Integration ist nicht teurer als Separation!

Bietet ein neuer Gang vor das Bundesverfassungsgericht Aussicht auf Erfolg?

Autor:in - Manfred Rosenberger
Themenbereiche: Recht
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 4-99 Gemeinsam leben (4/1999)
Copyright: © Luchterhand 1999

Integration ist nicht teurer als Separation!

In seinem Aufsehen erregenden Beschluss vom 8. Oktober 1997 hat das Bundesverfassungsgericht die Frage verneint, ob die Überweisung einer Schülerin mit einer Behinderung in eine Sonderschule gegen ihren bzw. ihrer Eltern Willen eine im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz (»Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.«) verbotene Benachteiligung darstelle. Es sei zulässig, stellte damals das höchste deutsche Gericht fest, dass der jeweilige Landesgesetzgeber die Verwirklichung integrativer Beschulung unter den Vorbehalt des finanziell Möglichen stelle. Doch schon in diesem Beschluss von 1997 steht auch diese Feststellung: »Die Überweisung in eine Sonderschule benachteiligt den an integrativer Beschulung interessierten behinderten Schüler (...), wenn die erforderliche Gesamtbetrachtung ergibt, dass seine Erziehung und Unterrichtung an der Regelschule mit sonderpädagogischem Förderbedarf möglich sind (und) der dafür benötigte personelle und sächliche Aufwand mit vorhandenen Personal- und Sachmitteln bestritten werden kann (...)« Diese für die integrative Beschulung positiv ausfallende »erforderliche Gesamtbetrachtung« hat jetzt Ulf Preuss-Lausitz, Professor für Erziehungswissenschaften an der TU Berlin, durch immensen Rechenfleiß vorgelegt!

Zwar hatte er bereits 1996 in ersten exemplarischen Kostenrechnungen nachweisen können, dass ein Schülerplatz an einer Sonderschule in der Regel erheblich teurer ist als an einer Regelschule mit zusätzlicher sonderpädagogischer Förderung (vgl. U. Preuss-Lausitz: Integration Behinderter zwischen Humanität und Ökonomie. Zu finanziellen Aspekten sonderpädagogischer Unterrichtung, in: Pädagogik und Schulalltag, 1/1996, S.17-31), doch war das Wissen um diese erstmals nicht nur die eingesetzten Lehrerstunden, sondern u.a. auch die Beförderungs-, Betriebs- und Verwaltungskosten berücksichtigende Berechnung noch nicht sehr weit gedrungen. Zumindest für den damaligen Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes hatte dies noch keine Relevanz.

Inzwischen hat Preuss-Lausitz seinen die bisherigen »Milchmädchenrechnungen« überwindenden, an betriebswirtschaftlichen Kostenrechnungen orientierten Ansatz für den Vergleich der entstehenden Kosten bei integrativer und separierender Beschulung auf eine breitere empirische Grundlage gestellt, indem er in Berlin den Bezirk Neukölln, im Land Brandenburg den Landkreis Oder-Spree sowie in Schleswig-Holstein den Landkreis Segeberg in seine Untersuchung einbezog und damit seine früheren Ergebnisse weitgehend bestätigen konnte. Mitte Juni stellte er im Rahmen eines Forschungscolloquiums an der TU Berlin seine Studie »Vergleichende Kostenanalyse bei integrierter und separater sonderpädagogischer Unterrichtung in unterschiedlichen Regionen« vor. Diese noch unveröffentlichte, aber hoffentlich mit Hilfe der »Max-Traeger-Stiftung« noch zu veröffentlichende ca. 120 Seiten umfassende Studie belegt eindrucksvoll, dass das Kostenargument nicht länger als »Totschlagargument« gegenüber dem Wunsch nach integrativer Beschulung missbraucht werden kann, da die Ergebnisse belegen, dass in den beiden Landkreisen der integrative Unterricht erheblich kostengünstiger und im Berliner Bezirk Neukölln nicht teurer ist als die Beschulung in der Sonderschule. Diese umfassende, nicht nur auf Lehrerstunden fixierte Berechnung wurde in Deutschland erstmals durchgeführt, wobei in anderen Ländern wie z. B. in den USA, Australien, Irland und Spanien schon früher erkannt wurde, dass nicht aussondernder Unterricht zur Kostendämpfung beitragen kann. Dies deckt sich übrigens mit Erkenntnissen der seit Mitte der 70er Jahre stattfindenden Psychiatriereform, wonach die meisten der im Zuge der Auflösung der großen Verwahranstalten dezentral und stadtteilnah untergebrachten ehemaligen Anstaltsinsassen zum einen viel weniger Betreuung brauchten als ursprünglich erwartet und andererseits etwa 20% weniger Kosten verursachten (vgl. »Der Tagesspiegel« v. 28.12.98).

Zu den Ergebnissen der Studie von Preuss-Lausitz im Einzelnen: Zunächst gibt es erhebliche Kostenunterschiede was die Sonderschulart betrifft, aber auch innerhalb einer Sonderschulart kann es erhebliche Unterschiede geben. So kostet in Berlin-Neukölln ein Schüler einer »Sonderschule für Geistigbehinderte« den Steuerzahler im Jahr ca. 34 000.- DM, an den beiden »Sonderschulen für Lernbehinderte« kostet der Platz einmal ca. 17 000.- DM und einmal nur ca. 12 000.- DM, was u.a. daran liegt, dass die preiswertere Schule bei vergleichbaren Personal- und Betriebskosten eine deutlich höhere Schülerzahl vorweisen kann. Demgegenüber kostet ein Platz an der untersuchten Neuköllner Grundschule im Jahr ca. 6.500,- DM pro Schüler, und für die insgesamt 44 »integrierten Förderschüler« entstanden durchschnittlich Zusatzkosten für Personal und Beförderung von ca. 17 500.- DM, wobei es je nach »Behinderungsart« erhebliche Abweichungen von diesem Durchschnittswert gibt ("geistig behinderte« Schüler waren an dieser Grundschule nicht integriert). Insgesamt kostete ein »Integrationsplatz« an dieser Grundschule im Durchschnitt ca. 24.000,- DM. Vergleicht man dies mit den Kosten von ca. 23.700,- DM, die diese Schüler durchschnittlich an Sonderschulen verursachen würden, so erscheint die integrative Beschulung zunächst als geringfügig teurer. Da bei dem letzten Wert allerdings die Beförderungskosten noch nicht berücksichtigt waren, verschwindet der geringe Kostenvorteil der Sonderbeschulung in diesem Fall wieder. Damit konnte Preuss-Lausitz eine Grundannahme seines Forschungsprojektes bestätigen: »Bei Kostengleichheit der Gesamtkosten sind in der Regel bei Gemeinsamem Unterricht die Personalkosten höher, die Beförderungs-, Betriebs- und Verwaltungskosten geringer als in Sonderschulen. Für den Steuerzahler ist damit Kostengleichheit gegeben, für die einzelnen Kostenträger jedoch nicht. Der Bezirk Neukölln würde durch mehr Gemeinsamen Unterricht seine Kosten senken (weil für die Beförderungs-, Betriebs- und Verwaltungskosten zuständig; M. R.), das Land etwas höhere Kosten haben (weil v. a. für die Personal- kosten zuständig; M. R.).« Konkret bedeutet das: Der Berliner Bezirk Neukölln könnte jährlich ca. 1,3 Millionen DM Beförderungskosten einsparen. Im Landkreis Oder-Spree in Brandenburg könnte durch die Integration eines »körperbehinderten« Kindes im Jahr ca. 10.000,- DM eingespart werden. Wenn man diese Summe auf 10 Schuljahre hochrechnet, hätte man durch die nicht aussondernde Förderung eines einzigen »körperbehinderten« Kindes 100.000,- DM erwirtschaftet, die etwa für nötige Umbaumaßnahmen an einer Schule (Rampen, rollstuhlzugängliche WC, Treppenlifte etc.) zu veranschlagen sind. Und im schleswig-holsteinischen Landkreis Segeberg konnten bei sechs »integrierten Förderschülern« (ein »lernbehindertes«, fünf »geistig behinderte« Kinder) sogar ca. 20.000,- DM durchschnittlich pro Kind und Jahr eingespart werden. Kein Wunder, dass auch der Rechnungshof dort die Integration lobt!

Weiterhin wurde die Vermutung bestätigt, dass integrativer Unterricht besonders kostengünstig ist, wenn er in erheblichem Umfang durchgeführt wird, also nicht nur in vereinzelten Ausnahmefällen, wobei allerdings eine Kostenersparnis auch schon bei einem relativ geringen Anteil von nicht aussonderndem Unterricht festzustellen ist. Selbstverständlich sollte sein, dass zumindest ein Teil der eingesparten Kosten (z. B. 50%) in nötige Umbaumaßnahmen oder Lehrerfortbildungsmaßnahmen investiert werden.

Abschließend kommt Preuss-Lausitz zu folgenden Schlussfolgerungen und Empfehlungen:

»Vor allem die Kultusministerien, die für Personalkosten zuständig sind, befürchten bei Zunahme des Gemeinsamen Unterrichts eine Kostenexplosion. Die vorliegende Studie zeigt einen anderen Weg: Nötig ist eine Gesamtrechnung sowohl innerhalb der sonderpädagogischen Personalkosten als auch auf der Ebene von Gesamtrechnungen, die die übrigen Kostenträger einbeziehen. Dann sind kostenneutrale Verlagerungen der sonderpädagogischen Förderung - bei mindestens gleicher pädagogischer Qualität - kein Problem. Empfohlen wird daher, für größere Regionen - das kann ein Landesteil, ein Kreis bzw. eine kreisfreie Stadt oder ein größerer Stadtteil sein - Planungen zu entwickeln, an denen alle Kostenträger beteiligt sind und wo ggf. Kostenverschiebungen durch Ausgleichsvereinbarungen geregelt werden. Solche Vereinbarungen gibt es im Schulbereich ja schon etwa bei potentiellen Energieeinsparungen einer Schule, wobei häufig definiert ist, dass sie 50% der Einsparungen für eigene Zwecke behält, 50% an den Schulträger abführt. Ähnlich könnte hier vorgegangen werden: Wenn etwa der Schulträger durch vermehrte wohnortnahe Integration Mittel reduziert, sollte er 50% behalten dürfen, 50% für behinderungsgerechte kleine Baumaßnahmen ausgeben oder in einen Gesamttopf geben, aus dem dann etwa zusätzlich entstehende Personalkosten des Landes oder anderer Träger, etwa für Therapie, Betreuung, Unterricht mit abgedeckt werden. Das schlösse die Einrichtung einer entsprechenden regionalen Konferenz ein, in der diese Fragen jährlich (bzw. halbjährlich) geregelt werden. Sinnvollerweise könnten an dieser Konferenz beratend Vertreter von Eltern mit behinderten Kindern teilnehmen. Natürlich ist es sinnvoll, auf regionaler Ebene eine langfristige Perspektive der Umwandlung aller Sonder-/Förderschulen zu entwickeln. Denn das parallele Angebot führt, wie in dieser Studie gezeigt werden konnte, bei kleiner werdenden Sonderschulen zu relativen Kostensteigerungen.«

Sollten sich die verantwortlichen Politiker/innen nicht einmal durch die zu erzielenden Einspareffekte zur durchgängig nicht aussondernden Förderung von Schüler/innen mit Beeinträchtigungen durchringen können, dann müssten sich betroffene Eltern - wieder einmal - auf den Weg vor die Gerichte begeben. Mit Hilfe dieser Studie dürfte dies ein ganzes Stück aussichtsreicher sein als bisher - sogar vor dem Bundesverfassungsgericht!

Manfred Rosenberger

Quelle

Manfred Rosenberger: Integration ist nicht teurer als Seperation! Bietet ein neuer Gang vor das Bundesverfassungsgericht Aussicht auf Erfolg?

Erschienen in: Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 4-99

Hermann Luchterhand Verlag, Neuwied 1999

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Stand: 30.05.2005

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