Integration im Freizeitbereich

Ein Begriff, eine Definition, acht Forderungen und ihre Folgen

Themenbereiche: Lebensraum
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: "Gemeinsam leben", Zeitschrift für integrative Erziehung, 3-93, S. 110-111. Hermann Luchterhand Verlag, Berlin Gemeinsam leben (3/1993)
Copyright: © Martin Bügler, Karl Michael Brand 1993

Forderungskatalog zur Integration behinderter Menschen im Freizeitbereich

Integration bedeutet auch die Vervollständigung eines unvollständigen Ganzen.

Die Integration von behinderten Menschen, insbesondere Kindern und Jugendlichen, sollte im Bewußtsein aller Politiker und Verantwortlichen ein Leitgedanke bei Entscheidungsprozessen sein.

Diese Erkenntnis ist die Voraussetzung für die Entstehung des folgenden Forderungskataloges.

An Kommune, Bezirk und Land

  1. Wichtig ist für die Zukunft eine stärkere Förderung der Integration im Kinderbereich, in diesem Zusammenhang wird die Forderung nach einer "Stadt für Kinder" und nach einer "Stadt für Alle" gestellt, denn was für Kinder gut ist, ist für alle gut, d. h. auch für Jugendliche, Erwachsene, alte und/oder behinderte Menschen. Zu bedenken ist hier auch die Möglichkeit von Modellprojektförderung durch Bezirk und Staat.

  2. Integration ist als ressortübergreifende Querschnittsaufgabe in allen Verwaltungsbereichen zu verstehen. In diesem Zusammenhang sind beispielsweise das Einbringen der Thematik in den Stadtentwicklungsplan sowie in den kommunalen Kinder- und Jugendplan oder die Berufung eines Integrationsbeauftragten für wichtige Verwaltungsbereiche (Sozialreferat/Jugendamt, Kulturreferat etc. ) und die Verankerung von Fachkompetenz im Kinder- und Jugendhilfeausschuß zu nennen.

  3. Alle Bereiche, speziell Spiel-, Kultur- und Freizeitangebote, müssen für alle Menschen, d.h. auch Menschen mit Behinderungen barrierefrei zugänglich und gemeinsam nutzbar sein.

Wichtig ist hierbei auch eine stärkere Berücksichtigung des Mobilitätsdefizits vor allem auch Geistigbehinderter:

An die Träger der Behindertenarbeit

  1. Im Interesse einer Ausdifferenzierung des Arbeitsfeldes wird vor inflationärem Gebrauch des Begriffes "Integration" gewarnt. Behindertenfreizeitarbeit ist unbedingt nötig, jedoch nicht zwingend integrativ. Ebenso sind Alleinvertretungsansprüche der Entwicklung einer vielfältigen Trägerlandschaft abträglich.

  2. Einrichtungen der Behindertenarbeit sollten Ghettoisierungstendenzen von innen entgegenwirken und im Interesse behinderter Kinder und Jugendlicher insbesondere die Kommunikation mit kommunaler Kinder- und Jugendkulturarbeit suchen.

An die Träger der offenen Kinder- und Jugendarbeit

  1. Bei allen Einrichtungen und Maßnahmen ist die Möglichkeit barrierefreier Eingliederung behinderter junger Menschen mit zu bedenken (keine Sonderprogramme für Behinderte!).

  2. Im Interesse effizienter Integrationsarbeit sind sowohl langfristige Planung als auch ernsthafte Kooperation und Koordination der beteiligten Träger wünschenswert.

  3. Es wäre dem Arbeitsgebiet sicher nützlich, wenn sich eine Fachgruppe "Integration im Freizeitbereich" zum Zwecke der politischen Vertretung, aber auch des Informationsaustausches der beteiligten Anbieter untereinander bilden würde. Mögliche Aufgaben dieser Fachgruppe wären beispielsweise die Durchführung eines Infomarktes oder das Erstellen eines Nachschlagewerkes über die "einschlägigen" Einrichtungen/Initiativen, wobei eine entsprechende Finanzierung durch die Stadtverwaltung notwendig wäre.

Ergebnisse der Landestagung in Bayern zu neuen Perspektiven der Integration im Freizeitbereich und weitere Bestrebungen

(Überschrift von bidok)

Vom 21. bis 22. 3. 92 führte die Landesarbeitsgemeinschaft Kulturelle Jugendbildung, Kinder- und Jugendkultur, Spiel Bayern (SpuK) in Zusammenarbeit mit ihrem Mitglied ECHO e.V. die Tagung "Du mich auch ... neue Perspektiven der Integration im Freizeitbereich" durch.

Im Verlauf dieser Veranstaltung beschäftigte man sich unter anderem mit neuen Ansätzen und Angebotsformen des Arbeitsfeldes (z. B. "Integration durch Spiel" oder "Naturerfahrung als Integrationsfaktor").

Ein weiteres wichtiges Thema war die Frage der begrifflichen Abgrenzung von Behindertenfreizeitarbeit und Integrationsarbeit im Freizeitbereich.

Hier wurde besonders klar, daß der Begriff "Integrationsarbeit" einer massiven Inflationsgefahr von seiten der spezifischen Behindertenfreizeitangebote ausgesetzt ist, der beiden Arbeitsgebieten nicht zum Vorteil gereicht.

In Folge dieser Tagung entstand der obige Forderungskatalog.

Im September konstituierte sich in der Konsequenz des Forderungskataloges eine "Landesfachgruppe Integration in Bayern" (LFG) unter dem Dach der LAG SpuK.

Neben den "normalen" wohlwollenden Reaktionen betroffener Politiker kam es auch zu einem Echo, mit dem man so nicht gerechnet hatte.

Der Forderungskatalog und die Gründung der Landesfachgruppe setzten in München eine Diskussion im Bereich der Freizeitarbeit mit Behinderten und der Integrationsarbeit in Gang.

In München existiert ein "Städtischer Arbeitskreis Probleme Behinderter", der vom Stadtrat als beratendes Gremium für die Belange behinderter Menschen eingesetzt wurde und der sich wiederum in mehrere Facharbeitskreise untergliedert, wie beispielsweise den "Facharbeitskreis Freizeit und Bildung". Dies ist eine sinnvolle Einrichtung, da mit ihrer Hilfe die Interessen behinderter Menschen - vor allem in der Großstadt - effizient vertreten werden können. Wenn nun jedoch der Facharbeitskreis Freizeit und Bildung in der aktuellen Diskussion eine Kontrollfunktion über alle Angebote, die auch Behinderte betreffen, sowohl in finanzieller wie auch inhaltlicher Hinsicht für sich reklamiert, so schreckt dies sicherlich eventuell interessierte Träger der offenen Kinder- und Jugendarbeit davon ab, ihre Projektangebote auch für Behinderte zugänglich zu machen.

Hauptvorwurf war, daß im Katalog verschiedene Freizeitangebote für Behinderte in München als für die Integration zweitrangig gesehen würden. Der Forderungskatalog betonte jedoch lediglich die Bedeutung von Integration als Querschnittsthema für alle Kultur- und Freizeitzusammenhänge und warnte vor einem inflationären Gebrauch des Begriffs "Integration" im Interesse einer Ausdifferenzierung des Arbeitsfeldes. Spezielle Freizeitangebote für Behinderte, wie sie vielfach und seit langem - auch in München - bestehen, sind nämlich unbedingt nötig - jedoch nicht zwingend als integrativ zu verstehen.

Die Absichten der neuen Landesfachgruppe können für ihre Mitglieder keinesfalls in der Erarbeitung neuer Konzepte für Behindertenfreizeitarbeit liegen, sondern müssen sich vielmehr mit der barrierefreien Eingliederung behinderter junger Menschen in bereits bestehende offene Einrichtungen und Maßnahmen beschäftigen.

Man sollte nun eigentlich meinen, einem Gremium wie dem Facharbeitskreis Freizeit und Bildung würden Tendenzen der Annäherung seitens der Jugendkulturszene sehr willkommen sein, weil sich hier Möglichkeiten der Integration auftun, die die eigene Szene nicht oder nur mit sehr großer Anstrengung erbringen kann. Das Gegenteil ist der Fall. In 2 Sitzungen des Gremiums am 25. Januar und 1. März dieses Jahres mußten sich Vertreter von LAG, LFG und ECHO e.V. mit massiven Alleinvertretungsansprüchen zum Thema Integration seitens dieses Arbeitskreises auseinandersetzen.

Ohne die Diskussion hier im Detail darstellen zu wollen, muß als Hauptaussage des Arbeitskreises festgehalten werden: Wer in München Angebote, die auch für behinderte Menschen gedacht und interessant sind, machen möchte oder sich zu Themen, die Behinderte betreffen äußern möchte, kann und darf dies nur mit einem entsprechenden Mandat des Arbeitskreises. Im übrigen wurde gleichzeitig die Berechtigung der Landesfachgruppe Integration, sich zum Thema Integration im Freizeitbereich zu äußern, in Frage gestellt. Dieser Alleinvertretungsanspruch behindert unserer Meinung nach innovative und kooperative Entwicklungen in der entsprechenden Münchner Szene und ist ein echter Bremsklotz für Integration als Querschnittsthema.

Eine Aufgabe der Landesfachgruppe muß deshalb sein, Möglichkeiten aufzuzeigen, wie die verschiedenen Einrichtungen und Initiativen in Bayern, die sich mit der Integration behinderter Menschen beschäftigen, gemeinsam, aber gleichzeitig auch autonom und ohne Mandats-Diskussionen an ihrem Ziel arbeiten können. Dazu sind eben überregionale Kooperationen und Vernetzungen nötig.

Aber einmal davon abgesehen, muß sich die Arbeit der Landesfachgruppe vor allem am Kriterium der fachlichen Kompetenz und Qualität orientieren und darf nicht in erster Linie danach fragen, wer mit welcher ihm übertragenen Berechtigung zu welchen Fragen Stellung nimmt. Bedeutungsvoll ist die geschilderte Diskussion in München unserer Meinung nach auch für die bundesweite Szene, da solche Probleme auch auf überregionaler Ebene auftreten und eine konstruktive, auf fachlicher Qualität beruhende Zusammenarbeit behindern könnten.

Autoren:

Martin Bügler, Karl-Michael Brand,

Westendstr. 115, Rückgebäude,

80339 München

Quelle

Bürgler, Martin; Brand, Karl-Michael: Integration im Freizeitbereich

Erschienen in "Gemeinsam leben", Zeitschrift für integrative Erziehung, 3-93, S. 110-111

Hermann Luchterhand Verlag, Berlin,

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 04.10.2006

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