. die Wahrnehmung und Akzeptanz der gegebenen multikulturellen Situation, die Kenntnisnahme entsprechender Forschungsergebnisse und eine ausreichende materielle Versorgung, und an beidem scheint es, wie die heftige Kritik von Wissenschaftlerinnen zeigt, zu mangeln (vgl. NEUMANN 1986, GOGOLIN 1989). Als deutlichstes Zeichen für beide Kritikpunkte wird die - wie in Berlin praktizierte - Verweisung des Muttersprachlichen Unterrichts in die Zuständigkeit der Konsulate angeführt, indem statt geschätzter erforderlicher 8 - 9 Mill. DM ein Zuschuß an die Konsulate von 500.000 DM gezahlt werde und so die Erstsprachen abgewertet würden (GOGOLIN 1989).
Geradezu verräterisch im Sinne einer assimilativen Fördermaßnahmenpädagogik (vgl. Kap. 4.2.3 sowie RADTKE 1985 und CZOCK & RADTKE 1986) und einer germanozentristischer Betrachtung (vgl. Kap. 4.6.4) erscheint schon die Bezeichnung der für die schulische Eingliederung ausländischer Kinder und Jugendlicher zuständige Stelle der Hamburger Schulbehörde als Abteilung "Sondermaßnahmen für Schüler aus dem Ausland" (BL-INFO 1991, 3) und die dementsprechende Bezeichnung der Eingliederungsmaßnahmen als "Sondermaßnahmen", die in "Sonderklassen" (BL-INFO 1991) durchgeführt werden; hier wird auch begrifflich-institutionell ein problematisches 'sonderpädagogisches' Verständnis der interkulturellen Aufgabe im Sinne kompensatorischer Maßnahmen überdeutlich.
So kann auch Hamburg als ein Bundesland angesehen werden, das mit seinen Maßnahmen für ausländische SchülerInnen im wesentlichen eine assimilative 'Integrationsstrategie' verfolgt, auch wenn in den Richtlinien interkulturelle Gedanken im Sinne des gegenseitigen Verständnisses proklamiert werden.
Als gemeinsames Fazit für die durch die Kulturhoheit der Bundesländer entstandene Vielfalt unterschiedlicher Modelle der Beschulung ausländischer SchülerInnen kann gelten:
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Gemeinsam ist allen Regelungen, daß ein gestuftes System mit unterschiedlichen Klassen und Maßnahmen vorgehalten wird.
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In das gestufte System wird das jeweilige Kind seinen Fähigkeiten entsprechend - und in möglichst homogener Gruppierung - eingeordnet.
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Entscheidendes Kriterium ist dabei die Fähigkeit der SchülerInnen, wie weit sie sprachlich einem deutschsprachigen Unterricht folgen können.
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Der Muttersprachliche Unterricht ist ein "absolutes Stiefkind" (MEYER-INGWERSEN 1981, 49) des deutschen Schulsystems; entweder wird er in die Zuständigkeit der Konsulate abgeschoben oder er läuft unkoordiniert mit dem sonstigen Unterricht als "fünftes Rad am Wagen" (1981, 49) mit. Lediglich in Bayern und Baden-Württemberg wird auf Muttersprachlichen Unterricht Wert gelegt - wenn auch weniger aus persönlichkeitsbezogenen, sondern eher aus ausländerpolitischen Gründen.
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Trotz unterschiedlicher Akzente fällt überall der Effekt auf, daß die deutsche Schule von ausländischen SchülerInnen und ihren Problemen entlastet wird, und dies mit der Legitimation einer besonderen Förderung dieser SchülerInnen: "Muttersprachliche Klassen ..., Vorbereitungsklassen in Langform ... und besondere Klassen machen es möglich, die deutschen Klassen von den ausländischen Kindern zu entlasten, indem sie die Schüler in Ballungsräumen während der gesamten Pflichtschulzeit in eigenen Klassen separieren" (BOOS-NüNNING 1982b, 122) - und solche Klassen werden als "behördlich organisierte Abstellgleise für ausländische Kinder" (AKPINAR 1979, 110) und "die deutlichste Form von 'Apartheid' in der Schule" (KALPAKA 1986, 54) scharf attackiert.
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Schließlich ist für die administrativen Regelungen festzustellen: "Sie veränderten nichts an der Benachteiligung dieser Gruppe" (BOOS-NüNNING & HENSCHEID 1987, 281).
Damit zeichnen sich die administrativ gesetzten Bedingungen für die Beschulung ausländischer Kinder und Jugendlicher nicht gerade dadurch aus, daß sie zu interkulturellen Momenten im Sinne eines Miteinander des Verschiedenen beitragen und sie unterstützen. Im Gegenteil ist ihre Logik zum einen die einer möglichst homogenen Gruppenbildung und zum zweiten die einer Entlastung der deutschen Schule von ausländischen Kindern und Jugendlichen - zumal dort, wo Kinder von MigrantInnen einen hohen Prozentsatz der Schülerschaft bilden.
Angesichts der in Kap. 4.5.1 dargestellten institutionellen Situation ist zu fragen, unter welchen Bedingungen (die wenigen) interkulturelle Schulversuche begonnen haben bzw. welche Rahmenbedingungen für derartige Versuche gefordert werden.
Bei der Beschreibung von Praxiserfahrungen wird immer wieder auf die Versuche in Krefeld (DICKOPP 1982, BEERMANN 1987) und in Mainz (PIROTH 1982) hingewiesen. Ergänzend können die Berichte über einen Versuch in Hannover herangezogen werden (GRONEMEYER U.A. 1981, GRIESE 1985).
Der Krefelder Modellversuch basiert auf einer städtischen Entscheidung "für eine gemäßigte bikulturelle Integration" (DICKOPP 1982, 64). Seine Grundstruktur wird durch die Zielbegriffe "Chancengleichheit, Integration und Identität" beschrieben, sie "halten gleichzeitig die ... Strukturelemente des Krefelder Modells zusammen" (BEERMANN 1987, 298). Dieser Struktur entspricht das Primat des gemeinsamen Unterrichts, dem zufolge "in allen Jahrgangsstufen deutsche und ausländische Schüler integriert unterrichtet werden" (1987, 299). Gleichwohl besteht ein "pädagogisches und didaktisches Spannungsverhältnis" (1987, 300), denn "auch unter der Voraussetzung, daß für die ausländischen Schüler die Teilnahme am Unterricht der Regelklasse eine wichtige Bedingung für erfolgreiches Lernen darstellt, ist vor allem aufgrund ihres sprachlichen Entwicklungs- und Leistungsstandes eine weitere spezifische Förderung notwendig" (1987, 300f.).
Im Krefelder Modell wird dementsprechend eine Kombination aus innerer und äußerer Differenzierung praktiziert: "Innere Differenzierung heißt hier der gemeinsame Unterricht von deutschen und ausländischen Schülern in den integrierten Stammklassen; äußere Differenzierung bedeutet nationalitäten-orientierte Aufteilung von Stammklassen zu Lerngruppen in einzelnen Fächern bzw. Lernbereichen, z.B. in den Sprachen, in Religion und Sachkunde" (1987, 75f.).
Die Krefelder Stammklassen bestehen aus ca. 28, davon bis zu 1/3 ausländische SchülerInnen, die - bei drei Parallelklassen - in einer nationalitätenorientierten Lerngruppe mit ca. 20 SchülerInnen zusammengefaßt werden können. Die Stundenanteile des Unterrichts in der gemischten Stammgruppe und in den nationalitätenhomogenen Lerngruppen verändern sich im Lauf der Grundschulzeit: Der Anteil des Integrationsunterrichtes in der gemischten Gruppierung steigt von 10 auf 22 Wochenstunden an, während der getrennte Unterrichts in nationalitätenorientierten, homogeneren Lerngruppen von 13 auf 8 Wochenstunden abnimmt. In der gemischten Gruppe wird im 1. Schuljahr Mathematik, Kunst, Musik, Sport und z.T. Sachkunde, im 2. Schuljahr zusätzlich größere Anteile des Sachunterrichts und im 4. Schuljahr dazu Deutsch unterrichtet. In der nationalitätenspezifischen Gruppe, zu der aus drei Parallelklassen die ausländischen Kinder zusammengefaßt werden, wird die jeweilige Muttersprache, ein Teil des Sachunterrichts "als nationale Sachkunde" (DIKOPP 1982, 77) und Religion, bis zur Klasse 4 auch Deutsch als Fremdsprache bzw. Zweitsprache unterrichtet (1982, 77). In der - dann rein deutschen - Gruppe wird ebenfalls Sprache, teils Sachkunde und Religion erteilt. So kann durchgängig in der Grundschule - und auch in der Sekundarstufe I - muttersprachlicher Unterricht in nationalitätenorientierten Lerngruppen erteilt werden, wenn auch zusätzlich zur normalen Stundentafel (BEERMANN 1987, 302). Diese Zusatzbelastung für ausländische SchülerInnen erscheint BEERMANN jedoch vertretbar, es stellt sich als Alternative die "Frage, ob der einzelne Schüler mit den Problemen seiner Zweisprachigkeit ohne Hilfe allein bleiben soll oder ob er sie mit Hilfe durch Schule und Unterricht lösen, ja sogar produktiv umsetzen kann" (1987, 303).
Schulorganisatorisch wird das Anliegen des nationalitätenbezogenen muttersprachlichen Unterrichts durch die Konzentration der Schüler mit jeweils einer Muttersprache an einer Schule gelöst. Dadurch wird es jedoch "in begrenztem Umfang notwendig, ausländische Schüler gezielt zu verteilen und insbesondere die Schulen in den starken Ausländerwohnbereichen zu entlasten" (1987, 303). Ein solches Bussingsystem kann jedoch noch nicht per se dazu führen, den interkulturellen Anspruch des Versuchs zu verneinen. Unklar bleibt allerdings, wie mit kulturellen und sprachlichen Minderheiten aus den entsprechenden Ländern verfahren wird, etwa mit KurdInnen und MazedonierInnen.
AUERNHEIMER hält am Krefelder Versuch "die Einsicht in die Bedeutung der Muttersprache der Migrantenkinder ungeachtet der ansonsten integrativen Zielsetzung" (1990, 227) und "die Bedeutung des kommunalen Umfeldes" (1990, 228), also die Einbindung der schulischen Aktivitäten in außerschulische Strukturen, für besonders hervortretend.
Der Mainzer Modellversuch arbeit ebenfalls nach dem Prinzip einer Kombination von innerer und äußerer Differenzierung bzw. von heterogenen Stammgruppen und sprachenhomogeneren Lerngruppen sowie mit Stammschulen für einzelne kulturelle Minderheiten (vgl. PIROTH 1982, 21). Im Unterschied zum Krefelder Modell soll der vollständige "Übergang der ausländischen Schüler in die 'deutsche' Bezugsklasse (...) sich nach ihrem Sprachstand richten" (AUERNHEIMER 1990, 229). Es wird hier also nicht auf schrittweise Annäherung von Gruppen, sondern auf schrittweise Überführung einzelner Kinder gesetzt, gepaart allerdings mit einem problematischen Integrationsverständnis, dessen Anforderungen einseitig auf die SchülerInnen gerichtet werden (vgl. PIROTH 1982, 17 sowie Kap. 4.1.2). Durch die enge inhaltliche Verknüpfung des Unterrichts in den homogenisierten Gruppen sollen jeweils auch kulturelle Anteile bearbeitet werden. "Wichtig ist dabei der Gedanke, daß mit den ausländischen Schülern quasi Experten zur Verfügung stehen, die im Unterricht herangezogen werden können, was deren Bewußtsein stärken soll" (AUERNHEIMER 1990, 230).
Das Modell der Egestorff-Schule in Hannover-Linden (GRONEMEIER, HORSTMANN & WOTH 1981, GRIESE 1985), eine typische "Schule mit hohem Ausländeranteil in städtischen Ballungsgebieten" (GRONEMEIER U.A. 1981, 137), kann als Beispiel einer vom Kollegium getragenen Konzeptentwicklung aufgrund der vorhandenen Probleme (Schwierigkeiten beim Übergang von Sonderformen in Regelklassen etc.; letztliches Versagen von Maßnahmenkatalogen; vgl. 1981, 138) gelten. Hier wird versucht, in eine Klasse nur Kinder zweier Nationalitäten aufzunehmen, d.h. eine ausländische und die deutsche Nationalität (GRIESE 1985, 302). Während dies bei deutsch-türkischen und spanisch-deutschen Klassen gelingt, werden italienische, griechische und jugoslawische Kinder in gemischten Klassen unterrichtet oder anderen binationalen Klassen zugeordnet (GRONEMEIER U.A. 1981, 139).
Aufgrund der bisherigen "Negativbilanz" (GRONEMEIER U.A. 1981, 139) wird für die 1. Klasse ein Integrationsunterricht in der Regelklasse ohne eine auf die Integration vorbereitende "vorgeschaltete Isolation" (1981, 139) für ausländische Kinder beschlossen. Erteilt wird er von zwei Lehrkräften (einer deutschen und einer ausländischen), die als gleichberechtigtes Team mit gemeinsamer Planung etc. in etwa fünf Wochenstunden im Parallelunterricht arbeiten. Dies kann im Klassenverband zu zweit oder in zwei Gruppen geschehen. Als Anschlußmodell wurde eine integrale Unterrichtsorganisation im 2. bis 4. Schuljahr entwickelt, in der der Muttersprachliche Unterricht zeitlich und inhaltlich in den vormittäglichen Regelunterricht integriert wird (zwei Wochenstunden im Sach-, eine im Deutsch- und eine im Religionsunterricht; 1981, 142). Die enge Kooperation und Koordination der beiden Lehrkräfte für die beiden Nationalitäten ist auch hier gleichzeitig Voraussetzung und Quelle von Problemen (vgl. Kap. 4.4.1).
Diese praktisch erprobten Rahmenbedingungen für interkulturelle Erziehung weisen eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf, die auch in der Literatur für offizielle Schulversuche mit Interkultureller Erziehung immer wieder gefordert werden:
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das Primat des gemeinsamen Unterrichts vom Schulbeginn an, ohne die Einrichtung von Vorbereitungsklassen (z.B. GRIESE 1985, 304, BELKE U.A. 1986, 425)
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eine Kombination von innerer und äußerer Differenzierung und deren flexibler Einsatz (z.B. GLUMPLER 1985, 404, PRENGEL 1989a, 103),
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das Bekenntnis zum Auftrag der Schule zur Zweisprachigkeit und zum Recht auf Muttersprachlichen Unterricht sowie dessen inhaltliche und zeitliche Einbeziehung in den allgemeinen Unterrichtsvormittag (z.B. BOOS-NüNNING, HOHMANN, REICH & WITTEK 1983, 352, BELKE U.A. 1986, 426, BATSALIAS-KONTéS 1987, 6, GOGOLIN 1987, 28f., 1988, 98-105, 1989, 30, NIEKE 1991, 19; vgl. Kap. 4.2.4); die Verbindung von Elementen der interkulturellen und bilingualen Erziehung (z.B. POMMERIN 1988c, 22, AUERNHEIMER 1990, 230),
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die Öffnung der Schule nach innen und außen zum Stadtteil sowie schulbegleitende Zusammenarbeit mit Eltern (z.B. TREPPTE 1987, BEERMANN 1987, 293; vgl. kritisch AUERNHEIMER 1990, 233, der bei dieser Forderung vor euphorischen Erwartungen warnt).
BELKE U.A. schließen ihre schulorganisatorischen Vorschläge ab mit der Empfehlung, es sei "wünschenswert, daß ein solcher Versuch mit gemischten Klassen und Muttersprachstunden bei lokalen Entscheidungsspielräumen anstelle oder neben den bisher laufenden Modellversuchen in den Bundesländern eingerichtet und angemessen wissenschaftlich begleitet wird" (1986, 427). Derartige Rahmenbedingungen gibt es wohl mittlerweile lediglich in einem Schulversuch in Bayern, von dessen positivem Verlauf SCHMITT (1991) in einem kurzen Zeitungsartikel berichtet. Unterrichtsorganisatorisch scheint jedoch nicht geklärt zu sein, ob erstsprachlicher Unterricht zeitlich additiv zu gestalten sei - dabei wird eine Überforderung der betreffenden Kinder befürchtet - oder ob er substitutiv, also ersetzend erteilt werden soll. Dann würden nicht nur die in dieser Zeit vermittelten Inhalte als für Migrantenkinder unwichtiger diffamiert, sondern diese selbst auch segregiert (vgl. NIEKE 1991, 20).
Ergänzend sollen zwei Punkte zur Sprache kommen, die unmittelbare Auswirkungen auf personelle - und damit auch finanzielle - Planungen haben: Zum einen die bereits in Kap. 4.4.1 betonte Notwendigkeit der Kooperation von ausländischen und deutschen LehrerInnen, und zum anderen die Notwendigkeit unterstützender sozialpädagogischer Dienste.
Die Kooperation von deutschen und ausländischen PädagogInnen als Team macht zunächst einmal die verstärkte Einstellung von ausländischen LehrerInnen notwendig. Deren Bedeutung belegt z.B. die Hamburger Schulbehörde, wenn sie eine Kombination aus LehrerInnentätigkeit und Tätigkeit als Schul-SozialbetreuerInnen für sinnvoll hält: "Sie sollen dann neben ihrer Lehrtätigkeit
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eine Verbindung zwischen der deutschen Schule und den Eltern der Ausländerkinder herstellen,
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die ausländischen Eltern mit der Struktur, den Aufgaben, Erziehungszielen, Lehrplänen und Einrichtungen der deutschen Schule vertraut machen,
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den deutschen Lehrkräften behilflich sein, den kulturellen Hintergrund und das Erziehungsverhalten der ausländischen Eltern zu verstehen (...).
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Kontakt zur Schülerhilfe pflegen" (BSB 1986, 35).
Wie weit allerdings ein solcher Rahmen von Tätigkeiten realistisch zu bewältigen ist, muß dahingestellt bleiben.
Die große Bedeutung ausländischer LehrerInnen hebt auch ZIMMER hervor: "Sie bilden die Brückenschläge, bringen die Kompetenz ein, Elemente aus der Überlieferung ihres Landes, Entwicklung ihres gesellschaftlichen Lebens nicht nur türkischen, sondern auch deutschen Kindern zu übermitteln" (1987, 240). Die Tatsache, daß sie häufig fachlich schlechter ausgebildet sind als deutsche KollegInnen - dieses wird von der Hamburger Behörde als Problem gesehen und es wird auf die Notwendigkeit einer fachlichen Qualifikation hingewiesen (BSB 1986, 35) - , wird für ZIMMER mehr als kompensiert durch die vielen realen gesellschaftlichen Erfahrungen, die sie vielen deutschen PädagogInnen voraus haben, "die aus dem Marsch durch die pädagogischen Institutionen nie ausbrechen konnten" (1987, 240). Ausländische LehrerInnen "können vielfach Qualifikationen anbieten, die man sonst eher im Stellenmarkt einer Regionalzeitung wiederentdeken würde. Sie können alles, was Kinder und Jugendliche gern tun wollen, wenn sie sich Welt aneignen, und was sie doch nicht allein können" (1987, 241; Hervorh. i. O.).
Allerdings ist ein eigentümlicher Widerspruch festzustellen zwischen der bedeutungsvollen Funktion ausländischer LehrerInnen und ihrer gesetzlichen Schlechterstellung gegenüber deutschen KollegInnen, denn für sie gelten "die allgemein gültigen Gesetze, wie das Ausländergesetz, ... natürlich vorrangig (gegenüber Tarif- und Arbeitsrecht, bei denen ausländische LehrerInnen ebenso gestellt sind wie angestellte deutsche; A.H.) und machen die rechtliche Lage der ausländischen Lehrer genauso unsicher wie die der ausländischen Arbeiter und ihrer Kinder" (ORHAN 1984, 93). Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, wenn ORHAN als ausländischer Lehrer in Deutschland seine Situation mit dem Gefühl beschreibt, "auf einem Schleudersitz zu sitzen" (1984, 89), denn ausländische KollegInnen "müssen sich ... in den Spannungsfeldern zwischen deutscher Schulaufsicht und ausländischen Kindern einerseits, deutschen Kollegen und ausländischen Eltern andererseits erfolgreich bewähren und dabei nicht nur ihrem pädagogischen Auftrag, sondern auch ihrer Vermittler- und vielerorts schlicht Dolmetscherrolle gerecht werden" (1984, 89). Hinzu kommen große Isolationsprobleme innerhalb der Kollegien, zumal dann, "wenn die ausländischen Kollegen fast ausschließlich auf den nachmittäglichen Ergänzungsunterricht verbannt werden und noch dazu an mehreren Schulen arbeiten müssen" (1984, 96).
Festzuhalten bleibt, daß die bisherige Praxis der Bildungsbehörden eher im Sinne einer Reduzierung gestaltet worden ist, nicht zuletzt mit Blick auf die zunehmende Arbeitslosigkeit von deutschen LehrerInnen (vgl. MEYER-INGWERSEN & NEUMANN 1981, 27). Wie weit sich diese Praxis angesichts des nun heraufziehenden LehrerInnenmangels ändern wird, bleibt abzuwarten.
In den Praxisberichten wird ein zweiter Punkt personeller Rahmenbedingungen als wichtig herausgestellt: die Unterstützung über den unterrichtlichen Bereich hinaus durch SozialpädagogInnen. Insbesondere BEERMANN stellt die Bedeutung dieser sozialpädagogischen Unterstützung heraus, die "als unterrichts- und schulbegleitende Hilfen mit dem Ziel einer integrierten Schulsozialarbeit angelegt" sein soll (1987, 304). Wesentliche Zielrichtungen sind neben den schulinternen Schwerpunkten - soziale Beziehungen zwischen den SchülerInnen und Fragen der Leistungsanforderungen - die Kooperation mit den Eltern und gemeinwesenbezogene Aktivitäten, die in außerschulischen Bereichen Eingliederung erleichtern sollen (vgl. 1987, 304); sinngemäß spricht sich auch GRIESE für die Beschäftigung von SozialpädagogInnen und eine schulbegleitende Elternarbeit aus (1985, 304).
Über die zusätzlichen personellen Ressourcen hinaus verdeutlicht BEERMANN, daß die Wirksamkeit des Krefelder Modells nicht in zusätzlichen Maßnahmen an sich begründet ist, sondern erst durch die Verzahnung und Koordination aller schulischen Angebote. "Dieses Beziehungsgeflecht aber ist nicht einfach gegeben oder durch Verordnung herstellbar, es ist nur durch Kooperation mit innerer Dynamik zu füllen" (1987, 306). Der zentrale Stellenwert der Kooperation zeigt sich in der Vielfalt kooperativer Notwendigkeiten: Fach-, kind-, jahrgangs-, fachdidaktik-, fachwissenschaftsspezifische Fragen, aber auch Absprachen der LehrerInnen mit SozialpädagogInnen, Eltern sowie sämtlichen kommunalen Beratungsdiensten und AngebotsträgerInnen (Vereine etc.) - und auch mit der Schulverwaltung - gehören dazu (1987, 306f.). Insofern sind nicht nur einfach zusätzliche personelle Ressourcen einzuplanen, sondern auch jene Kooperationsstrukturen zu entwickeln, die mit der Vernetzung erst die volle Wirksamkeit des Systems entstehen lassen.
Auch in diesem Punkt bleibt angesichts der bisherigen Praxis festzuhalten, daß die Realisierung solcher Vorstellungen bislang auf wenige Modellversuche beschränkt geblieben ist. Für die Situation in Hamburg sind zweierlei Aspekte zu betrachten: Zum einen besteht in allen Gesamtschulen ein sozialpädagogischer Beratungsdienst; wie weit dort im interkulturellen Sinne gearbeitet wird, ist noch nicht belegt. Zum zweiten sind in der Zeit verstärkter Arbeitslosigkeit von LehrerInnen eine Vielzahl von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zur Förderung ausländischer SchülerInnen eingerichtet worden; wie weit sie im Sinne interkultureller Erziehung und zum Zwecke der Kooperation mit allen Beteiligten eingesetzt - oder eher zum nachmittäglichen Nachhilfeunterricht in Kleingruppen genutzt - worden sind, darüber kann nur spekuliert werden.
In diesem Abschnitt ist die Frage zu stellen, mit welchen diagnostischen Verfahren ausländische Kinder den unterschiedlichen vorgehaltenen Beschulungsformen zugeordnet und mit welchem Verständnis diese Verfahren eingesetzt werden. Diese Fragestellung bezieht sich in der Literatur weitgehend auf die Problematik der Sprachdiagnostik. Weiter ist insbesondere zu hinterfragen, wie sich die Praxis der Überweisungsverfahren für ausländische Kinder in Sonderschulen vollzieht.
Zunächst zum allgemeinen Problem der Diagnostik bei ausländischen Kindern und Jugendlichen. In ihrer Kritik an der Hamburger Beschulungspraxis von Migrantenkindern weist GOGOLIN auf das inhaltlich ungelöste Problem hin, festzustellen, welche Förderung sie benötigen und wie viele Stunden für Deutschintensivkurse und Förderunterricht zuzuweisen sind. Dieses werde dadurch kostensparend und mechanisch gelöst, daß man "nach der Dauer ihres Schulbesuchs in der Bundesrepublik" geht - "dies erspart jeden förderdiagnostischen Aufwand und damit Lehrerstunden" (1982, 30).
Ob Verfahren der Diagnostik, insbesondere Sprachtests, eine begründetere Zuordnung von SchülerInnen zu bestimmten Klassentypen erlauben, erscheint BELKE U.A. fraglich, denn sie heben hervor, "daß Diagnoseverfahren nicht ohne weiteres als Tests zur Einstufung der Schüler benutzt werden können" (1986, 427). Statt einer solchen Selektions- und Plazierungsfunktion sehen BELKE U.A. einen sinnvollen Einsatz diagnostischer Verfahren im Verständnis der Prozeßbegleitung: "Diagnoseverfahren wollen den Sprachstand der Schüler zu einem bestimmten Zeitpunkt festhalten, das heißt sowohl Fähigkeiten als auch Defizite und Schwierigkeiten. Ihre Auswertung sollte zur Überprüfung der Unterrichtskonzeption und zu individuellen Lernhilfen führen" (1986, 427). Zielperspektive ist bei BELKE U.A. nicht der selektionsorientierte Blickwinkel, der Eigenschaften und Defizite von Kindern festellt, um sie dann entsprechenden Gruppierungen zuzuweisen, sondern der prozeßbegleitende Blickwinkel, der die Situation des Kindes innerhalb seines Umfeldes, also auch unter Berücksichtigung des genossenen - oder erlittenen - Unterrichts reflektiert, um dann Konsequenzen für Unterricht und individuelle Entwicklungsanreize zu ziehen.
Die bisher praktizierten sprachdiagnostischen Verfahren untergliedern BELKE U.A. in "grammatisch orientierte", "textproduktionsorientierte Verfahren" und in "Sprachbeobachtung mit den Ebenen Grammatik, Lexik und kommunikatives Verhalten" (1986, 428). Bei allen Verfahren kommen mündliche und schriftliche Anteile zum Zuge. Alle stehen auch vor dem Problem der Bewertung, da sie immer nur einen Ausschnitt sprachlicher Fähigkeiten erfassen, der im Rahmen der Sprachentwicklung erst noch zu interpretieren wäre. Weiter erschwert wird diese Bewertungsproblematik dadurch, daß Zweisprachigkeit und soziales Umfeld mit einbezogen werden müssen. Erst dann können sprachdiagnostische Verfahren einen - wichtigen - Beitrag für eine Begründung des Sprachunterrichts leisten.
BELKE U.A. stellen darum die Notwendigkeit sprachdiagnostischer Weiterentwicklungen heraus, die neben anderen die beiden folgenden Punkte umfaßt (1986, 429): Es müssen beide Sprachen des Kindes erfaßt werden - möglichst in Kooperation zweier für beide Sprachen kompetenter LehrerInnen. Weiter müßte die Prozeßorientierung im Vordergrund stehen, d.h. Diagnostik müßte als begleitendes, immer wieder Momentaufnahmen der Entwicklung festhaltendes Medium begriffen werden. Letztlich ist eine qualitative Analyse der Sprachentwicklung anzustreben, für die quantitative Messungen hilfreich sein können, die aber nicht durch sie ersetzt werden können.
Zusammenfassend erscheint also statt einer mechanistischen Praxis von Stundenzuweisungen eine begleitende Prozeßdiagnostik notwendig, die nicht nur die Möglichkeiten und Schwierigkeiten des einzelnen ausländischen Kindes, sondern auch die Möglichkeiten und Probleme des umgebenden Umfeldes, also der Familie, der Schule, des Unterrichts, des Wohnumfeldes etc. in die Betrachtung einbezieht. Hier bleibt ein gewichtiges Stück Entwicklungsarbeit zu leisten. Die Untersuchungen von BAUR & MEDER (1989) können als ein erster Schritt in diese Richtung angesehen werden (vgl. Kap. 4.2.4).
Als besonderes Problem wird in der Literatur die Überweisung ausländischer Kinder und Jugendlicher in Sonderschulen angesehen (vgl. hierzu Kap. 4.2.1). So äußert schon AKPINAR starke Bedenken bezüglich dieser Verfahren: Nicht nur die Fragwürdigkeit der verwendeten Tests, sondern auch die mangelnden sprachlichen Verständigungsmöglichkeiten und nicht zuletzt die Überbelastung deutscher LehrerInnen bergen die Gefahr, "verhaltensauffällige ausländische Schüler einfach in die Sonderschule 'abzuschieben'" (1979, 121).
Kritisiert wird an den verwendeten Verfahren, daß Tests, die für deutsche Kinder entwickelt wurden, in der Regel ohne Modifikationen auf ausländische Kinder übertragen werden (MEYER-INGWERSEN 1981, 33, BOOS-NüNNING 1990, 564). So bestehe die Gefahr, daß Spezifika oder Erscheinungsformen in der Entwicklung ausländischer Kinder als Defizit gedeutet werden, aber auch die, daß sie aufgrund unzureichender diagnostischer Mittel in Regelklassen bleiben. Freiräume für GrundschullehrerInnen, Kinder für das Überweisungsverfahren zu melden oder auch nicht, können so in eine Beliebigkeit zuungunsten des betreffenden Kindes umschlagen (1990, 565; vgl. NARZI 1981 zur Situation Anfang der 80er Jahre).
Auffällig an der Diskussion innerhalb der Interkulturellen Erziehung ist, daß z.B. als schwierig dargestellt wird, daß "originäre Lernbehinderung nicht von anderen Faktoren des Schulversagens abgrenzbar ist" (BOOS-NüNNING 1990, 565), oder daß von einem "tatsächlichen Vorliegen einer Sonderschulbedürftigkeit" (1990, 562) gesprochen wird. Hier wird mit Kategorien argumentiert, die aus der traditionellen Sonderpädagogik übernommen worden sind, deren dortige zwischenzeitliche Problematisierung jedoch offensichtlich nicht wahrgenommen wird. Die Kategorie der Sonderschulbedürftigkeit quasi als Eigenschaft von Kindern wird innerhalb der Sonderpädagogik mittlerweile als wissenschaftlich nicht haltbar angesehen. Die Kritik am Sonderschulüberweisungsverfahren für ausländische Kinder greift zu kurz, wenn sie sich nur auf die Anwendung für ausländische Kinder bezieht und nicht dessen grundsätzliche Problematik in den Blick nimmt.
So bleibt es bislang bei solchen selektionsorientierten diagnostischen Verfahren, die Ausdruck eines hierarchischen Schulsystems wie auch Ausdruck jener Hierarchisierungsprozesse sind, die anscheinend als Preis für den Aufstieg durch Bildung für ausländische Kinder und Jugendliche gezahlt werden müssen.
Auf der Gesellschaft-Ebene kommen jene gesellschaftlich-normativen Orientierungen zur Sprache, die die Möglichkeiten zum Miteinander der kulturell und sprachlich Verschiedenen begünstigen oder hemmen können. Das Selbstverständnis von Ansätzen der Interkulturellen Erziehung mit den eigenen Anliegen und Forderungen wie mit der Kritik an bestehenden gesellschaftlichen Zuständen und Sichtweisen ist davon ein zentraler Bestandteil. Da das Selbstverständnis der Interkulturellen Erziehung - oder zumindest dessen wichtige Essentials - bereits in Kap. 4.1 ausführlich dargestellt und von anderen Bewältigungsstrategien der Heterogenität der Kulturen abgegrenzt worden ist, kann hier auf eine weitere Darstellung verzichtet werden. Auf einzelne Aspekte soll jedoch eingegangen werden. Zunächst werden begriffliche Fragen sowie der Bezug zwischen Ausländerpädagogik bzw. Interkultureller Erziehung und der Allgemeinen Pädagogik betrachtet (Kap. 4.6.1). Daran anknüpfend wird die Kritik der Interkulturellen Erziehung an gesellschaftlichen Werthaltungen wiedergegeben, die vor allem auf verengte kulturelle Normalitätsvorstellungen zurückgehen: Kritik am Förderansatz, der seine Aufmerksamkeit vor allem an den Defiziten von Kindern orientiert sowie an der Bikulturellen Bildung (Kap. 4.6.2), Kritik an den verwandten Ansätzen der Antirassistischen Erziehung (Kap. 4.6.3), Kritik an Ethno- und Eurozentrismus sowie Rassismus, die sich auf Vorstellungen der Höherwertigkeit der eigenen Kultur gründen (Kap. 4.6.4). Schließlich soll auch die Kritik der Betroffenen zu Wort kommen - jener Menschen also, deren Situation durch Veränderungen auf verschiedenen Ebenen verbessert werden soll (Kap. 4.6.5).
Innerhalb der Diskussion um Ausländerpädagogik und Interkulturelle Erziehung wird immer wieder darum gerungen, wie ihr Status und ihr Verhältnis zur allgemeinen Pädagogik zu definieren sei. So befaßt sich NIEKE mit der Frage, "warum sich die besonderen praktisch-pädagogischen und erziehungswissenschaftlichen Bemühungen um Erziehung und Bildung der Kinder ausländischer Arbeitnehmer ... als 'Ausländerpädagogik' und als faktisch so etwas wie eine neue Teildisziplin der Erziehungswissenschaft konstituieren" (1984, 83).
Bei dieser Frage sind nach NIEKE (1984) drei Momente in der Entwicklung der Ausländerpädagogik zu berücksichtigen: Zum einen ist sie nicht in zunehmender Spezialisierung durch Ausdifferenzierung entstanden, sondern durch Entwicklungen im ökonomischen und damit auch im schulpraktischen Bereich. Zum zweiten zwang die Praxisbezogenheit der Pädagogik geradezu dazu, auf diese Veränderung der Praxis zu reagieren, was die Pädagogik allerdings "nicht innovatorisch, sondern adaptiv" (REUTER & DODENHOEFT 1988, 15) getan hat. Und drittens stellt der Begriff der Ausländerpädagogik einen Reflex auf die politische Grundsituation mit dem Glaubenssatz 'Die Bundesrepublik ist kein Einwanderungsland' dar (NIEKE 1984, 83f.). Damit weist die Ausländerpädagogik spezifische Voraussetzungen für ihre Entwicklung auf. Und die Diskussion ist nicht nur bestimmt von wissenschaftlichen Fragestellungen und Sichtweisen, sondern von (bildungs-)politischen und schulpraktischen Gegebenheiten - auch von solchen, mit denen sich die Ausländerpädagogik nicht in jedem Fall einverstanden erklären dürfte. Sie droht gerade in solchen problematischen Bereichen als pädagogisches Instrument auf dem Hintergrund nicht von ihr zu verantwortender bildungspolitischer Entscheidungen und damit als Alibi mißbraucht zu werden.
Die Diskussion um das Verhältnis zur allgemeinen Pädagogik spielt sich im Spannungsfeld zweier - hier idealtypisch dargestellter - Positionen ab, die sich je auf zwei Argumentationsebenen bewegen: zum einen auf der Ebene von Allgemeinheit und Spezialisierung, zum anderen auf der Ebene des Adressatenkreises.
Auf der einen Seite wird argumentiert, für die Arbeit mit Kindern in der Migrationssituation sei nichts prinzipiell anderes vorzusehen als für die Arbeit mit anderen Kindern; auch hier müsse - wie sonst auch - schülerInnenzentriert agiert werden, gemäß dem allgemeinen pädagogischen Grundsatz, "einen Adressaten dort abzuholen, wo er steht" (NIEKE 1984, 90). Weiter müsse sich Interkulturelle Erziehung darauf beziehen, daß in nahezu jeder Klasse eine multikulturelle Situation vorzufinden sei und jegliche Kinder - und nicht nur ausländische - auf eine multikulturelle Gegenwart und Zukunft vorzubereiten seien. Die Entwicklung einer Ausländerpädagogik sei die wissenschaftliche Widerspiegelung einer Aussonderungssituation, der ausländische Kinder (und Familien) ausgesetzt seien.
Umgekehrt wird auf der anderen Seite argumentiert, ausländische Kinder stünden in einer besonderen Entwicklung, wiesen spezielle Defizite und Bildungsbedürfnisse auf, denen eine allgemeine Pädagogik nicht gerecht würde. Deshalb müsse es SpezialistInnen geben, die sich auf die Förderung dieser speziellen Gruppe von Kindern verstünden und dafür ausgebildet würden. Also sei, um pädagogische Fahrlässigkeit gegenüber diesen Kindern zu vermeiden, eine Ausländerpädagogik als Spezialpädagogik notwendig und hilfreich.
Auch diese Diskussion spiegelt damit das Thema der Gleichheit und Verschiedenheit kulturell unterschiedlicher Kinder wieder: Die eine, 'generalistische' Position droht mit dem Blick auf den Gleichheitsaspekt die Vielfalt kultureller Heterogenität auf Gleichheit zu stutzen und so die höchst unzulängliche Bildungssituation für Kinder in der Migrationssituation unabsehbar zu verlängern. Die andere, 'spezialistische' Position gerät demgegenüber in die Gefahr, mit dem Blick auf den Verschiedenheitsaspekt kulturelle Gleichheit aus dem Auge zu verlieren, sich als Sonderpädagogik mit einer impliziten 'Theorie der Andersartigkeit' ihres Klientels abzusondern und durch eigenes ExpertInnentum eine dauerhafte Existenzberechtigung zu verschaffen. So drohen die allgemeine Pädagogik von der speziellen Problematik freigehalten, die politischen Anteile der Problematik als ihre Defizite gegen die Kinder gewendet und unzulässig pädagogisiert zu werden (vgl. Kap. 4).
In der Literatur findet sich diese Diskussion facettenreich und in großer Breite, allerdings mit zwei Erschwernissen: AutorInnen kritisieren häufig die Gefahren der Standpunkte anderer, ohne jedoch die eigene Position kritisch zu hinterfragen. So kommt es zu jener Diskussionsdynamik, in der die Gefahren der einen Sichtweise denen der anderen gegenüberstehen. Abgrenzung vom Primat 'der anderen Seite' - jeweils das der Gleichheit oder der Verschiedenheit - ist die häufigste Argumentationsfigur. Weiter ergibt sich die Schwierigkeit, daß z.T. gegen Begriffe polemisiert wird, die von den kritisierten AutorInnen anders definiert werden. So wird der Begriff 'Ausländerpädagogik' gerne im Sinne einer Sonderpädagogik für ausländische Kinder kritisiert, von seinen VertreterInnen jedoch in bewußter Abgrenzung von solchen Tendenzen verwandt (vgl. z.B. BOOS-NüNNING u.a. 1984). Es müßte im einzelnen Falle zunächst geklärt werden, mit welcher Bedeutung dieser Begriff belegt wird.
Als einer der vehementesten Vertreter einer Position des Gleichheitsprimats kann HAMBURGER gelten, für den es keine hinreichenden Gründe gibt, daß "die Ausländerpädagogik eine pädagogische Spezialdisziplin sei oder sein solle" (1986, 142). Weil im Gegenteil "eine Ausländerpädagogik vielmehr vorhandene Probleme perpetuiert und neue generiert" (1986, 142), befürwortet HAMBURGER eine "Pädagogik des Ausgleichs von Benachteiligungen" (1986, 142). Die Aufgabe Interkultureller Erziehung kann für ihn "bestimmt werden als reflexive Wendung der in der multikulturellen Erziehungswirklichkeit gegebenen Fremdheitserfahrungen bei den Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft und als methodisch angeleitetes Vorbringen von Gemeinsamkeiten. ... Einer besonderen Pädagogik bedarf es dazu nicht" (1988, 10). Auch MERKENS (1983) sieht in ihr nur einen Anwendungsfall bestehender (schul)-pädagogischer Theorien und Handlungskonzeptionen.
Andere AutorInnen wenden sich zumindest gegen das Primat der Verschiedenheit: So schlägt GRAF (1987) vor, statt von ausländischen SchülerInnen von Minderheiten zu sprechen. Ein formal trennender Begriff, der sich, je länger der Aufenthalt dauert, um so schwerer aufrechterhalten lasse, würde durch einen anderen ersetzt, der die Zusammengehörigkeit mit der Mehrheit unterstreicht. BORRELLI wendet sich in seinen Thesen gegen den Begriff der Ausländerpädagogik an sich: Für die Pädagogik gebe es "weder 'Inländer' noch 'Ausländer', für sie gibt es Menschen" (1982, 28, 1986b, 24), deshalb ist für ihn Interkulturelle Pädagogik mit Pädagogik identisch (1986b, 24), neben ihr könne es keine "'Sonderpädagogik', eine 'spezielle' Pädagogik" geben (1986b, 24; ähnlich auch BELKE U.A. 1986, 425, GöTZE & POMMERIN 1986, 111, TUMAT 1986c, 295).
Besonders wird vor einer Parzellierung und Spezialisierung gewart, die "nur Pseudoproblemlösungen begünstigen" (LUKESCH 1983, 268) könne und nicht die Erziehungswissenschaft davon entbinden dürfe, "sich mit den Folgen der internationalen (Arbeits-)Migration im Bereich von Bildung und Erziehung auseinanderzusetzen" (KRüGER-POTRATZ 1983, 173). Weiter sieht RUHLOFF die Gefahr eines instrumentalisierenden mehrfachen "Vorbereitungsdenken(s)" (1982b, 181): Wenn schon die Schule realistisch nicht auf das nachfolgende Leben vorbereiten könne, und Ausländerpädagogik sich weitgehend als Vorbereitung auf die deutsche Schule und Klasse verstehe, wenn also "schon die einfache Vorbereitung den jungen Menschen um seine Bildungsaufgabe betrügt, dann gilt das für die Vorbereitungsvorbereitung erst recht" (1982b, 182).
Einen gedanklichen Schritt weiter geht HOHMANN : Er faßt zunächst seine Bedenken bezüglich einer Überspezialisierung und Abkoppelung von der allgemeinen Pädagogik in zwei Punkten zusammen:
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"Die allgemeinen Ziele für die Erziehung und Bildung der Nachwachsenden sind von ihrem Begründungszusammenhang her für alle gleichermaßen gültig.
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Jede Besonderung in den pädagogischen Bemühungen stigmatisiert die Adressatengruppe mittels desjenigen Merkmals, an dem die besonderen Bemühungen ansetzen" (zit. in NIEKE 1984, 83).
Für HOHMANN kann es dann "nicht mehr darum gehen, auf der Suche nach Lösungsmöglichkeiten für die Defizite eine Sonderpädagogik für ausländische Kinder zu schaffen, vielmehr ist zu fragen, wie gegebene Pädagogik theoretisch und praktisch verändert werden muß, damit sie adäquate Antworten auf die durch die Migration bestimmte gesellschaftliche Situation zu geben vermag" (1983, 6).
Solchen 'generalistischen' Stellungnahmen stehen 'spezialistisch 'orientierte gegenüber, in letzter Zeit am deutlichsten vertreten von der Sonderpädagogin SCHIRMACHER (1990). Sie legt die Priorität auf den Verschiedenheitsaspekt und argumentiert mit Hilfe anderer AutorInnen im Sinne einer Ausländersonderpädagogik. Dabei verweist sie "auf das spezifische Bildungsgeflecht ausländischer Schüler, das eine besondere Pädagogik erfordere" (1990, 18). Mit Bezug auf BOOS-NüNNING, NEUMANN, REICH & WITTEK (1984) betont sie, "daß die Besonderheiten der Migrantensituation von der übrigen Pädagogik nicht im notwendigen Maße mitreflektiert werde" (1990, 18).
Eine eher 'spezialistische' Sichtweise wird auch durch die reale Entwicklung nahegelegt: "Nach Jahren des Ignorierens wurde mit einer Sonderpädagogik für Ausländer begonnen" (RADTKE 1987, 51). Die dementsprechende Institutionalisierung von speziellen Studienangeboten kommentiert AUERNHEIMER dergestalt, daß "sich in der Institutionalisierung der Ausbildung die Orientierung an Sprachdefiziten und an der schulischen Integration bei einer fragwürdigen pädagogischen Aufgabenverteilung wider(spiegelt). - Die speziell ausgebildeten Lehrer sollen sich vorrangig der Förderung der ausländischen Schüler widmen" (1990, 11). Hier wird für AUERNHEIMER "die problematische Abwälzung der Aufgaben an 'Ausländerexperten'" deutlich (1990, 11).
HOHMANN schließlich kann als Vertreter einer Position angesehen werden, die am ehesten eine dialektischen Sichtweise in dieser Frage einnimmt. Dies ist keine einfache Sowohl-Als-Auch-Position, sondern eine Betrachtung der spannungsgeladenen und widersprüchlichen Situation: "Pädagogik für Migranten ... wird in der Migrationssituation theoretisch und praktisch gesehen nur legitimiert sein, wenn sie selbst um ihre Abhängigkeit von allgemeineren Fragestellungen, Theorien und Methoden weiß und dieses entsprechend bei ihren Arbeiten berücksichtigt. Andererseits muß sie von einer allgemeinen Erziehungswissenschaft als Pädagogik in einer besonderen Situation, als Herausforderung für die traditionelle pädagogische Theorie und Praxis verstanden werden. ... Traditionelle Pädagogik findet hier ihre eigenen Probleme in zugespitzter Form wieder" (1989, 11). Er plädiert gegen eine spezielle Didaktik und Pädagogik, fragt aber gleichzeitig kritisch zurück, wie weit die allgemeine Pädagogik, in deren Rahmen die Ausländerpädagogik gehört, in der Lage sei, auf die spezifischen Bedürfnisse von Kindern in der Migrationssituation einzugehen (vgl. Kap. 4.4.2).
Bezüglich des Adressatenkreises herrscht innerhalb der Interkulturellen Erziehung weitgehend Einigkeit: "An die Stelle der Zielgruppenorientierung müsse die Orientierung an allgemeinen pädagogischen Zielsetzungen treten" (AUERNHEIMER 1990, 31). VertreterInnen der Interkulturellen Erziehung kritisierten, "daß die Bezeichnung 'Ausländerpädagogik' den Ausländer von vornherein als solchen abstempele, ja dadurch den defizitären Status dieser Personengruppe perpetuiere, daß sie sich selbst die Existenzberechtigung liefere" (HOHMANN 1989, 11). Alternative Begriffe wie eine 'Migrantenpädagogik' oder eine 'Minderheitenpädagogik' weisen indessen die gleichen begrifflich diskriminierenden Probleme auf.
"Der Versuch, statt eine wie auch immer zu bestimmende Besonderheit der Adressatengruppe zum Ausgang für die Bezeichnung der besonderen pädagogischen Bemühungen zu nehmen, vielmehr die pädagogische Aufgabe selbst zu benennen, hat zu den Bezeichnungen 'interkulturelle Erziehung (und/oder Bildung') und 'interkulturelle Pädagogik' geführt. ... Der Charakter dieser durch die Migrationssituation entstandenen pädagogischen Aufgabe wird zunächst als Bewältigung des Wechsels von einer Kultur in eine andere aus der Sicht der Migranten selbst gesehen und in fortschreitender Differenzierung als Meisterung des Lebens im Wechsel zwischen Herkunftskultur, Kultur des Aufenthaltslandes und der neu entstehenden Migrantensubkultur sowie auch als Aufgabe für die Majorität, sich auf ein Leben in einer dauerhaft multikulturellen Gesellschaft einzustellen" (NIEKE 1984, 86). Wenn die Aufgabe darin gesehen wird, allen Kindern Handlungsfähigkeit in einer internationalisierten, multikulturellen Situation zu ermöglichen, besteht "die Möglichkeit, der an der 'Ausländerpädagogik' verschiedentlich kritisierten Gefahr zu entgehen, auf wissenschaftlicher Ebene die politisch und gesellschaftlich drohende Aussonderung und Stigmatisierung dieses Problemfeldes und dieser Zielgruppe zu reproduzieren und damit zu legitimieren, sowie einer falschen Expertisierung ('Sonder'schullehrer für Ausländerkinder) Vorschub zu leisten" (KRüGER-POTRATZ 1983, 175).
Somit kann als - wenngleich vereinfachendes und Nuancierungen ignorierendes - Fazit festgehalten werden: Im Gegensatz zur Ausländerpädagogik, die auf die Förderung von Kindern mit besonderen Problemen und Defiziten zielt, formuliert die Interkulturelle Erziehung eine gemeinsame, dialogische Entwicklungsaufgabe für alle Kinder (sowie PädagogInnen und WissenschaftlerInnen).
Was jedoch tendenziell offen bleibt, ist die Frage, "woher eine interkulturelle Pädagogik dann noch ihre Legitimation als eigenes Fachgebiet nehmen soll" (AUERNHEIMER 1990, 31). Am ehesten scheint hier NIEKEs - ebenfalls dialektische - Argumentation stichhaltig zu sein: "Eine solche Konzeptualisierung der Ausländerpädagogik als Theorie interkultureller Erziehung ist eine konzeptuelle Variante bisheriger erziehungswissenschaftlicher Theorien. Dies meint einerseits, daß hier nicht ein neues wissenschaftliches Spezialgebiet entsteht, das eine Theoriebildung hervorbringt, die sich von den bestehenden Paradigmen der Wissenschaftsdisziplin grundsätzlich unterscheidet. Andererseits ist diese Konzeptualisierung nicht einfach ein Anwendungsfall der bestehenden (schul-)pädagogischen Theorien und Handlungskonzeptionen ... . Auch kann eine solche interkulturelle Erziehung nicht einfach in einer 'Pädagogik für Benachteiligte' aufgehen, ... weil die Bewältigung mehrerer, stark differenter Kulturen ein Spezifikum für die Kinder und Jugendlichen ausländischer Herkunft ist, das so nicht für die üblicherweise als benachteiligt begriffenen sozialen Gruppen gilt und auch spezielle pädagogische Handlungskonzeptionen erfordert, die sich nicht aus einer Situation der Benachteiligung begründen lassen (z.B. Unterricht in der Muttersprache ihrer Eltern)" (NIEKE 1984, 87). Diese Aussagen können als Versuch verstanden werden, spezifische Aspekte mit allgemeinen auf einen Nenner zu bringen und sowohl den Aspekt der Gleichheit als auch den der Verschiedenheit dieses Wissenschaftsgebietes innerhalb der Allgemeinen Pädagogik deutlich zu machen.
Im gesellschaftlichen Verständnis gegenüber ausländischen SchülerInnen wie auch in der traditionellen Ausländerpädagogik herrscht - wie schon an einigen Stellen dieses Kapitels deutlich geworden ist - eine Sicht vor, die sich am Defizitären orientiert: Ausländische SchülerInnen sind primär definiert durch das, was sie nicht können, durch Defizite und Lücken. Deshalb müssen sie besonders, schwerpunktmäßig sprachlich, gefördert werden, so daß sie sich in der deutschen Gesellschaft behaupten können und für gegenwärtige und zukünftige Situationen gerüstet und handlungsfähig sind. Die unhinterfragte Norm dabei bildet die des Deutschen, mit dem ausländische Kinder verglichen und an dem sie gemessen werden (vgl. STüWE 1991). So ergeben sich Klischeevorstellungen mit einem schwarz-weiß-Bild, das z.B. in der Gegenüberstellung folgender Begriffe deutlich wird: deutsche Kultur - alte Heimatkultur, Christentum - Islam, modern - traditionell, flexibles Normverständnis - rituelles Normenverständnis, fortschrittlich - rückschrittlich, weltoffen - provinziell, gleichberechtigt - patriarchalisch, demokratische (Erziehung) - autoritäre (Erziehung) (STüWE 1991, 111). Letztlich wird hier implizit eine gut-schlecht-Wertung deutlich, die ihre Basis in abendländischen Höherwertigkeitsvorstellungen hat (vgl. Kap. 4.6.4). Das Defizitäre ist immer eine Frage herrschender Normvorstellungen, die es so definieren: "Bevor der Missionar zum Heiden kam, wußte er nicht, daß er in der Sünde lebte - und es hat ihm wenig geschadet. Der Missionar lehrte ihn die Verwerfung seines bisherigen Lebens, er lehrte ihn die Selbstverachtung" (SCHWEITZER 1983, 4). Dieses gilt überdies auch dann, so RADTKE, "wenn an die Stelle der 'Defizit-These' allmählich die 'Differenz-These' mit der Anerkennung einer interkulturellen Situation im Klassenzimmer tritt" (1985, 473) - denn damit ist keineswegs schon die latente kompensatorische Ausrichtung der Arbeit mit Migrantenkindern überwunden.
Wozu eine solche defizitorientierte Sichtweise führt, zeigt BEERMANN auf: "Der ausländische, besonders der türkische Schüler ist bisher ... infolge von Feststellung dessen, was er im Vergleich zum deutschen Schüler alles (noch) nicht kann, eher negativ definiert. Wer er aber eigentlich ist, welche Persönlichkeit eigenen Gepräges sich in ihm bildet, ist noch ziemlich unbekannt" (1987, 297). Die psychohygienische Funktion der Defizithypothese ist in Kap. 4.2.3 verdeutlicht worden; CZOCK zieht diesbezüglich ein schon fast entlarvendes Fazit: "Was so wohlmeinend als Förderung der Migrantenkinder daherkommt, scheint ... viel mehr ein Produkt aus den Erfordernissen der Organisation Schule und der subjektiven Notwendigkeit auf seiten der Lehrer, diskrepante Situationen durchzuhalten und in ihnen handlungsfähig bleiben zu können. ... Die Einrichtung von Sondermaßnahmen eignet sich aus dieser Perspektive, weil diese Formen des Unterrichts sich am ehesten quantifizieren und organisieren lassen" (1986, 101). SCHERON & SCHERON fordern dementsprechend eine pädagogische "Perspektivendiskussion, die sich nicht auf eine Defizithypothese gründet (...), jedoch die spezifische Situation der jeweils zu erreichenden Schüler einbezieht, die Chancengleichheit nicht bei formalen Schulabschlüssen enden läßt" (1984b, 32). Sie stellen fest: "Ausländerkinder nicht als Belastung, sondern als Innovationspotential und Bereicherung des Unterrichts zu betrachten, ist ein erster Schritt" (1984b, 33).
Daß defizitorientierte Sichtweisen VertreterInnen der regierungsamtlichen Politik eigen sind, ist weniger verwunderlich. So spricht PIAZOLO in einer Stellungnahme des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft (BMBW) von zwei Zielgruppen, denen besonders geholfen werden müsse: "Junge Ausländer ohne - im Vergleich zu deutschen Jugendlichen ins Gewicht fallende - Sprach- und Bildungsdefizite" und "junge Ausländer mit unterschiedlichen Sprach- und Bildungsdefiziten" (1987, 77). Augenscheinlich fällt es leichter, von 'Defizitwesen' ohne Defizite zu sprechen, als von kompetenten Menschen mit Problemen!
Doch auch in der pädagogischen Literatur sehen REUTER & DODENHOEFT ein "bis heute auch bei Lehrern nicht grundsätzlich modifizierte(s) Bild vom sprachlich, kognitiv, psychisch und sozialisatorisch rückständigen oder zumindest benachteiligten ausländischen Schüler"; "eine Sichtweise, die gesellschaftlich bedingte, so auch bildungssystemimmanente gegenüber individuell und familiär angelegten Ursachen zurücktreten läßt" (1988, 15). So sprechen z.B. SCHRADER, NIKLES & GRIESE vom "Manko ihrer ethnischen Zugehörigkeit" (1979, 154f.).
Insbesondere den Ansätzen mit kompensatorischem Charakter ist eine Fördermentalität gegenüber diesem defizitär und daher förderungsbedürftig empfundenen Klientel eigen: "Kompensatorische schulische und außerschulische Hilfsmaßnahmen zielten (und zielen) auf die Anpassung der ausländischen Schüler an die Bedingungen der deutschen Schule, deren Organisations- und Lehrplanstruktur im Kern nicht angetastet worden sind" (REUTER & DODENHOEFT 1988, 15; zur Widersprüchlichkeit kompensatorischer Bemühungen PRENGEL in Kap. 4.1.3).
Auch Ansätze einer Bilingualen Bildung basieren primär auf einem Bild der als besonders förderbedürftig erkannten ausländischen SchülerInnen, für die und auf die bezogen besondere Anstrengungen unternommen werden müssen. Die Brisanz dieser Sichtweise liegt dabei weniger allein in dieser Tatsache begründet; daß für diese SchülerInnen mehr und z.T. anderes getan werden muß, ist unbestritten. Doch gleichzeitig die bei ausländischen SchülerInnen vorhandenen Kompetenzen nicht als solche wahrzunehmen und als Bildungsvoraussetzungen anzuerkennen, sondern als defizitär zu bewerten, wie GOGOLIN (1987, 26, 1988, 93) kritisiert, erscheint problematisch. Ihre volle Brisanz gewinnt diese Problematik jedoch erst durch die Ausschließlichkeit und Beschränktheit dieser ihr eigenen Blickrichtung, die GOGOLIN treffend zusammenfaßt: "Lebensweltliche Zweisprachigkeit als Bildungsvoraussetzung der Kinder ethnischer Minderheiten wird in ihnen ignoriert; die Lösungsvorschläge drehen sich unverändert um das Versagen individueller Schüler im Inländerbildungssystem statt um das Versagen des Inländerbildungssystems gegenüber den Schülern; Zweisprachigkeit und ihre schulische Förderung bleiben unverändert separate Angelegenheiten marginalisierter Minderheiten, statt daß sie angesichts der gesellschaftlichen Mehrsprachigkeit, die sich infolge internationaler Migrationsbewegungen herausbildete, als legitimes und autonomes Ziel der Bildung im Inländerbildungssystem gedacht würden" (1988, 96). Dieser Kritik entsprechend ist es dann auch "nicht einzusehen, daß die Schule den Inländerkindern die Möglichkeit vorenthält, über ihre auf Einsprachigkeit beschränkten Kompetenzen hinauszugelangen" (1987, 29). So sehr es nach GOGOLIN das Verdienst von Ansätzen bilingualer Bildung ist, "daß sie die legitimen Ansprüche der Kinder ethnischer Minderheiten auf Erhaltung ihrer Erstsprache untermauert haben" (1987, 29), so bleiben sie in einer individuumszentrierten Sichtweise verhaftet und ignorieren die Notwendigkeit einer der gesellschaftlichen Mehrsprachigkeit und Multikulturalität entsprechenden Veränderung der Schule (vgl. Kap. 4.2.4).
Die Begrenzungen bisheriger rein bilingualer Ansätze werden z.B. bei HAAS (1984) deutlich, der von einem Berliner Modellversuch mit Türkisch als erster Fremdsprache ab der 5. Klasse berichtet: "Geht man von der Zielvorstellung bilingualer Entwicklung aus, so heißt das, ein solches Fach müßte bereits ab dem Kindergarten eingerichtet werden ... Bei der Einführung des Faches in der 5. Grundschulklasse entsteht eine große Belastung von Anfang an durch die schon beschriebene Heterogenität der Schüler, die auch für die Entwicklung der Lehrmaterialien Konsequenzen hat: Eine Art Pufferzone muß eingebaut werden, um die notwendige 'Nachalphabetisierung' einer Gruppe von Kindern zu leisten" (1984, 96f.). Hier wird wiederum deutlich: Priorität hat die durch Förderung zu bewerkstelligende Anpassung von ausländischen Kindern an schulische Gegebenheiten bzw. hier an eine möglichst homogene Lerngruppe. So wird im Rahmen der bilingualen Bildung kompensatorisches Denken mit der unhinterfragten Vorstellung eines Unterrichts in einer möglichst homogenen Lerngruppe kombiniert. Und gleichzeitig entsteht bei derartigen Versuchen die Gefahr daß "so etwas wie Sackgassen in der Bildungslaufbahn erzeugt werden" (NIEKE 1991, 29), wenn etwa beim Übergang in die Sekundarstufe II doch die erste Fremdsprache gefordert wird, die durch Türkisch ersetzt worden war.
Gleichwohl werden auch - bei aller Gegensätzlichkeit - Möglichkeiten gesehen, Elemente einer bilingualen mit solchen einer Interkulturellen Erziehung im Sinne einer weiterführenden Synthese zu verbinden. "Die Stärken der Bilingualen Erziehung (stärkere Berücksichtigung der Herkunftssprachen, systematischer Sprachvergleich zwischen Herkunfts- und Zielsprache, Forderung nach rechtlicher Gleichstellung ausländischer Kollgen/innen, Einsatz bilingualer Materialien etc.) und die Stärken der Interkulturellen Erziehung (Berücksichtigung des jeweiligen Erfahrungshintergrundes beim einzelnen Kind, handlungs- bzw. projektorientierte Formen des Lernens, Öffnung des Unterrichts nach 'außen', vielfältige Kulturkontakte zwischen verschiedenen Nationalitätengruppen von klein auf, spielerische Formen des Sprachenlernens etc.) könnten in Zukunft besser genutzt werden, wenn es gelingt, eine Synthese zwischen diesen einzelnen Prinzipien unter dem generellen Anspruch einer antirassistischen mehrsprachigen Erziehung in einer multikulturellen Gesellschaft herzustellen" (POMMERIN 1988b, 11 f.). Das Primat solcher Synthesen scheint eher bei interkulturellen Ansprüchen zu liegen; so könnte die individualistische Sichtweise bilingualer Ansätze überwunden werden.
Gleichwohl ist kritisch festzustellen, daß individualistisch-defizitorientierte Sichtweisen nicht nur von Ansätzen der Interkulturellen Erziehung kritisiert werden, sondern daß sie ihnen z.T. auch eigen sind. Dies können Beispiele belegen:
Bis in Überschriften hinein werden Defizite ausländischer Kinder beschrieben, so z.B. bei ZITZKE (1983, 47) in der Kapitelüberschrift: "Worin bestehen die Defizite der Migrantenkinder?" oder bei MEYER-INGWERSEN (1981, 31): "Defizite der ausländischen Arbeiterkinder und die Reaktion unserer Schulen darauf". Ganz in diesem Sinne preist GäRTNER die Möglichkeiten separierter Kleingruppenarbeit gegenüber der Binnendifferenzierung in der Klasse mit den Worten an, sie könne "die üblichen großen Defizite erfolgreich angehen. Sie ist für alle Lehrer ... unstrittig das Optimum, damit ihre Schüler möglichst früh von Hilfen unabhängig werden" (1988, 85). Daß dieses "ausgewiesen optimalste (= besteste?; A.H.) Förderangebot" (1988, 85) an Grundschulen so wenig entwickelt sei, führt GäRTNER auf folgendes Faktum zurück: "Die zusätzliche Hilfe offenbart nämlich zunächst Defizite und solche lassen sich Schüler nur ungern zuschreiben" (1988, 87). Wie wahr! Und doch hält GäRTNER an einer homogenisierten Kleingruppenförderung mit fast schon traditionell-sonderpädagogischer Sicherheit und den von CZOCK beschriebenen positiven psychohygienischen Wirkungen für PädagogInnen fest.
In gleichem Sinne kritisiert beispielsweise KULA BOOS-NüNNING, die die Notwendigkeit "eines speziellen Sozialisationsprozesses, der vorhandene Defizite ausgleicht" (1983, 6) betont, hinsichtlich der Zuweisung der Defizite an die betroffenen Kinder: "Nicht Migrantenkinder weisen Spezifisches in defizitärer Ausprägung auf, sondern das Bildungssystem, das sie aufzunehmen hat, indem es sich den veränderten Strukturen anpaßt" (KULA 1986, 282).
Integrationsfähigkeit wird häufig als eine vor allem von den SchülerInnen zu erbringende Leistung verstanden (vgl. Kap. 4.1.2), die sie (vielleicht) erreichen (so DOMHOF 1984, 36, PIROTH 1982, 17) und die sogar an ihnen zu diagnostizieren ist (KARGER 1987, 130). Auch wird Heterogenität immer wieder nur in ihrem Problemgehalt wahrgenommen, Homogenisierung als Ziel schulischer Förderung vorausgesetzt: Wie auch HAAS (1984) im obigen Beispiel beschreibt z.B. HOPF (vgl. auch Kap. 4.4.2) die Situation zunehmender Heterogenität in den Klassen folgendermaßen: "Die Anwesenheit von Ausländerkindern und die durch sie erzeugten zusätzlichen bzw. andersartigen Probleme überdecken allzu leicht die ohnehin schon bestehenden Schwierigkeiten, auch nur den deutschen Kindern einen Unterricht anzubieten, der ihrer Verschiedenheit gerecht wird und sie in individuell bestmöglicher Weise in ihrer Entwicklung unterstützt" (1984, 14). So wird hier nur die Problemverschärfung, nicht aber die Gemeinsamkeit der Problematik und die Perspektive positiver Herausforderung herausgestellt.
In jüngerer Zeit sieht sich die Interkulturelle Erziehung einer Kritik ausgesetzt, die von Ansätzen einer Antirassistischen Erziehung geübt wird.
So plädieren z.B. KALPAKA & RäTZEL in dem Band "Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein" (1986a) dafür, statt des Begriffs der Ausländerfeindlichkeit den des Rassismus zum zentralen gesellschaftlichen Kritikpunkt zu machen. Damit verbinden sie sich mit entsprechenden Bewegungen und Ansätzen in anderen europäischen Ländern, die sich als antirassistisch verstehen. Dieses vor allem in Großbritannien vertretene Konzept unterzieht die Interkulturelle Erziehung, wie AUERNHEIMER darstellt, der radikalen Kritik, "sie individualisiere das Problem des Rassismus und nehme eine advokatorische, paternalistische Position gegenüber der schwarzen Bevölkerung ein" (1990, 195). Weiter wird kritisiert, "man setze ein unangemessenes Vertrauen in das Kennenlernen anderer Kulturen" (1990, 195). Die Antirassistische Erziehung hält es für ein "absurdes Unterfangen", "daß 'weiße' Lehrer die Mitglieder der Minoritäten über ihre Kultur belehren. ... Auch wenn weiße Lehrer durch Informationen über Minderheitenkulturen auf diese Aufgabe vorbereitet würden, kämen bestenfalls Platitüden, schlimmstenfalls rassistische Stereotypen dabei heraus" (1990, 195). "Kurz zusammengefaßt, bleibt MCE (Multicultural Education; A.H.) ... in einer kulturalistischen Interpretation der Probleme befangen und damit unpolitisch, sie ist im Hinblick auf ihre beiden Hauptziele zum Scheitern verurteilt, nämlich sowohl im Hinblick auf den Abbau von Vorurteilen bei den Weißen wie im Hinblick auf die Verbesserung des Selbstbildes bei den schwarzen Schülern" (1990, 196). Demgegenüber zielt die ARE (Antiracist Education) darauf ab "sicherzustellen, daß die Schüler nicht nur die spezifische Natur der Ungleichheit, die sie selbst erfahren und gemeinsam mit den Schwarzen als Mädchen, Schüler, Jugendliche oder als Mitglieder der Arbeiterklasse teilen" (1990, 198). Weiter "müsse aufgezeigt werden, daß die Geschichte eine Geschichte der Klassenkämpfe und des Geschlechter- und Rassenkonflikts sei und daß die Mehrheit ein Interesse daran haben müsse, alle Formen der Ausbeutung und Unterdrückung zu bekämpfen. ... Den Beziehungen zwischen wirtschaftlichen Krisen, der Frauenunterdrückung und dem Anwachsen rassistischer Konflikte beispielsweise sei nachzugehen" (1990, 198).
Eine Übersicht zu dieser Kontroverse geben TWITCHIN & DEMUTH (1989) mit ihrem Vergleich zwischen einer assimilatorischen (A), einer Interkulturellen (B) und einer Antirassistischen Erziehung (C), der im Zuge der Erwachsenenbildung in Großbritannien entstand. Als antirassistisch bezeichnen sie "eine Erziehung, die zum Ziel hat, die strukturelle Ungerechtigkeit der Gesellschaft zu bekämpfen - eine Gesellschaft, die durch zwei Tatsachen gekennzeichnet wird, gegen die entschieden vorgegangen werden muß: Viele Weiße denken Schwarzen gegenüber in Stereotypen, durch die die eigene Überlegenheit rationalisiert wird; diese Stereotypen beruhen auf falschen Vorstellungen und Unwissenheit. Und solche Einstellungen dienen dazu, die verschiedenen Formen der Benachteiligung der Schwarzen (die in den offiziellen Dokumenten als 'Rassen'-Benachteiligung bezeichnet wird) in den Herrschaftsstrukturen zu verewigen bzw. sie (vielleicht unbewußt) zu rationalisieren" (1989, 242).
Auch in dieser Gegenüberstellung (Tab. 4.1) wird wie bei der Darstellung von AUERNHEIMER deutlich, daß die Antirassistische Erziehung versucht, gesellschaftliche Herrschaftsstrukturen in die Erziehungsvorstellungen einzubeziehen. Sie wirft der Interkulturellen Erziehung vor, lediglich auf Verständnis durch Begegnung zu bauen und die gesellschaftlichen Grundlagen von Diskriminierung zu ignorieren. Während also die Antirassistische Erziehung Herrschaftsstrukturen u.a. dadurch verändern will, daß sie eine emanzipatorisch angelegte Konflikterziehung und die Aufklärung der Betroffenen über ihre Situation anstrebt, wirft sie der Interkulturellen Erziehung vor, lediglich harmonistisch auf naive Verständigung durch Begegnung zu bauen.
A |
B |
C |
Assimilation |
Respekt vor kultureller Diversität und Toleranz, 'multikulturelle Erziehung' |
Machtausgleich, 'antirassistische Erziehung' |
Die Immigranten kamen in den 50er und 60er Jahren nach Großbritannien, weil die Einwanderungsgesetze nicht streng genug waren. |
Die ethnischen Minderheiten kamen nach Großbritannien, weil sie ein Recht dazu hatten und ein besseres Leben führen wollten. |
Die Schwarzen kamen nach Großbritannien und auch in andere Länder, weil die Wirtschaft dieser Länder ihre Arbeitskraft benötigte. |
Die Immigranten sollten sich so schnell wie möglich an die englische Lebensweise anpassen. |
Die ethnischen Minderheiten sollten in der Lage sein, ihr sprachliches und kulturelles Erbe zu erhalten. |
Die Schwarzen müssen sich gegen rassistische Gesetze und Praktiken zur Wehr setzen und für eine gerechte Behandlung der verschiedenen Rassen kämpfen. |
In Großbritannien gibt es in gewissem Maße Rassenvorurteile, aber das ist nur menschlich, und England ist sehr viel toleranter als andere Länder. |
Es gibt einzelne irregeleitete Einzelpersonen und extremistische Gruppen in Großbritannien, aber im wesentlichen ist unsere Gesellschaft gerecht und demokratisch und bietet allen die gleichen Rechte. |
Großbritannien ist bereits seit mehreren Jahrhunderten eine rassistische Gesellschaft. Rassismus hat mehr mit Herrschaftsstrukturen als mit der Haltung einzelner zu tun. |
Wenn man versucht, Vorurteile abzubauen, erreicht man das Gegenteil von dem, was man erreichen wollte. Man kann die Menschen nicht dazu zwingen, sich gegenseitig zu mögen, indem man Gesetze und Bestimmungen erläßt. |
Vorurteile beruhen auf Unwissen und Mißverständnissen. Die Vorurteile können durch persönliche Kontakte und die Vermittlung von Wissen abgebaut werden. |
Vorurteile werden durch ungerechte Strukturen und Verfahren verursacht und sind nicht deren Ursache. Durch Beseitigung dieser Strukturen und Verfahren können Vorurteile abgebaut werden. |
Englisch sollte in den Schulen als Zweitsprache angeboten werden. Ansonsten gilt jedoch: 'Wenn wir von den Kindern sprechen, sprechen wir von allen Kindern. Wir sollten daher alle Kinder gleich behandeln'. Es ist falsch, kulturelle und ethnische Unterschiede festzustellen oder hervorzuheben. |
Die Schule sollte Herkunft, Kultur und Sprache der ethnischen Minderheiten anerkennen und bestärken. Sie sollte Feste und internationale Abende veranstalten, die Sprache dieser Minderheiten und Communities unterrichten und sprechen, Unterricht über Geschichte, Kunst, Musik, Religion und Literatur der ethnischen Minderheiten anbieten. |
Das Ziel des Erziehungssystems besteht hauptsächlich darin, daß mehr einflußreiche Machtpositionen an Schwarze vergeben werden: d.h. Posten als Schulleiter und Lehrer in leitenden Funktionen, als Mitglieder der Schulvorstände, Schulverwaltungsbeamte und gewählte Mitglieder von Verwaltungsausschüssen. Diskriminierung durch Lehrplan, Unterrichtsmethoden und Schulorganisation sollten abgebaut werden. Der Unterricht über Gleichberechtigung und Gerechtigkeit und gegen den Rassismus sollte direkt geführt werden. |
Bezieht man diese drei Positionen auf die Fragestellung der Gleichheit und Verschiedenheit, so stellt sich die Situation folgendermaßen dar: Die assimilative Erziehung strebt Gleichheit durch Unterwerfung der Subkultur an. Die Interkulturelle Erziehung versucht einen dialektischen Weg von Gleichheit und Verschiedenheit zu gehen, der ein Miteinander der Verschiedenen ermöglichen soll. Die Antirassistische Erziehung schließlich setzt auf formale Gleichheit und inhaltliche Verschiedenheit durch konflikthafte Emanzipation. Ihr wohnt - jedenfalls in dieser Darstellung - gleichzeitig etwas Separierendes inne: Die eigene Ethnie soll mehr Einfluß, mehr gehobene Positionen und damit mehr gesellschaftliche, ökonomische und politische Macht erringen und so die bestehende Diskriminierung abbauen. Die bei AUERNHEIMER zitierte Ablehnung einer als absurd empfundenen Situation der Unterrichtung schwarzer SchülerInnen durch weiße LehrerInnen im Sinne ihrer Emanzipation läßt ebenso eine separierende Tendenz durchscheinen: Wer, wenn nicht schwarze LehrerInnen, sollte schwarzen SchülerInnen zum 'richtigen Bewußtsein' über ihre Situation verhelfen? Und wozu soll gemeinsamer Unterricht schwarzer und weißer LehrerInnen und SchülerInnen noch gut sein?
Zudem muß zur Darstellung von TWITCHIN & DEMUTH gefragt werden, ob die Darstellung der Interkulturellen Erziehung deren eigenem Selbstverständnis entspricht - eine derartig unpolitische und naive Kontakthoffnung scheint übertrieben. Mitleid und schlichtes gegenseitiges Kennenlernen in der Schule ohne eine kritische Reflexion und Revision ethnozentristisch und monokulturell ausgerichteter Curricula kann das Anliegen der Interkulturellen Erziehung nicht angemessen wiedergeben. Gleichwohl macht die antirassistische Kritik eine mögliche problematische Tendenz deutlich, daß innerhalb der Interkulturellen Erziehung zu sehr auf den schulischen Rahmen gerichtet agiert und zu wenig Aufmerksamkeit auf politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen verwendet werden könnte.
Kritische Auseinandersetzungen zwischen Interkultureller und Antirassistischer Erziehung müssen nicht zwangsläufig in Polarisierung und Abgrenzung führen, sondern können im Gegenteil gegenseitig anregend wirken, indem sie auf mögliche Gefahren und noch nicht in dieser Klarheit gesehene Problemstellungen hinweisen. In diesem Sinne ist AUERNHEIMERs Einschätzung zu dieser Frage zu teilen: "Elemente der antirassistischen Erziehung ließen sich durchaus in eine interkulturelle Pädagogik einfügen, die sich in einem politischen und gesellschaftlichen Kontext begreift" (1990, 201). Auch HOHMANN nimmt eine vermittelnde Position zwischen Interkulturalismus und Antirassismus ein. Er betont gegenüber dem Kulturellen eher das Ethnische, wobei er eine "Option auf den Begriff 'antirassistisch' erhalten" (1989, 25) wissen will: Die Pädagogik hat nicht nur mit verschiedene Kulturen zu tun, sondern "auch mit unterschiedlichen ethnischen Gruppen in charakteristischer Machtarmut und sozialer Niedrigkeit" (1989, 25).
Dies soll jedoch nicht als Plädoyer für ein unverbindliches und harmonisierendes Sowohl-Als-Auch verstanden werden. Die Berücksichtigung gesellschaftlicher, ökonomischer und politischer Rahmenbedingungen, unter denen Schule stattfindet, und ebenso die kritische Selbstreflexion, nicht in eine paternalistische Haltung gegenüber MigrantInnen zu verfallen, muß für die Interkulturelle Erziehung ein wichtiger Bestandteil der Konzept- und Praxisentwicklung sein. Sonst könnte sie der Gefahr erliegen, als gut mißbrauchbares Konzept zu fungieren, das mit Hilfe eines harmonisierenden, auf Gemeinsamkeit zwischen Kulturen und Ethnien zielenden Ansatzes lediglich alte gesellschaftliche Hierarchien ideologisch modernisiert und so zu ihrer Zementierung beiträgt. Dann wäre nur alter diskriminierender und assimilierender Wein in neue interkulturelle Schläuche gegossen. Die Diskussion um das Verhältnis von Pädagogik und Politik für MigrantInnen (vgl. Kap. 4) würde damit ohne inhaltliche Entwicklung weitergeführt.
Vielfach ist in diesem Kapitel davon die Rede gewesen, daß ausländische SchülerInnen vor allem in ihren Problemanteilen und als besonders förderungsbedürftig wahrgenommen worden sind und werden (vgl. Kap. 4.6.2). Dieses ist seit jeher ein zentraler Kritikpunkt der Interkulturellen Erziehung an gesellschaftlichen Normen wie auch an deren mehr oder minder deutlichen Übernahme durch die Ausländerpädagogik. Hier spiegeln sich auf individueller, aber auch auf gesellschaftlicher Ebene Bewertungsmomente wider, die letztlich - wenn auch individuell häufig unbewußt - auf Denktraditionen des Ethnozentrismus, Eurozentrismus und Rassismus zurückgehen. Zentraler Punkt aller dieser Denktraditionen ist die Vorstellung einer Höherwertigkeit der eigenen gegenüber fremden Kulturen und damit auch gegenüber deren Angehörigen, also eine "Ethnohierarchie" (RADTKE 1987, 51). Wurde deren Minderwertigkeit früher mit biologistischen Begründungen behauptet und bildeten somit u.a. die Grundlage faschistischer Ideologien, so wird sie heute mehr im Sinne eines "Kultur-Rassismus" mit soziokulturellen Bedingungen zu begründen versucht (vgl. PRENGEL 1989a, 85). Besonders deutlich wird dieses Grundmuster eigener Höherwertigkeit z.B. "in der Vorstellung der Evolution der Gesellschaften von der Natur- zur Kulturstufe (analog dazu die Einteilung in Natur- und Kulturvölker) und in einer Linearität des Entwicklungsprozesses, mit den Industriegesellschaften (d.h. 'uns') als dem krönenden Höhepunkt. Viele andere Länder sind gemessen an 'unserem' Fortschritt noch unter- oder unentwikelt oder schlichtweg rückständig" (NESTVOGEL 1987b, 42).
Auf der individuellen Ebene kommt es immer wieder zu kulturell unterschiedlichen Wahrnehmungen von Situationen und Sachverhalten, bei denen es im harmloseren Fall dazu kommen kann, daß "man aneinander vorbei 'geredet'" hat (BUDDE 1987, 14). In anderen Fällen kann dies zum Beginn eines Beziehungskonfliktes führen: "Der andere benimmt sich 'falsch' und muß daher - da der Logik zu Folge kein sachlicher Grund dafür gegeben ist - unhöflich, betrügerisch, dumm oder verrückt sein" (1987, 14). So kommt es zu Vorurteilen und negativ besetzten Stereotypen. Besonders fatal ist dabei, daß es meist zu keinerlei selbstkritischer Reflexion der eigenen 'Wahrheiten' kommt, denn die eigenen 'Wahr-Nehmungen' und Maßstäbe werden unhinterfragt für die richtigen und gültigen gehalten. Die "ethnozentristisch geprägten Sicht- und Denkweisen halten gleichsam überall verborgene Fettnäpfchen bereit, in die hineinzutreten fast unvermeidbar ist" (1987, 15), und bei jedem dieser Erlebnisse geht man auseinander mit dem Gefühl: "man weiß Bescheid" (1987, 14) - vor allem über die/den andere(n) (vgl. die anregenden Geschichten über derartige Situationen bei KUGELMANN & LöW-BEER 1984).
Häufig wird in der pädagogischen Literatur betont, daß LehrerInnen sich - z.B. auch im Rahmen der Fortbildung - ihres eigenen, persönlichen Rassismus und Ethnozentrismus (ESSINGER 1988) bewußt werden müßten, es notwendig sei, "'stolpern' zu lernen: aufmerksam zu werden für Momente im eigenen und fremden Denken, in denen sich Relatives für Objektives ausgibt" (BUDDE 1987, 17). Erst durch Sensibilisierung und kritische Selbstreflexion könne der heimliche Lehrplan des Germanozentrismus überwunden werden (vgl. Kap. 4.2.3, 4.3.3).
Ethnozentristische Diskriminierung beginnt, so BUDDE (1987), schon bei Formulierungen, weil Begriffe und Situationen unterschiedlich 'be-deutet' werden (vgl. z.B. die widersprüchliche Bewertung des Kopftuchs bei SAKAR 1987, 225f.). Dabei spielen neben bewußten auch Formen unbewußter Diskriminierung eine große Rolle. Deren Spektrum zieht sich vom 'Foreigner Talk' bis zur Verwendung abkürzender und damit andere ausschließender Redewendungen (vgl. LUCHTENBERG 1985, 90-93, 1991, 72-74). Daraus muß nach LUCHTENBERG gefolgert werden, "das Bewußtsein für die eigene Sprache zu verstärken und so die Schwierigkeiten von ausländischen Gesprächsteilnehmern überhaupt zu kennen" (1985, 94).
Neben der individuellen Ebene ist die strukturelle Ebene des Ethnozentrismus, gleichsam seine globale Dimension, von Bedeutung. Hierbei wird die eigene Kultur zum Maßstab der Beurteilung anderer Kulturen gemacht. So grenzt sich etwa die Kultur der inuit (= Menschen), die von anderen als Eskimos bezeichnet werden, zur kollektiven Identitätssicherung ethnozentristisch von anderen Kulturen ab. Für die Fragestellung innerhalb einer Interkulturellen Erziehung ist jedoch nicht einfach die Abgrenzungsfunktion des Ethnozentrismus entscheidend, sondern die Abwertung anderer Kulturen durch die europäisch-abendländische im Sinne des Eurozentrismus. Sie empfindet sich selbst als den Maßstab aller Kulturen und hilft durch Entwicklunghilfe anderen Kulturen und Gesellschaften, ihre Entwicklungsrückstände aufzuholen. Hier bekommt der Ethnozentrismus eine ideologische, also die Interessen verschleiernde Funktion, indem mit seiner Hilfe ökonomische und politische Herrschaft und Machterhaltung legitimiert wird.
Nach NESTVOGEL sind seit Jahrhunderten fünf Varianten der Einschätzung fremder Kulturen nachweisbar, die ein je spezifisches Verhältnis von Gleichheit und Verschiedenheit von Kulturen repräsentieren (1987a, 66; vgl. 1987b, 43):
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"In der ersten Variante gibt es fremde Kulturen nicht oder sie sind es nicht wert, als Kultur bezeichnet zu werden (rassistische, sozialdarwinistische, kolonialistische und faschistische Varianten)."
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"In der zweiten Variante sind fremde Kulturen ein Hindernis für Zivilisierung (Kolonialzeit), Entwicklung (nachkoloniale Periode, Entwicklungshilfe der 60er Jahre) oder der Integration (z.B. Konzepte der 'Zwangsgermanisierung' von Migranten)."
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"In der dritten Variante sind fremde Kulturen vorhanden und müssen bei Modernisierungs- oder Integrationsmaßnahmen eingeplant werden; z.B. um effektiver modernisieren (derzeitige Entwicklungshilfekonzepte) oder 'integrieren' zu können (einige Konzepte multikultureller Erziehung)."
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"Für die vierte Variante sind fremde Kulturen in ihrer Gesamtheit zu erhalten bzw. wiederzubeleben: Hierbei handelt es sich um eine sozialromantische Variante, bei der oft Wünsche und Sehnsüchte, die in der eigenen Gesellschaft nicht erfüllbar erscheinen, in andere Kulturen projiziert werden."
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"In der fünften Variante schließlich sind fremde Kulturen so 'gut' oder 'schlecht' wie die Gesellschaft, in der sie bestimmte Funktionen wahrnehmen, und wie die gesellschaftlichen Zielsetzungen, zu deren Erreichung sie beitragen sollen."
NESTVOGEL bewertet die Varianten 1 - 4 als ethnozentristisch. Sie entsprechen auch einer weit verbreiteten Problemfixierung, nach der "in äußerst selektiver Wahrnehmung sämtliche Probleme in die Fremden projiziert (werden): In Bezug auf Ausländer ist oft die Rede von Entfremdung, Deprivation, Identitätsstörungen, Orientierungslosigkeit, Anomie, Marginalität, Neigung zu psychosomatischen Beschwerden, zu Schizophrenie, Kriminalität etc." (1987a, 67). Wenn diese Wahrnehmungswelt mit der realen Welt von MigrantInnen übereinstimmte, dürften nach TSIAKALOS "nur wenige noch am Leben sein" (NESTVOGEL 1987a, 67). Lediglich Variante 5 zeigt für NESTVOGEL "einen Weg auf, sich mit fremder und eigener Kultur auseinanderzusetzen, ohne in die Extreme einer vorschnellen Abwertung oder Romantisierung zu verfallen" (1987a, 67).
Bezogen auf die Bewältigung kultureller Heterogenität läßt sich zu dieser Auflistung feststellen: Variante 1 blendet fremde Kulturen völlig aus und beschreitet damit ebenso eine assimilative Strategie wie die Varianten 2 und 3, die über positive Diskriminierung und kompensatorische Förderung assimilativ wirken. Variante 4 scheint dies ebenfalls, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen, zu tun, nach dem Motto: In der fremden Kultur ist alles viel besser. Variante 5 schließlich versucht den Weg einer prinzipiellen Gleichwertigkeit bei akzeptierender Verschiedenheit zu gehen - und somit einen interkulturellen Weg, mit all seinen kulturrelativistischen Problemen (vgl. Kap. 4.1.3). Bezogen auf die deutsche Schule muß festgestellt werden, daß sie in weiten Bereichen Variante 1 vertritt, wenn sie die Herkunftssprachen und -kulturen von Migrantenkindern ausblendet, sie damit abwertet und augenscheinlich nicht als Bildungspotential wahrnimmt (BOOS-NüNNING 1983, 12).
Diese Varianten finden sich auch ähnlich in Grundhaltungen gegenüber MigrantInnen wieder, wie sie BARKOWSKI (1984, 171f.) beschreibt als Fürsorge- und koloniale Haltung und Haltungen des Ausländerdenkens, bei dem vieles auf das Ausländer-Sein zurückgeführt und damit zur Abweichung erklärt wird, und des Distanzverlustes, bei dem Ansprüche gegenüber der deutschen Gesellschaft zugunsten der Chancengleichheit für MigrantInnen unbewußt aufgegeben werden.
Um den Unterschied der weltweite Herrschaftsverhältnisse legitimierenden Funktion zur schlichten Abgrenzung von anderen Kulturen deutlich zu machen, schlägt der Geographie-Didaktiker SCHMIDT-WULFFEN eine begriffliche Trennung zwischen Ethnozentrismus und Eurozentrismus vor. Ethnozentrismus bezeichnet demnach unter ethnologischem Aspekt "die Selektivität, mit der real existierende Erscheinungen im Leben fremder Völker und Gesellschaften wahrgenommen bzw. ausgeblendet werden. Es gerät nur das ins Blickfeld, was im Widerspruch zu 'unseren' Einstellungen und Wertschätzungen steht" (1982a, 55). Unter sozialwissenschaftlichem Aspekt bezeichnet Ethnozentrismus die "Vorstellung evolutionärer Gesellschaftsentwicklung", die versucht, "universal gültige Gesetze aufzustellen, die schließlich auch auf die Industriegesellschaften anwendbar wären. ... Abstrahiert wird z.B. von den zugrundeliegenden Strukturen wie Ungleichheit, Dominanz und Abhängigkeit, Fremdbestimmung und Ausbeutung" (1982a, 56). Dies hat fatale Folgen: "Die behauptete Universalität menschlicher Entwicklung macht Ausmaß und Funktion ethnozentristischer Denkmuster in der 'modernen Industriegesellschaft' ununterscheidbar von jenem weit verbreitetem Verhalten isoliert lebender Gesellschaften, die sich selbst im und als Mittelpunkt der Welt empfinden, andere jedoch als Barbaren oder Wilde" (1982a, 56; ähnlich auch die Definition des Ethnozentrismus von KALPAKA & RäTZEL 1986b, 37). Von ihm unterscheidet sich der Begriffsgehalt des Eurozentrismus deutlich: "Mit der Bezeichnung 'Eurozentrismus' soll ausgedrückt werden, daß die 'schiefe' Beurteilung fremder Völker und Gesellschaften auf jene spezifische gesellschaftliche, zeitlich-historisch eingrenzbare Situation bezogen werden muß, in der sich die Entwicklung der Beurteilenden zur Metropole, die der Beurteilten zur Peripherie vollzog (16. - 20. Jahrhundert). Eurozentrismus setzt voraus und spiegelt zugleich ein einseitiges, strukturell verankertes Herrschafts-Abhängigkeitsverhältnis, das als Ergebnis des kapitalistischen Entwicklungsprozesses Europas zur Metropole begriffen werden muß" (SCHMIDT-WULFFEN 1982a, 56; vgl. auch NESTVOGEL 1987b, 42; zu dieser grundsätzlichen ethno- und eurozentristischen Schieflage in der Geographie-Didaktik vgl. SCHMIDT-WULFFEN 1982a, 1982b).
KALPAKA & RäTZEL schlagen eine Trennung zwischen Ethnozentrismus und Rassismus als zentralen Begriffen vor. Damit wollen sie sich mit der internationalen antirassistischen Bewegung verbinden (vgl. Kap. 4.6.3). "Hier werden bestimmte Gruppen aufgrund ihrer Kultur, ihrer Religion, ihrer Verhaltensweisen, ihrer Klassenlage als 'Rasse' bezeichnet. 'Rasse' wird sozial konstruiert: Indem eine Menschengruppe aufgrund z.B. ihrer Religion als 'Rasse' definiert wird, wird der religiöse Glaube als etwas genetisch Vererbbares gedacht, weil 'Rasse' die Assoziation von 'Vererbung' aus der Biologie mitbringt. ... Jede Verknüpfung solcher Merkmale (Verhaltensweisen, Religion etc.; A.H.) mit dem 'Rasse'-Begriff ist also rassistisch in dem Sinne, daß sie Soziales in Natürliches verwandelt, Soziales naturalisiert wird" (1986b, 33). In diesen Zusammenhang gehören für KALPAKA & RäTZEL auch Phänomene eines 'linken Ethnozentrismus' im Sinne von Distanzverlusten: "In aufgeklärten Kreisen schlägt die Mißachtung anderer Gruppen um in die Bewunderung für die Fähigkeiten, die zum Beispiel Südländer noch besitzen und die Menschen aus dem Norden abhanden gekommen sind. Man sieht keine dunklen Augen, sondern 'feurige dunkle Augen', Bewegungen sind 'temperamentvoll'. In solchen Formulierungen sind äußere Merkmale Ausdruck innerer Eigenschaften" (1986b, 34).
KALPAKA & RäTZEL halten den Rassismusbegriff auch für angemessener als etwa den Begriff der Ausländerfeindlichkeit, denn "der Begriff 'Ausländerfeindlichkeit' unterstellt, daß alle 'Ausländer' diskriminiert werden. Es gibt aber nicht die gleichen Vorbehalte und nicht die gleiche Ablehnung gegen Engländer, Amerikaner, Schweden usw. wie gegen Afrikaner, Türken, Spanier, Griechen usw.. Wie soll man zudem Beziehungen nennen, in denen 'Ausländer' nicht aus Feindlichkeit, sondern aus 'Freundlichkeit' unterdrückt werden (paternalistische Verhaltensweisen in Arbeiter- und Frauenbewegung z.B.)?" (1986b, 32). Ähnlich argumentieren auch ESSINGER & KULA, die den Begriff der Ausländerfeindlichkeit als "Verharmlosung des faktisch vorhandenen Rassismus" (1987, 68) sehen, "dessen Wurzeln u.a. im Kolonialismus bzw. Faschismus der europäischen Vergangenheit zu suchen sind" (1987, 67). Damit sind die beiden Ebenen der Unterdrückung nach außen (im Weltmaßstab) und nach innen (gegen Minderheiten) bezeichnet.
Unabhängig davon, ob man den Begriff des Eurozentrismus oder den des Rassismus von Phänomenen des Ethnozentrismus abheben will, gemeinsam bleibt die gesellschaftliche Legitimation von Über- und Unterordnung, von Herrschaft und Unterdrückung, und dieses sowohl im globalen Maßstab als auch gegenüber Angehörigen anderer Kulturen, quasi bei uns vor der Haustür. Wichtig scheint dabei die Überlegung von NESTVOGEL zu sein, es sei eine falsche - und wiederum selbst ethnozentristische - Vorstellung, daß es eine universal gültige, von Ethnozentrismen freie Umgangsweise mit sich und der Umwelt geben könne (1987a, 68; vgl. hierzu die Diskussionen um Kulturrelativismus vs. Kulturuniversalismus in Kap. 4.1.3). Deshalb könne nicht die Befreiung von Ethnozentrismus Aufgabe der Interkulturellen Erziehung sein, sondern die "Einsicht in die eigene ethnozentristische Beschränktheit, die die Vorstellung einer kulturellen Höherwertigkeit aufgibt" (1987a, 68; vgl. auch 1987b). Hiermit ist eine wesentliche Aufgabe Interkultureller Erziehung beschrieben.
Wiederum ist festzustellen, daß auch die interkulturelle Literatur selbst - so zentral die Kritik am Ethnozentrismus ist - nicht frei von Ethnozentrismen ist.
REISER wendet sich gegen ethnozentristische Tendenzen einer assimilativen Integration, verfällt in ihren kontrastiven Überlegungen selbst in jene Muster, wenn sie - mit deutlicher Distanz und mit Anflügen eines paternalistischen oder besser maternalistischen Untertons - feststellt: "Nie habe ich danach fragen gehört, ob sich die Gastarbeiter nicht subjektiv in ihrem gewählten, für uns gettohaften Leben wohlfühlen und für eine vielleicht - für sie so erlebten - Übergangszeit, für sich das Beste daraus gemacht haben" (1981b, 8) und danach - in fast sonderpädagogischer Manier - fragt: "Werten wir damit nicht sogar eine unter Anstrengungen oder gar Entsagungen erbrachte Leistung unberechtigterweise ab?"
Und GäRTNER, der schon wegen einer sonderpädagogisierenden Förderideologie für ausländische SchülerInnen kritisiert wurde (vgl. Kap. 4.6.2), empfiehlt für eine interkulturelle Förderung der Kinder "Inhalte wie z.B. Moralvorstellungen aus einigen Entsendeländern oder Entwicklungsrückstände in der Produktion" (1988, 88). SCHMITT spricht vom "Ausgleich zwischen den hochindustrialisierten Metropolen und den wirtschaftlich zurückgebliebenen Peripherien" (1985a, 73). Da tritt die ethno- und eurozentristische, angeblich global gültige Weltsicht deutlich hervor, die modernisierungstheoretisch ausgerichtet Probleme der Unterentwicklung ausschließlich als Modernitätsrückstand auffaßt (vgl. SCHMIDT-WULFFEN 1982b).
Nahezu einheitlich werden innerhalb der Interkulturellen Erziehung lediglich punktuell stattfindende interkulturelle Aktivitäten wie internationale Feste oder Folkloreveranstaltungen abgelehnt, also "das Erleben von Exotik beim Essen und Trinken, emphatische Verbrüderungsaktionen und idealisierende Heimat-Bilder" (HOHMANN 1989, 16). Derlei Aktionen können im Gegenteil eher ethnozentristische Vorstellungen zementieren: "Eben weil sie außerordentliche Unternehmungen sind, verdeutlichen sie, daß im normalen Alltag kein Platz für die Sprache und Kulturen der anderen ist" (BUDDE 1987, 16). Gerade solche Aktionen sitzen schnell der Gefahr einer "Mitleidpädagogik" (AUERNHEIMER 1990, 179) auf, bei der Mitleid und Mildtätigkeit "als eine Form moralisch verfeinerter Diskriminierung" wirken (1990, 179) und bei der in einem moralisierenden Unterricht "nur ein äußerlich aufgesetztes Verhalten erreicht wird und mit dem sich der Pädagoge/die Pädagogin in die Tasche lügt" (1990, 181). Es geht also nicht "um eine karitative, von Schuldgefühlen getragene Geste Fremden gegenüber" (NESTVOGEL 1987b, 41). Zudem besteht die Gefahr "daß eine in der Heimat bereits veränderte Kultur nostalgisch verklärt wird und die Ausländer, als exotisch interessant dargestellt, erst recht ihren Sonderstatus stabilisieren" (SCHREINER 1986, 255).
Im Gegensatz zu solchen punktuellen Aktivitäten muß Interkulturelles Lernen als Daueraufgabe im Sinne einer kontinuierlichen Auseinandersetzung begriffen werden: "Kultur ist etwas, das im Kinderalltag in der deutschen Bildungseinrichtung greifbar sein muß. In einem Bilderbuch z.B. kann immer wieder geblättert, gelesen, vorgelesen werden. Es genügt nicht, wenn einmal im Jahr 'Reise in die Türkei' gespielt wird und die Kinder Fotos und Landkarten oder Postkarten mitbringen. Hier geht es mehr um die selbstverständliche Präsenz anderer Kulturen und Sprachen rund ums Jahr" (ULICH 1987, 213).
Ein Feld, in dem ethno-, eurozentristischer und rassistischer Verzerrungen deutlich werden können, sind die von den Kultusministerien erlassenen Richtlinien und Lehrpläne sowie die von ihnen genehmigten Schulbücher. Dominierend ist dort nach wie vor - entgegen allen interkulturellen Forderungen nach Internationalisierung der Curricula (z.B. AUERNHEIMER 1990, 174) - eine monokulturelle und auf die Richtigkeit der eigenen kulturellen Werthaltungen zielende Ausrichtung, oder, wie es AUERNHEIMER formuliert, das "Problem des europäischen Universalismus und der evolutionistischen Geschichtsbetrachtung" (1990, 191). So sind nach KULA Lehrbücher "durch eine monokulturelle-monoethnische Orientierung geprägt und aus interkultureller, pädagogischer Sicht erweisen sie sich als ungeeignet, interkulturelle Kommunikation und Interaktion zwischen deutschen und ausländischen Schülern positiv zu beeinflussen" (1986, 384). Dort - wie auch in der wissenschaftlichen Literatur - kommt es nahezu durchgängig zu teilweise schon fast kuriosen Formulierungen, so z.B. über den "Seiteneinsteiger, der im Heimatland mehrere Jahre die Schule besucht hat und ohne oder mit minimalen Sprachkenntnissen in die Bundesrepublik eingereist ist" (zit. bei BUDDE 1987, 16; vgl. dort weitere Beispiele). Auch tauchen in den Deutschbüchern der Berliner Grundschule Anfang der 80er Jahre nur wenige Texte auf, in denen es um MigrantInnen geht (ESSINGER & HELLMICH 1981, 102).
GöPFERT zeigt anhand der Bayerischen Geschichtslehrpläne, vor allem an denen für die Hauptschule, eine starke nationale Orientierung auf. "Dabei werden andere Staaten und ihre Geschichte entweder übergangen, dienen zur Bestätigung des eigenen Nationalgedankens oder werden gar zur Abgrenzung mit negativen Vorzeichen der eigenen Geschichte zugeordnet" (1985, 22). Über die Mittelmeerländer erfahren bayerische SchülerInnen während des 5. und 6. Schuljahres etwa Folgendes: "Zwar hatten die Mittelmeerländer wie Griechenland und Italien einmal hochentwikelte Kulturen, diese verfielen jedoch schon in weit zurückliegender Zeit; Erben ihrer Kultur sind nicht die nachfolgenden Gesellschaften dieser Nationen, sondern vielmehr wir Deutsche" (1985, 14). Da nur bestimmte Zeiträume betrachtet werden, nicht hingegen die Weiterentwicklung, müssen die SchülerInnen den Eindruck bekommen, "die Mittelmeerländer haben ihre Kultur verloren oder sind kulturlos geblieben, sie haben es zu nichts gebracht. Wenn ihre Bewohner etwas zuwege bringen wollen, müssen sie nach Deutschland als Gastarbeiter kommen" (1985, 20). So wird auf versteckte Art deutscher oder mitteleuropäischer Hochmut erzeugt. Am Thema 'Kreuzzüge' wird im 7. Schuljahr die einseitige Behandlung geschichtlicher Auseinandersetzungen deutlich, z.B. schon in der Rede von der 'Befreiung der Heiligen Stätten' und in Begriffen wie 'christliche Mission', 'Erfüllung christlicher Ritterschaft' (1985, 23).AUERNHEIMER kommentiert treffend, "die Schüler nehmen gleichsam noch einmal an der Verteidigung des 'Christlichen Abendlandes' teil" (1990, 187). Was GöPFERT vor allem kritisiert, ist "das Fehlen einer eindeutigen Absage an Feindbilder und Gewalt" (1985, 33; vgl. auch FISCHER 1986 über das Türkei-Bild).
Zum Bayerischen Sozialkundelehrplan an Hauptschulen stellt GöPFERT fest: Das Thema Arbeitsmigration brauchen LehrerInnen nach den Lehrplänen "kein einziges Mal aufzugreifen" (1985, 127). AusländerInnen kommen bestenfalls unter dem Stichwort 'benachteiligte Gruppen' als Alternative zu Alten, Behinderten, psychisch Kranken, Armen, Nichtseßhaften oder Vorbestraften vor (1985, 127). GöPFERT resümiert, der Bayerische Sozialkundelehrplan "weist vor allem einen affirmativen Charakter auf, er dient der Anpassung an Institutionen und das politische System der Bundesrepublik. In dieser seiner 'Positivität' hat er Feindbildwirkung: Antikommunismus und Ausländerfeindlichkeit sind die Folgen" (1985, 135). Antikommunismus wird durch ausschließliche Schwarz-Weiß-Malerei in der Gegenüberstellung von DDR und BRD erzeugt, Ausländerfeindlichkeit dadurch, daß das (West-)Deutsche unhinterfragt als das Normale und Positive, alles andere als nicht existent und damit implizit als Abweichung dargestellt wird.
Die Bayerischen Religionslehrpläne tragen zu einem Unterricht bei, der auf dem Grundproblem "dogmatische(r) 'Wahrheiten'" (GöPFERT 1985, 157) aufbaut. Vor allem im Grundschulbereich wird weitgehend "von der 'wahren' Lehre der jeweiligen Religion ausgegangen" (1985, 162), andere Religionen werden lediglich im Sinne eines 'Auch-religiös-Seins', kaum dagegen als Alternative zum Christentum dargestellt. Ein Verständnis für sie kann so nicht entstehen - noch viel weniger gilt dies für den Atheismus, der nur als Alternative zum Christentum verstanden werden könnte (1985, 163f.). Eine "Öffnung für weltanschauliche Pluralität", wie GöPFERT sie fordert (1985, 172) findet nicht statt.
GöPFERTs Fazit zum Geschichtslehrplan kann so zur generellen Aussage erweitert werden: "Ziel ist - weitgehend unausgesprochen, aber aus der Konzeption der Lehrpläne ablesbar - eine positive eindimensionale Identifizierung des Schülers mit der 'eigenen' Geschichte und Kultur" (1985, 105). PRENGEL kommentiert: "Die Zerstörungen, die ausgehend von der westlichen Zivilisation in vielen Teilen der Welt stattfanden (und stattfinden; A.H.), bleiben weitgehend ungenannt, die Eigenart und Leistungen anderer Kulturen werden nicht gewürdigt" (1989a, 87).
Tendenziell positiver scheint die Situation in Hamburg auszusehen, betrachtet man die Richtlinien und Hinweise für die Erziehung und den Unterricht ausländischer Kinder und Jugendlicher in Hamburger Schulen (BSB 1986). Ihnen zufolge soll im allgemeinen Unterricht die 'Ausländerproblematik' verstärkt behandelt werden (1986, 34), so z.B. in den Fächern
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Religion: fremde Religionen, insbesondere Islam,
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Erdkunde: Gastarbeiter und ihre Herkunftsländer,
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Politik und Geschichte: Minderheiten/Vorurteile,
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Gemeinschaftskunde: Entwicklungsregionen in Europa,
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Geschichte: Entstehen und Verbreitung des Islam,
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Sachunterricht: Probleme unserer Stadt.
Schon die Formulierung 'Ausländerproblematik' verweist jedoch wiederum auf eine Fixierung auf die Problemaspekte des Themas. Weiterhin sagt die Auflistung der Themen an sich noch nichts über eine ethnozentrismuskritische Perspektive aus, und die Fortschreibung dieser Vorsätze in den Richtlinien und Lehrplänen für die Schulstufen und einzelne Fächer lassen diesen Fortschritt als eher semantisch und nicht substantiell erscheinen (vgl. NEUMANN 1986 zu den Hamburger Lehrplänen der Sekundarstufe I).
Hilfreich bei der reflektierenden Arbeit in der Schule zum Thema ethno- und eurozentristischer Tendenzen können u.a. solche Materialien sein, die die Erlebnisperspektive umkehren, etwa die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins Innerste Deutschlands (PAASCHE o.J., zuerst 1912/13) oder der Bericht des Papalagi (DER PAPALANGI 1980, zuerst 1920). Hilfreich sind auch kontrastierende Kulturvergleiche zwischen der sog. Dritten Welt und der westlich-abendländischen Zivilisation (vgl. z.B. FOHRBECK & WIESAND 1981). Dort werden etwa in Abbildungen und Texten die Mythen der "heiligen Kühe" in Indien und die Mythen der "heiligen Hunde" bei uns gegenübergestellt (1981, 15-24). In derartigen Materialien wird den SchülerInnen ermöglicht, kulturelle Verschiedenheit aus der Perspektive der sonst Fremden zu erleben und die eigene Kultur aus einer distanzierten Perspektive und mit anderen Maßstäben gemessen wahrzunehmen und zu reflektieren. So wird kulturrelativierendes Lernen angestoßen. Dies ist ein Beispiel für ideologiekritische Anteile der Interkulturellen Erziehung, denn "ihre Kraft besteht nicht im 'Dozieren', in 'Vermittlung' und 'Übernahme', vielmehr im Versuch, den Zu-Erziehenden einzubeziehen in diesen Denk-Prozeß des Fragens, des Dialogischen, der Suche nach Antworten, der Reflexion und der Revision der dem Gedanken vorausgehenden Normatik" (BORRELLI 1986b, 30).
Im Rahmen dieser Arbeit würde es zu weit führen, die Stellungnahmen von Betroffenen, insbesondere über ihre Organisationen und Interessenvertretungen analysieren zu wollen. Immerhin soll jedoch an wenigen Beispielen schlaglichtartig deutlich gemacht werden, daß und in welcher Richtung sie bzw. ihre Verbände, Gemeinden und Vereine sich äußern. Eines der deutlichsten Zeichen von Betroffenen war die Verabschiedung des Memorandums zum Muttersprachlichen Unterricht 1983. In ihm wird artikuliert, was an Mißtrauen gegenüber einem deutschen Schulwesen besteht, das u.a. den Erstsprachen und den Kulturen wenig oder keine Beachtung beimißt und es so nicht als Bildungspotential wahrnimmt. Auch wenn die griechischen MigrantInnen in gewisser Weise eine Sonderposition einnehmen, etwa hinsichtlich des Anteils der Unterrichtung in rein griechischen Klassen (vgl. ZOGRAFOU 1982, 107), kann an ihrem Beispiel verdeutlicht werden, in welche Richtung sich ihre Aussagen bewegen. Auch für MigrantInnen anderer Nationalität haben diese Grundtendenzen Gültigkeit, wenn auch evtl. abgeschwächt.
DAMANAKIS z.B. geht der Frage nach, warum "die Griechen, die ja Christen und Europäer sind und darüberhinaus demnächst (Stand 1982; A.H.) volles EG-Mitglied werden, so integrationsscheu sind und an ihren nationalen Bildungsinhalten fanatisch festhalten" (1982, 55). Neben den hohen Bildungserwartungen griechischer Eltern sieht DAMANAKIS als vielleicht wichtigsten Grund die "bisherigen mißglückten Integrationsmaßnahmen der verschiedenen deutschen Institutionen" (1982, 70), die zum Beharren auf nationale Klassen beitragen. "Die griechischen Arbeitnehmer (...) haben für sich selbst jahrelang die Erfahrung gemacht, daß sie verurteilt sind, ihr Leben lang Gastarbeiter zu sein, d.h. diejenigen, die die schweren gesundheitsschädlichen und doch unterbezahlten Arbeitsplätze in der deutschen Industrie besetzen müssen und kaum eine Berufsaufstiegschance haben" (1982, 70). Deshalb haben sie ein gewisses Maß an Mißtrauen gegenüber einer Gesellschaft und ihren Institutionen, die ihnen nicht nur eine derartige berufliche Situation zumuten, sondern auch ihre Kinder schulisch schlecht versorgen: "Die jahrelangen schulischen und beruflichen Mißerfolge haben dazu geführt, daß die Gastarbeitereltern dem deutschen Schulsystem sehr kritisch und distanziert gegenüberstehen" (1982, 72).
Auch KALPAKA beschreibt diese Haltung griechischer Eltern: "Die offizielle Politik der Einweisung in die Regelklassen sehen viele Griechen und ihre Vereine als eine Bewertung, und zwar eine Abwertung ihrer Sprache und somit auch ihrer Kultur und weisen auf die Zeiten des Kolonialismus hin, wo die Kolonialherren sich nicht vorstellen konnten, daß die unter ihnen versklavten Völker jemals eine andere Sprache sprechen würden als die der Metropole" (1986, 191; dieses war allerdings weniger eine Frage der Vorstellungskraft, sondern mehr der - mitunter brutalen - administrativen und ökonomischen Durchsetzung). KALPAKA zeichnet die Unzufriedenheit griechischer Eltern darüber nach, daß Nationale Übergangsklassen in Hamburg nur im Grundschulbereich geführt werden: "Worüber sich griechische Eltern und Lehrer beklagen, ... ist die Tatsache, daß dieses Angebot nur auf die Klassen 1 bis 4 beschränkt ist, und daß die einzige Möglichkeit, die dann ihren Kindern geboten wird, die Eingliederung in die Regelklasse ist, die 'Zwangsintegration', wie sie diesen Zustand nennen" (1986, 90). Weiter ist häufig von "Enthellenisierung" und "Germanisierung" die Rede (ZOGRAFOU 1982, 106).
So stehen vor allem Ängste vor kultureller Entwurzelung und solche vor einem Druck zur Germanisierung, also der Anpassung an die deutsche Sprache und Kultur, im Vordergrund von Stellungnahmen. Und wenn es - was bisher augenscheinlich der Fall ist - im wesentlichen nur die Alternative zwischen assimilativer Integration und isolierender Segregation gibt, dann wählen viele Betroffene aus Befürchtung über die drohende Entfremdung und Entwurzelung ihrer Kinder die segregativere Form als kleineres Übel.
In diesem Abschnitt gilt es nun die wesentlichen Aussagen der Theorie und Praxis Interkulturellen Erziehung zur Bewältigung von Heterogenität zu beleuchten. Dies geschieht unter der Fragestellung, ob ein dialektisches Verständnis von Gleichheit und Verschiedenheit als Grundlage der Interkulturellen Erziehung angenommen werden kann und wie diese Grundlage theoretisch und praktisch eingelöst wird. Betrachtungsebenen sind dabei wiederum die von der Frankfurter Arbeitsgruppe um REISER herausgearbeiteten und für diese Arbeit modifizierten Ebenen der Theorie integrativer Prozesse.
Bei der Betrachtung der Entwicklung von Bildungskonzepten für ausländische Kinder werden drei Konzepte deutlich, die mit den Begriffen 'Rotation', 'Integration' und 'Option für beides' beschrieben werden können. Hier fällt bereits auf den ersten Blick eine Entsprechung der Rotation zur Separierung und der Integration - im ausländerpädagogischen Sinne einer Eingliederung und Einpassung in etwas Bestehendes verstanden - zur Assimilation auf. Der Integrationsbegriff wird innerhalb der Diskussion um die Interkulturelle Erziehung sehr unterschiedlich verwendet, das Spektrum reicht von der unverblümten Anpassungs- und Unterwerfungsforderung bis zur synonymen Verwendung und Verschmelzung mit der Interkulturellen Erziehung. Das Optionskonzept stellt hier einen politisch gewollten, aber untauglichen Kompromiß des Offenhaltens dar, nicht aber eine dialektische Herangehensweise an kulturelle Heterogenität. Sie wird erst erreicht mit dem Verständnis Interkultureller Erziehung, die sich gegen Anpassungsforderungen und gegen Separierungstendenzen wendet. Interkulturelle Erziehung ist der pädagogische Reflex auf die Realität einer einer faktisch multikulturellen Gesellschaft. Anders als die Ausländerpädagogik bezieht sie sich nicht nur auf Migrantenkinder, sondern auf alle, ausländische und inländische Kinder und auf die Beziehungen zwischen ihnen. Indem die Interkulturelle Erziehung das Miteinander verschiedener Kulturen, damit die Gemeinsamkeit Unterschiedlicher anstrebt - und dabei Konflikte einschließt - und sich gegen alle monistischen Uniformierungstendenzen wendet, macht sie ein dialektisches Verständnis von universeller Gleichheit und partikularer Verschiedenheit der Menschen zu ihrer Grundlage.
Zur Einlösung dieses Postulats auf der Person-Ebene lassen sich folgende Aussagen treffen:
Bei der Bildungsbeteiligung von Migrantenkindern werden zwei Tendenzen deutlich: Während in den 70er Jahren insgesamt eine klare Schlechterstellung gegenüber deutschen Kindern dominierte, zeigt sich in den 80er Jahren einerseits eine stärkere Normalisierung, also eine Annäherung an die Standards der Bildungskarrieren deutscher Kinder, andererseits eine stärkere Hierarchisierung mit verstärktem Anpassungsdruck zur deutschen Sprache, weg von der Erstsprache und mit einer verstärkten ethnisch-kulturellen Selektion mit zunehmender Aussonderung in Sonderschulen. Bedeutsam ist dabei, daß Migrantenkinder ihre schulischen Erfolge nicht in entsprechende Berufschancen umsetzen können.
Bei Schulleistungsuntersuchungen zeigen sich Unterschiede zwischen ausländischen und deutschen Kindern. Dies kann nicht überraschen, haben Kinder mit nichtdeutscher Erstsprache andere Ausgangsvoraussetzungen für einen rein deutschsprachigen Unterricht als Kinder, die mit der deutschen Sprache aufgewachsen sind. Nach einer Untersuchung verringern sich zwar die Leistungsunterschiede zu deutschen Arbeiterkindern, werden jedoch nicht ganz ausgeglichen. Hier zeigen sich die positivsten Tendenzen, was auf den kooperierenden muttersprachlichen Unterricht zurückgeführt wird. Andere Untersuchungen zeigen Leistungsunterschiede zwischen ausländischen und deutschen SchülerInnen anhand ihrer Zensuren, wobei sich eine ungünstigere Situation für die Migrantenkinder ergibt. Diese Untersuchungen sind insofern problematisch, als auch mögliche Wahrnehmungsverzerrungen und subjektive Wertungen der LehrerInnen mit eingehen. Gleichwohl weisen sie eine gewisse Plausibilität auf, denn sie korrespondieren mit Beobachtungen zum Meldeverhalten, bei denen sich ebenfalls eine ungünstigere Situation für Migrantenkinder zeigt.
Was die Identitätsentwicklung von Migrantenkindern angeht, so findet sich eine kontroverse Diskussion mit allenfalls unsicheren Tendenzmeldungen. Der frühere Konsens, ausländische Kinder litten unter dem Zusammenprallen zweier Kulturen, unter einem Kulturschock, und durchliefen generell eine gestörte Identitätsentwicklung, wird heute eher in Frage gestellt. Selbst die Hypothese möglicher höherer Häufigkeiten von psychischen Störungen wird kontrovers beantwortet.
Zur Frage der Selbst- und Fremdwahrnehmung zeigt sich zwischen ausländischen und deutschen Kindern, daß eher negativ besetzte Eigenschaften gesehen werden. Vorurteile und Stereotype werden von deutschen wie ausländischen Kindern formuliert; häufig scheinen bei deutschen Kindern Aussagen sozialer Erwünschtheit durch, die die Wahrnehmung insgesamt als widersprüchlich erscheinen lassen: Einerseits lehnen sie Migrantenkinder ab, andererseits solidarisieren sie sich als 'nette deutsche Kinder' emotional mit ihnen gegen Diskriminierung. Migrantenkinder in nationalen Klassen bewerten ihre Nationalität als weitaus wichtiger als jene aus gemischten Klassen; SchülerInnen nationaler Klassen führen Ablehnungserfahrungen eher auf ihre Nationalität zurück und empfinden das Deutsche als fremder. Der gleiche Widerspruch zwischen eigenen Vorurteilen und Abgrenzungsbedürfnissen und sozial erwünschter Solidarität zeigt sich auch bei PädagogInnen. Diese Widersprüchlichkeit kann zu Wahrnehmungsverzerrungen führen, die Migrantenkinder von vornherein einem negativ besetzten Klischee zuordnen. Die Wahrnehmung von Migrantenkindern und ihrer Besonderheiten, meist in Form von Problemen und Defiziten, weist auf die Bedeutung der Identitätsbalance auch auf seiten der PädagogInnen: Mit Hilfe von Defizitbeschreibungen und einer entsprechenden Fördermaßnahmenpädagogik stellen sie eigene Handlungssicherheit her und wehren Verunsicherung ab.
Hinsichtlich der Sprachentwicklung wird in der Literatur einmütig die Notwendigkeit der Einbeziehung der Erstsprache in schulisches Lernen für die Sprach- und Persönlichkeitsentwicklung betont. Die Berücksichtigung dieses Postulates zeigt in Untersuchungen nicht nur eine bessere Entwicklung in der Zweitsprache Deutsch, sondern im Sinne der Interdependenzthese auch eine positivere Entwicklung in der Erstsprache. Hieraus ist die Aussage abzuleiten, daß sich Migrantenkinder am ehesten im Sinne einer mehrsprachigen Situation entwikeln können, wenn sie in der allgemeinen deutschen Schule unterrichtet werden und dort erstsprachliche Angebote bereitgehalten werden. Die Forderung nach der Berücksichtigung der jeweiligen Erstsprache und ihrer Koordination mit deutschsprachigem Unterricht bildet die konsensuelle Basis innerhalb der Interkulturellen Erziehung. Sie wird bisher jedoch allenfalls in Modellversuchen eingelöst. Sonst dominiert eine einsprachig deutsche schulische Erziehung in der faktischen Situation der multikulturellen Gesellschaft.
Für die Interaktion-Ebene lassen sich die folgenden Aussagen treffen:
Untersuchungen über Sympathiebeziehungen in gemischten Klassen zeigen eine geringere Berücksichtigung ausländischer SchülerInnen bei Wahlen und Ablehnungen sowie eine kritischere Distanz zwischen ausländischen und deutschen SchülerInnen. Dabei ergibt sich ein eigentümlicher Widerspruch zwischen diesen soziometrischen Ergebnissen, die Migrantenkinder eher als Randgruppe, in geringerer Wahrnehmung und größerer Ablehnung deutscher SchülerInnen zeigen, und den subjektiven Wahrnehmungen von SchülerInnen und LehrerInnen, die solche Tendenzen nicht sehen.
Freundschaften zwischen ausländischen und deutschen SchülerInnen gestalten sich je nach Nationalität, stärker aber noch je nach besuchtem Klassentyp höchst unterschiedlich. Migrantenkinder in Regelklassen gehen wesentlich mehr und tendenziell intensivere Freundschaften ein als jene in Nationalklassen. Dabei sind jedoch nationale Unterschiede zu berücksichtigen. Schulische Kontakte von Migrantenkindern bestehen je nach schulischer Situation mehr zu deutschen oder zu ausländischen SchülerInnen, wobei der größte Anteil jeweils auf die Kontakte sowohl mit deutschen als auch mit ausländischen SchülerInnen entfällt. Auffällig ist der relativ große Anteil ausschließlicher Kontakte zu Landsleuten bei SchülerInnen an einer nationalen Schule.
Als zentral wird die Bedeutung der Verhaltensweisen von PädagogInnen angesehen. Eine ältere Untersuchung zeigt eine deutliche Benachteiligung ausländischer gegenüber deutschen SchülerInnen durch Ab- und Zuwendung von LehrerInnen. Weiter scheinen zwei Verhaltensstrategien deutscher LehrerInnen gegenüber ausländischen SchülerInnen typisch zu sein: 'Ignorierende Toleranz' unterstellt kulturelle Gleichheit und blendet Unterschiedlichkeit aus, solange ausländische SchülerInnen nicht durch Defizite und Probleme auffallen. 'Positive Diskriminierung' nimmt kulturelle Unterschiedlichkeit als Defizit und Defekt ausländischer SchülerInnen wahr und engagiert sich in einer Sonderbehandlung mittels besonderer Förderung, am besten durch SpezialistInnen. Beiden Strategien gemeinsam ist neben der Abwehr von interkultureller Verunsicherung die Abwertung kultureller Heterogenität durch den Versuch einer sprachlichen, ethnischen und kulturellen Diskriminierung und einer Anpassung an das Deutsche im Sinne eines heimlichen Lehrplans.
Auf der Handlungsebene können folgende Aussagen gemacht werden:
In der Literatur wird häufig die Kooperation in einem deutsch- und muttersprachlichen Zwei-LehrerInnen-Teams gefordert, das der zweisprachigen Situation von Migrantenkindern entsprechen könne. Erst diese Konstruktion ermöglicht die gleichberechtigte Anerkennung der Erstsprache von Migrantenkindern.
Grundlage des interkulturellen Unterrichts ist die größere kulturelle Heterogenität der Lerngruppe. Dieses wird sowohl als Problem als auch als Chance für gegenseitige Anregung gesehen. Als didaktische Elemente wird auf jene verwiesen, die den Zielhorizont einer kindgerechteren Schule ausmachen: Lebensweltorientierung, Binnendifferenzierung und Individualisierung, Öffnung des Unterrichts, Gemeinwesenorientierung, HelferInnensysteme. Diese Elemente sind nicht spezifisch interkulturell. Gleichwohl reichen diese allgemeinen Prinzipien nicht aus, sie müssen auf spezifische Erfordernisse kultureller Heterogenität bezogen und konkretisiert werden. Interkulturelle Didaktik ist damit keine spezielle Didaktik, sondern eine allgemeine Didaktik mit speziellen Qualitäten. Dieses schließt z.B. für die Spracherziehung eine parallele Alphabetisierung in der Erst- und Zweitsprache mit dem Ziel einer bewußten Zweisprachigkeit ein, die sich mehr auf kommunikative Situationen und Funktionen als auf systematisches Lernen von Formeln stützt. Insgesamt zeigt sich bezüglich eines interkulturellen Unterrichts ein großer Mangel an empirischen Untersuchungen, eher ist eine vielfältige, stillschweigende Praxis anzutreffen, die jedoch wenig erforscht ist. Auf curricularer Ebene wird eine Internationalisierung gefordert, eine Überarbeitung bestehender Lehrpläne und Lehrbücher, die Ergänzungen von unterschiedlichen Perspektiven und Korrekturen von germanozentristischen Tendenzen einschließt.
Im Bereich der Aus- und Weiterbildung von PädagogInnen besteht Konsens über die Notwendigkeit einer pragmatischen Weiterqualifikation für tätige PädagogInnen, aber auch über eine verpflichtende Einbindung in die Ausbildung zukünftiger PädagogInnen. Deren Realisierung läßt jedoch Probleme deutlich werden: Zwar gibt es mittlerweile eine Reihe spezieller Aufbau-, Fern- und Kontaktstudiengänge, jedoch entsprechen diese teilweise mit der starken Betonung der Sprachförderung früheren kompensatorischen Ansätzen. Eine allgemeine Verankerung in der LehrerInnenausbildung läßt noch weitgehend auf sich warten. Positiv wird die Arbeit bestehender Regionaler Arbeitsstellen gesehen, die die interkulturelle Arbeit auch über den unterrichtlichen Rahmen hinaus unterstützen.
Auf der Institution-Ebene lassen sich folgende Feststellungen treffen:
Die rechtlichen und administrativen Grundlagen begünstigen interkulturelle Erziehung nicht, sondern erschweren sie. Die staatliche Ausländerbildungspolitik in Gestalt der Beschlüsse der Kultusministerkonferenz basiert auf der politisch grundgelegten Doppelstrategie von Integration und Reintegration bzw. auf Anpassung und Rückkehr, zwischen deren Polen sich mehrmals Akzentverschiebungen ergeben. Auf dieser bundeseinheitlichen Basis entwikeln sich länderspezifisch unterschiedliche Regelungen, die nach je politischer Orientierung mehr Gewicht auf Eingliederung oder auf Rückkehr legen. Gemeinsam ist ihnen jedoch ein gestuftes System von Angeboten und Maßnahmen, in das Migrantenkinder nach je vorhandenen sprachlichen Fähigkeiten eingruppiert werden. Homogenisierung ist hier das grundlegende Prinzip, die allgemeine Schule wird von schwierigeren Problemfällen entlastet. Kulturelle Heterogenität wird nicht begünstigt, sondern erschwert. Muttersprachlicher Unterricht wird in vielen Bundesländern in die Obhut der Konsulate gegeben; damit wird die Erstsprache von Migrantenkindern diskriminiert und viel Geld gespart.
Während also die generellen Rahmenbedingungen für Interkulturelle Erziehung wenig Unterstützung verheißen, zeigen Modellversuche veränderte und hilfreiche Rahmenbedingungen auf. Sie basieren meist auf einer Kombination von innerer und äußerer Differenzierung bzw. von heterogener und homogenisierter Lerngruppenbildung, die mit sich verändernden zeitlichen Anteilen schulische Gemeinsamkeit und spezifische sprachliche Förderung ermöglicht. Der Preis für eine solche Struktur besteht in der wohnortferneren Zuordnung von Migrantenkindern an Schulen mit je vorhandenen Sprachen. In einem Versuch wird der Unterricht teilweise im Zwei-LehrerInnen-Team zweisprachig oder parallel erteilt. Gemeinsam ist interkulturellen Versuchen also das Primat des gemeinsamen Unterrichts, eine flexible Kombination aus innerer und äußerer Differenzierung und die Berücksichtigung der Erstsprachen im Sinne einer Erziehung zur Zweisprachigkeit sowie darüberhinaus die Öffnung zum Stadtteil und die Einbeziehung sozialpädagogischer Dienste. Dieses sind gleichzeitig die Forderungen, die auch außerhalb von zeitlich begrenzten Modellversuchen für Interkulturelle Erziehung erhoben werden. Personell wird die gleichberechtigte Kooperation deutscher und ausländischer LehrerInnen für notwendig und erfolgversprechend gehalten.
Bei Migrantenkindern erweist sich die Problematik von diagnostischen Verfahren für die Aufnahme in bestimmte Klassen als problematischer als bei deutschen Kindern. Bisher werden deutsche Tests unmodifiziert bei ausländischen Kindern eingesetzt und für die Begründung von Plazierungs- und ggf. Selektionsentscheidungen benutzt. Demgegenüber ist eine begleitende Diagnostik notwendig, die kindliche Entwicklung und unterrichtliche Praxis reflektiert und dabei beide Sprachen des Kindes einbezieht. Noch problematischer wird die Frage der Diagnostik bei der Überweisung von Migrantenkindern in Sonderschulen. Hier sind Entscheidungen aufgrund verwendeter deutscher Tests und vielfach bestehender Verständigungsprobleme noch schwieriger zu begründen. Dabei fällt auf, daß in der Sonderpädagogik kontrovers diskutierte - oder im Verschwinden begriffene - Verfahren innerhalb der Interkulturellen Erziehung wenig problematisiert verwendet werden, beginnend z.B. mit dem Begriff der Sonderschulbedürftigkeit. Auch in diagnostischen Verfahren liegt das Primat - dem hierarchischen Schulsystem entsprechend - eher bei selektionsorientierten Fragen als bei interkultureller Gemeinsamkeit in heterogenen Lerngruppen.
Auf der Gesellschaft-Ebene schließlich erscheinen die folgenden Aussagen über kulturelle Heterogenität möglich:
Das Verhältnis von Ausländerpädagogik bzw. Interkultureller Erziehung und allgemeiner Pädagogik wird kontrovers diskutiert. (Viele) VertreterInnen einer 'generalistischen Position' betonen die Gemeinsamkeit ausländischer und deutscher Kinder und damit auch die Gemeinsamkeiten zwischen Interkultureller Erziehung und Allgemeiner Pädagogik. Sie grenzen sich scharf gegen die Gefahr einer Sonderpädagogik für AusländerInnen ab. (Wenige) VertreterInnen einer 'spezialistischen Position' betonen demgegenüber die Unterschiede zwischen den o.g. Kindergruppen, die besonderen Bedürfnisse von Migrantenkindern und fordern demzufolge eine spezielle Pädagogik, die auf deren speziellen Bedürfnisse eingeht. Während sich die Interkulturelle Erziehung nach Lesart generalistischer Positionen auf ausländische und deutsche Kinder in einer gesellschaftlichen Situation der Vielsprachigkeit und Multikulturalität bezieht und eine gemeinsame Entwicklungsaufgabe formuliert, sieht die Ausländerpädagogik unter spezialistischen Gesichtspunkten Migrantenkinder als ihr Klientel und deren spezielle Förderung als primäre Aufgabe an. Ebenso wie beim interkulturellen Unterricht deutet sich auch hier ein dialektisches Verständnis an: Interkulturelle Erziehung wäre demnach nicht als spezielle Pädagogik zu qualifizieren, sondern als Allgemeine Pädagogik mit spezifischen Qualitäten.
Kritik an Förderansätzen und Bikultureller Bildung übt die Interkulturelle Erziehung vor allem hinsichtlich deren Defizitorientierung und hinsichtlich der individuellen Bewältigung von Mehrsprachigkeit. Förderansätze gehen primär von der Förderbedürftigkeit ihres Klientels, seinen Defiziten, Problemen und Schwierigkeiten aus, anstatt auch vorhandene Kompetenzen als Bildungsvoraussetzungen anzuerkennen. Dieses gilt auch für Ansätze einer Bikulturellen Bildung. Derartige Ansätze fragen nach dem Versagen von Kindern im Inländerbildungssystem, nicht aber nach dem Versagen des Bildungssystems gegenüber diesen Kindern.
Mit Antirassistischer Erziehung ergeben sich für Interkulturelle Erziehung in einigen Bereichen Überschneidungen und kritische Anregungen, in anderen Bereichen gegenseitige Kritik. Antirassistische Ansätze bemühen sich darum, gesellschaftspolitische Machtstrukturen in die Pädagogik einzubringen und werfen interkulturellen Ansätzen gesellschaftliche Naivität und unrealistische Begegnungseuphorie vor.
Zentrale Kritikpunkte Interkultureller Erziehung sind die gesellschaftlich vorherrschenden Traditionen von Ethno-, Eurozentrismus und nicht mehr biologisch, sondern soziokulturell begründetem Rassismus. Gemeinsam ist ihnen die Vorstellung einer europäisch-abendländischen Höherwertigkeit gegenüber anderen Kulturen und Gesellschaften. Während die Kritik am Ethnozentrismus sich eher auf gegenseitige Vorurteile und Abgrenzung von anderen Gesellschaften und ihren Angehörigen bezieht, spitzt sich die Kritik am Eurozentrismus unter stärkerer Betonung ökonomischer Ausbeutung auf die Herrschaft der westeuropäisch-abendländischen Zivilisation gegenüber dem 'Rest der Welt' zu. Sie bezieht sich auch auf die dazugehörigen Entwicklungsmodelle, die Unterentwicklung als Modernitätsrückstand auffassen. Der Begriff des Rassismus betont im Unterschied zu dem der Ausländerfeindlichkeit, daß die Abwertung sich nicht auf alle, sondern auf bestimmte Gruppen von AusländerInnen bezieht, vor allem ArbeitsmigrantInnen und Armutsflüchtlinge. Weiter umfaßt Rassismus auch paternalistische Variationen von Diskriminierung. Als Ausdruck derartiger Diskriminierungen werden auch punktuelle, folkloristische Aktivitäten in der Schule angesehen; sie bestätigen geradezu die Ausnahme und Abweichung vom Normalen. Ethno-, eurozentristische und rassistische Diskriminierung des Fremden findet sich den allgemeinen gesellschaftlichen Normen entsprechend auch in Lehrplänen und Schulbüchern. Beginnend mit einer diskriminierenden Sprache, über direkte Abwertung anderer Völker bis hin zum Ignorieren ihrer Leistungen erstreckt sich die Palette vorzufindender Diskriminierungen. Hier wird offensichtlich eher Identifikation mit dem Eigenen und Abwehr des Fremden als die Gemeinsamkeit der Verschiedenen angestrebt.
Bedeutsam für die Interkulturelle Erziehung ist auch die Kritik von Betroffenen. Sie machen immer wieder deutlich, daß sie eine schleichende Germanisierung befürchten und suchen sich von allen germanozentristischen Tendenzen zu distanzieren. Ein deutliches Beispiel hierfür ist die Veröffentlichung des Memorandums zum Muttersprachlichen Unterricht 1983. In ihm wird u.a. das vorhandene Mißtrauen gegenüber dem deutschen Schulwesen und dessen Umgang mit den Erstsprachen von Migrantenkindern, die anscheinend vom deutschen Schulsystem nicht als wichtige Bildungsgüter wahrgenommen werden. Andere Stellungnahmen machen darüberhinaus deutlich, daß griechische MigrantInnen für ihre Kinder eher isolierende Separierung wählen, wenn als andere Alternative lediglich assimilierende Integration besteht.
Inhaltsverzeichnis
- 5.1 Zur Heterogenität der Geschlechter
- 5.2 Aussagen zur Person-Ebene
- 5.3 Aussagen zur Interaktion-Ebene
- 5.4 Aussagen zur Handlungsebene
- 5.5 Aussagen zur Institution-Ebene
-
5.6 Aussagen zur Gesellschaft-Ebene
- 5.6.1 Feministische und allgemeine Pädagogik - Kritik am androzentristischen Universalismus
- 5.6.2 Kritik am Sexismus
- 5.6.3 Kritik an sexistischen Darstellungen in Schulbüchern und Richtlinien
- 5.6.4 Zur Ambivalenz von kompensatorischen Ansätzen - die Gefahr der 'Sonderpädagogisierung' der Koedukationsfrage
- 5.6.5 Kritik von Betroffenen an der Reproduktionstechnologie
- 5.7 Zusammenfassung wesentlicher Aussagen der Feministischen Pädagogik zur Bewältigung der Heterogenität der Geschlechter
In den letzten 20 Jahren ist es eine Selbstverständlichkeit geworden, daß Mädchen und Jungen in gemeinsamen Schulen lernen und gemeinsam unterrichtet werden. Mit der Bildungsreform war die allgemeine Überzeugung gewachsen, "der koedukative Unterricht sei Inbegriff eines emanzipatorischen Ansatzes, der Schülerinnen und Schüler im Schul- und Bildungswesen der Bundesrepublik Deutschland (endlich) gleichberechtigt, der Mädchen und Jungen gleichartige (nicht nur gleichwertige) Bildungsangebote eröffnet und der Schülerinnen prinzipiell den Zugang zu allen Ausbildungsstätten und beruflichen Bereichen ermöglicht" (DICK 1988, 6).
Erst in den letzten Jahren ist diese Sichtweise als "formal, oberflächlich und naiv" (ENDERS-DRAGäSSER 1990a, 9) bezeichnet und das gemeinsame Lernen von Mädchen und Jungen im koedukativen Unterricht kritisch hinterfragt worden. Dieses geschah zunächst im (engeren, fast subkulturellen) Rahmen 'frauenbewegter' Diskussionen, z.B. in der AG Frauen und Schule, inzwischen aber auch innerhalb der erziehungswissenschaftlichen Diskussion, bis hin zur Einrichtung der Arbeitsgruppe Frauenforschung und zu Tagungen der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (FAULSTICH-WIELAND 1988b, 1991a). Inzwischen hat diese Diskussion auch die Zeitungen erreicht; die ZEIT z.B. widmete ihr ein ganzes Dossier (R. SCHOLZ 1990).
Damit hat sich die Koedukation vom "erledigten Thema" (FAULSTICH-WIELAND 1987b) zum heiß diskutierten gewandelt. In Zeitschriften werden Artikel veröffentlicht wie: "Licht und Schatten der Koedukation" (METZ-GöCKEL 1987), "Ausstieg aus der Koedukation?" (THIES 1987), "Kommen Mädchenschulen wieder?" (SCHULTE 1988), "Schulforscherinnen fordern: Reform die Koedukation" (FRAUEN + SCHULE 1988) und "Vom Ende der koedukativen Erziehung?" (DICK 1988). Es erscheinen erste Monographien wie "Abschied von der Koedukation?" (FAULSTICH-WIELAND 1987a), "Zurück zur Mädchenschule?" (PFISTER 1988) und "Koedukation - enttäuschte Hoffnungen?" (FAULSTICH-WIELAND 1991a). Und es stellt sich die Frage, wie die Koedukation einzuschätzen sei: "Ist sie als zu bewahrende Errungenschaft oder eher als Phyrrus-Sieg im Bestreben um gleiche Bildungschancen für beide Geschlechter zu bewerten?" (HORSTKEMPER 1990b, 97)
Die Kritik an der bisher praktizierten Koedukation zielt im Kern darauf, daß gemeinsamer Unterricht und formale Gleichheit von Mädchen und Jungen keineswegs schon die Gleichberechtigung der Geschlechter bedeutet. "Formale Gleichheit und diskrete Diskriminierung" überschreiben beispielsweise KAUERMANN-WALTER, KREIENBAUM & METZ-GöKEL (1988) ihren Beitrag im Jahrbuch der Schulentwicklung. Die wesentliche Botschaft der Koedukations-Kritik lautet: "Unter der Decke formaler Gleichheit finden im koedukativen Unterricht unserer gegenwärtigen Schulen Sozialisationsprozesse statt, die Mädchen klar benachteiligen" (HORSTKEMPER 1990b, 97). Die feministische Kritik stellt fest, "daß mit der koedukativen Organisation des Schulwesens keine inhaltlichen Veränderungen einhergegangen sind, mit denen der Anwesenheit von Mädchen und dem Gleichheitspostulat der Verfassung Rechnung getragen worden wäre" (ENDERS-DRAGäSSER 1988, 48). So vollziehen sich - z.T. unbewußt und latent - ähnliche Diskriminierungen von Mädchen wie die, die es traditionell in der Geschichte gegeben hat, denen aber Frauen auch heute gesellschaftlich ausgesetzt sind. Der Feministischen Schulkritik nach führt diese Situation zu dem Ergebnis, "daß die Mädchen im koedukativen Unterricht nicht den gleichen Unterricht erhalten wie die Jungen und daß sie nicht in der gleichen Weise wie die Jungen intellektuell gefördert werden" (FUCHS 1989, 91). Oder, wie STALMANN (1991a) es im Titel ihres Buches provokativ und verkürzt formuliert: "Die Schule macht die Mädchen dumm."
Gleichwohl werden bei aller Kritik an der aktuellen Praxis und auch bei allen Utopien und Gedankenspielen über die Aufhebung der koedukativen zugunsten einer autonomen feministischen Erziehung (vgl. DICK 1988, 6) die positiven Aspekte nicht negiert, die die Einführung der Koedukation in den 60er und 70er Jahren mit sich gebracht hat: "Ohne Zweifel gehört die gemeinsame Unterrichtung von Mädchen und Jungen zu den erfolgreichsten Maßnahmen der Bildungsreform der letzten Jahrzehnte" (KAUERMANN-WALTER U.A. 1988, 157). Immer wieder wird darauf hingewiesen, daß Mädchen in Gymnasien und Realschulen einen größeren Anteil der Schülerschaft stellen als Jungen, Mädchen während der Sekundarstufe I in den Schulleistungen Jungen zumindest ebenbürtig, wenn nicht z.T. überlegen sind, daß Mädchen wesentlich seltener Klassenwiederholungen und Abschulungen hinnehmen müssen als Jungen und Mädchen wesentlich seltener als Jungen in Sonderschulen ausgesondert werden (vgl. Kap. 5.2.1). Insofern ergibt sich eine recht widersprüchliche Situation: Die Einführung der Koedukation und ihre praktischen Konsequenzen werden als positive Entwicklung begrüßt, gleichwohl wird eine nach wie vor bestehende Benachteiligung von Mädchen kritisiert.
Unter geschichtlichem Aspekt kritisiert die Feministische Pädagogik eine durchgängige strukturelle Diskriminierung weiblicher Bildung. Seit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht bekamen zwar die Kinder der niederen sozialen Schichten eine gemeinsame Elementarbildung; dieses geschah jedoch nicht, "weil man von den Segnungen der Koedukation überzeugt gewesen wäre, sondern weil eine getrennte Elementarbildung in den ländlichen und kleinstädtischen Verhältnissen unwirtschaftlich gewesen wäre. ... Für Jungen gab es nach der Elementarbildung weiterführende Einrichtungen auf verschiedenen Ebenen, die selbstverständlich nicht mehr koedukativ waren" (VON DER LIETH 1989, 12).
Im höheren Schulwesen gab es eine strikte Geschlechtertrennung, die dem Bild bürgerlicher 'Geschlechtscharaktere' entsprach und die gesellschaftliche Geschlechterhierarchie widerspiegelte (vgl. Kap. 5.1.1). Dem herrschenden Bild der bürgerlichen Frau gemäß gestaltete sich die curriculare Orientierung innerhalb des Mädchenschulwesens: "Ihr Unterrichtskonzept war ganz und gar auf die 'weibliche Bestimmung' ausgerichtet, daher kommt dem Handarbeitsunterricht ein hoher Stellenwert zu. Er nimmt bis zur Hälfte der gesamten Unterrichtszeit in Anspruch und soll 'nützliche Geschäftigkeit, häuslichen Fleiß, weibliche Demut und Bescheidenheit, Ordnungsliebe, Reinlichkeit, Schicklichkeit, Anständigkeit und einfachen und guten Geschmack' befördern. Der übrige Unterricht umfaßt Deutsch, Französisch, zuweilen auch Englisch, Geschichte, Naturkunde, Singen und natürlich Religion" (VON DER LIETH 1989, 13; vgl. auch BREHMER 1987a, 1987b). Besonders deutlich wird die geschlechtsspezifische Ausrichtung der Curricula später im Turnunterricht des deutschen Faschismus: "Für Rasse, Volk und Führer galt der Körper jetzt als wichtiger als der Intellekt, was u.a. zu einer ungeheuren Aufwertung des Turnunterrichts führte, der die geschlechtsspezifische Funktionalisierung des Körpers vorbereiten sollte. Jungen sollten u.a. zu Kämpfern, Mädchen zu Müttern erzogen werden" (PFISTER 1985a, 28).
Über reduktionistische Curricula hinaus war die höhere Mädchenbildung in zweierlei Hinsicht diskriminiert: Zum ersten wurden die Abschlüsse niedriger bewertet, sie eröffneten wesentlich weniger Möglichkeiten der Weiterqualifizierung. So konnten Frauen erst 1908 in öffentlichen Schulen das Abitur ablegen und damit Zugang zur Universität erhalten (PRENGEL 1989a, 141f.); dieses waren 1908 in ganz Deutschland nur 120 Frauen (JACOBI-DITTRICH 1989). Zum zweiten wurden wesentlich weniger Lehrerinnen ausgebildet als Lehrer, zudem schlechter bezahlt (vgl. BREHMER 1985, 35) und rechtlich diskriminiert (vgl. SCHMITTER 1990, 52). Damit war der Kampf um die Gleichberechtigung auch ein Kampf um die Gleichheit der Standesinteressen (Faulstich-Wieland 1988b, 38, FAULSTICH-WIELAND & SCHEFER-VIETOR 1988, 170, SCHULTE 1988, 41).
Mit der Herausbildung des Mädchenschulwesens wurde also - und dieses auch von der frühen bürgerlichen Frauenbewegung - nicht etwa die Gleichheit der Ausbildungen im Sinne einer Gleichheit der Geschlechter angestrebt, sondern die Pflege der "'Andersartigkeit des Weiblichen', die es herauszubilden und zu bewahren galt" (THIES 1987, 22). So hielt z.B. auch Helene Lange an der Geschlechterpolarität fest: "Die Verschiedenartigkeit der Geschlechter war für sie keine Frage, die daraus abgeleitete Verschiedenwertigkeit hat sie vehement bekämpft" (VON DER LIETH 1989, 15; Hervorh. i. O.).
So wurde auf der Basis gesellschaftlicher Diskriminierung der Mädchenbildung und ihrer Lehrerinnen die Norm formaler Gleichheit (WILDT & NAUNDORF 1986, 91) zur Forderung der Frauenbewegung. "Die Geschichte der Mädchenbildung hat seit der Aufklärung immer zwei Aspekte: Sie ist geprägt durch die Forderung nach gleichwertiger Bildung ... und parallel dazu auch durch wiederum zunächst zaghafte Ansätze, den Erwerb dieser Bildung zu ermöglichen. Zugleich gab es aber auch immer schon die Erkenntnis ... , daß die Bildung, auf die sie setzten, eine geschlechtsspezifisch männlich geprägte war" (JACOBI-DITTRICH 1989, 59).
Die vorher durchgängige Geschlechtertrennung im höheren Schulwesen endet in Deutschland erst in den 50er und 60er Jahren (vgl. STALMANN 1991b, 8). Die reibungslose und widerstandslose Durchsetzung der Koedukation in den 70er Jahren sollte "eigentlich zum Wundern Anlaß geben" (KAUERMANN-WALTER U.A. 1988, 172). Offensichtlich saß der Sputnik-Schock so tief, daß auch "das 'unausgeschöpfte' Begabungspotential der Mädchen" (FAULSTICH-WIELAND U.A. 1984, 117, SCHULTE 1988, 41) genutzt werden mußte.
Der auf institutioneller wie auf curricularer und gesellschaftlich-normativer Ebene feststellbaren Diskriminierung der Mädchenbildung entsprechend faßt die Feministische Pädagogik ihre Kritik an der historischen Entwicklung der Schule zusammen in der These: Die Geschichte des Schulsystems ist eine Geschichte des Schulsystems von Männern. Es wurde "von Männern gegründet, lange bevor Frauen der Zugang dazu gestattet wurde. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, daß viele der Forderungen für weibliche Gleichberechtigung Forderungen nach gleichem Zugang zu dem von Männern geschaffenen Bildungswesen waren" (SPENDER 1985, 70). Damit ist bereits die gesellschaftliche Dimension angesprochen.
Unter gesellschaftlichem Aspekt kritisiert die Feministische Pädagogik, daß mit der Einführung der formalen Gleichheit bzw. Koedukation nicht schon Gleichberechtigung realisiert ist, sondern sich vielmehr weiterhin das traditionelle hierarchische Geschlechterverhältnis in der koedukativen Schule relativ ungestört reproduzieren kann. Denn "das Bildungssystem tradiert in all seinen Arbeitsfeldern eine geschlechtsspezifische Sozialisation, diese ist so sehr zugleich eine geschlechtshierarchische, daß die Unterdrückung der Frau auch durch die verschiedenen Bildungsinstitutionen reproduziert wird" (PRENGEL 1986a, 417). Da von diesen Mechanismen die Koedukation nicht ausgenommen sein kann, wird sie kritisiert als "dürres Prinzip, mit dem sogar auf neue Weise patriarchalisch-männliche Werte vermittelt werden können" (THIES 1987, 22). Zusammenfassend formulieren KAUERMANN-WALTER & KREIENBAUM: "Zentrale Erkenntnis (der Feministischen Pädagogik; A.H.) ist die Existenz eines heimlichen Lehrplans der Geschlechtererziehung, der die Anpassung der Mädchen und der Jungen an die herrschenden Geschlechterstereotypen befördert. Damit trägt er zur Zementierung der Geschlechterhierarchie bei, die den Frauen einen geringeren Stellenwert beimißt als den Männern" (1989, 29). Die geschlechtsspezifische Sozialisation wird dementsprechend als "Deformationsmaschinerie" (FICHERA 1990a, 272) gegeißelt, der alle Menschen von der Geburt an ausgesetzt seien. Durch sie werde aus dem biologischen Geschlecht das soziale Geschlecht konstruiert, indem "bei den Mädchen Selbständigkeit, Bewegungsdrang und Aktivität so lange unterdrückt, verformt, ausgegrenzt und abgewertet werden, bis sie das 'schwache' Geschlecht sind. Bei Jungen werden so lange Aktivität, Unabhängigkeit, Durchsetzungsvermögen und Bewegungsdrang gefördert und ermutigt, aufgewertet, auch überfordert, bis sie das 'starke' Geschlecht zu sein scheinen" (1990a, 272). Wenngleich diese Gegenüberstellung selbst etwas schematisch-stereotypisierend erscheint und individuelle Unterschiede wegsuggeriert, so kennzeichnet sie doch die deutlich unterschiedlichen Tendenzen der geschlechtsspezifischen Sozialisation (vgl. auch BECK-GERNSHEIM 1987).
Jedoch werden Mädchen und Jungen durch geschlechtsspezifische Sozialisation in gesellschaftliche Rollenerwartungen gedrängt - mit Möglichkeiten und Nöten für beide Geschlechter. Die Betrachtung der Mädchensozialisation muß ergänzt werden durch die Betrachtung der Jungensozialisation (vgl. SCHNACK & NEUTZLING 1990). Dabei kann das Geschlecht nicht im biologischen Sinne verstanden werden, sondern als soziale Kategorie, denn "Weiblichkeit wie Männlichkeit sind kulturell vermittelte Verhaltensmuster" (FAULSTICH-WIELAND 1991a, 156).
Auch HURRELMANN U.A. weisen darauf hin, daß "Schule als gesellschaftliche Institution nicht geschlechtsspezifische Benachteiligungen ursächlich induziert, wohl aber im allgemeinen verstärkend auf sie wirkt" (1986, 12). Wenn also die Schule bzw. die Koedukation "nicht 'Verursacherin' der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, sondern nur ein Reflex der gesellschaftlichen Bedingungen" (KAUERMANN-WALTER U.A. 1988, 160) ist, dann ist ihr Stellenwert bei der Bekämpfung geschlechtsspezifischer Diskriminierung eher gering einzuschätzen: Schule kann nicht jene gesellschaftlichen Normen und Orientierungen außer Kraft setzen, in die die Beteiligten - SchülerInnen wie LehrerInnen - eingewoben sind. Entsprechend formuliert SPENDER: "Schulen können nicht lehren, was die Gesellschaft nicht weiß" (1985, 20).
GRABRUCKER (1985, 1990) hat für den Bereich der primären Sozialisation eindrucksvoll beschrieben, wie Kinder schon in den ersten Lebensjahren - auch entgegen allen Hoffnungen und Bestrebungen ihrer feministischen Mütter - geschlechtsspezifische Normen und Orientierungen zu übernehmen lernen. Für Mädchen dominiert dabei immer noch die Sozialisation "eher auf eine spätere Mutterrolle als auf eine lebenslange Berufsrolle hin" (FAULSTICH-WIELAND U.A. 1987, 154). Bereits 1977 haben diese Prozesse SCHEU zu ihrem provozierenden Titel "Wir werden nicht als Mädchen geboren, wir werden dazu gemacht" veranlaßt.
Im Kindergarten setzt sich die geschlechtsspezifische Orientierung fort, denn es "zeichnet sich (...) ab, daß Kindergartenkinder entsprechend ihrem Geschlecht in verschiedenen Entwicklungsbereichen in unterschiedlichem Maße gefördert werden" (FRIED 1989, 488). Dies gilt zumindest nach FRIEDs Untersuchung für die sprachliche Förderung, bei der ErzieherInnen Jungen mit einer entwicklungsanregenden "Sprache konfrontieren, die minimal über ihrem eigenen Komplexitätsniveau liegt" (1989, 481), während sie Mädchen mit einer Sprache begegnen, "die um einiges unter ihrem Fähigkeitsniveau ansetzt" (1989, 481; vgl. auch FRIED 1990). Weiter arbeiten im Kindergarten meist fast ausschließlich Frauen, und die so bestehenden Modelle weiblicher Arbeit geben wahrscheinlich entsprechend der eigenen Einstellung kaum dem Interesse von Mädchen an Technik Raum (FAULSTICH-WIELAND U.A. 1987, 157).
Der Beginn der Schule "trifft also bei Mädchen und bei Jungen auf bereits zum großen Teil gefestigte Sozialisationsergebnisse bezüglich geschlechtsspezifischen Verhaltens und geschlechtsspezifischer Interessen. Schule müßte beides aufgreifen, wollte sie dem gezielt entgegenwirken" (FAULSTICH-WIELAND U.A. 1987, 157). Demgegenüber wird in der Schulpraxis - für den Bereich der Grundschule - nach wie vor von der Behauptung einer Geschlechtsneutralität ausgegangen, und erst mit der Pubertät scheint die Kategorie Geschlecht zu einer bedeutsamen Kategorie zu werden, die Verhalten, Interessen und Interaktion maßgeblich beeinflußt (vgl. ENGEL U.A. 1985b). Untersuchungsergebnisse aus der Grundschule zeigen, daß dies der Realität nicht standhält (vgl. Kap. 5.2.2 und Kap. 5.3.1).
Die unterstellte Geschlechtsneutralität im Grundschulalter spiegelt die bisherige - auch wissenschaftliche - pädagogische Diskussion wieder, die ebenfalls die Kategorie des Geschlechts in Untersuchungen und Theorien häufig vernachlässigt hat. Die feministische Kritik richtet sich gegen einen "falschen Universalismus" (PRENGEL 1987a) in der Wissenschaft, insbesondere der Erziehungswissenschaft, der die männliche Norm zur allgemeinen erklärt und die weibliche, soweit er sie überhaupt wahrnimmt, als Abweichung definiert (vgl. hierzu Kap. 5.6.1).
Zusammengefaßt besteht die Herausforderung für die Feministische Pädagogik darin, "Koedukation von einem formalen Prinzip, das sie bisher darstellte, zu einem inhaltlichen zu qualifizieren" (KAUERMANN-WALTER U.A. 1988, 162) bzw. dem "Vorgriff auf die Einlösung eines Versprechens zu mehr Gleichheit" (1988, 162) zur Realisierung zu verhelfen. Das bisherige formale Verständnis von koedukativem Unterricht, "der bloße parallele Unterricht von Jungen und von Mädchen zum selben Zeitpunkt im selben Raum mit derselben Lehrperson" (BIERHOFF-ALFERMANN 1988, 76), wird als nicht inhaltlich koedukativ kritisiert und ist nach feministischem Verständnis nicht mehr als "Koinstruktion" (1988, 76; entsprechend KAISER 1988b). Insofern ist die Forderung von HORSTKEMPER logisch, nicht mit der Koedukation aufzuhören, sondern mit ihr tatsächlich zu beginnen.
Für diese Arbeit stellt sich die Frage, wie - mit deutlichen Bezügen auf die feministischen Schulkritik - das Verhältnis der Geschlechter in der Pädagogik wahrgenommen und wie mit ihm umgegangen wird. Während rückblickend in der pädagogischen Diskussion die Frage der Geschlechterunterschiede entweder gar nicht beachtet oder dualistisch im Sinne einer biologischen Determinierung beantwortet wurde (KAISER 1987b, 231), stellte sich die Frauenbewegung schon früh einer solchen biologistisch-hierarchischen Verschiedenheitsideologie mit Gleichheitspostulaten entgegen (1987b, 231). Mit dieser Polarität ist wiederum deutlich, daß das Verhältnis von Gleichheit und Verschiedenheit, hier der Geschlechter, eine zentrale pädagogische Frage darstellt. Aufgabe dieses Kapitels ist es also, die Bewältigung der Heterogenität der Geschlechter zu betrachten. Dabei ist zunächst zu klären, welche Aussagen zur Gleichheit und/oder Verschiedenheit der Geschlechter in der Diskussion um die Koedukation gemacht werden. Zum einen sind hierbei traditionelle Ansätze und Praxis, zum anderen aber auch die bisherige Praxis kritisierende feministische Ansätze zu betrachten (Kap. 5.1).
Weiter wird der schon bei der Integrations- und bei der interkulturellen Diskussion und Praxis angewandten Systematik folgend nach der Einlösung der Bewältigung von geschlechtlicher Heterogenität gefragt, aufgegliedert nach Aussagen zur Person (Kap. 5.2), zur Interaktion (Kap. 5.3), zur Handlung (Kap. 5.4), zur Institution (Kap. 5.5) und zur Gesellschaft (Kap. 5.6). Wiederum steht eine Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse am Ende des Kapitels (Kap. 5.7).
Bei der Betrachtung der Heterogenität der Geschlechter kommt die gesamte Geschichte der Schule und ihre Gestaltung des Geschlechterverhältnisses in den Blick. Sie soll hier nicht aufgeblättert werden, erhält jedoch insofern den ihr zustehenden Raum, indem sie in die Diskussion um die Bewältigung geschlechtlicher Heterogenität einbezogen wird. Zunächst geht es in diesem Abschnitt darum, wie in Vergangenheit und Gegenwart das Verhältnis der Geschlechter definiert und praktiziert worden ist und wird (Kap. 5.1.1). Die Definition dieses Verhältnisses ist letztlich die Grundlage dafür, wie Gleichheit und Verschiedenheit der Geschlechter in der Schule bewältigt werden kann. Darauf aufbauend und um das Umfeld der feministischen Diskussion zu erhellen, soll aufgezeigt werden, wie die Bildungskonzeptionen für Jungen und Mädchen diskutiert und welche Forderungen und Perspektiven abgeleitet werden (Kap. 5.1.2).
Hier geht es um die alte Frage, ob Frauen und Männer gleich sind oder ob sie - und wenn ja, warum - verschieden sind. Aus der Gleichheit bzw. Ungleichheit der Geschlechter leitet sich die gesellschaftliche Definition des Geschlechterverhältnisses ab. Dabei kann es nicht um die Frage der biologischen Gleichheit, sondern um die soziale und damit gesellschaftliche Dimension des Geschlechts und die damit einhergehende Konstruktion des Geschlechterverhältnisses gehen. Die Antworten auf diese Frage stellen sich als außerordentlich unterschiedlich dar. In der feministischen Literatur lassen sich mehrere Versuche einer Systematisierung finden: BECK-GERNSHEIM teilt die Antworten auf die Frage, ob Frauen anders seien als Männer, in drei Kategorien: "Unterlegenheit - Gleichheit - weibliches Arbeitsvermögen" (1987, 21). PRENGEL analysiert ausgehend von der Betrachtung der Geschlechterdifferenz zwei Variationen eines falschen Universalismus, der die Differenz hierarchisch faßt oder übergeht, und stellt ihm drei Stränge der Diskussion innerhalb der Frauenbewegung gegenüber, die sich zwischen Gleichheit, Aufwertung des Weiblichen und Offenheit für vielfältige Heterogenität bewegen (1987a, 222-227). BAST betrachtet Strömungen innerhalb der Frauenbewegung und ihre jeweiligen Definitionen des Geschlechterverhältnisses, die sie als radikalreformerisch, radikalfeministisch, revolutionärfeministisch, lesbisch und als 'neue Mütterlichkeit, Weiblichkeit' bezeichnet (1988, 198).
Ohne die unterschiedlichen Systematiken mit ihren je spezifischen Betrachtungsschwerpunkten einer Homogenisierung unterwerfen zu wollen, sind Gemeinsamkeiten zu finden, die sich unter der Polarität von Gleichheit und Verschiedenheit subsumieren lassen.
Die Betonung der Verschiedenheit taucht bei den Systematiken dort auf, wo es um Alternativen gegenüber herrschender Männlichkeit geht: Das weibliche Arbeitsvermögen (BECK-GERNSHEIM) spricht dies ebenso an wie die neue Weiblichkeit, neue Mütterlichkeit, aber auch die lesbische und revolutionärfeministische Strömung (BAST) und die Aufwertung des Weiblichen (PRENGEL). Die Betonung der Gleichheit taucht hier in zwei Varianten auf: Wo es um Anerkennung männlicher, als universal ausgegebener Normalität und somit eine monistische Theorie des implizit männlichen Menschseins geht, sind die Gleichheit von Frauen (BECK-GERNSHEIM) und die hierarchische, aber auch übergangene Geschlechterdifferenz (PRENGEL) zu finden. Unter der Anpassung an den implizit männlichen Maßstab lassen sich die Unterlegenheit von Frauen (BECK-GERNSHEIM), die sozialreformerische Strömung der Frauenbewegung (BAST) und die aufgehobene Geschlechterdifferenz (PRENGEL) subsumieren.
Es fällt auf, daß bei BAST wie bei BECK-GERNSHEIM keine Position vorkommt, die eine dialektische Verknüpfung von Gleichheit und Verschiedenheit vertritt, wie sie als Offenheit für eine vielfältige und heterogene Geschlechterdifferenz (PRENGEL) gefordert wird. Besonders BAST bleibt in der Frage des Geschlechterverhältnisses in der Alternativvorstellung Gleichheit oder Verschiedenheit gefangen, die die Diskussionen innerhalb der Frauenbewegung lange Zeit dominiert und in der letzten Zeit aufgeweicht zu werden beginnt. Eine sich verbreitende dialektische Sichtweise wird z.B. im Titel des Tagungsberichtes "Differenz und Gleichheit. Menschenrechte haben (k)ein Geschlecht" (GERHARD U.A. 1990) deutlich.
Im Unterschied zur integrativen und interkulturellen Erziehung läßt sich die Feministische Pädagogik nicht als ganzes der dialektischen Position zuordnen, sondern sie bildet mit ihren unterschiedlichen Strömungen ein breites Spektrum, das höchst unterschiedliche Analysen und Strategien umfaßt. Diese Heterogenität der Ansätze feministischer Pädagogik wird in Kap. 5.1.2 wieder aufgenommen. Wichtig erscheint jedoch, daß wesentliche Vertreterinnen der feministischen Pädagogik sehr klar dialektische Positionen einnehmen. Diese Ansätze bilden auch insofern eine allgemeine Grundlage Feministischer Pädagogik, als feministische Mädchenschulen weithin als impulsgebende, anregende Gedankenexperimente und als in Versuchen anwendbare Vorstellung, nicht aber als allgemeine feministisch-pädagogische Zielsetzung angesehen werden. Insofern scheint es angesichts der innerhalb der feministischen Pädagogik entwickelten Aussagen gerechtfertigt, von der Gültigkeit des Vorverständnisses eines dialektischen Verhältnisses von Gleichheit und Verschiedenheit auszugehen.
Allen feministischen Strömungen und Positionen ist gemeinsam, daß sie die gesellschaftliche Grundlage für die Verschiedenheit der Geschlechter in der historisch entstandenen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung begründet sehen: "Mit der Industrialisierung und der Auflösung des generationenübergreifenden Familienverbandes hat sich das Muster der Mann im Beruf, die Frau in Haushalt und Familie herausgebildet, das den Lebenslauf, die Alltagserfahrung und die Handlungsmöglichkeiten beider Geschlechter bestimmt. Die im Zuge der gesellschaftlichen Umstrukturierung erfolgende Zuweisung zu Beruf/Hausarbeit ist die soziale Grundlage der Geschlechtsrollen, wie wir sie heute kennen. Sie bestimmt das, was als männliche/weibliche Normalbiographie uns vertraut ist; sie ist das wesentliche Unterscheidungsmoment zwischen männlichem und weiblichem Lebenszusammenhang" (BECK-GERNSHEIM 1987, 23).
Bei der Trennung in männliche bzw. weibliche Lebenszusammenhänge handelt es sich jedoch nicht um eine schlichte Trennung der Bereiche von Beruf und Haushalt bzw. Produktionssphäre und Reproduktionssphäre, "die Reproduktionssphäre war vielmehr klar der Produktionssphäre unterstellt" (PRENGEL 1989a, 128). Damit bedingt die geschlechtliche Arbeitsteilung "ein Ungleichheitsverhältnis zwischen den Geschlechtern, dem der Schein der 'Natürlichkeit' verliehen wird" (KAUERMANN-WALTER U.A. 1988, 163). Mit Hilfe der 'Geschlechtscharaktere' wird sie im Sinne einer traditionellen Geschlechterhierarchie ideologisch abgesichert: Diese 'Geschlechtscharaktere' polarisieren "die Frauen und Männern zukommenden Eigenschaften und Tätigkeiten durch Komplementbildungen. Aktivität wird polarisierend ergänzt durch Passivität, Rationalität durch Emotionalität, Geist durch Natur, Vernunft durch Sinnlichkeit, Stärke durch Schwäche, Kreativität durch Plastizität, Form durch Materie etc." (PRENGEL 1989a, 122). So wird biologistisch etwa "die Aggressivität dem männlichen Geschlecht und die Friedfertigkeit dem weiblichen" (BARZ 1985a, 89) zugeordnet. Frauen wurden (und werden oft im Alltagsverständnis) als "weniger intelligent, weniger schöpferisch, weniger aktiv als Männer, physisch schwächer und psychisch labiler - kurz, eine 'Mängelausgabe' der Gattung Mensch" (BECK-GERNSHEIM 1987, 17) angesehen. Dementsprechend "kommt ein gesellschaftlicher Doppelstandard von 'Arbeit' und 'Liebe' zum Zug, demzufolge als 'Arbeit' nur gelten soll, was bezahlte, zeitlich begrenzte Tätigkeit ist, angeblich überwiegend Männersache, während die Tätigkeiten von Frauen, die nicht Erwerbstätigkeit sind, als 'Liebe' abverlangt werden, und ohne Gegenleistung, beispielsweise in Form von Bezahlung oder sozialer Absicherung vereinnahmt werden" (ENDERS-DRAGäSSER 1984, 57).
Für Frauen zeigt sich dieses hierarchisches Geschlechterverhältnis auf unterschiedlichen Ebenen (PRENGEL 1986b): Ökonomisch sind sie dem Doppelstandard von 'Arbeit' und 'Liebe' entsprechend schlechter gestellt als Männer, "dabei leisten sie, in großen Teilen unbezahlt, 2/3 aller gesellschaftlich notwendigen Arbeit" (1986b, 5). Politisch ist ihr Einfluß um so geringer, je mächtiger eine politische Instanz ist. Ideell und sprachlich sind sie Entwertung und Diskriminierung, Verschweigen und Verdrängung sowie Idealisierung ausgesetzt. In der Interaktion stoßen sie auf Ignoranz, Einschränkung, Einengung bis hin zu Gewalt gegen Frauen, Vergewaltigung und Mißbrauch von Mädchen. Auf der Ebene der psychosozialen Entwicklungen dominiert die tiefe Verinnerlichung der Entwertung und als Folge davon Selbstentwertung und Sich-selbst-unterordnen in Hierarchien, "so daß die weibliche Identität mehr durch Selbstverleugnung als durch Selbstverwirklichung geprägt ist" (1986b, 5). Juristisch haben Frauen einen "Mangel an gleichen Rechten, oder auch den Mangel an Möglichkeiten, formal vorhandene gleiche Rechte zu nutzen" (1986b, 5).
Gleichzeitig wird jedoch auch deutlich, "daß die dualistisch-hierarchische Geschlechterkonzeption für Frauen und Männer sowohl Gewinn- als auch Verlustseiten mit sich brachte. Den Mangel an Mitmenschlichkeit kompensierte in der männlichen Lebenswelt der Macht- und Freiheitsgewinn. Für den Mangel an Selbstverwirklichung und öffentlicher Wirksamkeit bot die bürgerliche Gesellschaft den Frauen moralische Überlegenheit" (PRENGEL 1989a, 132). Zusammenfassend sagt PRENGEL über die pädagogische Position der bürgerlichen Gesellschaft, "daß sie beide Geschlechter streng trennte. Die universell formulierten Standards der Aufklärungspädagogik, vor allem die Erziehung zur Selbständigkeit im Denken und Handeln, galten nur für Jungen, für Mädchen galt eine restriktive Erziehung, in deren Zentrum die Fähigkeit zur Selbst-Verleugnung stand. Dabei wird das, was Mädchen werden sollen, ausschließlich von außen bestimmt" (1989a, 132f.). "Planvoll wurde in der 'Sonder-Pädagogik' für Mädchen, die der Sonder-Anthropologie der Frau folgte, die Fähigkeit zur Selbstaufgabe anerzogen, so daß lebensweltlich nachvollzogen werden konnte, was theoretisch vorgegeben worden war" (1989a, 133).
Dieses historisch entstandene hierarchische Geschlechterverhältnis wirkt bis in die heutige Zeit hinein. Die feministischen Schulkritik geht auch heute davon aus, daß "die Realität des gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisses ... trotz grundsätzlich verankerter Gleichberechtigung in Politik, Ökonomie, Kultur und Privatleben nach wie vor hierarchisch strukturiert" (PRENGEL 1986a, 25). Es ist also ein Über- und Unterordnungsverhältnis, bestimmt von "oben und unten, besser und schlechter, wertvoll und wertlos, mehr Geld und weniger Geld, bestimmen und bestimmt werden, Macht ausüben und Macht abgeben" (1986a, 25). Während früher die Hierarchie in offensichtlichen, ungleichen Rechten bestand, sich also "über formale institutionalisierte Regelungen" reproduzierte, geschieht dies heute informell: "Es gibt keine Vorschrift, daß eine Mehrheit der Schulleiter Männer sein müssen - dennoch handeln die beteiligten Personen so, daß die Hierarchie sich permanent reproduziert" (1986a, 25).
Dem koedukativen Unterricht in seiner bisherigen Form wird die feministische Kritik entgegengebracht, er sei "geeignet, die gesellschaftlich hoch bewertete männliche Rolle zu stärken, den Dominanzanspruch als selbstverständlich hinzunehmen und komplementär dazu weibliche Nachrangigkeit als 'Normalzustand' festzuschreiben" (HORSTKEMPER 1990b, 98; ebenso KAUERMANN-WALTER U.A. 1988, 159). So spiegelt der formal koedukative Unterricht das wieder, was sich in der Gesellschaft als normativer Standard entwikelt hat.
Gleichwohl - und dieses bildet die Grundlage für pädagogische Einwirkungsmöglichkeiten - wird auch innerhalb der feministischen Schulkritik festgestellt, "daß weibliche Sozialisation im Kontext der Orientierung an Reproduktionsarbeit mehr die Herausbildung 'typisch weiblicher' Merkmale befördert, aber sich nicht naturnotwendig darin erschöpfen muß" (KAISER 1987b, 233). Geschlechtsspezifische Sozialisation ist somit nicht determiniert, sondern entwickelt sich als sozialer Prozeß mit einer gewissen Offenheit in der konkreten Ausformung und ist somit auch prinzipiell wie konkret veränderbar (vgl. auch BILDEN 1991, 280).
BREHMER faßt die gängigen Argumentationen in der Diskussion um die Koedukation, genauer gesagt, um die bisher praktizierte Form der Koedukation, zusammen:
Pro Koedukation |
Contra Koedukation |
|
Unterrichtsstoff |
Beide Geschlechter bekommen das gleiche Wissen vermittelt (keine Fächer des 'Frauenschaffens', kein 'Puddingabitur'). |
Der Stoff ist überwiegend an männlichen Interessen ausgerichtet und bildet nur geringe Identifikationsmöglichkeiten für Mädchen. |
Interaktion |
Mädchen und Knaben lernen, Kameradschaft miteinander zu halten, den gleichberechtigten Umgang miteinander. Dies ist wichtig für den späteren Beruf und das Familienleben. |
Jungen werden mehr beachtet, gelobt, getadelt. Die Mädchen erhalten nur geringe Aufmerksamkeit und müssen unter der Dominanz der Jungen (Disziplinprobleme) leiden. |
Sexualität |
Die sexuellen Spannungen, insbesondere in der Pubertät, werden normalisiert. Übertriebene erotische Phantasien werden vermieden auch in bezug auf Schwärmereien für Lehrerinnen und Lehrer. |
Insbesondere die Mädchen geraten unter einen verstärkten sexuellen Leistungs- und sozialen Anerkennungsdruck - insbesondere von seiten der Jungen, aber auch von Mädchen. Die sexuelle Liberalisierung und die allgemeine Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln (insbesondere der Pille) begünstigen zudem den Geschlechtsverkehr. |
Lehrpersonen |
Die Orientierung an weiblichen und männlichen Lehrpersonen bietet für beide Geschlechter vielfältige Erfahrungen und Identifikationsmöglichkeiten. |
Lehrerinnen und Lehrer urteilen und beurteilen gemäß gängigen Geschlechtsstereotypen (interessanter, kluger Junge; fleißige, angepaßte Schülerin) und bestätigen durch ihr Verhalten, ihre Äußerungen und ihre Stellung diese Stereotypen in der schulischen Hierarchie (Frauen überwiegend auf dem unteren Level). |
Folgen/Effekte |
Mädchen erzielen bessere Noten und ansteigend bessere Schulabschlüsse. Mädchen und Jungen lernen, konkurrenzfähiger und auch selbständiger im Umgang miteinander zu werden. |
Jungen reagieren ihre Unterlegenheitsgefühle durch erhöhte Aggressionsäußerungen gegenüber Schülerinnen und Lehrerinnen ab. Mädchen können ihr geringeres Aspirationsniveau und ihre eingeschränkteren Berufswünsche (Frauenberufe) besser in geschlechtshomogenen Gruppen aufarbeiten sowie ungestörter ihre Interessen und ei gesundes Selbstvertrauen entwiceln. |
Auch in dieser Aufstellung dominiert wiederum die Auseinandersetzung mit dem Grundthema der Gleichheit und Verschiedenheit der Geschlechter. Bei den Pro-Argumenten wird die Gleichheit betont: die Gleichheit der Inhalte, des Umgangs miteinander, der Orientierung an Erwachsenen, der Konkurrenzfähigkeit und Selbständigkeit. Demgegenüber weisen die Contra-Argumente auf die Verschiedenheit hin: die Verschiedenheit in der curricularen Ausrichtung, in der Beachtung der LehrerInnen, des sexuellen Leistungs- und des sozialen Anerkennungsdrucks, der LehrerInnenbeurteilung und der Folgen. Die Polarität von Gleichheit und Verschiedenheit, wie sie auch in der feministische Diskussion dominiert (vgl. Kap. 5.1.1), bestimmt auch hier die Argumentationen.
Eine direkte Vergleichsuntersuchung zwischen gemeinsamem und getrenntem Unterricht liegt von HEPTING (1978) vor. Sie zeigt, daß der feministisch-emanzipatorische Beitrag der bisher existierenden Mädchenschulen gering zu veranschlagen ist, da bei den Wahlgründen für die Eltern vor allem konservative Orientierungen, besonders in bezug auf den Lehrkörper und der Status der Privatschule im Vordergrund steht (1978, 288). Der Ertrag der Arbeit von HEPTING ist jedoch für die Diskussion um die Koedukation insofern gering, als er staatliche, koedukative Schulen mit konfessionellen privaten Mädchenschulen vergleicht und insofern den Faktor der Geschlechtertrennung nicht von den anderen Ebenen trennen kann.
Betrachtet man die feministischen Argumentationen zur Erziehung von Mädchen und Jungen genauer, so zeigen sich unterschiedliche Ansätze, die gleichzeitig - sich teils überschneidend und zunehmend entfaltend - die Entwicklung der Diskussion nachzeichnen.
Zunächst steht, wie in Kap. 5.1.1 deutlich wurde, die unverzichtbare Forderung nach gleichem Zugang zu Bildungsgängen, -inhalten und -abschlüssen im Vordergrund. Mittels einer Pädagogik der Gleichheit soll die auch institutionell sichtbare geschlechtsspezifische Hierarchie abgebaut werden. Da Unterschiede von Menschen auf biologistischem Hintergrund leicht "zur Begründung von Herrschaft benutzt" (PRENGEL 1987b, 80) werden, fordert die Frauenbewegung (wie andere Emanzipationsbewegungen) das 'Recht' auf Gleichheit. "Gleichheitsrechte sind notwendige Bedingungen der Befreiung: Ohne gleiches Recht auf gleiche Verfügung über alle materiellen Ressourcen, gleiches Recht auf Bildung, gleiches Recht auf gesellschaftliche Macht ist Emanzipation gar nicht denkbar" (1987b, 80).
Relativ schnell zeigen sich jedoch die Schattenseiten dieser Gleichheitsphilosophie: So notwendig als Basis die prinzipielle Gleichheit und Gleichwertigkeit für eine gleichberechtigte Erziehung für Mädchen und Jungen ist, so sehr droht sie in den bestehenden herrschenden Normen befangen zu bleiben: Der allgemeine, implizit männliche Maßstab bleibt erhalten, Gleichheit gerät schnell zur Angleichung, zum Ausgleich von Benachteiligungen im Sinne einer Vereinheitlichung. Mädchen, so der Ansatz der Gleichheitspädagogik, sollen "genauso selbstsicher, aggressiv und technikinteressiert" (PRENGEL 1986a, 418) werden wie Jungen. Es bleibt bei der schulischen "Gewöhnung an Normalitätskonzepte von 'Weiblichkeit' und 'Männlichkeit', die einseitig von männlichen Erfahrungen und Interessen abgeleitet sind" (ENDERS 1987, 22). So wird diese Pädagogik der Gleichheit auch in kritischer Würdigung als "hierarchisches Anpassungmodell" (KAISER 1987b, 234) und "kompensatorische Emanzipationserziehung" (PRENGEL 1986a, 418) bezeichnet. So notwendig dieser erste Schritt ist, so wenig ausreichend ist er.
Aus der Kritik am Konzept der Gleichheitspädagogik entwikeln sich innerhalb der feministischen Diskussion mehrere Entwürfe, die von dem hierarchischen Geschlechterverhältnis wegzuführen versuchen:
Der Ansatz der Aufwertung des Weiblichen stellt den Stärken des Männlichen und der Betrachtung des Weiblichen als dessen abgeleiteten, defizitären Sonderfall die Betrachtung der Stärken des Weiblichen gegenüber. Durch eine "Umwertung der Werte" (BECK-GERNSHEIM 1987, 22) wird die negative Betrachtung des Weiblichen in die "Stärke weiblicher Schwäche" (1987, 22), in ihr positives Gegenteil verkehrt. Hier werden die besonderen Stärken des Weiblichen herausgestellt: "Frauen sind im allgemeinen offener in der Wahrnehmung eigener und der Gefühle anderer, haben mehr Gespür für zwischenmenschliche Beziehungen, für deren Nuancen und leise Signale; sie können oft besser zuhören, auf andere Menschen eingehen, helfen und trösten; sie können meist eher Schwächen und Probleme der eigenen Person zugeben, verstecken sich weniger hinter einer Mauer der Unnahbarkeit" (1987, 22). Als eines der seltenen Beispiele offizieller Veröffentlichungen, die den Blick auf weibliche Stärken richten, wird der 6. Jugendbericht der Bundesregierung genannt (vgl. z.B. METZ-GöCKEL 1987, 470); Einzug haben diese Gedanken auch in die Bildungspolitik der GRüNEN gefunden (vgl. OUBAID 1986, 50f.). Vertreterinnen der Aufwertung des Weiblichen verweisen auf amerikanische und deutsche Untersuchungen, nach denen ein hoher Anteil beruflich und gesellschaftlich erfolgreicher Frauen, besonders im Bereich naturwissenschaftlicher und technischer Bereiche, Mädchenschulen und Frauen-Colleges besucht haben (vgl. DICK 1988, 6, KAUERMANN-WALTER U.A. 1988, 176-180).
Bei dieser Umwertung besteht jedoch die Gefahr, daß nun unter umgekehrten Vorzeichen wiederum eine Geschlechterhierarchie propagiert wird, wenn "dem 'schlechten' männlichen Prinzip ein 'gutes' weibliches Prinzip gegenübergestellt wird" (PRENGEL 1987a, 225). Das reale hierarchische Geschlechterverhältnis wird dann quasi in der normativen Bestimmung der Geschlechterrollen revidiert, bleibt aber in seiner Struktur als hierarchisches Geschlechterverhältnis erhalten. Überaus problematisch wird dieser Ansatz zumal dann, wenn Vorstellungen dieser Umkehr in die Nähe sozialdarwinistischer Tendenzen einer Verherrlichung der starken Frau geraten, wie dies bei STROBL geschieht: "Selbstbewußte, kluge, starke und anmutige Frauen würden aus ihr (der feministischen Mädchenschule; A.H.) hervorgehen, Guerillas, geübt, mathematische Berechnungen ebenso graziös auszuführen wie subversive Aktionen" (1981, 13). So wichtig und produktiv die Reflexion über weibliche Stärke (und männliche Schwäche!) ist, so wenig kann sie den Anspruch an eine Pädagogik befriedigen, bei der Mädchen und Jungen je zu ihrem Recht und zur Gleichberechtigung kommen. Dieser Ansatz wird in seiner Blickrichtung und in seinen pädagogischen Konsequenzen als "Separierungsmodell" (KAISER 1991, 41) kritisiert, weil mit der Weiterentwicklung weiblicher Zugangsweisen ohne die Störungen von Jungen eine Trennung der Geschlechter in der Schule einh