Perspektiven eines nicht-alltäglichen Zusammenlebens oder »Es gibt kein richtiges Leben im falschen« (Adorno)

Autor:in - Jo Jerg
Themenbereiche: Lebensraum
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 4-99 Gemeinsam leben (4/1999)
Copyright: © Luchterhand 1999

Erste Erfahrungen in einer integrativen, lebensweltorientierten Wohngemeinschaft

Im folgenden werden die ersten Erfahrungen der Begleitforschung einer integrativen, lebensweltorientierten Wohngemeinschaft für Menschen mit und ohne Unterstützungsbedarf[1] vorgestellt. Hierbei handelt es sich um ein Wohnmodell, das in den bisherigen Angebots- und Betreuungsstrukturen der Behindertenhilfe noch nicht verankert ist und in gegenwärtigen Untersuchungen zu Betreuungsformen nicht berücksichtigt wird, aber an einzelnen Orten mit ähnlichen Konzeptionen schon erprobt wurde (vgl. Sack 1993, Schulz 1997).

Die dargestellte Re-Konstruktion bezieht sich auf die Erfahrungen der ersten acht Monate des Wohnprojekts.



[1] Im sonderpädagogischen/medizinischen Ordnungsdenken wurden die BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf der Kategorie »Menschen mit geistiger Behinderung« zugeordnet. Aufgrund von Auflösungsprozessen von Normalität und Behinderung im Wohnprojekt haben wir uns darauf verständigt, eine adäquate sprachliche Ausdrucksform zu finden und benützen deshalb als Unterscheidungsmerkmal den Zusatz »Menschen mit bzw. ohne Unterstützungsbedarf«.

Zur Geschichte des Wohnprojekts

Entstanden ist die Idee dieses Projekts in der Arbeitsgemeinschaft Integration[2], in der sich Eltern für ihre Kinder eine alternative Wohn- und Lebensform zu den stationären Betreuungsangeboten wünschten und ein Modellprojekt einer integrativen Wohngemeinschaft entwickelten. Die zu gründende Wohngemeinschaft sollte in die regionale Angebotsstruktur eingebunden sein.

Aus den Kontakten zu Trägern und Einrichtungen im Vorfeld ergab sich eine enge Kooperation mit dem Wohngruppenverbund der Gustav-Werner-Stiftung zum Bruderhaus Reutlingen[3], weil Leitung und Mitarbeiter-Innen sich dem Vorhaben gegenüber besonders offen zeigten und bereit waren, ihre fachlichen Kompetenzen zur Verfügung zu stellen. In Kooperationsgesprächen wurde die gemeinsame Basis erarbeitet und somit die Voraussetzung für die Verwirklichung der Idee in Form einer gemeinsamen Trägerschaft geschaffen. Ein wichtiger Meilenstein zur Realisierung des Vorhabens war dabei die Bereitschaft des Wohngruppenverbunds, aus seinem Kontingent vier Plätze für Personen mit Unterstützungsbedarf zur Verfügung zu stellen. Die geplante wissenschaftliche Begleitung des Wohnprojekts, die von der evang. Fachhochschule für Sozialwesen in Reutlingen[4] durchgeführt wird, konnte aus finanziellen Gründen erst nach Beginn des Wohnprojekts realisiert werden.



[2] Die Arbeitsgemeinschaft Integration (AGI) ist eine Elterninitiative in Reutlingen, die 1971 gegründet wurde und sich seither in fachlichen und politischen Strukturen für die Integration von Menschen mit Behinderungen in Regelschulen und auf dem ersten Arbeitsmarkt einsetzt sowie konkrete Beratungs- und Unterstützungsangebote für Eltern und deren Kinder anbietet bzw. organisiert.

[3] Die Gustav-Werner-Stiftung zum Bruderhaus Reutlingen ist Träger der Freien Wohlfahrtspflege mit differenzierten Angeboten in der Behindertenhilfe, Jugendhilfe und im psychosozialen Versorgungsbereich.

[4] Die Aufgabe der wissenschaftlichen Beratung des Forschungsprojekts übernehmen Prof Dr. Werner SCHUMANN und Prof. Dr. Peter SEIBERTH von der Evang. Fachhochschule für Sozialwesen.

Kurzbeschreibung der Wohngemeinschaft

Im Reutlinger Stadtbezirk Betzingen wurde ein dreistöckiges Haus mit Garten angemietet. Hier leben seit Sommer 1996 acht BewohnerInnen, davon vier mit Unterstützungsbedarf. Zur Zeit setzt sich die Wohngemeinschaft aus jeweils drei Frauen mit bzw. ohne Unterstützungsbedarf sowie jeweils einem Mann mit bzw. ohne Unterstützungsbedarf zusammen. Die Bewohner-Innen mit Unterstützungsbedarf sind zwischen 24 und 30 Jahre alt und arbeiten alle ganztags in der »Werkstatt für Behinderte« in Reutlingen. Sie haben bisher zu Hause gelebt - mit Ausnahme einer Frau, die seither in einer Institution wohnte. Von den BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf sind zwei Frauen Anfang 20, eine Frau und ein Mann 40 bzw. 45 Jahre. Sie sind alle in Teilzeitbeschäftigungsverhältnissen - im Verkauf, im alternativen Gastronomiebereich und im Erziehungsbereich - überwiegend auf 75%-Stellen. Voraussetzung für den Einzug in die Wohngemeinschaft ist für Personen ohne Unterstützungsbedarf neben der grundsätzlichen Offenheit bezüglich integrativer Lebensformen die Bereitschaft, 15 Stunden Assistenzleistungen zu erbringen. Als Gegenleistung dafür werden keine Mietkosten berechnet.

Zur Unterstützung, Begleitung und Koordination im Alltag stehen ein hauptamtlicher Mitarbeiter und ein Zivildienstleistender zur Verfügung.

Im Gegensatz zu den konventionellen Wohngruppen wurde bei der Auswahl der Personen mit Unterstützungsbedarf der Grad der Selbständigkeit nicht als zentraler Maßstab zugrunde gelegt, um bewußt eine hierarchische Differenzierung von »Behinderungsformen« zu vermeiden. So kann auch eine Frau, die aufgrund häufig auftretender epileptischer Anfälle eine Assistenz in Form einer Rund-um-die-Uhr-Betreuung und umfassende Pflege benötigt, in der Wohngemeinschaft leben. Von den anderen BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf benötigt eine weitere Person aufgrund von Bewegungseinschränkungen Unterstützung bei der Bewältigung einzelner Tätigkeiten (z. B. beim Haare waschen). Ein hohes Maß an Unterstützung erfordern alltägliche Tätigkeiten wie kochen, putzen, etc., wobei die einzelnen BewohnerInnen unterschiedliche Begleitungsbedürfnisse artikulieren und brauchen. Ein weiterer Schwerpunkt der Assistenzleistungen liegt in der Aufgabe, den BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf einen emotionalen und psychischen Rückhalt zu geben. Hierbei kommt erschwerend hinzu, daß drei BewohnerInnen nicht bzw. nicht ohne besondere Anstrengung in den gewohnten verbalisierten Formen kommunizieren können.

Der personelle Umfang der Begleitung umfaßt in der Regel folgende Kernzeiten: während der Arbeitstage einen doppelt besetzten Frühdienst, ab spätnachmittags zwei Personen, die bei der Alltagsbewältigung behilflich sind und eine Bewohnerin, die den Nachtdienst übernimmt.

Forschungskonzept und Forschungsverlauf

Unser Bemühen war und ist es, aus der Sicht und Äußerungen der BewohnerInnen/Beteiligten selbst ihre Lebenswelt zu entschlüsseln. Vor allem sollte herausgearbeitet werden, wie die BewohnerInnen ihre neue Lebenssituation beurteilen, welche Möglichkeiten und Konflikte sich daraus ergeben, welche Bewältigungsstrategien sie als adäquat erleben und welche Bedürfnisse und Wünsche sie haben.

Ausgangspunkt und Grundlage des zugrundeliegenden Forschungsverständnisses ist, daß die BewohnerInnen und die anderen Beteiligten auch im Forschungsprozeß als aktiv Handelnde in Erscheinung treten, in die Interpretation und Auswertung der Daten mit einbezogen werden und somit ihre Geschichte und die Geschichte des Projekts »mitschreiben«. Entscheidend war dabei, eine geeignete Gesprächsform auszuwählen, die den eingeschränkten verbalen Fähigkeiten von Personen mit Unterstützungsbedarf entsprechen.

Bei der Auswahl der Methoden konnte auf ein bewährtes Instrument zur Re-Konstruktion von Prozeßverläufen aus dem Projekt »Kinderalltag und Lebensqualität«[5] zurückgegriffen werden. Für die Erhebung wählten wir die Methode der Gruppendiskussion, weil hier die beteiligten Personen in einen Austausch und Diskurs eintreten können. Weiterhin gingen wir davon aus, daß die Form von Gruppengesprächen über das Ziel einer Erhebung hinaus weiterführende Prozesse innerhalb der WG in Gang setzen können.

Die Aufteilung der Gesprächsgruppen erfolgte zunächst nach funktionalen Aspekten, d. h. die Gesprächsgruppen sollten nach den unterschiedlichen Positionen im Projekt gebildet werden. Dabei ergaben sich drei Gruppen: Die BewohnerInnen, die Mitarbeiter und die Eltern. Aufgrund der Größe der BewohnerInnengruppe war eine Teilung notwendig, damit jede Person Raum zur Selbstdarstellung hatte. Die Zusammensetzung sollte nicht mit einer klassischen, behinderungsspezifischen Sichtweise die BewohnerInnen-Gruppe in BewohnerInnen mit und ohne Unterstützungsbedarf trennen, sondern einen Kommunikations- und Diskussionsprozeß in einer »gemischten« Gruppe ermöglichen. Die Einteilung der BewohnerInnen-Gesprächsgruppen wurden deshalb nach geschlechtsbezogenen Kriterien vorgenommen.



[5] Vgl. Beschreibung des Re-Konstruktionsverfahrens in den Berichten des Projekts »Kinderalltag und Lebensqualität«. Diese Methode wurde von Elke SCHöN in das damalige Projekt eingebracht und in modifizierter Form hier zugrunde gelegt.

Ergebnisse: »Normalität« als Strukturqualität ›So wie anderswo‹ - alltägliche WG-Erfahrungen

Bei all dem »Besonderen« der Wohngemeinschaft Jurastraße erinnern viele Situationen und Probleme, die im Alltag entstehen und zu bewältigen sind, an allzu bekannte Erfahrungen aus Wohngemeinschaften und Familien: Wer denkt an die regelmäßig einzunehmende Medizin, wer fühlt sich verantwortlich für den Einkauf, wer putzt den Naßbereich, wer denkt an den Geburtstag etc.? Tendenziell spiegeln sich hier in dieser Wohngemeinschaft die klassischen Geschlechterverhältnisse wider. Frauen übernehmen häufiger die Verantwortung für den emotionalen Bereich und sorgen für Atmosphäre - so wie man es aus den meisten Familien kennt. Diese Aufteilung muß in der Tendenz betont werden, da sich innerhalb der Wohngemeinschaft auch Differenzierungen in einzelnen Bereichen ergeben, die die geschlechtstypische Arbeitsteilung unterlaufen: Ein Mann in der WG übernimmt viele Assistenzleistungen, sucht die Beziehungsebene zu den MitbewohnerInnen. deckt Konflikte auf und fordert die Diskussion ein, während eine Mitbewohnerin die eigenen Interessen in den Vordergrund stellt und sich häufig nicht verantwortlich fühlt für die gemeinschaftlichen Aufgaben.

Ein zentrales Thema in den Gesprächen bildeten Gruppenprozesse, die aus Wohngemeinschafts- und Beziehungserfahrungen bekannt sind. Die Beschreibung des Prozeßverlaufs der ersten acht Monate decken sich mit typischen Gruppen- und Beziehungserfahrungen. Nach einer anfänglichen euphorischen Phase, die durch »Endloszeit« der BewohnerInnen und ein intensives Zusammenleben gekennzeichnet ist, schleicht sich der Alltag langsam ein. Schwierigkeiten mit den Verhaltensweisen und Bewältigungsstrategien einzelner Mitbewohnerlnnen treten ans Tageslicht, und andere Interessen, die außerhalb der WG angesiedelt sind, bekommen (wieder) mehr Raum. In den Re-Konstruktionsgesprächen wurde diese anfängliche Zurückhaltung mit dem zentralen Anliegen und Bedürfnis begründet, zunächst ein Vertrauensverhältnis untereinander aufzubauen und für eine gemütliche Atmosphäre zu sorgen, um so einen tragfähigen gemeinsamen Alltag herzustellen.

Perspektiven der BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf. Teilhabe und Selbstbestimmung unter »normalisierten« Lebensbedingungen

Der Einzug in die WG ist für die BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf ein großer Schritt heraus aus dem bisherigen Lebensumfeld und mit gemischten Gefühlen verbunden. Anziehend wirkt die Möglichkeit, ein eigenes Zimmer zu beziehen, das nach eigenen Vorstellungen und mit eigenen Möbel etc. eingerichtet werden kann[6]. Dieser Aspekt ist nicht zu unterschätzen, da für die BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf das eigene Zimmer und die Wohnverhältnisse aufgrund der spärlichen Außenkontakte von großer Bedeutung sind. Verunsichernd an der völlig neuen Situation ist die Ungewißheit, inwieweit man sich in der fremden Umgebung zurechtfinden wird.

BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf haben die Schwierigkeit, mit der Herausforderung zurechtzukommen, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Bisher waren sie es nicht gewohnt und wurden auch nicht ausreichend gefordert, den Alltag so selbständig wie möglich zu organisieren, Alltagsroutinen, wie z. B. Brot schneiden, Kaffee kochen, selbständig mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur WfB fahren, alleine einkaufen etc., sind Fähigkeiten, die die meisten BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf selbständig ausführen können. Sie wurden aber erst durch den Einzug in die Wohngemeinschaft dazu angeregt, sich diese Kompetenzen zu erschließen. Hier konnten schon in kurzer Zeit viele Entwicklungsschritte zu einer selbständigen Lebensführung in Gang gesetzt werden, die sich unter den bisherigen Lebensbedingungen nicht ergeben haben. Ein Beispiel: Während von Bewohnerlnnen mit Unterstützungsbedarf in der Herkunftsfamilie das Telefon selten benutzt wurde, zeigen sie im Wohngemeinschaftsalltag Interesse, Gespräche anzunehmen, zu vermitteln und Nachrichten weiterzuleiten. Mit der Zeit entwickelte sich somit für die BewohnerInnen ein selbstverständlicher und kompetenter Umgang mit diesem Kommunikationsmedium.

Gleichzeitig treten in einzelnen Bereichen Barrieren auf, die als Hinweise gedeutet werden können, daß die eigene Geschichte bzw. die persönliche Gewordenheit unter den spezifischen Lebensbedingungen immer wieder jeden einzelnen einholt - ein Phänomen, das jeder von sich kennt. Dabei lassen sich auch Prozesse dokumentieren, die aufzeigen, daß sich verfestigte Verhaltensweisen nicht so leicht aufbrechen lassen. Gerade in intimen Bereichen, wie Körperbezug und Hygiene, liegen alltägliche Konfliktpotentiale, die eine Gratwanderung zwischen Selbstbestimmung und Bevormundung, zwischen Zuwendung und Eigenverantwortlichkeit beinhalten.

Der Druck auf Normalität für die BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf in der WG wirft für sie die Frage auf: darf ich so sein, wie ich bin - eine Herausforderung auch an die MitbewohnerInnen, sie in ihrer Einzigartigkeit ernst zu nehmen.

In bezug auf die Gleichstellung aller BewohnerInnen wird deutlich, daß dieser Anspruch in der Realität immer wieder durch ungleiche Behandlung von BewohnerInnen mit und ohne Unterstützungsbedarf gekennzeichnet ist. Abhängig von den jeweiligen Situationen kann sich in einzelnen Bereichen ihre Position verändern. Während bei BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf z. B. die individuellen Ordnungsvorstellungen im eigenen Zimmer toleriert werden, besteht bei den BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf ein »Lernziel« hinsichtlich des Aufräumens. Solange Menschen mit Unterstützungsbedarf hier eine Assistenzleistung wollen, mag noch die unterschiedliche Behandlung von allen Beteiligten akzeptiert werden. Schwierig wird es, wenn BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf sich durch die Einmischung von anderen MitbewohnerInnen bevormundet fühlen und die ungleiche Behandlung thematisieren. Für sie bedeutet dieses Hin und Her der Gleichstellung und Unterscheidung eine hohe Anpassungsfähigkeit an die jeweilige Situation.

BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf möchten den MitbewohnerInnen etwas bieten können, sich in die Gemeinschaft einbringen. Sei es dadurch, daß sie in ihrem Zimmer einen Fernseher haben, der die Möglichkeit bietet, mit anderen BewohnerInnen zusammen einen Film anzuschauen. Das Geben-können als Qualität als ein Bedürfnis einer dialogischen Beziehung erhält in der WG einen Gestaltungsraum für Menschen mit Unterstützungsbedarf.

Trotz aller Schwierigkeiten im Zusammenleben schildern die BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf die Wohngemeinschaft als ein Lebensfeld, in dem ihre Würde zum Tragen kommt. Nicht zuletzt auch deswegen, weil hier der Institutionalisierungsgrad reduziert ist und unter normalisierten Lebensbedingungen die Entfaltungsmöglichkeiten des einzelnen mehr Raum haben.

Perspektiven von BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf. Ambivalenz zwischen BewohnerIn und »Betreuerln«

Der gemeinsame Alltag von Menschen mit und ohne Unterstützungsbedarf in der Wohngemeinschaft stellt besondere Anforderungen an die BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf. Auf der Kommunikationsebene reichen bisher gewohnte Verständigungsformen nicht mehr aus und machen neue Spielregeln erforderlich: Nonverbale, körperliche Ausdrucksformen müssen erlernt werden, um gemeinsame Kommunikationsformen zu finden.

Das Zusammenleben gelingt um so besser, je eher sie mit den eigenen und anderen Erwartungen umgehen können. Aus Sicht der BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf müssen sie hier ihren Kompetenzbereich erweitern lernen: Die eigenen Grenzen wahrzunehmen und Grenzen setzen zu lernen in einem Interaktionsfeld, das aufgrund des sozialisierten Weltbilds von Behinderung »falsche« Rücksichtnahme nahelegt, ist ein zentrales Gesprächsthema. Wird diese Fähigkeit nicht erlernt, droht die Gefahr »leergesaugt« zu werden. Befremdlich scheint dabei aus Sicht der BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf, daß die MitbewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf unmittelbarer, direkter agieren, so daß sie den Dialog suchen und das Nein-sagen lernen müssen. So wird Selbstbestimmung, Identitätsdarstellung und Vermittlungskompetenz ein Thema für alle BewohnerInnen.

Ein Grunddilemma der BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf liegt in der strukturellen Doppelrolle: einerseits sind sie gleichwertige MitbewohnerInnen und andererseits haben sie durch die Assistenzaufgaben eine BetreuerInnenposition, die mit Elternfunktionen verbunden wird. Eine Schwierigkeit liegt für sie z. B. darin, daß Eltern sie vor allem in der Position der Betreuerlnnen sehen. Dies läßt sich aber nicht mit den eigenen Erwartungen als gleichberechtigte Mitbewohnerin vereinbaren. Weiterhin entsteht für sie ein ständiges Abwägen in alltäglichen Situationen, inwiefern sie den BewohnerInnen Eigenverantwortung zugestehen bzw. Hilfestellung geben sollen/müssen - eine Gratwanderung zwischen Selbstbestimmung und Bevormundung. Hier zeigte sich im Verlauf der ersten Monate, daß eine Aufgabenteilung, insbesondere bezügIich Ordnungs- und Elternfunktionen, zwischen BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf und dem hauptamtlichen Mitarbeiter notwendig ist, damit sie weiterhin aus der Position der Mitbewohnerln agieren können und nicht überfordert werden.

Geschätzt werden von BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf an dieser Wohnform die Mitgestaltungsmöglichkeiten und das Mitspracherecht bei der Gestaltung des Alltags. Dies zeigt sich auch darin, daß BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf für sich eine längerfristige Perspektive im Wohnprojekt entwickeln Ihr Wunsch dabei ist eine adäquate Anerkennung ihrer Assistenzleistungen. Da Vollzeitbeschäftigung mit den Assistenzleistungen innerhalb der WG nur ausnahmsweise möglich ist, stellt sich z. B. die Frage, wie ihre Asstistenzleistungen rentenversicherungsrelevant berücksichtigt werden können.



[6] Nur ca. jedem dritten Bewohner/jeder dritten Bewohnerin mit Unterstützungsbedarf im stationären Bereich steht ein Einzelzimmer zur Verfügung, vgl. WACKER, E., 1996.

Perspektiven der Eltern: Der »Glücksfall« -Riskante Freiheit

Der Gedanke der Eltern an ein Leben ihrer Töchter/ Söhne außerhalb der Familie geht einher mit der Angst, daß spätestens, wenn die eigenen Ressourcen nicht mehr ausreichen, die Töchter/Söhne an eine Institution abgegeben werden müssen. Diese Vorstellung ist verbunden mit einer Ausgrenzung ihrer Töchter/Söhne aus dem letzten Reservat normaler Lebenszusammenhänge und steht in der Kontinuität ihrer bisherigen Lebenserfahrungen.

Für Eltern erfüllt sich mit der Realisierung der Wohngemeinschaft ein »Traum«. Die WG bietet ihnen die Chance, sich mit einer Wohnform zu arrangieren, in der ihre Töchter/Söhne in einer ganz normalen Wohnform mit sogenannten Nichtbehinderten zusammen leben können. Die integrative, lebensweltorientierte Wohngemeinschaft bedeutet nicht eine Trennung in zwei gegensätzliche Lebenswelten und schafft Raum, den Ablösungsprozeß der Töchter/Söhne bedürfnisorientiert zu gestalten. Totale Kontaktsperren in den ersten drei Monaten, wie sie in manchen Einrichtungen praktiziert werden, bilden ein Horrorszenario für die Eltern. Die Mitgestaltung und Teilhabe in bzw. an einem neuen Lebensort/ -abschnitt wird in der WG offen ausgehandelt, so daß individuelle Ablösungsformen nicht den institutionellen Rahmenbedingungen untergeordnet werden müssen.

Wie bei jedem Traum treten bei der Realisierung Differenzen zwischen Traum und Wirklichkeit auf. Während institutionelle »Lösungen« für Eltern auch heute noch ein Sicherheitsgefühl in Form einer lebenslangen Wohnplatzgarantie vermitteln, stellt das Wohnprojekt ein Risiko dar. Die ständige Sorge der Eltern, daß das Projekt scheitern könnte, obwohl die Plätze auch im Kontingent der Einrichtung verankert sind, speist sich aus zwei Unsicherheitsquellen: zum einen bleibt offen, ob sich immer genügend BewohnerInnen ohne Assistenzbedarf finden lassen und zum anderen ist es bisher ungeklärt, inwieweit aus dem Projektstatus der WG ein Regelangebot der Behindertenhilfe wird.

Den Alltag ihrer Töchter/Söhne in der WG erleben die Eltern überwiegend positiv. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, daß ihre Hoffnungen und Zukunftsvorstellungen auf ein selbstbestimmteres Leben ihrer Töchter/ Söhne in der WG genährt werden. Auch wenn der Weg zu einem selbständigeren Leben sehr mühsam und in einigen Bereichen ganz langsam oder noch überhaupt nicht begangen worden ist, werden sie durch das Projekt im Glauben an ihre Töchter/Söhne gestärkt. Das Wohnprojekt bedeutet für Eltern ein Nicht-Aufgeben ihrer »Kinder« gegen das gesellschaftliche Stigma der Behinderung und Ausgrenzung.

Konkret sichtbar wird dies an der Entwicklung ihrer Töchter/Söhne: Sie werden aus ihrer Sicht mutiger, freier und selbständiger. Schon alleine das »Dabei-Sein« hebt sich ab von den bisherigen außerfamiliären Lebensorten. Diese positiven Veränderungen werten die Eltern als Zeichen der Ablösung. Sie geben ihnen neue Räume bzw. Freiheiten für ihre eigene Lebensplanung. Neben vielen positiven Entwicklungen fordert die Teilhabe aber auch eine größere Verantwortungsübernahme und somit eine stärkere Elternbeteiligung. Das Wohnprojekt braucht Eltern, die sich im Wohnprojekt engagieren. Das Gelingen der WG ist angewiesen auf eine gute Kooperation und Unterstützung der Eltern. Ohne Eltern, die nicht bereit sind, in Krankheitsfällen die Betreuung zu übernehmen oder die Wochenenden abzudecken, wäre das Projekt zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht realisierbar. Dabei stellt sich auch die Frage, in welcher Weise Eltern in die Strukturen des Projekts eingebunden werden können.

Die Nähe zu der WG ist eine sensible Angelegenheit. Sie fordert von den Eltern eine ständige Wachsamkeit, damit sie den BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf nicht zu nahe treten und ihre Privatsphäre respektieren. Gleichzeitig muß die Distanz überwunden werden, um zu ihnen eine normale und offene Beziehung entwickeln zu können.

Perspektiven des pädagogischen Mitarbeiters: »Du sitzt auf halben Stühlen«

»Du sitzt auf halben Stühlen« ist ein Bild, das die Position des hauptamtlichen Mitarbeiters aus seiner Perspektive charakterisiert. Der Kern dieser Aussage zeichnet zugleich den Unterschied zu anderen institutionellen Wohnformen in der Behindertenhilfe aus: In diesem Projekt steht der Professionelle in keinem ausschließlich definierten Betreuungsverhältnis. Die permanente Anwesenheit und Mitarbeit von BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf d. h. ohne formulierten und gesetzlich verankerten Betreuungsbedarf - schafft eine Privatatmosphäre, die den ansonsten üblichen Zugriff der Institution verhindert. Die Wohngemeinschaft ist zwar der Arbeitsplatz des professionellen Mitarbeiters, aber sein Status erhält aufgrund der Anwesenheit von Privatpersonen einen Gastcharakter. Vergleichbar mit anderen offenen Hilfeformen liegt die Schwierigkeit darin, die unterschiedlichen Interessen der BewohnerInnen, der Eltern, des Trägers etc. in eine konsensfähige Arbeit umzusetzen. Für den Mitarbeiter ergibt sich im Wohnprojekt ein spezielles Aufgabenprofil, das in dem derzeitigen Stadium folgende Arbeitsschwerpunkte umfaßt:

  • Entlastung der BewohnerInnen im Alltag, d.h. regelmäßige Ubemahme von Assistenzleistungen (Frühdienst, Abenddienst etc.)

  • Übernahme von formalen und organisatorischen Aufgaben in der WG, die auch die Institution »vom Leib« halten soll,

  • Koordination der Außenkontakte, z. B. Zusammenarbeit mit WfB und Kontaktperson für Eltern und Öffentlichkeitsarbeit,

  • Einbringen von Beratungs- und Vermittlungskompetenz in sozialpädagogischen und pflegerischen Fragen.

Die Notwendigkeit eines hauptamtlichen Mitarbeiters wird von allen Beteiligten als Bedingung für diese Wohngemeinschaft angesehen. Allein die zeitlichen Ressourcen der BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf reichen bei weitem nicht aus, um die organisatorischen und pflegerischen Aufgaben sowie die Betreuungszeiten und Beratungsaufgaben abzudecken. Auf der strukturellen Ebene und hinsichtlich des beruflichen Profils des Mitarbeiters zeigt sich, daß hier ein neues berufliches Denken etabliert werden muß. Der gegenwärtige institutionelle Betreuungsbegriff wird in der WG aufgelöst/konterkariert. Der Mitarbeiter kann nicht einfach unterteilen in BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf als die Betreuenden (die keinen Leistungsanspruch haben) und in BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf als die Betreuten. Zusammenleben und Zusammenwohnen von Menschen mit und ohne Unterstützungsbedarf heißt Zeit zu investieren in die Beziehungsarbeit aller Beteiligten, Zeit zu haben für die Verarbeitung und Reflexion von Erfahrungen und Erlebnissen, Absprachen zu treffen, und zwar für Menschen mit und ohne Unterstützungsbedarf. Diese Aufgabenstellung wird von seiten des Mitarbeiters hervorgehoben, da sie im institutionellen Rahmen noch wenig anerkannt ist und deutlich zeigt, daß sich Unterstützungsbedarf nicht auf die BewohnerInnen mit Assistenzbedarf beschränkt.

Aus der Perspektive der Mitarbeiter bietet diese Wohngemeinschaft einen interessanten Arbeitsplatz, der die Chance bereitstellt, ein neues professionelles Verständnis in der Behindertenhilfe zu entwickeln (s.u. Zitat aus dem Mitarbeitergespräch).

Auf dem Hintergrund der unterschiedlichen Perspektiven der Beteiligten möchte ich aus den vielfältigen Erfahrungen zwei Aspekte herausstellen, die mir in bezug auf Perspektive und Perspektivenwechsel wichtig erscheinen: Veränderungsprozesse von Denkgewohnheiten in der WG und das Erleben des Projekts in den sozialen Strukturen.

Auflösung von gängigen Bildern und Denkweisen

Ein wesentlicher Aspekt und Prozeß innerhalb der WG zeigte sich in den Gesprächen über die Denkgewohnheiten und Veränderungen bezüglich des vorhandenen »Behindertenbildes«. Im Wohngemeinschaftsleben verschwimmt und bröckelt die gesellschaftliche Ordnungssystematik von NORMalität und Behinderung. Sie ändert sich, obwohl sie gleichzeitig immer wieder hindurchscheint.

Ich möchte an einem Auszug aus dem Gespräch mit den Mitarbeitern verdeutlichen, wie sehr«Behinderung« ein Produkt unseres Denkens und in institutionellen Strukturen eingeschrieben ist:

»Mir hat diese Arbeit höchstwahrscheinlich das Überleben gerettet insoweit, daß ich wieder Mut gefaßt habe, wieder pädagogisch sinnvoll zu arbeiten, im Sinne von Respekt, ich glaube, ich habe in den eineinhalb Jahre noch mal wirklich neuen Respekt gelernt vor Menschen mit Behinderungen, ich kann's nicht anders sagen. Ich möchte es an einem Beispiel klarmachen: Ich glaube, für die Leute ohne Behinderung ist es schwierig, in dieser Wohnform zu leben, manches Mal, aber ich glaube, ich habe noch mehr Respekt zum Beispiel vor einer Frau, die mit ihrer Behinderung da einzieht - mit welchem Mut und mit welchem Engagement und mit welcher Vehemenz die Leute eigentlich da wohnen und da reingehen, dann muß ich sagen, das war schon etwas, wo ich selber viel viel mehr profitiert habe von den Menschen mit Behinderungen als wie sie von mir, ich habe wirklich diesen Respekt vor diesen Leuten wieder erlebt, ich muß wirklich sagen, in einer Institution besteht die Gefahr, daß man ihn verliert und ich glaube nicht, daß ich jemand war, der mit dem Rasenmäher überall gelaufen ist, also ich glaube, dass ich ein sehr emotionaler Mensch bin und trotzdem ist mir's im nachhinein so gegangen, daß viele Sachen, die ich stationär voll vertreten habe, heute wahnsinnig in Frage stelle.«

Dieser Gesprächsauszug verdeutlicht sehr anschaulich anhand von konkreten Erfahrungen, daß Behinderung kontextabhängig ist und institutionell und strukturell mitkonstruiert wird. Die Behinderung verliert im Wohngemeinschaftsalltag an Bedeutung und tritt in den Hintergrund. Menschen mit Unterstützungsbedarf werden anders wahrgenommen und respektiert. Damit werden Erfahrungen anderer Integrationsbemühen unterstrichen, die aufzeigen, daß Normalisierung in Form von Teilhabe und Mitgestaltung unter Berücksichtigung des Gemeinsamen im Verschiedenen bisherige Weltbilder in Bewegung bringt.

Damit soll nicht verdeckt werden, daß es gleichzeitig auch Prozesse gibt, die die bisherigen Bilder nicht so leicht auflösen lassen: Alte Differenzierungsformen zwischen »normal« und »behindert« erscheinen in neuer Verkleidung in Unterscheidungsformen von Betreuten und Betreuenden, in der Art der Besprechungskultur usw.

Was hier nochmals hervorgehoben werden muß, ist, daß durch den gemeinsamen Alltag die gewohnten Denkmuster überschritten werden und dies auch eine besondere Erfahrungsqualität des Wohnprojekts darstellt. Ein Beispiel: Die Teilhabe von einer Bewohnerin benötigt eine Rund-um-die-Uhr-Assistenz, und gleichzeitig ist ihre Anwesenheit und ihre Persönlichkeit auch ein ganz wichtiger Bestandteil für das gemeinschaftsfördernde Leben in der Wohngemeinschaft. Sichtbar wurde dies durch einen längeren Krankenhausaufenthalt dieser Bewohnerin. Zum einen fielen in dieser Zeit viele Assistenzleistungen im Alltag weg, zum anderen entwickelte sich ein Individualisierungsprozeß, der das Gemein- schaftsgefüge immer mehr auflöste. Obwohl die Rückkehr von der Bewohnerin mit Sorgen hinsichtlich der Alltagsbewältigung begleitet war, sind mit ihr auch wieder die Gemeinschaftsbindungen zurückgekehrt. Die Integrationsleistungen dieser Bewohnerin werden von allen BewohnerInnen gesehen und positiv bewertet. Dies scheint mir doch eine wichtige Erfahrung in bezug auf die Zusammensetzung der Gruppe zu sein.

Sichtbar wird in der WG auch, daß nicht die Behinderung, sondern das Sozialverhalten Gesprächsgegenstand wird und entscheidend für die Integration in der Wohngemeinschaft ist. Sauberkeit und Hygiene waren zentrale Themen in den Gesprächen, aber auch Faktoren, die nicht auf die vorhandenen Einschränkungen einzelner Personen zurückzuführen sind, sondern mit sozialen Verhaltensweisen und Verantwortlichkeiten zusammenhängen. Nicht die BewohnerInnen mit den größten Einschränkungen geraten in das Blickfeld von Kritik, sondern BewohnerInnen, die sich aus der Verantwortung ziehen und das Wohnprojekt ein Stück weit als »Hotel« benutzen, in dem sich andere Bewohnerlnnen für die Gemeinschaftsaufgaben zuständig fühlen sollen. Fazit: Desintegrierende Faktoren sind nicht abhängig vom Grad der Unterstützung.

Gefühl des Inseldaseins

In allen Gesprächsgruppen wird die Insularität angesprochen.

Ein Bewohner mit Unterstützungsbedarf thematisiert die unterschiedlichen Realitäten von der Jurastraße und dem Leben außerhalb. Er traut sich nicht, das, was er innerhalb des Wohnprojekts erlebt, nach außen zu tragen. Das zeigt sich z. B. darin, daß er innerhalb der Wohngemeinschaft den Kontakt mit anderen Bewohner- Innen mit Unterstützungsbedarf schätzt und stärker pflegen möchte, aber mit ihnen nicht in der Öffentlichkeit auftreten möchte, weil er eventuellen Stigmatisierungen aus dem Weg gehen möchte.

Bei den BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf wird das Thema über die begrenzten räumlichen Integrationsbemühungen, d. h. durch die Beschränkung der Integration auf die Wohngemeinschaft, angesprochen. Sobald man das Haus verläßt gelten andere Gesetze. Die Anbindung an andere Lebensfelder fehlt, so daß infolge eine Entlastung durch weitere Personen nicht stattfindet. Die Zusammenarbeit mit Studierenden im Rahmen studienbegleitender Praktika hat gezeigt, daß zusätzliche Ressourcen notwendig sind, um Gestaltungsmöglichkeiten und Angebote außerhalb der WG wahrnehmen zu können. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt gibt es hierzu Überlegungen, inwieweit die Gründung eines »Freundeskreises« Potentiale bieten könnte.

In den Gesprächen mit den Eltern kommt diese Inselsituation über die Nichtabgesichertheit des Projekts zum Vorschein. Die Angst, das Wohnprojekt könnte scheitem bzw. nicht länger bewilligt werden, sitzt ständig im Nacken der Eltern. Hier fehlt auch das Signal, daß Teilhabe und Mitgestaltung von Menschen mit Unterstützungsbedarf bzw. Inclusion/Integration politisch und gesellschaftlich gewünscht ist.

Bei den Mitarbeitern erstreckte sich eine längere Diskussion darüber, wie das Projekt im Wohngruppenverbund (WGV) verortet ist. Innerhalb des WGVs fristet das Projekt ein Inseldasein bzw. hat einen Sonderstatus. Die Tatsache, daß hier Menschen wohnen können, die in den betreuten Wohngruppen - aufgrund der fehlender Selbständigkeit der Menschen mit Unterstützungsbedarf - nicht aufgenommen werden, löst bei vielen Kolleginnen Ängste aus.

Für die Bewohnerlnnen/Mitarbeiter/Eltern spielt deshalb die Verankerung in die verschiedenen Lebensbereiche eine bedeutende Rolle für die weitere Entwicklung des Projekts.

Die folgenden Ausführungen von Innen und Außen, von Anspruch und Wirklichkeit sind auf dem Hintergrund der Darstellung des Inseldaseins zu betrachten und spiegeln auf einer anderen Ebene die Inselproblematik wider.

Innen- und Außensicht: Das Wohnprojekt wird von außen, auch von Teilen der Trägerschaft sehr positiv beschrieben. Die BewohnerInnen haben nichts dagegen, die schönen und positiven Erfahrungen zu benennen; aber die Schwierigkeiten nicht gleichzeitig auszusprechen, schafft Unbehagen und Differenz. Eine Beschränkung auf die positiven Entwicklungen transportiert aus ihrer Sicht das Gefühl, versagt zu haben. Denn somit wird auch vorgegeben, die formulie rten Ansprüche ließen sich im Alltag leicht verwirklichen. Daß der Alltag viel schwieriger und gebrochener ist, wird dadurch nicht zum Gegenstand.

Dieser Konflikt wird auf dem Hintergrund der Alltagsprobleme verständlich. Menschen ohne Unterstützungsbedarf und die Mitarbeiter erleben den Alltag oft grenzverletzend und überfordernd. Es gibt so viele Alltagssituationen, in denen von Selbständigkeit der BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf kaum die Rede sein kann. Aus der Sicht der BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf und der Mitarbeiter muß z B. der Bereich der Hygiene und Körperbezug von Grund auf z. T. auch unter Widerständen Untersterstützungsbedarf vermittelt werden. Das fängt an beim Zähne putzen, Pinkeln ins WC, nach dem Rasieren Haare entfernen etc.

Ausblick - Bilanz und Perspektiven

Als Fazit bleibt zunächst festzuhalten, daß diese Wohnform die Verwirklichung eines Traumes bei gleichzeitigem Aushalten von Alpträumen bereithält - so erleben es die direkt Beteiligten. Die Identität der BewohnerInnen mit der WG und ihr Engagement zeigen, daß die positiven Erfahrungen dabei überwiegen. Von außen betrachtet wird diese Haltung spürbar. Die WG wirkt durch die offene und herzliche Atmosphäre im Haus auf die Besucherinnen fast unwirklich und setzt die Gäste in Erstaunen über die Potentiale von Normalität, die diese WG freisetzt.

Teilhaben heißt in diesem Kontext auch, daß die BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf stärker in den Sog der Modernisierung mit reingezogen werden. Sich herauslösen aus traditionellen Rollen, sich den Individualisierungsprozessen aussetzen, hat zur Folge, daß langfristige Versorgungssicherheiten verloren gehen auch für Menschen mit Unterstützungsbedarf und ihre Eltern. Sie wissen heute nicht, ob sie in fünf Jahren noch an diesem Ort leben.

Der wesentliche Unterschied zu anderen Angeboten der Behindertenhilfe liegt im Nicht-getrennt-sein bzw. Nichtausgegrenzt-sein von Menschen mit bzw. ohne Unterstützungsbedarf. Mit anderen Worten: das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Unterstützungsbedarf schafft grundlegend andere Wohnbedingungen und Lebensqualitäten. Die Anwesenheit, Beteiligung und Mitgestaltung von Menschen ohne Unterstützungsbedarf drückt die institutionellen Strukturen an den Rand und schafft auch eine Kontrollinstanz gegenüber institutionalisierenden Entwicklungen. Sie stehen für die Privatheit der Wohngemeinschaft. Der Schutz dieser Privatatmosphäre wird durch die Kooperation und gemeinsame Trägerschaft von Elternselbsthilfe und Institution, die andere Diskurse und Entwicklungsprozesse im Wohnprojekt in Gang setzen, unterstützt.

Scharf formuliert kann deshalb nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, daß diese Wohnform per se als die bessere Lebensform, mit einer höheren Lebensqualität gelten kann. Diese Wohnform stellt viele Möglichkeiten bereit, so normal wie möglich zu leben und eigene Bedürfnisse zu befriedigen, Anerkennung zu erfahren, neue Kompetenzbereiche zu erschließen. Gleichzeitig werden immer wieder auch Grenzen, wie sie beispielhaft im Text ausgeführt wurden, sichtbar. Es bleibt somit offen, inwieweit der einzelne/die einzelne sich diesen Optionen und Zwängen aussetzen kann bzw. will. Aber es wäre wünschenswert, wenn diese Wohnform als Wahlmöglichkeit Menschen mit und ohne Unterstützungsbedarf auf einer breiteren Basis angeboten werden würde und vielen Menschen als Erfahrungsraum offen stände.

Zum Schluß noch zu einem zentralen Thema in der sozialen Arbeit, das hier kurz angesprochen werden soll: Kosten und Sparmöglichkeiten im sozialen Bereich. Bei einer Bewertung dieser integrativen, lebensweltorientierten Wohnform erachte ich es als wichtig, danach zu fragen, was dieses Angebot bringt und leistet.

Rein auf der Kostenebene könnten sich, in die Zukunft gerichtet, finanzielle Ersparnisse bzw. eine kostengünstigere Wohnform langfristig vor allem daraus ergeben, daß die Kompetenz- und Erfahrungserweiterung der BewohnerInnen (nicht für alle im gleichen Maße) dazu führen, daß die Begleitungs- und Beratungsaufgaben reduziert werden können. Das bleibt zunächst Spekulation.

Nicht zu übersehen und in ihrer Qualität positiv zu bewerten sind der Kompetenzzuwachs und die Selbstbestimmungsmöglichkeiten der BewohnerInnen. Sie erhöhen ihre Lebensqualität und ermöglichen ihnen die Teilhabe am sozialen Leben.

Es wird deshalb vor allem auch darauf ankommen, daß diese Wohn- und Lebensform in das Gemeinwesen integriert wird. Die alltäglichen Begegnungen können dazu beitragen, daß Akzeptanz und Toleranz entstehen und dadurch ein selbstbestimmtes Leben auch für Bürgerlnnen mit Unterstützungsbedarf gefördert wird. Das hätte zur Folge, daß diese Lebensform nicht einfach auf die Kostenfrage reduziert werden könnte, sondern als Lebensqualität im Stadtteil erfahren wird.

In bezug auf die Forschungsperspektive sollen in einem gemeinsamen Aushandlungsprozeß die Rahmenbedingungen, Standards und Qualität des gemeinsames Wohnens herausgearbeitet werden, um diese für die eigene WG sowie für weitere WG's anderswo bereitzustellen. Einen umfassenden Bericht mit ausführlichen Textpassagen aus den Gesprächen zur ersten Erhebungsphase kann über die Ev. Fachhochschule für Sozialwesen in Reutlingen, unter dem Stichwort: »Bericht ›Koi Wunder‹« bezogen werden. Die Broschüre umfaßt ca. 70 Seiten und kostet DM 8, - einschließlich Porto) Adresse: Evangelische Fachhochschule für Sozialwesen, Ringelbachstraße 221, 72762 Reutlingen, Tel.: 07121/ 2414-0, Fax: 07121/241429.

Literatur

ADORNO, Th. W.: Minima Moralia, Frankfurt a. M. 1973

SACK, R.: Gemeinsam Leben - Konzepte, Erfahrungen und Grenzen integrativer Wohnformen. Unveröffentlichte Magisterarbeit, München 1993

SCHöN, E.: »Draußen ist es viel schöner als wenn man drin in der Stub' hocht...« - Lebensalltag von Mädchen im Kids-Alter, Reutlingen (erscheint demnächst im Diakonie Verlag)

SCHULZ, J.: Gemeinsames Wohnen von Menschen mit und ohne Behinderungen - Wegweisendes Modell oder realitätsferne Traumwelt? Unveröffentlichte Diplomarbeit 1997

WACKER, E. u. a.: Dokumentationsstand der Strukturen stationärer und teilstationärer Einrichtungen der Behindertenhilfe in der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 1996

Autor

Jo Jerg,

Richard-Wagner-Straße 11, 72800 Eningen

Quelle:

Jo Jerg: Perspektiven eines nicht-alltäglichen Zusammenlebens oder »Es gibt kein richtiges Leben im falschen« (Adorno)

Erschienen in: Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 4-99

Hermann Luchterhand Verlag, Neuwied 1999

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 08.06.2005

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