Integrationsbetriebe - ein Weg zur beruflichen Integration für Menschen mit Behinderung

Themenbereiche: Kultur, Arbeitswelt
Textsorte: Bericht
Releaseinfo: Unveröffentlichtes Skript zur Tagung des Arbeitsmarktservice Österreich in Salzburg "Behinderung Arbeitsmarkt?", 9./10. Oktober 1997
Copyright: © Andreas Hinz, Jens Lüttensee 1997

Integrationsbetriebe - ein Weg zur beruflichen Integration für Menschen mit Behinderung

In den letzten Jahren lassen sich im wesentlichen zwei konzeptionelle Entwicklungslinien ausmachen, die Alternativen zur bisherigen abzweigungslosen Einbahnstraße von der Sonderschule in den Sonderarbeitsmarkt bilden. Diese Entwicklungen vollziehen sich auf dem Hintergrund eines anthropologischen Paradigmenwechsels von einer ‚Theorie der Andersartigkeit von Menschen mit Behinderungen' zu einer ‚Theorie der Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit aller Menschen' (vgl. HINZ 1993, 1996).

Zum einen wurden Arbeitsassistenzdienste entwickelt, die - als Alternative zur Werkstatt für Behinderte - die Aufgabe übernehmen, vor allem Menschen mit ‚geistigen Behinderungen' zu Arbeitsplätzen auf dem ersten Arbeitsmarkt, also in regulären Betrieben, zu verhelfen. Zum anderen sind - in ergänzender Funktion - Integrationsbetriebe zu nennen, die zu dem Zweck gegründet und betrieben werden, behinderten und nichtbehinderten Menschen gemeinsame Arbeit zu ermöglichen. Eine Reihe von ihnen gehen aus Elterninitiativen hervor (z.B. cba München, Stadthaus-Hotel Hamburg), andere werden von größeren Institutionen initiiert (z.B. Druckerei des Reha-Zentrums Hessisch-Lichtenau), einige werden von Betroffenen als Selbsthilfefirmen aufgebaut (Handweberei Tübingen, Roepershof-Café Hamburg).

Integrationsbetriebe zeichnen sich durch folgende strukturelle Merkmale aus:

  • Integrationsbetriebe streben als Zweckbetriebe vor allem die Schaffung von Arbeitsplätzen für Menschen mit und ohne Behinderung an; Gewinnmaximierung steht nicht im Vordergrund. Sie sollen jedoch längerfristig kostendeckend arbeiten.

  • Integrationbsbetriebe nehmen die gleichen staatlichen Zuschüsse in Anspruch wie jedes andere Unternehmen; in Deutschland vor allem zeitlich befristete Lohnkostenzuschüsse des Arbeitsamtes und den Minderleistungsausgleich nach § 27 der Ausgleichsabgabenordnung des Schwerbehindertengesetzes.

  • Alle MitarbeiterInnen haben einen Arbeitnehmerstatus, sind somit sozialversichert und werden ortsüblich tarifentlohnt.

  • Integrationsbetriebe verfolgen nicht in erster Linie das Anliegen, etwas ‚für Behinderte' zu tun, sondern wollen ein qualitativ hochstehendes Angebot von Menschen mit und ohne Behinderung für das Umfeld machen.

  • Integrationsbetriebe stehen einerseits in der Konkurrenz mit anderen Betrieben, halten aber andererseits häufig Angebote in Marktnischen bereit.

Entsprechend der Theorie integrativer Prozesse (vgl. HINZ 1993) läßt sich die integrative Qualität von Integrationsbetrieben auf verschiedenen Ebenen prüfen:

  • Auf der Ebene der Person geht es um die Frage, inwieweit die Beteiligten die Fixierung auf das eigene Können durch die Anerkennung auch des Nicht-Könnens jeden Menschens relativiert haben. Diese Selbstakzeptanz ist die Grundlage für alle weiteren Ebenen.

  • Auf der Ebene der Interaktion geht es um die Anerkennung von Gleichheit und Verschiedenheit im Dialog; im Integrationsbetrieb etwa um die Anerkennung des Könnens wie des Nicht-Könnens jeden Mitarbeiters im Betrieb. Es gilt eine Balance zu finden, die weder in durchgängige Distanzierung noch in symbiotische Verschmelzung abgleitet.

  • Auf der Ebene der Handlung ist eine möglichst symmetrisch strukturierte Kooperation anzustreben, die die KollegInnen die ihnen jeweils mögliche Verantwortung wahrzunehmen ermöglicht und die gegenseitige Ergänzung in den Fähigkeiten in den Mittelpunkt rückt. Hierarchische Verhältnisse sollten zumindest zugunsten kooperativer Strukturen relativiert werden.

  • Auf der Ebene der Institution sollten die Rahmenbedingungen so gestaltet sein, daß nicht wieder durch übermäßigen Anpassungsdruck neue Ausgrenzungsdefinitionen entstehen; alle MitarbeiterInnen sollten den gleichen Status besitzen (Arbeitsverträge, PraktikantInnenstatus nur vorübergehend als Arbeitserprobung). Im Zentrum steht die Gemeinsamkeit des Arbeitens.

  • Die Ebene der gesellschaftlichen Normen betrifft zentral das Selbstverständnis des Integrationsbetriebes. Weder geht es um eine normative Kolonialisierung der MitarbeiterInnen im Sinne des ‚Normalmachens' noch um eine Exotisierung der MitarbeiterInnen, sondern um eine Neudefinition von Normalität, die z.B. dazu führt, daß der Betrieb mit seinem Profil offensiv in die Öffentlichkeit geht und Kundenkontakte der MitarbeiterInnen mit Behinderungen gerade nicht vermeidet.

Es muß im Sinne einer konzeptionellen Qualitätssicherung genau betrachtet werden, auf welchen Ebenen integrative Qualitäten vorhanden sind, denn es deutet sich bereits eine Entwicklung zur Inflationierung dieses Begriffs an, der für verschiedenste Lebensgemeinschaften und andere eher traditionell ausgerichtete Projekte vereinnahmt wird.

Ein bekanntes Beispiel in Deutschland für einen Integrationsbetrieb ist das Stadthaus-Hotel Hamburg (vgl. BOBAN & HINZ 1995, BOBAN, HINZ & LüTTENSEE 1996, LüTTENSEE 1997). Auch dort ist die Grundidee das gemeinsame Arbeiten in einem Betrieb, bei gleichem Status, ortsüblichen Tariflöhnen und sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverträgen. Hier ‚verdanken' sich quasi die behinderten und nichtbehinderten MitarbeiterInnen ihre Arbeitsplätze gegenseitig - ohne die einen gäbe es die Arbeitsplätze der anderen nicht. Dieses von Eltern und PädagogInnen entwickelte Projekt zeigt gleichzeitig ein gutes Beispiel für widersprüchliche Situationen, denn zu ihm gehört neben dem innovativen Integrationsbetrieb eine traditionelle, pflegesatzfinanzierte Wohngruppe mit den üblichen Vorstellungen eines Schonraumes, für den ErzieherInnen sorgen sollen. Dieses Projekt besteht aus einem riskanten, viel Mut und Eigeninitiative fordernden innovativen Betrieb - ohne strukturelles Netz, geschweige denn doppelten Boden - , und es gibt gleichzeitig Kompromisse und Ambivalenzen, den Rückgriff auf vorhandene Strukturen. Trotzdem ist eindeutig: Die jungen Leute können sehr gut unterscheiden zwischen dem privaten und dem professionellen Rahmen; die Rolle der Hoteliers bzw. der GastgeberInnen ist dort gelebte Praxis. Dabei ist sicherlich gerade die Begegnung zwischen Gästen und GastgeberInnen ein beeindruckender und anregender Bestandteil des Konzepts wie der Praxis. Dieser - von anderen als bewußte ‚Zumutung der Konfrontation' gekennzeichnete - Punkt ist für alle Seiten ein zentraler, denn in anderen Projekten glaubt man in der Tat den Gästen die Bedienung durch behinderte MitarbeiterInnen und den behinderten MitarbeiterInnen den Kontakt mit den Gästen nicht zumuten zu können. Als Mitarbeiter des Stadthaus-Hotels berichtet Jens Lüttensee:

Ich bin 22 Jahre alt. Mein Traumberuf ist Musiker, Dirigent. Die in Wirklichkeit ist, ich arbeite im Hotel: Waschbecken und Klo putzen und Dusche, das Bett abziehen und im Bad feudeln, saugen auch und Wäschereipflege.

In der Wäscherei muß ich Wäsche waschen, 45 Minuten zum Trockner tun, an die Mangel und bügeln, erst die Kleinteile und dann die großen Teile. Die Mangelwäsche nur zehn Minuten zum Trockner. Dann Wäsche zusammenlegen.

An der Rezeption sage ich: "Herzlich Willkommen im Stadthaushotel!" Im Service mache ich Kaffeedienen, den Gästen dienen, den Frühstücksbuffet aufbauen mit Wurst und Käse, Joghurt, Milch und schön Saft, Cornflakes, Obst und Marmelade, auch Honig. In Service für die Gäste bekomme ich das Trinkgeld, für Danke für Frühstück. Das Trinkgeld kommt in die Kasse für alle.

Chef Thorsten Schönrock stellt Dienstplan auf. Morgens um 9 bis halb 2, Frühdienst ist ab 7 Uhr. Drei Tage in der Woche frei und dann kommt Frühdienst. Im Jahr sind 35 Tage Urlaub. Fünf nehme ich im Dezember zu mein Geburtstag.

Im Dienst trage ich die Fliege, die gute Hose und das grüne Jackett. Sonst Jeans und Schlips auch gerne. Chef Herr Krim paßt auf saubere Hände auf - immer erst Hände waschen. Und die Haare sauber duschen in der Wohngruppe.

Am wichtigsten im Hotel ist Herr Thorsten Schönrock mit allen Kollegen auch, keinen nerven, das geht. Die unsere Gäste sind nett. Die Spülmaschine einräumen, Buffet und Tische aufräumen. Das war's. Danach zur Pause. Alle zusammen trinken Selter und Kaffee, im Sommer auf der Terrasse. Noch Wäscherei und Feierabend.

Bei Schule Uferstraße gewesen mit acht Leuten Schülergruppe. Bei Schule gelernt bei Karsten Kühl, unserm Lehrer, täglich Berufsschule. Bei ihm gelernt Rechnen, bei Frau Timbeck Wäschereipfleger, bei Frau Kindt, die machte die Kochen. Da Brötchen geschmiert, für ganze Schule verkauft in Kiosk zum Pause, die anschließend.

Schon lange gewesen der Bürger auch mit Andreas Hinz in Kongress in Duisburg mit von Lebenshilfe und noch im Harz auch mit Ines, und mit Gesa und ich in Hannover Tagung und mit René Herr Horn im Hamburger Spaß-Verein in Borgweg. Auch in Österreich Innsbruck Congress, nä, mit Musik und Theater, die Kabarett ganz toll auch noch getanzt und hinterher Peter und der Wolf Prokoffief. Auch später mal Wien vielleicht ein Referent ich, und Zauberflöte in Oper oder London Konzert, alle einladen in zu wohnen in STADTHAUSHOTEL gerne. Verteilt die Prospekte, vorgestellt mich und STADTHAUSHOTEL mit Video. (SchreibmediatorInnen: Ines Boban & Andreas Hinz)

Literatur

BOBAN, Ines & HINZ, Andreas (1995): Werkstadthaus Hamburg - wohnen mitten in der Stadt und arbeiten in einem rollstuhlgerechten Hotel. Zeitschrift für Heilpädagogik 46, 384-387

BOBAN, Ines, HINZ, Andreas & LüTTENSEE, Jens (1996): Das Stadthaus-Hotel - ein Integrationsbetrieb in Hamburg. In: BUNDESVEREINIGUNG LEBENSHILFE (Hrsg.): Selbstbestimmung. Kongreßbeiträge. Marburg: Bundesvereinigung 1996, 442-448

HINZ, ANDREAS (1993): Heterogenität in der Schule. Integration - Interkulturelle Erziehung - Koedukation. Hamburg: Curio

HINZ, ANDREAS (1996): ‚Geistige Behinderung' und die Gestaltung integrativer Lebensbereiche. Überlegungen zu Erfahrungen und Perspektiven. Sonderpädagogik 16, 1996, 144-153

LüTTENSEE, JENS (1997): Ich arbeite im Stadthaus-Hotel Hamburg natürlich. Geistige Behinderung 36, 3-4

Quelle:

Andreas Hinz & Jens Lüttensee: Integrationsbetriebe - ein Weg zur beruflichen Integration für Menschen mit Behinderung, 1997

Unveröffentlichtes Skript zur Tagung des Arbeitsmarktservice Österreich in Salzburg "Behinderung Arbeitsmarkt?", 9./10 Oktober 1997

bidok - Volltextbibliothek: Veröffentlichung im Internet

Stand: 14.02.2005

zum Textanfang | zum Seitenanfang | zur Navigation