Bilder in den Köpfen

Autor:in - Jutta Schöler
Themenbereiche: Schule
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 4-04 Gemeinsam leben (4/2004)
Copyright: © Jutta Schöler 2004

Inhaltsverzeichnis

Bilder in den Köpfen

Vorstellungen über schmale Straßen, Weichenstellungen der Bahn, Bäume und Buffett's - und was hat das mit Pädagogik zu tun?

Jeder Mensch hat Bilder im Kopf, wie Schule und Unterricht zu gestalten wäre, damit möglichst alle Schülerinnen und Schüler so gut wie möglich lernen können. Lernziele und fachliche Angebote sind daraufhin zu prüfen, ob die Schülerinnen und Schüler einer Lerngruppe gut angesprochen werden, dass sie motiviert werden, sich mit einem Thema auseinanderzusetzen. Hochbefähigte sollen sich nicht langweilen; auch sie sollen und wollen zumeist Anstrengungen erleben. Ohne Anstrengungen würde für sie der Unterricht bald langweilig, und sie zweifeln am Sinn ihrer Anwesenheit in der Schule. Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten sollten sich auf ihrem Niveau der Fähigkeiten angesprochen fühlen und möglichst nicht resigniert den Anstrengungen des Lernens ausweichen, weil sie die Erwartung haben, dass sie eine Aufgabe nicht in einer vorgegebenen Zeit bewältigen können.

Menschen gehen verschieden an eine Aufgabe heran - manche kleinschrittig, und sie arbeiten langsam und zuverlässig, andere versuchen zunächst, das Große und Ganze einer Aufgabe zu erfassen und wenden sich danach vielleicht den Details zu.

Im Folgenden möchte ich die verschiedenen methodischen und unterrichtsorganisatorischen Vorgehensweisen anhand von vier verschiedenen Bildern verdeutlichen. Jedes Bild hat seine Vor- und Nachteile, und jedes Bild hat auch seine begrenzte Bedeutsamkeit. Diese bildlichen Darstellungen sollen nicht ein Denken in »Entweder-Oder-Strukturen« festigen, sondern das »Sowohl-Als-Auch« vorstellbar machen.

Mein Ziel ist es, dazu beizutragen, dass langfristig eine gemeinsame Schule für alle Kinder gestaltet wird: Eine Schule, in der sich wirklich alle Kinder zu selbstbewussten Erwachsenen entwickeln können! D.h. konkret, wohl fühlen sollen sich alle Kinder, dazu gehören selbstverständlich Kinder mit körperlichen Schädigungen oder intellektuellen Einschränkungen, Kinder aus sozial schwachen oder emotional gestörten Familien,. Kinder, die deutlich langsamer oder anders lernen als die Mehrheit der Gleichaltrigen - aber auch eine Schule, die bewusst für die Kinder ein besonderes Angebot plant, welche als »Hochbefähigte« bezeichnet werden, die sich im herkömmlichen Unterricht oft langweilen und nicht die notwendige Anerkennung für ihre Anstrengungen erfahren. Die besonderen Fähigkeiten, Interessen und Vorlieben aller Kinder müssen erkannt und gefördert werden. Diese Schule für alle Kinder soll eine gemeinsame Schule sein für die gesamte Pflichtschulzeit. Die (von allen Steuerzahlern finanzierte) Pflichtschule darf nach meinen Ansprüchen nicht weiterhin eine Schule sein, die einige Kinder vor Ende der Pflichtschulzeit auf »Abstellgleise« abschiebt, auf denen ihnen die Anregungen der Vielfältigkeit fehlen. Sie darf aber auch die Kinder nicht verunsichern, welche schneller lernen als die Mehrheit oder die aus der Vorschulzeit einen größeren Vorsprung haben.

Dieser Anspruch ist nur einzulösen, wenn die gedankliche Grundlage das Bild einer gemeinsamen Schule ist. Innerhalb dieser Gemeinsamkeit gibt es dann die verschiedenen, zeitlich begrenzten organisatorischen Lösungen zur Bewältigung der komplexen Aufgabe. Je komplexer eine Aufgabe ist, umso besser lässt sie sich in verschiedene Lösungswege unterteilen. Wer immer noch glaubt, Lernen ließe sich in homogenen, gleichartigen Lerngruppen organisieren, ist mehr damit beschäftigt, jeweils die Grenzen zwischen diesen Lerngruppen zu definieren und durch Prüfen und Testen die Lerngruppenzuordnungen zu organisieren, als eine vertrauensvollen Lernatmosphäre zu schaffen, in der auch mit Fehlern und Schwächen offen umgegangen werden kann.

Offene Lernformen-Denken, das bedeutet nicht mehr das Bild eines Fahrstreifens mit einem Autokorso, der nur so langsam fahren kann wie das langsamste Auto. Der Porschefahrer muss auf den kleinen Fiat 500 oder Trabbi Rücksicht nehmen. Und die Fahrerin/der Fahrer quält seinen Motor mit der ständigen Angst, den Anschluss zu verlieren.

Abb.1: Autokonvoi

Diesem Bild des Autokonvois entspricht die Form des Frontalunterrichts. Lehrerinnen und Lehrer, die Phasen von Frontalunterricht planen, müssen sich bewusst machen: Sie planen eine Phase des Lernens, in der die ungeduldigen und die kreativen Schülerinnen und Schüler ein hohes Maß an Geduld und Gelassenheit aufwenden müssen, um nicht »auszubrechen« und die immer wieder große Anstrengungen aufbringen, um keine gewagten Überholmanöver zu starten. Solche Phasen mögen manchmal am Beginn einer neuen Lerneinheit notwendig sein; man sollte sie aber auf ein Minimum an Zeit reduzieren: Eine kurze Besprechung im Stuhlkreis für alle oder das Erklären für eine kleine Gruppe, die dann wiederum ihre Kenntnisse an andere Kinder weitergibt ist sinnvoller als lange ausführliche Einleitungen, in der Absicht, alles Notwendige so ausführlich und genau besprechen zu wollen, bis voraussichtlich auch die langsamste Schülerin oder der unaufmerksamste Schüler alles verstanden hat. Erfahrungsgemäß haben dann die ersten Schülerinnen und Schüler die Anweisungen wieder vergessen und die Lehrerin/der Lehrer geht (mit unterdrückter Wut oder Ungeduld) noch einmal von einem zum anderen, um einzeln zu erklären.

Eine andere Vorstellung der Organisation von Lernen vergleiche ich mit einem Eisenbahnzug: Alle Kinder sind in einen gemeinsamen Zug eingestiegen und können am Beginn ihrer Fahrt durch die Landschaft des Lernens nach ihren eigenen Vorlieben - zumeist auf der Suche nach Freundinnen und Freunden - zwischen den verschiedenen Wagons wechseln. Irgendwann beginnen die Lehrerinnen und Lehrer darüber nachzudenken, von welchem Zeitpunkt an diese Kinder wohl in verschiedenen Wagons festgehalten werden sollten, um dann von einem bestimmten Bahnhof an auf verschiedenen Schienen weiterzufahren.

Abb.2: Weichenstellung

Diese Weichenstellungen in den Köpfen der beteiligten Erwachsenen beginnen oft sehr früh. Lehrer/innen und Mitschüler/innen vergleichen das eine Kind mit den Geschwistern oder gar den Eltern, Mütter oder Väter haben eine feste Vorstellung, was dieses Mädchen oder jener junge einmal werden soll oder keinesfalls erreichen kann. Diese Zielvorstellungen vermitteln sich den Kindern zu Beginn der Schulzeit noch subtil: »Streng dich an, du wirst doch sicher einmal ...« Oder: »Das ist für dich nicht so wichtig ...«

Deutschland, Österreich und die Schweiz sind Länder, die als »Normalfall« von Schulorganisation immer noch das »Dreigliedrige Schulsystem« gesetzlich festgeschrieben haben: Hauptschule, Realschule und Gymnasium - daneben in manchen Bundesländern als vierte Form die Gesamtschule mit Leistungskursen, die die dreigliedrige Schule abbilden. Am Ende der Schulzeit stehen drei verschiedene Schulabschlüsse, die mit unterschiedlichen Berechtigungen verbunden sind. Und daneben als Sonderform Sonderschulen, die keine Schulabschlüsse vergeben, welche zu einer qualifizierten Berufsausbildung berechtigen.

Aber auch in Ländern, die bis zum Ende der Schulpflichtzeit eine gemeinsame äußere Schulorganisation vorsehen, wie z.B. Italien oder die skandinavischen Länder, besteht die Gefahr, dass sich in den Köpfen der Erwachsenen immer wieder Bilder festsetzen, es wäre besser, die Kinder - zumindest phasenweise - in abgetrennten Wagons voneinander zu isolieren. Wer jedoch einen einzelnen Wagon auf der Fahrt abkoppelt, schafft die Schwierigkeit, diesen Wagon irgendwann wieder anzukoppeln oder nimmt in Kauf, dass eine Gruppe von Kindern auf einem »Abstellgleis« vergessen wird. Oder für andere Kinder werden Sondergleise gebaut, von denen aus diese Schülerinnen und Schüler sich selbst nicht mehr konkret vorstellen können, wie eine gemeinsame Fahrt mit all den anderen gestaltet werden könnte, und die deshalb oft große Ängste davor entwickeln, aus ihrem »Spezialwagon« heraus zu fallen. Von den Erwachsenen wird jedoch behauptet, diese Kinder würden sich dort »in ihrer kleinen Gruppe« viel wohler fühlen.

In einer hierarchisch-ständisch organisierten Gesellschaft mag das Bild mehrerer Züge, die irgendwann durch Weichenstellungen auf verschiedene Schienenwege gelenkt wurden, stimmig gewesen sein. In einer ständisch organisierten Gesellschaft kann argumentiert werden: Die einen seien berufen, diese Welt zu lenken und zu planen - sie gehen auf das Gymnasium; die anderen würden die praktischen Arbeiten verrichten und gehen deshalb auf die Hauptschule (welche zu meiner Schulzeit »Oberschule Praktischen Zweiges« hieß). Und die Menschen »dazwischen« sollen vermitteln zwischen den »Theoretikern« und den »Praktikern«, sie sollen die Techniker und Bürokraten sein und gehen deshalb auf die Realschule. Mit einer demokratischen Gesellschaft, in der alle Menschen dieselben Grundrechte und Pflichten zur Gestaltung des Lebens in der Gemeinschaft haben, ist ein solches Bild nicht vereinbar. Ein solches Bild ist auch nicht funktional für eine Berufswelt, in der es wichtig ist, dass alle dort beteiligten Menschen gemeinsam für ein gutes Produkt oder eine zuverlässige Dienstleistung Verantwortung übernehmen.

Ein anderes Bild des Lernens wird durch das »Baummodell« von Georg Feuser dargestellt. Er hat dieses Bild im Zusammenhang mit der Diskussion um den gemeinsamen Unterricht von behinderten und nicht behinderten Kindern in Deutschland entwickelt. Er will mit diesem Bild den Anspruch des »gemeinsamen Lernens an einem gemeinsamen Gegenstand« verdeutlichen[1]. Der Stamm des Baumes stellt die thematische Struktur eines gemeinsamen Lerngegenstandes dar. Das kann eine Arbeitsmethode sein, z.B. in einem Wörterbuch nachschlagen können, auf einem Atlas etwas finden. Der gemeinsame Lerngegenstand kann auch ein umfassendes inhaltliches Thema sein, z.B. die Geschichte von Fortbewegungsmitteln oder die Gestaltung eines Schulgartens oder Korrespondenz mit einer Partnerklasse an einem anderen Ort, in einem anderen Land, in einer anderen Sprache. Georg Feuser nutzt das Bild des Baumes, um die Sachstruktur eines Lerngegenstandes zu planen. Es ist das Bild der äußeren Struktur eines Baumes, in der Zeichnung sind die Wurzeln nur angedeutet und ohne Blätter und Blüten. Dieses Bild möchte ich erweitern: Das gemeinsame Lernen aller Menschen kann bildlich dargestellt werden durch einen Baum, der in einem Wald oder auf einer Wiese steht - einzeln und frei und zugleich eingebunden in ein Ökosystem.

Abb.3: Das Bild des Baumes

Wenn Lehrerinnen und Lehrer sich auf dieses Bild des Lernens verständigen, dann ist es deren erste Aufgabe, sich in einem Team - möglichst mehrere Unterrichtsfächer vertretend und evtl. auch mehrere Altersstufen - auf ein umfassendes Thema zu einigen, innerhalb dessen vielfältige Lerninhalte erworben werden können. Der »gemeinsame Lerngegenstand« ist im Bild der Stamm des Baumes. Die verschiedenen Äste und Zweige bilden Teilbereiche des Lernens ab, die nicht unbedingt von allen Lernenden erworben werden müssen, deren Bearbeitung aber dazu beiträgt, dass jeder Mensch in dieser Gruppe seinen Beitrag leisten kann, um damit seine anerkannte Rolle in der Gruppe, langfristig in der Gesellschaft zu finden. Das Baummodell des Lernens macht deutlich, dass das Gesamte des möglichen Wissens in verschiedene Äste und Zweige unterteilt ist. Eine Schülerin kann sprachlich abstrakt arbeiten oder ein Schüler eher konkret handelnd am Astansatz; eine Schülerin erfasst das Ganze und beschäftigt sich nach ihrer eigenen Entscheidung mit den verschiedenen Details, ein Schüler geht systematisch, Abschnitt nach Abschnitt im Lernen vor. Mir selbst ist dieses Bild zu hierarchisch aufgebaut. Lehrerinnen und Lehrer, welche sich an diesem Bild des Lernens orientieren, planen zumeist das Gesamt eines Projektes bis ins Detail, entwickeln Arbeitsbögen und ordnen diese einem Tages- oder Wochenplan zu und präsentieren diese Materialien den Schülerinnen und Schülern in einer mehr oder weniger offenen Form. Die Gefahr ist groß, dass die Lehrerinnen und Lehrer sich selbst in der Vorbereitungsphase überfordern, um für jeden Schüler und jede Schülerin das passende Angebot zu planen. Die Schülerinnen und Schüler verlassen sich leicht zu sehr auf die Planungen ihrer Lehrerinnen und Lehrer, und oft werden nicht die Lernenden selbst mit zunehmender Autonomie für ihren eigenen Lernprozess verantwortlich, sondern mehr oder weniger gelenkt entscheiden die Lehrerinnen und Lehrer, an welchen (Lern-)Ästen und Zweigen wie viele Blätter und Blüten wachsen können. Die Lernenden - unabhängig davon, ob es sich um Kindergarten- oder Schulkinder, Studentinnen und Studenten, Erwachsene in Volkshochschulkursen oder ältere Menschen in einer Senioreneinrichtung handelt - bewegen sich nicht selbstständig auch mit dem Risiko, Irrwege zu gehen oder sogar abzustürzen, sondern sie werden an einer mehr oder weniger langen Leine geführt. Eine Zukunftsvision ist dann: Mit den neuesten Errungenschaften der Technik werden die Schülerinnen und Schüler durch die Anweisungen eines Lehrers oder einer Lehrerin mit einem Computerprogramm oder mit Fernsteuerung über einen Sender und einem Knopf im Ohr jedes Lernenden gelenkt und überwacht durch eine Kamera.

Ich schlage vor, ein Bild zu wählen, das sich an einer gedeckten »Selbstbedienungstafel« orientiert, die von einem oder mehreren guten Köchinnen und Köchen (das sind die Lehrerinnen und Lehrer) vorbereitet wurde mit den verschiedensten Angeboten geistiger Nahrung. Der Tisch ist reichhaltig und vielfältig gedeckt. Wenn bekannt ist, dass einzelne Gäste/Lernende eine besondere Diät benötigen, dann wird dies (eventuell von einer zusätzlich hinzugezogenen Diätköchin/Sonderpädagogin) berücksichtigt. Die (Lern-)Bedürfnisse der Kinder oder Erwachsenen sollen einerseits berücksichtigt werden, andererseits werden auch immer wieder neue Anregungen aufgegriffen.

Abb.4: "Selbstbedienungstafel"

Aufgabe der Lehrenden/der Köchinnen und Köche ist es, die Lernenden/die lernhungrigen Gäste genau zu beobachten, wie sie mit dem Angebot umgehen. Eventuell beraten und ermutigen sie, etwas Neues auszuprobieren. Die Lernenden können selbst entscheiden, was sie in welcher Reihenfolge auswählen. Sie lassen sich anregen durch das, was sich ihre Nachbarinnen und Nachbarn auf die (Lern-) Teller geladen haben. Sie übernehmen auch selbst die Verantwortung dafür, sich nicht falsch oder einseitig zu ernähren und setzen ev. ihre Interessen gemeinsam durch, wenn sie der Meinung sind, dass sie die falschen Angebote erhalten.

Dieses Bild ist mit der methodischen Form des so genannten Stationenlernens vergleichbar oder mit der Vorgehensweise von Maria Montessori. Ihre »Vorbereitete Umgebung« entspricht diesem Angebot, die Verantwortung zu übernehmen, sich selbst richtig mit geistiger Nahrung zu versorgen. Die Lehrerin/der Lehrer - oder besser die Gruppe der Lehrerinnen und Lehrer - bereitet die Lernumgebung vor, beobachtet und berät - wenn dies gewünscht wird - mit der Zielsetzung, eine Lernkultur zu entwickeln, in der jeder lernende Mensch die Verantwortung für seine eigene Entwicklung übernimmt und den richtigen Zeitpunkt erkennt, zu dem er sagen kann: »Hilf mir, es selbst zu tun!«



[1] siehe Abbildung in: Feuser, Georg: Behinderte Kinder und jugendliche zwischen Integration und Aussonderung. Darmstadt 1995, 179

Autorin

Prof. Dr. Jutta Schöler, Technische Universität Berlin

Institut für Erziehungswissenschaften

Franklinstraße 28/29

10587 Berlin

Quelle:

Jutta Schöler: Bilder in den Köpfen

Erschienen in: Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 4-04

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 18.09.2006

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