"An Liebe fehlt es nicht

Autor:in - Ulrich Hähner
Themenbereiche: Sexualität
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: psychosozial; 22. Jahrgang - Nr. 77 - 1999 - Heft III
Copyright: © psychosozial verlag, 1999

Enttäuschungen und wenig Glück

Auf der Suche nach einem Partner sind die meisten, die noch keine feste Beziehung haben. Sehnlichster Wunsch ist häufig ein nichtbehinderter Freund. Damit wäre der Zugang zur "normalen" Welt geöffnet. Heinz hat bei diesem Versuch seiner Mutter einige hundert Mark an Telefongebühren gekostet und dann enttäuscht bemerkt: "Die wollen alle nur Geld!" Ihm war bewußt geworden, daß er bei Prostituierten und Telefonsexanbietern gelandet war. Johann sitzt stundenlang und beobachtet den Eingang der Firma neben der Werkstatt für Behinderte, aus der seine Angebetete, die ihn verschmäht, irgendwann kommen wird.

Von denen, die sich für einen behinderten Partner entscheiden konnten, haben, grob geschätzt, etwa 10 bis 20 Prozent der Menschen mit Behinderungen eine feste Beziehung. Diese Zahl betrifft alle Ausprägungen geistiger Behinderung und ist bezogen auf Einrichtungen, die einen nicht allzu repressiven Zugang zur Sexualität von Menschen mit einer geistigen Behinderung haben. Maximal die Hälfte dieser Paare hat die Möglichkeit, sich regelmäßig auch in der Freizeit zu treffen oder zusammenzuleben. Orte unvoreingenommener Begegnung reduzieren sich in unserer Gesellschaft für Menschen mit einer geistigen Behinderung auf die Schule und die Werkstatt. Ansonsten leben sie isoliert und oft unter ständiger Beaufsichtigung von Eltern, Betreuern oder Gruppenleitern. Beziehungen entwickeln sich vorwiegend bei Begegnungen in den Institutionen. Es gibt viele Paare, die sich morgens an der Bushaltestelle oder im Bus treffen, gemeinsam zur Arbeit fahren, um dann in die Arbeitsgruppen zu gehen. Dann verbringen sie die Pausen miteinander, erzählen und tauschen kurze Zärtlichkeiten aus. Nach Feierabend fahren sie zurück, und jeder geht nach Hause. Und das geschieht oft über viele Jahre hinweg.

Ein Paar, beide Partner leben bei den Eltern, hat sich über lange Zeit hinweg in der Werkstatt treffen können und jede freie Minute miteinander verbracht. Als eine Zweigwerkstatt eröffnet wird, muß der Mann aufgrund der regionalen Aufteilung in diese Werkstatt gehen, denn er ist auf Grund seiner Behinderung auf den Fahrdienst angewiesen, und der fährt nur die regional zuständige Werkstatt an. Das Paar ist getrennt. Sie versuchen noch einige Zeit telefonisch miteinander in Kontakt zu bleiben. Von den Eltern wird diese Beziehung nicht unterstützt. Die Partnerschaft endet.

Das macht deutlich, wie sehr behinderte Paare von ihrem Umfeld abhängig sind und wie wenig Beachtung sie finden. Die Persönlichkeit eines behinderten Menschen wird reduziert auf die ihm von der Gesellschaft zugestandenen Bedürfnisse wie Wohnen und Arbeiten.

Fürsorgliche Entmündigung

Der behinderte Mensch, das überdauernde Kind! Die Wahrnehmung der Hilfsbedürftigkeit der behinderten Menschen und die der Tatsache, daß diese erwachsen werden und sexuelle Bedürfnisse entwickeln, ergeben eine scheinbar unüberwindbare Diskrepanz, die überwiegend dadurch gelöst wird, daß Eltern wie auch Betreuer sich für die Wahrnehmung der Hilfsbedürftigkeit entscheiden und auf ihrer Fürsorge beharren. Zudem paßt Sexualität nicht zu dem Bild des Kindes. Das hat weiterhin unschuldig zu sein.

Vor einiger Zeit rief mich eine Mutter an und erzählte mir, daß sie Sandra (28) den Kontakt mit Gernot untersagt hätte: "Der sitzt doch bloß vor dem Fernseher, und meine Tochter ist doch zu jung, um immer nur in der Wohnung zu sitzen. Und wissen Sie, die Eltern von Gernot, die ...". Über solche Eingriffsversuche mag mancher Schwiegersohn ebenfalls berichten. In der Regel wird sich die nichtbehinderte Tochter jedoch durchsetzen. Hier wird der Unterschied deutlich zwischen behinderten und nicht behinderten Menschen und auch die Hilflosigkeit der Betroffenen. Sandra hat das alles nicht gestört (zumindest nicht so sehr wie die Mutter). Gernot hatte keine Chance, sich zu verändern, und das Paar keine Möglichkeit, einen eigenen Weg zu finden. Die eigenen Bedürfnisse nach Harmonie und Geborgenheit werden in die Beziehungen der Kinder projiziert, nicht sehend, daß solche Beziehungen Entwicklungsmöglichkeiten brauchen, die auch Streit und Auseinandersetzungen beinhalten.

Bei Menschen mit einer geistigen Behinderung sind Eingriffe in persönliche Belange an der Tagesordnung. Da alles unter dem Motto "Wir wollen nur das beste für Dich" geschieht und behinderte Menschen in ihrem Durchsetzungsvermögen stark eingeschränkt sind, sind sie dieser vermeintlichen Fürsorglichkeit ausgeliefert.

Oft erwarten Eltern oder Angehörige, daß alle sexuellen Annäherungen unterbunden werden. Während Eltern von Männern eher verständig und entschuldigend bemerken, daß ihr Sohn auch Bedürfnisse hat, äußern Eltern von Frauen sich häufig beschämt über die sexuellen Wünsche ihrer Töchter.

Da sich jene stereotype Ansicht, derzufolge Menschen mit einer Behinderung nicht in der Lage sind, die Sexualität in die eigene Person zu integrieren, zu lenken oder zu kompensieren, noch immer hält, ist die Erwartung vorhanden, daß der behinderte Mensch seine Sexualität hemmungslos auslebt.

Brigitte und Johann wohnten im gleichen Haus und pflegten ihre Beziehung zu intensiv, wie die Betreuer glaubten: Johann komme immer übernächtigt zur Arbeit und sei erschöpft, da Brigitte ihn sexuell zu sehr fordere. Mittlerweile lebt Brigitte in einem anderen Haus - zusammen sein können sie nur noch am Wochenende.

Die Situation in Heimen der Behindertenhilfe

Etwa ein Drittel aller erwachsenen Menschen mit einer geistigen Behinderung lebt in Heimen. Der Unterschied zur Familie ist darin zu sehen, daß die Identifikation des Betreuers mit dem Heimbewohner weniger intensiv ist als die der Eltern mit dem Sohn oder der Tochter. Hier sorgt ein anderer Faktor dafür, daß Persönlichkeitsentwicklung und individuelle Lebensgestaltung weiterhin wenig Platz in der Biographie des behinderten Menschen finden. Die Gruppe wird zum zentralen Lebensbereich. In traditionellen Heimen leben auch heute noch zehn und mehr erwachsene Menschen auf einer Etage, teilen sich den Gruppenraum für gemeinsame Aktionen, essen zusammen, müssen möglicherweise zu mehreren die gleichen Toiletten, Bäder und Duschen benutzen, schlafen vielleicht noch in Zweibettzimmern. Für Partnerschaft und Zweisamkeit bleibt wenig Raum. Das wird auch bei Eva und Ewald deutlich. Beide wohnen im gleichen Wohnheim. Eva in Gruppe 1 in Parterre, Ewald in Gruppe 2 im ersten Stock. Beide wollen möglichst viel Zeit miteinander verbringen, aber da ist noch die Gruppe. Also wurde folgender Kompromiß gefunden: In den geraden Kalenderwochen besucht Ewald Eva, und zwar an einem Tag in seinem Zimmer und am nächsten in den Gruppenräumen, sonntags steht ihnen die Wahl zwischen Zimmer und öffentlichen Räumen frei. In den ungeraden Kalenderwochen besucht Eva Ewald mit den gleichen Bedingungen. Abschließen darf man das Zimmer nicht. Wenn das passiert, muß man den Schlüssel für 14 Tage abgeben, berichtet Ewald.

In einem anderen Fall wird für die Außenwohngruppe festgelegt, daß Barbara nur alle 14 Tage zum Freund darf, um den Kontakt zur Gruppe nicht zu verlieren. Im nächsten Fall wiederum muß der Freund um 21.00 Uhr die Außenwohngruppe verlassen haben.

Alle Regelungen sind von dem (oft verzweifelten) Versuch geprägt, die traditionelle Heimstruktur und die Erkenntnis, daß Partnerschaft und Sexualität zu den menschlichen Grundrechten gehören, miteinander in Einklang zu bringen. Dieser Konflikt führt zu den berichteten und zu anderen Eigentümlichkeiten.

Die Paare, die sich ihren Raum erkämpft haben, oft in betreuten Wohnformen, also nicht in einem Heim leben, pflegen in der Regel recht stabile Beziehungen. Partnerschaft bedeutet für sie, daß sich der Alltag einfacher bewältigen läßt, wenn man einen Menschen hat, der verläßlich für einen da ist; dieser Mensch bietet möglicherweise eine wunderbare Ergänzung zu dem, was dem anderen fehlt.

Bedeutung der Partnerschaft

Partnerschaft bedeutet für Menschen mit einer geistigen Behinderung nicht primär, miteinander zu schlafen. Die genitale Fixierung findet eher in den Köpfen nichtbehinderter Beobachter statt. Partnerschaft bedeutet Zärtlichkeit, etwas miteinander tun, birgt die Möglichkeit, die Isolation zu durchbrechen, die vor allem für diejenigen typisch ist, die noch bei den Eltern leben.

Etwa 1/3 der Paare schlafen miteinander. Das hat nur bedingt mit mangelnder Aufklärung und den fehlenden Möglichkeiten zu tun. Kati sagt "Liebling" zu Hans-Jürgen, und er ist glücklich, mit der jungen, hübschen Frau zusammenzuleben. Kati wird unruhig, als es um das Thema Sexualität geht. Ihr merkt man an, daß sie in einer der großen kirchlichen Einrichtungen groß geworden ist. Hans-Jürgen scheint das nicht zu stören. Beide berichten, daß sie es genießen, zusammenzuliegen, sich zu streicheln und händchenhaltend einzuschlafen. Das reicht.

Kinderwunsch

Kinder zu bekommen, ist ein zentraler Bestandteil der überwiegenden Zahl überdauernder Beziehungen. Bei vielen Frauen und auch Paaren ist das Reproduktionsbedürfnis sehr ausgeprägt, eröffnet es doch die Chance, ein wenig so zu sein wie die "Normalen". Andererseits mangelt es an Selbstvertrauen, es wirken die Warnungen durch Eltern, Betreuer und andere sowie das von der Umwelt vermittelte Gefühl, für ein Kind nicht ausreichend Kompetenz und Energie zu haben. Wie stark diese Einflüsse sind, wird bei Hans und Gabi deutlich. Sie bringt zu einem Seminar ein "Pillenbuch" mit, auf dem das Bild eines Säuglings aufgeklebt ist. Nach dem Motto: "Das passiert dir, wenn du die Pille vergißt". Das Paar wirkt, was die Sexualität betrifft, äußerst verängstigt. Er berichtet, er wolle nicht mit seiner Partnerin schlafen, weil sie dann ein Kind bekomme, und das dürfe nicht sein.

"Das arme Kind", hieß es, als Marcella schwanger war und nicht abtreiben wollte. Und dabei schwang nicht nur die Sorge mit, daß dieses Kind vernachlässigt werden könnte - es klingt, als wolle man sagen, daß diese Eltern keinem Kind zuzumuten seien.

Nach einer Bremer Studie zur Elternschaft behinderter Menschen gibt es in Deutschland über 8000 Kinder aus solchen Beziehungen. Einige Einrichtungen haben reagiert und bieten eine Begleitung von Familien an. "Ein Leben, so normal wie möglich" lautet das Ziel der Behindertenverbände, und zur Normalität gehören Kinder dazu. Es ist nur folgerichtig, daß auch behinderte Menschen dies einfordern und ihre Sehnsucht nach familiärer Geborgenheit erfüllt sehen wollen. Es gibt kaum ein Paar, das sich nicht mit der Frage nach Kindern auseinandergesetzt hat. Vielen Frauen bleibt dieser Wunsch allerdings versagt. Sie sind sterilisiert worden, häufig ohne hinreichend über die Folgen aufgeklärt worden zu sein.

Es scheint wenig sinnvoll, einen Kinderwunsch nach dem Motto ignorieren zu wollen: "Bloß nicht daran rühren ...". Es zeigt sich, daß es sinnvoller ist, offen darüber zu reden. Die anfängliche Idealisierung der Familie weicht dann oft schnell einer realistischen Auffassung.

Es tut sich was

Bezogen auf den Lebensbereich Partnerschaft und Sexualität ist Bewegung in die Einrichtungen der Behindertenhilfe gekommen. Auch wenn Paare es immer noch schwer haben, es oft an einer angemessenen und kontinuierlichen Aufklärung fehlt, Vorurteile gegenüber behinderten Menschen gerade in diesem Bereich noch blühen - das Grundrecht auf eine erfüllte Partnerschaft wird ihnen nicht mehr abgesprochen. Am 11.8.1987 titelt die "Medical Tribune", eine medizinische Fachzeitschrift, mit: "Psychologen drängen Behinderte zum Koitus. Prof. Rett schlägt Alarm". Diese Zeile würde heute sicher nicht mehr so geschrieben werden. Auch konservative Experten wissen heute, daß man Menschen mit Behinderungen nicht drängen muß. An Liebe fehlt es nicht!

Kontaktinformation

Zeitschrift "psychosozial" im Psychosozial Verlag

22. Jahrgang - Nr. 77 - 1999 - Heft III

Schwerpunktthema: Liebe und Sexualität bei geistiger Behinderung

Herausgegeben von Christa Reuther Dommer

© alle Rechte beim Psychosozial Verlag

email: psychosozial-verlag@t-online.de

Quelle:

Ulrich Hähner: "An Liebe fehlt es nicht"

Erschienen in: psychosozial; 22. Jahrgang - Nr. 77 - 1999 - Heft III

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 01.03.2005

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