Über die heilsamen Folgen der Verunsicherung

Chancen und Realität einen mobilen Beratungsdienstes

Themenbereiche: Psychosoziale Arbeit
Textsorte: Buch
Releaseinfo: erschienen in: Forster, Rudolf/ Schönwiese, Volker (Hrsg.): BEHINDERTENALLTAG - wie man behindert wird, Jugend und Volk, Wien 1982, S. 259 - 269
Copyright: © Jugend und Volk 1982

Anfang und Entwicklung

Im Jahre 1976 wurde ein Experiment gestartet. Auf der Basis einer freien Vereinbarung mit der Burgenländischen Landesregierung wurde vom Sozialministerium bzw. seiner Unterbehörde, dem Landesinvalidenamt für Wien, Niederösterreich und Burgenland, ein "Mobiler Beratungsdienst für entwicklungsgestörte Kinder und Jugendliche im Burgenland" eingerichtet.

Aufgaben und Ziele einer solchen Einrichtung konnten von der zuständigen Behörde nur pauschal formuliert werden: Vom Wohnort aus leicht erreichbare ambulante und kostenlose Untersuchungsmöglichkeiten für die ländliche Bevölkerung; kontinuierliche und begleitende Betreuung behinderter Kinder bzw. ihrer Eltern in medizinischen, sozialen und psychologischen Belangen; systematische Erfassung und Dokumentation, Bedarfserhebung zwecks nachfolgender Planung benötigter Behinderteneinrichtungen.

Wie diese Aufgaben und Ziele nun konkret in der Praxis zu verfolgen seien, wurde der Initiative des wissenschaftlichen Leiters und des mobilen Teams, vorerst bestehend aus einem Sozialarbeiter, einem Psychologen und einem Kinderarzt, überlassen. Die Vorarbeiten des mobilen Teams waren in erster Linie der Recherchierung bereits im Lande vorhandener Einrichtungen gewidmet, sowie der Kontaktaufnahme mit jenem Personenkreis, der schon bisher mit ähnlichen Aufgaben befaßt gewesen war und mit dem spätere Zusammenarbeit vorauszusehen und zu wünschen war. Insbesondere war es wichtig, in persönlichen Gesprächen auf all die Erwartungen positiver, aber durchaus auch skeptischer Art einzugehen, die einer solchen neuen Einrichtung entgegengebracht wurden. Sie haben das Konzept der praktischen Arbeit und die anzuwendenden Strategien wesentlich beeinflußt.

Schon während dieser Vorbereitungszeit wurde klar, daß eine Tätigkeit, die sich auf systematische Erfassung beschränkt, wenig erwünscht war. Erfaßt waren schon viele, das Problem war ihre ungenügende Versorgung. Die Situation für den Start des Beratungsdienstes war damit nicht leichter geworden. Wenn er Anerkennung im Lande finden wollte - und ohne diese wäre eine Arbeit als Fremdkörper ("Bundeseinrichtung") nicht denkbar gewesen - mußte er effizient sein. Die erwartete Effizienz lag jedoch außerhalb seines eigenen Leistungsbereiches, nämlich in der Bereitstellung von Behandlungsmöglichkeiten, die der Diagnostik unmittelbar nachfolgen sollten.

Aber noch war es nicht so weit. Ob die "verschlossene" Bevölkerung von einem mobilen Beratungsdienst überhaupt Gebrauch machen würde, war sehr die Frage. Als jedoch auf die erste offizielle Ausschreibung hin rund 50 Kinder angemeldet wurden, war das Erstaunen groß, das Werkel hatte sich in Bewegung gesetzt. Der Beratungsdienst sah von Beginn an eine seiner wesentlichen Aufgaben darin, Bedarf nachzuweisen, festgestellte Probleme gegenüber den zuständigen Behörden zu artikulieren, auf mögliche Lösungen, die sich aus der jeweiligen aktuellen Situation ergaben, hinzuweisen, sowie initiativ und administrativ bei der Bewältigung einzelner Aufgaben mitzuhelfen.

Die Betreuung sollte das gesamte Burgenland umfassen, doch mußte nach wenigen Monaten infolge Überlastung des mobilen Teams und der zu großen räumlichen Distanz von Wien die Arbeit in den südlichen Landesteilen wieder eingestellt werden. In den Bezirken Neusiedl, Eisenstadt, Mattersburg und Oberpullendorf konnte jedoch ein Betreuungssystem für behinderte oder von Behinderung bedrohte Kinder und Jugendliche aufgebaut werden. Die Leistungen des Beratungsdienstes gliedern sich nach der zu betreuenden Klientel grob in zwei Arbeitsbereiche:

  • Ein Früherfassungsprogramm von Risikosäuglingen, durch das alle in den nördlichen und mittleren burgenländischen Bezirken geborenen Kinder, bei denen ein erhöhtes Risiko einer Hirnschädigung oder einer sonstigen Behinderung vorliegt, systematischen Nachuntersuchungen im ersten Lebensjahr unterzogen werden.

  • Der zweite Bereich der Arbeit umfaßt die Betreuung entwicklungsgestörter oder behinderter Klein- und Schulkinder sowie Jugendlicher bis zum 19. Lebensjahr in sozialer, medizinischer und psychologischer Hinsicht (Diagnostik, Erziehungs- und Förderungsberatung, Therapiezuweisung, Verlaufskontrollen und administrative Hilfestellungen).

In den vier Jahren seiner Tätigkeit wurden dem Beratungsdienst rund 1.500 Säuglinge, Kinder und Jugendliche vorgestellt. Die Zuweisungen erfolgten von lokalen Ärzten, der Kinderabteilung des Krankenhauses Eisenstadt sowie von Wiener Kliniken, den Jugendämtern, Kindergärten, Schulen und dem Schulpsychologischen Dienst. Mit steigendem Bekanntheitsgrad haben auch zahlreiche Eltern von sich aus den Beratungsdienst aufgesucht.

An drei Außenstellen werden regelmäßig Ambulanztage, durchschnittlich 20 bis 22 im Monat, abgehalten. Dabei werden monatlich 160 bis 170 Kinder untersucht, wovon etwa ein Viertel bis ein Fünftel zur Erstuntersuchung kommt.

Um der Nachfrage entsprechen zu können, mußte der Beratungsdienst personell vom Bund um eine Psychologin und eine Sekretärin sowie vom Land Burgenland mittels eines Konsiliarvertrages um einen Kinderarzt erweitert werden. Diese diagnostischen, beratenden und koordinierenden Tätigkeiten des Beratungsdienstes wurden von der Burgenländischen Landesregierung und der Österreichischen Gesellschaft "Rettet das Kind" effektiv durch den Ausbau therapeutischer, ebenfalls großteils mobiler Dienste ergänzt. Bisher stehen vier Sonderkindergärtnerinnen, drei Heilgymnastinnen, eine Logopädin und zwei Ergotherapeutinnen für Spezialplan zur Verfügung. Zwei Beschäftigungstherapie- Tagesstätten wurden von Elternvereinen gegründet, eine weitere von der Österreichischen Gesellschaft "Rettet das Kind" errichtet. Dem Beratungsdienst fiel bei der Gründung aller dieser Einrichtungen die Aufgabe zu, den Bedarf nachzuweisen und in initiativer und administrativer Weise beim Aufbau dieser Einrichtungen Hilfe zu leisten.

Konstruktion, Kompetenzverteilung und deren Folgen

Behindertengesetzgebungund -vollziehung sind Ländersache. Der Beratungsdienst wird - in gewissem Widerspruch dazu - vom Bund, und zwar im Rahmen eines Landesinvalidenamtes, getragen. Dafür gibt es einen - wenn auch weitauslegbaren - Gesetzesauftrag, nämlich den Artikel 3 der KOVG-Novelle von 1975:

"Bei den Landesinvalidenämtern sind Auskunfts- und Beratungsdienste in sozialen Angelegenheiten für den von diesen Behörden zu betreuenden Personenkreis und für sonstige Behinderte einzurichten. Den Behinderten stehen Personen gleich, denen eine Behinderung droht. Die Dienste sind im engen Zusammenwirken mit den übrigen Rehabilitationsträgern sowie mit den Dienststellen der Arbeitsmarktverwaltung zu leisten. Die Auskunfts- und Beratungsdienste sind nicht nur am Sitz der Dienststellen, sondern auch in Form von Beratungstagen außerhalb derselben, je nach Bedarf anzubieten. Die Beratungszeiten müssen entsprechend den Bedürfnissen der Ratsuchenden festgelegt werden."

Da im Burgenland in der Zeit vor der Gründung des Beratungsdienstes im Jahre 1976 deutliche Versorgungslücken auf dem Gebiet der Behindertenbetreuung bestanden, galt der erste Versuch zur Sozialberatung bei Kindern und Jugendlichen auf der Basis der zitierten Gesetzesstelle diesem Bundesland.

Seit 1976 hat der Beratungsdienst Gelegenheit gehabt, Erfahrungen mit dieser Bundeskompetenz in einem Land zu machen. Ohne Kontakt und Zusammenarbeit mit den zuständigen Stellen im Land, also z.B. der Sozialabteilung der Landesregierung, der Kinderabteilung des Krankenhauses Eisenstadt, dem Schulpsychologischen Dienst etc. wäre die Arbeit des Beratungsdienstes - gerade am Anfang - nicht sinnvoll und vertretbar gewesen. Es läßt sich denken, daß es hier besonders in der ersten Zeit zu Gebietsabgrenzungen bei allen Beteiligten gekommen ist, umso mehr, als es für eine derartige Konstruktion nirgends einen Präzedenzfall gab. Einem Kuckucksei vergleichbar lag der Beratungsdienst im Nest, und es war weder klar, ob er dort liegenbleiben sollte, noch - wenn ja - was da wohl herausschlüpfen würde.

Für die Mitglieder des Beratungsdienstes kam aber noch etwas anderes dazu: Nicht nur im Land, sondern auch innerhalb der eigenen Dienstbehörde, dem Landesinvalidenamt, eine Neueinrichtung zu vertreten. Das Amt hatte seit Beginn seines Bestehens klar umrissene Aufgaben, besonders auf dem Gebiet der Kriegsopferversorgung, zu erfüllen, also einem Arbeitsbereich, der von dem des Beratungsdienstes doch verhältnismäßig weit entfernt ist. Plötzlich waren nun hier ein paar neue Bedienstete, von denen nicht ganz klar war, was sie eigentlich taten, die die Hälfte der Zeit im Außendienst verbrachten und dabei auch einige Privilegien genossen - lauter Faktoren, die die Integration des Beratungsdienstes ins Amt nicht gerade erleichterten.

Um beim Bild zu bleiben: Das Nest, in dem der Beratungsdienst lag, war keineswegs warm, "es zog von allen Seiten".

Wenn man friert, muß man sich Bewegung verschaffen, aktiv werden, und dies war in Anbetracht der Nachfrage im Lande auch nötig. Als Folge der Auslastung des diagnostischen Dienstes stiegen nun auch Bedarf und Nachfrage nach Therapie- und Förderungseinrichtungen. Nun zeigten sich positive Auswirkungen der losen organisatorischen Verankerung. Zu dem Zeitpunkt, als erste konkrete Notwendigkeiten der Versorgung formuliert wurden - nämlich bereits nach zwei Monaten Betrieb - hatten die Mitglieder des Beratungsdienstes selbst bereits gelernt, mit ihrer unerprobten und wenig abgesicherten organisatorischen Struktur zu leben. Es lag nahe, daß Leuten, die erfahren hatten, daß sich arbeiten läßt, auch wenn man nicht fest und sicher in einer großen Institution eingebettet ist, als Lösungswege für anstehende Probleme wieder Strukturen einfielen, die der eigenen nahe standen. Dazu kam hilfreich die Tatsache, daß es sich um eine erste Initiative handelte, keine Erfahrungswerte aus anderen Institutionen berücksichtigt werden mußten und also gewisse Narrenfreiheit bestand. Es wurden also alle Möglichkeiten, Träger für Therapieeinrichtungen im Lande aufzuspüren, eifrig genützt; das Resultat ist ein recht gut ausgebautes und koordiniertes Therapienetz, wenn es auch - was die Trägerorganisationen betrifft - einem Fleckerlteppich gleicht: Neben Bund und Land private Elternvereine, das Krankenhaus der Barmherzigen Brüder, die Gesellschaft "Rettet das Kind" usw.

Der Ausbau dieses Netzes ist noch nicht abgeschlossen, und es zeichnet sich die Möglichkeit ab, daß die Arbeit des Beratungsdienstes am Rande und zwischen den Institutionen insofern Früchte trägt, als sich als Basisorganisation eine Gesamtburgenländische Elternvereinigung bildet, die in Zukunft ihre Interessen selber vertreten kann. Wenn Versorgung nicht von Amts wegen, sondern "dilettantischer" geschieht, steigt direkt proportional die Möglichkeit zur Selbsthilfe für die Betroffenen.

Was die Möglichkeiten der "Fachleute" des Beratungsdienstes betrifft: Durch die spezielle Organisationsform sind diese Fachleute gleichzeitig zu Managern derjenigen Anliegen geworden, die sich ihnen in den Fachmann-Funktionen stellen. Also: Die Verwirklichung jeder Forderung hat direkte Auswirkungen auf die Arbeitssituation des Fordernden - daß das die Schärfe und Konsequenz, mit der die Forderung gestellt wird, vermehrt, liegt nahe.

Rolle und Selbstverständnis des mobilen Betreuers

Wenn zwei, die miteinander zu tun haben werden - daß sie auch miteinander zu tun haben wollen, sei der Einfachheit halber angenommen - sich zu diesem Zweck aufeinander zu bewegen, verleiht der Interaktion zwischen beiden andere Vorzeichen, als wenn nur einer der Kommende, der andere aber der Empfangende ist.

Wenn die Betreuer infolge Sichtbehinderung bei dichtem Nebel verspätet an der Beratungsstelle einlangen und die zu Betreuenden sich durch eben denselben Nebel geplagt haben, besteht zwischen den beiden zumindest insofern ein Konsens, daß es sich lohne, die Strapazen einer Nebelfahrt auf sich zu nehmen. Etwas weniger optimistisch gesehen, könnte das Gemeinsame der beiden auch das Gefühl sein, trotz Nebels ihrer Pflicht nachzukommen. Vielleicht führt aber auch die auf sich genommene Anstrengung dazu, daß beide danach trachten, daß ihre Erwartungen und Hoffnungen auf Erfolg sich nun auch erfüllen. Je schlechter das Wetter, desto besser die Stimmung in der Beratungsstelle. Verschärfte äußere Bedingungen können Menschen zusammenführen - zumindest vordergründig.

Das Entgegenkommen des Betreuers kann natürlich auch ganz andere Effekte bringen. Nämlich Anbiederung, Imageverlust und Autoritätsminderung. Ein fahrender Arzt, Psychologe oder Therapeut, womöglich noch in einer improvisierten Behandlungsstelle, wirkt nicht ganz so respektabel, wie wenn er (sie) umgeben ist vom eindrucksvollen Gehäuse einer Klinik oder einem liebevoll ausgestatteten modernen Therapiezentrum.

Einen Effekt hat die unklare Definition des Status des Betreuers aber ganz sicher, nämlich den der Reduktion der sozialen Barriere zwischen ihm und den Klienten. Wer was von wem will, muß im Einzelfall erst ein klein wenig mehr ausgehandelt werden, als dies im traditionellen, vorstrukturierten Rollenspiel zwischen Arzt und Patient, z.B. in einer Klinik-Situation, der Fall ist. Als vordergründiger Vorteil geht hieraus hervor, daß der Patient die Möglichkeit zu aktiverer Mitbestimmung hat, was nun geschehen solle. Das Maß seiner Mitbestimmung könnte den Grad seiner Motivation zur Mitarbeit in der weiteren Behandlung ausmachen. Infolge eingeschliffener autoritätsorientierter Verhaltensmuster kann jedoch die Miteinbeziehung des Klienten in den Entscheidungsprozeß auch leicht zur Verunsicherung beider Teile führen.

Ein wenig suspekt wird das Beratungsangebot auch durch die Tatsache, daß es kostenlos zu haben ist und nicht einmal die Abgabe eines Krankenscheines erfordert. Leicht zu erreichende und freie Verfügbarkeit paßt nicht ganz in das hierzulande gängige Konsummodell; gut ist, was teuer ist; je höher der Aufwand, desto besser das Erworbene. Auch fällt für den Klienten bei kostenloser Betreuung, insbesondere Langzeitbetreuung, die Überlegung weg, eine begonnene Behandlung weiterzuführen, um das bereits investierte Geld nicht umsonst ausgelegt zu haben. Freilich sichert umgekehrt die Kostenfreiheit die Behandlung für jedermann.

Eine weitere Folge ökonomischer Randbedingungen ist mitunter zu beobachten: Durch den mit Anstrengung geleisteten Aufwand für kostspielige und organisatorisch mühsame Behandlungsstunden werden Eltern behinderter Kinder von ihren immer vorhandenen, wenn auch noch so irrationalen Schuldgefühlen entlastet. Erschöpft von der Anstrengung geben sie sich der (ihnen allerdings zu vergönnenden) Illusion hin, ihre Schuldigkeit getan zu haben. Die Konzentration dieser Eltern auf ihre eigentliche Aufgabe, die Behandlung ihres Kindes zu Hause und durch sie selbst, ist abgelenkt.

Die Motivation, den Beratungsdienst aufzusuchen, zu regelmäßigen Kontrollen zu kommen und in langfristiger Betreuung zu verbleiben, ist eine Spur "freiwilliger". Finanzielle und organisatorische Überlegungen und auch unbewußte Beweggründe sind reduziert, autoritätsabhängige Einflüsse gemindert. Die Motivationen aus emotionalen und ideellen Gründen sind vertrackt genug, um mit ihnen richtig umzugehen.

Auf welche Weise immer hier soziale Annäherung vollzogen wird, der Betreuer wird gefordert, persönlich und individuell seine Rolle zu finden und obendrein nicht noch am Glatteis der Zweideutigkeit ins Caritative abzurutschen. Dies umso mehr, als der Betreuer durch seine Mobilität, sein Eindringen in den näheren Lebensraum der Patienten, mit so manchen Problemen unmittelbarer konfrontiert wird. Der Impuls des Helferseins, zuzupacken, abzunehmen, Rücksicht zu nehmen, mag zwar das ein oder andere Mal eine wohltuende menschliche Geste sein, nicht immer aber ist er langfristig zielführend.

Naherlebnisse sensibilisieren, nützlich werden sie erst, wenn ihr Stellenwert im Gesamtgefüge ausgemacht worden ist. Wenn dem Betreuer selbst einmal der letzte Bus davongefahren ist, erlebt er, welche Belastung Müttern auferlegt ist, wenn sie in der Beratungsstelle zu lange warten mußten und ihren Bus versäumten, wie umständlich überhaupt regelmäßige Therapiefahrten sind, wenn nur öffentliche Verkehrsmittel zur Verfügung stehen. Wenn der Betreuer selbst sich auf den Weg macht, um im Arbeitsamt vorzusprechen und dort erfährt, daß für seinen Klienten keine Chancen auf einen geschützten Arbeitsplatz bestehen, trifft ihn die Frustration der Auskunft unmittelbarer, als wenn er dies aus zweiter Hand erfährt. Die Härte der Arbeitsmarktsituation läßt sich nun nicht mehr durch den Verdacht mildern, der Vorsprechende hätte eben ungeschickt agiert. Wenn der Betreuer selbst ein gehbehindertes Kind die Stiege zu seinem Behandlungsraum hoch tragen muß, da er sich ansonsten den Behandlungstermin umsonst freigehalten hätte, wird er in Hinkunft wütender über diesen und andere nicht adaptierte Zugänge zu Räumlichkeiten sein. Wenn die Heilgymnastin für die Mutter als Cotherapeutin sorgfältig ein Behandlungsprogramm erstellt und gute Ratschläge zur Lebensgestaltung des Kindes erteilt, z.B. nur den einfachen Vorschlag, es möge reichlich am Boden krabbeln und dann anläßlich eines Hausbesuches die kleine Küche mit Steinboden, ein überfülltes Wohn-Schlafzimmer, zwei weitere Kleinkinder, die arthritische Großmutter, den Stall, die Gurkenernte und den müden und hungrigen Vater sieht, so zerplatzen manche Seifenblasen.

Solche Naherlebnisse können auch hemmen. Langes Grübeln in der Sprechstunde über die rationellste Organisation zur Hilfe für die eine Mutter läßt die nächste wegen Terminverzögerung ihren Bus versäumen. Sparsam angesetzte Kontrolltermine, um die Familie nicht zu überlasten, sind zu sporadisch, die nötige Vertrauensbeziehung kann nicht entstehen. Wegen der Umständlichkeit wird Qualitätseinbuße riskiert.

Das Miterleben der Belastung der Klienten belastet auch den Betreuer. Verringerte soziale Distanz motiviert dringlicher dazu, nach Lösungen zu suchen. Wo im Einzelfall der Kompromiß zu finden ist zwischen optimaler und praktikabler Therapie, zwischen mitverantwortlicher und bevormundender sozialer Hilfestellung, darüber ist sich der Betreuer nicht immer ganz im klaren.

Eine ambulante, noch dazu mobile und dadurch statusmäßig ein wenig fragwürdige Institution gewinnt nie den (in schwachen Stunden manchmal erwünschten) Einfluß auf ihr Klientel, wie dies einer totalen Institution einer Anstalt, einer Therapiestation - möglich ist. Das soziale Umfeld des Patienten, sein Einfluß auf dessen Entwicklung, muß in den Therapieplan miteinbezogen werden. Dieses soziale Umfeld entzieht sich jedoch der Manipulation. Es stellt weiterhin ein Unbekanntes dar, das sich, lediglich durch die Mobilität des Betreuers nähergebracht, weniger aus dessen Bewußtsein verdrängen läßt. Der Betreuer muß lernen, alle Faktoren, die die Entwicklung eines behinderten Kindes bestimmen, in einer gewissen Weise zu respektieren. Eigene Normen und Utopien, und mögen sie noch so idealistisch sein, müssen in der Konfrontation mit der Realität - den lokalen Gegebenheiten, der familiären Situation, der sozialen Schicht und der jeweiligen Tradition - relativiert werden. Kurzum: Der ambulante und mobile Betreuer gerät eher als der stationäre in eine Position, in der er genötigt ist, der Selbstbestimmung der Betroffenen, der persönlichen Interpretation ihrer Situation und ihrem Arrangement darin den gebührenden Platz einzuräumen.

Veränderungen der Fremd- und Selbstwahrnehmung

Fallgeschichte 1

Frau H. gebiert nach einem gesunden Kind und mehreren fehlgeschlagenen Schwangerschaften ein mongoloides Kind. Sie hat Glück im Unglück, der nach der Geburt sie aufsuchende Pädiater versteht es, ihre Mütterlichkeit anzusprechen. Dieses Kind brauche sie mehr als ein anderes, desto selbstverständlicher sie es annehme, desto besser werde es im Rahmen seiner - genetisch sicher begrenzten - Möglichkeiten gedeihen. Frau H. kommt mit ihrem Baby zur regelmäßigen Entwicklungskontrolle. Sie greift die dabei angebotene Möglichkeit zur Aussprache sowie verschiedene Förderungsvorschläge gerne auf. Frau H.'s Verhalten fällt positiv auf - ihre "Normalität" im Umgang mit dem Kind, ihre ungebrochene herzliche Zuwendung. (Es scheint für Mütter doch leichter zu sein, ihr behindertes oder andersartiges Kind zu akzeptieren, wenn von Beginn an einigermaßen klar ist, wie die Situation ist.)

Das erste Lebensjahr ist vorüber, das Kind entwickelt sich sehr zufriedenstellend, das Verhalten und - soweit daraus abzulesen - die Befindlichkeit der Mutter sind weiter hocherfreulich. Eine erste Dissonanz in dem bis dahin guten Mutter-Arzt-Kontakt entsteht durch die Notwendigkeit der familiengenetischen Beratung. Die dafür erforderliche Untersuchung wird nach einigem Zögern endgültig abgelehnt: Der Kleine sei so wie er sei, man möchte eigentlich nicht wissen, warum und woher. Da die Mutter weiß, was im Falle einer weiteren Schwangerschaft zu tun ist, und daß möglicherweise auch Konsequenzen für ihr älteres gesundes Kind bestehen, ist diese Entscheidung der Eltern durchaus akzeptabel. Eigentlich ist diese Entscheidung sogar als weiterer Beweis dafür anzusehen, daß diese Familie sehr darauf bedacht ist, ihr inneres Gleichgewicht nicht zu gefährden und damit auch ihrem Kind ein Maximum an Geborgenheit zu vermitteln.

Der Bub ist nun zwei Jahre alt. Seit wenigen Wochen läuft er frei. Sozialverhalten, Aufmerksamkeit und Konzentration sind für ein mongoloides Kind seines Alters auffallend gut. Sprache und feinmotorische Manipulation entsprechen etwa einem Einjährigen. Das Verhältnis zwischen Mutter und Kind ist unverändert. Frau H. meint, sie merke eigentlich kaum, daß ihr Kind anders sei, er laufe lediglich nicht so gut wie gleichaltrige Kinder. Auch ihr älterer Sohn habe M. sehr lieb, er habe bisher eigentlich ebenfalls nichts besonderes an M. wahrgenommen.

Frau H. muß, so schwer dies fällt, auf den Rückstand ihres Kindes hingewiesen werden. Die Verdrängung von M.'s Andersartigkeit wird sich nicht unbegrenzt aufrecht erhalten lassen. Im Kindergarten oder spätestens mit Schuleintritt wird an M. der Maßstab gesellschaftlicher Normen angelegt werden. Frau H. muß zwei Dinge lernen: Diese Normen zu erkennen und sich ihnen emotional zu widersetzen. Dieser schwierige Lernprozeß wird in kleinen Schritten über Jahre sicher eher zu bewältigen sein. Auch die übrige Familie sollte an diesem Lernprozeß aktiv teilnehmen. Der Verdacht, daß vom Vater ganz besonders die Tendenz zur Verdrängung ausgeht, nimmt zu. Er läßt sich trotz Einladung nicht in der Beratungsstelle blicken. Daß der gesunde Sohn nicht abrupt durch außenstehende Personen mit den Problemen seines kleinen Bruders konfrontiert werden sollte, leuchtet der Mutter ein.

Mit der Begründung der Einleitung einer sonderpädagogischen Förderung und des damit verbundenen Mehraufwandes wird der Antrag auf erhöhte Familienbeihilfe angeboten. Dieses mögliche "Geschäft" mit dem Kind befremdet - entfremdet Mutter und Kind, Mutter und Berater. Die Stigmatisierung hat unmerklich eingesetzt, nun gilt es, sie in der Hand zu behalten - von der Familie, von denen, die auf ihre Möglichkeit hinweisen und sie damit einleiten und von denen, die sie möglicherweise praktizieren. Im Zentrum des Blickfeldes bleibt, wie die betroffene Familie selbst mit der Situation umgeht.

Das gleiche gilt für die aus der Arbeitssituation sich ergebende Dringlichkeit der Hilfe zur Selbsthilfe. Eine ambulante Betreuungseinrichtung kann nie den Versorgungsstandard einer totalen Institution erreichen. Sie hat aus der Sicht therapeutischen Wunschdenkens immer mit Versorgungslücken und "Mängeln" zu kämpfen. Sie wird daher viel eher genötigt sein, verschiedene Strategien zur Lösung von Problemen zu erwägen, auszuprobieren und anzuwenden. Zumindest sind die Möglichkeiten zu flexibler Vorgangsweise nicht durch fix und fertig rezeptierte Lösungen eingeengt. Unter diesen Vorzeichen ist auch die Selbsthilfe Betroffener für den Betreuer ein naheliegendes und in seinem persönlichen Interesse stehendes Mittel, um mit seiner eigenen Insuffizienz zu Rande zu kommen.

Eines ist hoffentlich schon klar geworden: Die spezielle Arbeitsform stellt die Mitglieder des Beratungsdienstes vor Fragen, die manchmal direkter formuliert sind, als dies in einem wohlausgebauten Therapiezentrum der Fall wäre. Ein gut abgestimmtes, umfangreiches Diagnoseprogramm kann auch zum Selbstzweck werden, und das präzise Wissen um alle zur Verfügung stehenden Therapiemöglichkeiten kann daran hindern, nach denjenigen zu suchen, die nicht zur Verfügung stehen.

Am folgenden Beispiel soll gezeigt werden, in welchen Bereichen sich derartige Fragen für die Mitglieder des Beratungsdienstes stellen; es sollte dabei auch klar werden, wie weit sie in das persönliche und berufliche Selbstverständnis eines jeden einzelnen Mitarbeiters hineinreichen.

Fallgeschichte 2

Die Jugendliche A. ist durch spastische Tetraparese schwer körperbehindert; sie kann nur mit Mühe frei gehen, auch die Hände sind stark betroffen, und ihre Sprache ist nur schwer verständlich. Sie wohnt bei den Eltern und ist - was als Glücksfall anzusehen ist - im Heimatort halbtags als Büroangestellte beschäftigt. A. wurde dem Beratungsdienst im Sommer 1978 wegen schwerer Depressionen zur psychologischen Betreuung zugewiesen.

A. hatte zu diesem Zeitpunkt trotz ihrer Berufstätigkeit den Status eines kleinen Mädchens. Sie wurde bei der körperlichen Pflege und im gesamten Alltag weit mehr versorgt als notwendig gewesen wäre und ließ sich auch entsprechend bedienen. Sozialkontakte außerhalb der Familie gab es kaum, Lieblingsbeschäftigung war das Lesen von Klischee-Traumwelt-Romanen.

Die Psychologin des Beratungsdienstes hat für A. durch etwa eineinhalb Jahre die Rolle gespielt, die von ihr erwartet wurde: Sie war Fachmann zum Zuhören geeignet, der Müllhaufen ihres wenig durchschauten Unglücks. Im selben Zeitraum spielte der Sozialarbeiter des Beratungsdienstes eine komplementäre Rolle für die Eltern, besonders den Vater; wenn A. über die Überbesorgtheit der Eltern klagte, beschwerten sich diese über ihre Launenhaftigkeit. Das Arrangement war für keinen bedrohlich, freundschaftlich, dabei aber statisch und wenig geeignet, A. zu einem selbstbestimmten Leben zu verhelfen.

An diesem Punkt hatten die beiden professionellen Betreuer die vorläufigen Grenzen der Möglichkeit, A. zu helfen, erreicht und sich das auch klargemacht. Es war sichtbar, daß sie einen Umraum brauchte, der ihr mehr Lebendigkeit zugestände und den ihr Psychologin und Sozialarbeiter eindeutig nicht bieten konnten.

Glücklicherweise fand sich dieser Umraum in einer Wiener Initiativgruppe von Behinderten und Nichtbehinderten. A. hat in zwei aufeinanderfolgenden Sommern an Ferienlagern dieser Gruppe teilgenommen; beim ersten Mal ist sie munter, beim zweiten Mal tiefgreifend verändert davon zurückgekommen. Sie hat Freunde gewonnen, erste Erfahrungen mit Zärtlichkeit und Sinnlichkeit gemacht, gelernt, ihrer Behinderung in die Augen zu sehen. Sie hat jetzt auch ernste Auseinandersetzungen mit ihren Eltern, denen das Umlernen schwerer fällt als ihr.

Die Veränderung hat natürlich auch vor dem Verhältnis zu den Betreuern nicht halt gemacht. Von der distanziert-hilflosen Beraterfunktion sind diese in einem gemeinsam durchgemachten Entwicklungsprozeß auf eine freundschaftliche Ebene mit gleichverteilten Gewichten gekommen. Dies bedeutet für Psychologin und Sozialarbeiter u.a. auch das bewußte Aufgeben der persönlichen Abstinenz, die von Vertretern verschiedener Psychotherapierichtungen gefordert wird. Der Klient, der sich selbst zu helfen gelernt hat, braucht psychotherapeutische Intervention nicht mehr. Hier haben also Fachleute dazu beigetragen, sich selbst als Fachleute überflüssig zu machen und sind aus einem Entwicklungsprozeß als Partner hervorgegangen.

Schlußfolgerungen aus diesem Beispiel können nur vorsichtig gezogen werden. Es ist aber denkbar, daß selbstbewußten Vertretern einer klar definierten Therapie-Institution der Gedanke an das Unzureichende von A.'s Umraum später gekommen wäre, daß die Suche nach tiefergreifenden Alternativen als die Betreuung durch den Beratungsdienst sie bieten konnte, später eingesetzt hätte.

Betont soll werden, daß die Alternative - die Initiativgruppe - wesentliche Bedingung für die Veränderung bei A. und damit den Betreuern war; wenn der Beratungsdienst ohne solche Hilfen agiert, sind seine Mitglieder gezwungen, die Rollen der Fachleute viel ungefragter zu akzeptieren, die ihnen vor, den Kontakten am Beratungstag zugeschrieben werden.

Fallgeschichte 3

Den Buben J., sechs Jahre alt, hat eine Psychologin des Beratungsdienst über ein Jahr lang wegen zahlreicher Ängste betreut. Seine Mutter, Frau E., ist eine gescheite, sensible Frau mit wenig Schul- und ohne Berufsausbildung, die ihre ganze Klugheit darauf verwendet, alle Regungen ihrer beiden Kinder ängstlich zu analysieren und wortreich zu kommentieren. Dementsprechend neurotisiert ist vor allem J. als der Ältere. Im Zeitraum der Betreuung hat Frau E. Vertrauen zur Psychologin gefaßt; eine merkbare Besserung von J.'s Ängstlichkeit hat auch zum Entstehen eines warmen Verhältnisses beigetragen, das von beiden Teilen angenehm erlebt wurde.

Daran hat sich die Psychologin erinnert, als sie einige Urlaubstage in der Nähe des Wohnortes der Familie verbrachte; sie kam auf die Idee, sie zu besuchen, und hat das auch getan. Erwartet hat sie sich dabei Aufnahme wie bei guten Bekannten mit Gesprächen über den Lebensraum von Gastgebern und Gast, dabei vielleicht am Rande auch über Kinder - dann aber auch über ihr eigenes. In dieser Erwartung wurde sie enttäuscht; sie ist die Fachmann-Rolle keinen Moment losgeworden und wurde behandelt wie auf Dienstreise; ca. drei Stunden lang wurde sie mit Erzählungen über das Verhalten der Kinder bombardiert, um Rat gefragt, mußte Stellung nehmen, und jeder Versuch, das, was nicht Psychologin an ihr ist, ins Gespräch einzubringen, wurde im Keim erstickt.

Es war ein lehrreicher Besuch, und im Zusammenhang mit der Geschichte von A. läßt sich sagen: Die Art, wie der Beratungsdienst arbeitet, hilft seinen Mitgliedern, gelegentlich danach zu fragen, ob die Spielregeln, die für ihre Berufsgruppen gelten, nicht auch durchbrochen werden könnten; ob dies dann auch wirklich im Einzelfall gelingt und einen positiven Effekt hat, hängt sicher nicht von den Betreuern alleine ab. Tiefgreifende, andauernde Veränderung des sozialen Raumes der Klienten ist Voraussetzung dafür, und diese kann nur selten und mit Hilfe geleistet werden; und nur dann verändern auch die Fachleute sich mit.

Zuletzt...

In müden Augenblicken lacht den Betreuer die tröstende Utopie an, durch ein Land zu reisen, in dem jedermann aufs Beste versteht, mit seinen ein wenig anders gearteten Mitbürgern umzugehen, in dem jede Empfehlung und jeder Vorschlag zu spät kommen, da sie schon längst praktiziert werden.

Quelle:

Eva Maria Glatz, Irmela Steinert: Über die heilsamen Folgen der Verunsicherung

Erschienen in: Forster, Rudolf/ Schönwiese, Volker (Hrsg.): BEHINDERTENALLTAG - wie man behindert wird, Jugend und Volk, Wien 1982, S. 259 - 269

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 31.05.2005

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