Ein wenig Mut gehört dazu ...

Wie geht das so: Integration eines nichtsprechenden Kindes in eine Regelschule

Themenbereiche: Schule
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 3-00, S.125-130 Gemeinsam leben (3/2000)
Copyright: © Luchterhand 2000

Vorbemerkung

Unser Beitrag ist der vorbereitete Text für einen Vortrag, den wir am 12. Juli 2000 im Fachbereich Erziehungswissenschaften der TU Berlin gehalten haben. Die kursiv gedruckten Abschnitte wurden von Kathrin geschrieben und beim Vortrag über einen "Delta-Talker", ein Sprachcomputer (=Talker), den Zuhörerinnen und Zuhörern übermittelt. Die jetzt 15-jährige Kathrin ist auf Grund einer zentralen Bewegungsstörung, die nicht nur Arme und Beine sondern auch die Mundmotorik betrifft, nicht in der Lage, lautsprachlich zu kommunizieren.

1 Das Höhlengleichnis (nach Platon)

Ich erzähle ihnen zu Anfang eine Geschichte des griechischen Philosophen Platon. Stellen sie sich Menschen vor, die in einer Höhle leben. Sie sind von Kindheit an gefesselt und können sich nicht nach draußen bewegen. Der Höhleneingang liegt im Rücken der Menschen und sie sind so gefesselt, dass sie sich nicht umdrehen können. Vor dem Eingang der Höhle brennt ein großes Feuer. Zwischen dem Eingang der Höhle und dem Feuer gehen immer wieder Menschen. Die Menschen in der Höhle sehen aber nur ihre Schatten und denken, diese seien die wahre Welt. Nun befreit sich einer von ihnen. Er klettert aus der dunklen Höhle. Zunächst wird er von dem hellen Licht geblendet, aber dann sieht er, wie bunt und schön die Welt wirklich ist.

Jetzt fragen sie sich sicher was diese Geschichte mit dem Thema unseres Vortrages zu tun hat. Stellen sie sich Kinder in einer Schule für Behinderte vor. Sie nehmen Menschen ohne Behinderung zwar wahr, aber sie erleben sie nicht. Nun befreit ein Behinderter sich aus der Sonderschule und besucht die Regelschule. Er sieht, wie bunt und schön Schule sein kann.

2 Wie alles begann ...

2.1 Aus der Sicht des Integrationshelfers/ von Kathrin

In der Zeit meiner Arbeitslosigkeit erhielt ich einen Tipp vom Arbeitsamt, ob ich Interesse hätte, ein schwerstbehindertes Mädchen zu betreuen. Es könne nicht sprechen und habe eine spastische Lähmung. Natürlich hatte ich Interesse. Mit der schnell notierten Telefonnummer der Mutter machte ich mich wieder auf den Weg nach Hause. Einen Tag später rief ich an: "Ja hallo, mein Name ist Gottlieb. Ihre Nummer habe ich vom Arbeitsamt!" Geschlagene 30 Minuten unterhielt ich mich mit Kathrins Mutter. Im Laufe des Gespräches - ehrlich gesagt war das eher ein Monolog von Kathrins Mutter - erfuhr ich, dass Kathrin dreizehn Jahre alt ist, und dass es darum geht, dass sie eine Regelschule besuchen wolle, dafür aber einen Integrationshelfer brauche. Wir vereinbarten einen "Vorstellungstermin", bei dem ich Kathrin kennen lernen sollte.

Unser erstes Treffen verlief mit gegenseitigen Spannungen. Wie ist der Andere? Was ist das für ein Mensch? Aber diese erste Begegnung war alles andere als beklemmend. Kathrin empfing mich im Flur - mit einem herzlichen Lachen. Mir lief es eiskalt den Rücken herunter, als ich ihren Lebensspruch erfuhr: "Nicht lachen können, ist schlimmer als nicht reden zu können."

Moment mal! Das war ja eigentlich unser zweiter Termin. Bei dem ersten bist du nicht gekommen. Ich war ganz enttäuscht, weil ich dachte, dass gibt nichts mit dir.

Es galt nun, eine Schule zu finden, die mich aufnimmt. Das war gar nicht so einfach. Ich hatte ein Gespräch in einer Integrationsschule, an der behinderte und nichtbehinderte Kinder unterrichtet werden. Doch dort musste ich vor den ganzen Lehrern eine abgespeicherte Geschichte vortragen. Das wäre ja nicht so schlimm gewesen. Danach schickten sie mich raus um über mich zu sprechen. Ich fühlte mich wie ein Vorführexemplar. Das Ergebnis war: Meine Behinderung wäre zu groß und sie können mich nicht aufnehmen.

Die Stadtverwaltung gab uns einen Tipp. Wir sollten uns mal an die Regionale Schule in Vallendar wenden. Dort wäre eine engagierte Schulleiterin, die es sicherlich mal probieren würde. Wir hatten Glück! Im Juni konnten wir 14 Tage lang an einem Probeunterricht teilnehmen um uns kennen zu lernen. Es war echt groovy.

Ich merkte, dass ich an einer "normalen" Schule mehr gefordert wurde. Es war nicht sooo langweilig wie an der Körperbehindertenschule in Neuwied/Rhein, wo ich auch mit Hauptschülern in einer Klasse war, die mehr Förderung brauchten als ich. Ich freute mich auf den Schulbeginn nach den Sommerferien.

2.2 Finanzierung des Arbeitsplatzes

Nun musste ein Arbeitgeber gesucht werden, der die Maßnahme trägt. Weder die Familie noch ich wollten ein Abhängigkeitsverhältnis ohne "Puffer" eingehen. Eventuell aufkommende Konflikte zwischen den zwei Parteien können ohne einen externen Arbeitgeber nur schlecht gelöst werden. Schließlich sollte noch die Finanzierung so ausbalanciert werden, dass eine Vollzeitstelle geschaffen werden konnte. Die Lebenshilfe Koblenz e.V. hat sich sofort bereit erklärt, diese Maßnahme fachlich und organisatorisch zu unterstützen.

Seit Beginn meiner Tätigkeit am 31.08.1998 beim Familienentlastenden Dienst wird die Stelle durch Eingliederungshilfe nach §§ 39 ff. BSHG i.V.m. § 40 I Nr. 3 BSHG durch die Stadtverwaltung Koblenz finanziert.

Für die finanzielle Sicherung war es notwendig, dass Kathrin eine Empfehlung zu einer weiterführenden Schule vorweisen konnte, d.h. dass ihre Leistungen den Anfordernissen einer Regelschule gerecht werden müssen. Die Körperbehindertenschule Neuwied stellte eine solche Empfehlung aus.

Formal bedeutet dies nun: Kathrin bzw. deren gesetzliche Vertreterin schlossen mit der Lebenshilfe Koblenz eine Leistungsvereinbarung ab, deren Inhalte sich auf die schulische Integration an einer Regelschule beziehen. Die Lebenshilfe wiederum stellt Kathrin eine Rechnung aus, die die Kosten für einen Mitarbeiter, sprich den Integrationshelfer, ausweist. Diese Rechnung wird von der Stadtverwaltung im Zuge der bereits genannten Eingliederungshilfe beglichen (Abb. 1).

Die Finanzierung dieser Stelle wird jeweils für ein Jahr bewilligt.

Abb.1: Diese Rechnung wird von der Stadtverwaltung im Zuge der bereits genannten Eingliederungshilfe beglichen

3 Die Schule beginnt

Am 31.08.1998 begann das neue Schuljahr. Kathrin und ich waren gespannt, ob denn die neue Rampe schon gebaut sei, die zu ihrem Klassenzimmer führt. Das alte Klassenzimmer lag in einem Nebengebäude, in einem Pavillon, in dem insgesamt vier Klassen untergebracht sind. Erleichterung machte sich breit, als wir feststellten, dass die Rampe innerhalb von sechs Wochen gebaut ist und Kathrin nun problemlos die eine Stufe überwinden kann.

Das Gedränge im Pavillon fand ich manchmal gar nicht groovy. Ich fand es zwar auch toll, dass unser Hausmeister in so kurzer Zeit eine Rampe für mich gebaut hat, aber das Gewusel und Gewurschtel war gar nicht so mein Fall. Das ist bestimmt nicht böse gemeint von den anderen Kindern, doch ich habe mich fast jedes Mal erschreckt, wenn sich da noch jemand an mir vorbei durchquetschte, um einen Platz im Bus zu ergattern. Steffen sagte immer, ich solle einfach drauf los fahren. Wenn ich den Fuß des einen oder anderen mal erwischt habe, würden sie schon aufpassen.

Auch mit dem Tür aufhalten gab es manchmal Probleme. Wieder ist es nicht böse gemeint, dass die Kinder einfach nicht daran denken. Aber irgendwie kam immer einer und hat mir geholfen.

Seit diesem Schuljahr sind wir nicht mehr im Pavillon, sondern in einem viel größerem Klassenzimmer. Ich muss auch nicht mehr so weit fahren, um von einem Raum in den anderen zu kommen. Da hat sich die Schulleitung schon echt Gedanken gemacht bei der Gestaltung des Stundenplanes.

Im Folgenden möchte ich anhand der einzelnen Unterrichtsformen die didaktische Integration von Kathrin skizzieren.

3.1 Frontalunterricht

Während des Frontalunterrichtes ist eine gute Mitarbeit von Kathrin festzustellen. Aus technischen Gründen kann Kathrin nicht wie andere Kinder in ganzen Sätzen auf Fragen antworten. Durch das Aufrufen einzelner Felder ihres Talkers mittels zweier Tasten in der Kopflehne bedeutet es einen erheblichen zeitlichen Aufwand. So kann es vorkommen, dass sie bis zu fünf Minuten für einen Satz benötigt. Stattdessen teilt sie mir über die Buchstabentafel ein Schlagwort mit, welches ich der Klasse weitergebe und der Lehrer es in den Satzzusammenhang einfügt.

Z. B. Geschichte: "Was unterscheidet die Altsteinzeit von der Jungsteinzeit?" Antwort von Kathrin über die Buchstabentafel: "J Bauer". "Richtig Kathrin, in der Jungsteinzeit lernten die Menschen den Ackerbau kennen!" Ein anderes Beispiel, wiederum Geschichte: Der Lehrer legt eine Folie mit unterschiedlichen Menschenköpfen der Steinzeit auf. Er bittet die Schüler, die einzelnen Köpfe zu benennen. Ein Schüler meldet sich: "Der Zweite von oben, der mit den dicken Augenbrauen, den nennt man, glaube ich, Homo Waigel!". Auch Kathrin meldet sich und signalisiert mir mittels Zahlentafel, dass sie Bild 4 meint: "N-e-a-n" buchstabiert sie. "Neandertaler?!" Kopfnicken. "Kathrin sagt: das Dritte von unten ist ein Neandertaler."

Noch ein Beispiel, diesmal Chemie: "Welche Sicherheitsvorkehrungen befinden sich im Chemieraum?" Kathrin buchstabiert: "F-e-u-e-r-m". "Feuermelder?!" Kopfnicken. "Kathrin sagt, der Feuermelder!".

Im Verlauf dieses Unterrichtes werden teilweise Unterrichtsmitschriften geführt. Kathrin arbeitet an diesen Mitschriften mit, indem sie mir deutet, was wohin gehört, wie eine Figur ausgemalt wird, ob das Datum nicht vergessen wird, ob alle Linien richtig gezogen sind, usw. Sie gestaltet auf diese Art und Weise ihre Arbeitsmappe.

Dazu möchte ich auch was sagen: Wenn der Lehrer etwas sagt, ist es nicht so leise, als wenn ich was in den Talker tippe. Da hört man nichts mehr - außer dem Quietschen meiner Schuhe und dem Eingabepiep. Meine Klassenkameraden sind da sehr geduldig. Ab und zu fragt mal jemand nach, was ich gesagt habe, aber da hilft dann schon mal ein anderer und übersetzt.

Seit dem neuen Schuljahr benutze ich viel mehr den Talker. Der ein oder andere Lehrer gibt mir zum Anfang des Unterrichtes eine Frage, die ich dann beantworten kann. Wenn ich fertig bin, nimmt mich der Lehrer wieder dran und ich werde die Frage beantworten.

3.2 Gruppenarbeit

In diversen Fächern, z. B. Deutsch, Englisch, Religion, sollen die Kinder durch Gruppenarbeit lernen, indem sie einen Arbeitsauftrag erhalten, sich in Kleingruppen zusammenfinden und gemeinsam diesen Auftrag erfüllen sollen. In der Regel finden sich immer wieder die gleichen Gruppen zusammen.

Dadurch, dass die Schülerinnen und Schüler, die engeren Kontakt zu Kathrin haben, immer vertrauter im Umgang mit ihr werden, wird die Situation der Gruppenarbeit für Kathrin zunehmend leichter. Die Schüler entwickeln ein Verständnis für ihre Mimik und Gestik. Durch gezielte und geschickte Fragestellung kommen sie mit Kathrin relativ schnell zu einem Ergebnis. Mir fällt dann nur noch die Aufgabe zu, bei etwaigen Verständnisproblemen einzuwirken und diese zu lösen.

Gruppenarbeit ist groovy. Am liebsten arbeite ich mit zwei, drei bestimmten Leuten zusammen, weil mich diese am besten verstehen und sie sich auch bemühen trotz meiner Behinderung mit mir gut zu arbeiten. Z. B. bekommen wir in Erdkunde einen Auftrag, ein Plakat zu gestalten und dann vorzutragen. Wir einigten uns, wer was zu machen hat.

Meistens habe ich die Aufgabe Texte zu sammeln und zu schreiben. Die anderen gestalten das Plakat mit Bildern und ergänzen es mit anderen Texten. Meine Partner behandeln mich wie eine ganz normale Schülerin. Wenn ich mal was vergessen würde, bekäme ich bestimmt auch mal einen Anschiss von ihnen.

3.3 Leistungsüberprüfungen

Seit den ersten Unterrichtswochen werden die Leistung auf vielfältige Weise überprüft und beurteilt. Ob dies nun die gemachten oder nicht gemachten Hausaufgaben sind, unangekündigte Tests geschrieben werden oder Klassenarbeiten auf dem Programm stehen.

Während der Tests oder Klassenarbeiten fungiere ich als "Dolmetscher". Bei Vokabeltests z. B. erhalten wir von der Lehrerin die abgefragten Vokabeln vorab auf einem Zettel, sodass Kathrin mit mir - zeitversetzt zu den Mitschülern - den Test bearbeiten kann. Man lässt ihr entsprechend ihrer eingeschränkten Fähigkeiten mehr Zeit zur Bearbeitung. Kathrin diktiert mir Buchstabe für Buchstabe die Übersetzung. Während eines Religionstestes beispielsweise beantwortete sie die Fragen in der gleichen Vorgehensweise. Auch hier erhielt sie ausreichend Zeit, ihre Gedanken zu formulieren und mir zu buchstabieren.

Seit Beginn des neuen Schuljahres wird auch verstärkt der Talker eingesetzt. Ein Aufsatz, ein Diktat oder ein Vokabeltest in Englisch wird nun per Talker und Laptop bearbeitet, ausgedruckt und dem Lehrer zur Korrektur vorgelegt.

In Mathematik arbeitet sich Kathrin derzeit in die Tiefen eines bekannten Kalkulationsprogrammes ein. Dieses Programm bietet die Möglichkeit, relativ einfach den Anfordernissen in der Schule gerecht zu werden.

In praktischen Fächern wie Arbeitslehre (Werken) oder Bildende Kunst gestaltet sich die Leistungsbeurteilung wesentlich schwieriger. Nach Absprache mit den jeweiligen Fachlehrern einigten wir uns auf eine andere Überprüfungsart. Im Unterrichtsfach Werken z. B. sollte ein Limes-Turm hergestellt werden: Kathrin fällt die Aufgabe zu, für die Mitschüler einen Arbeitsablaufplan zu erstellen. D.h., sie soll eine Einzelteilstückliste erstellen (incl. Bemaßung) sowie genau beschreiben, wie der Turm gebaut wird (mit welchen Materialien, welche Werkzeuge usw.), sodass dann die Mitschüler mit Hilfe dieser genauen Arbeitsanleitung ohne eigenen planerischen Aufwand den Limes-Turm erstellen können.

Für das Fach Bildende Kunst wird eine Note ermittelt, indem Kathrin Informationen zur anstehenden Thematik, z. B. Baustile, sammelt und diese in einem Referat darstellt.

Mündliche Mitarbeitsnoten werden für Kathrin vergeben, indem sie z. B. zu Hause Elemente für den Unterricht vorbereitet, in den Talker eingibt und in der nächsten Stunde vorträgt.

Der Lehrer ermittelt bei Gruppenarbeit eine mündliche Note einerseits durch das erzielte Ergebnis der Gruppe und andererseits durch Beobachtung einzelner Personen, was diese zu dem Ergebnis beigetragen haben.

Aber die Mitarbeit wird auch ganz klassisch nach Meldungen und Wortbeiträgen bewertet.

Weil ich nicht so schnell bin, brauche ich mehr Zeit als andere Schüler. Aber ich glaube, die anderen verstehen das auch. Auch, dass ich Aufsätze und Diktate zu Hause schreiben darf, ist für mich o.k. Denn wenn ich pfusche, betrüge ich mich selbst und auch die anderen. Außerdem habe ich ja keine Möglichkeit mal schnell in einem Buch nachzuschlagen, und mein Integrationshelfer ist dafür viel zu ängstlich, erwischt zu werden. Aber ich finde es groovy, dass die Lehrer so viel Vertrauen in uns setzen, und das erlauben.

Ich muss noch ergänzend sagen, dass es manchmal gar nicht so einfach ist, z. B. in einem Test das falsche Ergebnis hinzuschreiben. Da muss man schon gut schauspielern können, damit das Kind nicht irritiert wird und durch mich nicht noch mal zum Nachrechnen oder Überlegen angeregt wird. Aus Respekt und Achtung vor Kathrin gehört dieses "Schauspiel" jedoch mit zu meiner Aufgabe.

Bei Hausaufgaben oder in anderen Situationen mache ich Kathrin auf etwaige Fehler aufmerksam - natürlich nur soweit sie mir selbst auffallen. Oder ich erkläre ein falsches Rechenergebnis bewusst für richtig, um Kathrin anzuhalten, selbst die Aufgabe zu überprüfen. Ziel ist es ja, dass Kathrin selbstständig ohne fremden Einfluss ein Ergebnis für richtig oder falsch erachtet.

3.4 Kathrins Zeitungswochen

Im Februar 2000 mussten die Schüler ein dreiwöchiges Betriebspraktikum durchführen. Alles Weitere erzählt Ihnen jetzt Kathrin.

Ich beginne jetzt von meinem Praktikum zu erzählen. Am Ende unseres Vortrages können Sie sich meine Praktikumsmappe angucken. Ich wollte irgendwas mit Werbung machen. Eine Bekannte gab mir einen Tipp: ich soll mich mal bei der Rhein-Zeitung bewerben. Zuerst geschah lange Zeit nichts. Aber dann, es war ein normaler Briefumschlag, und doch: er hatte für mich unbeschreibliches zu bedeuten. Ich wurde zu einem Vorstellungsgespräch bei der Rhein-Zeitung eingeladen. Als es dann so weit war und Steffen und ich im Wartezimmer der Zeitung saßen, habe ich mir vor Aufregung fast in die Hose gemacht. Aber der Leiter der Abteilung, die für die Bildbearbeitung zuständig ist, war ganz nett und sagte, dass ich mein Praktikum in seiner Abteilung machen dürfte. Am Abend vor dem ersten Tag bei der Rhein-Zeitung, ist mir der Gedanke durch den Kopf gegangen, dass ich jetzt die Chance habe, zu beweisen, dass ich, trotz meiner Behinderung, etwas kann. Dieser Gedanke ist mir das ganze Praktikum nicht aus dem Kopf gegangen und vielleicht habe ich mir auch darum so viel Mühe gegeben. Da Christian, mein Praktikumsanleiter, früher in seiner Zivi-Zeit schon einmal etwas mit behinderten Menschen gemacht hatte, gab es von seiner Seite aus keine Probleme mit meiner Behinderung. Steffen ging nach einiger Zeit mit einer Zeitung bewaffnet in die Kantine, weil es ihm zu langweilig wurde. Ich brauchte ihn ja nicht! Ich arbeitete mit meinen Betreuer am Computer. Er zeigte mir das Programm, dass die Rhein-Zeitung für die Bearbeitung der Bilder benutzt. Zur Mittagspause kam Steffen wieder, um mir das Essen zu reichen. Dann machte er mit Christian aus, dass er zukünftig nur noch zum Mittagessen käme. Um halb vier war Feierabend und ich lag fix und fertig in meinem Rollstuhl. In dieser ersten Woche des Praktikums haben meine anderen Kollegen die Hemmung, die sie am Anfang vor meiner Behinderung hatten, verloren. Sie merkten, dass ich denken kann. Außerdem haben sie begriffen, dass ich auch Quatsch vertrage. Es ging da manchmal ziemlich lustig zu. Ich habe aber auch gelernt, wie man Bilder bearbeitet und machte meine ersten Versuche damit.

Am letzten Tag fand dann eine Abschlussbesprechung mit dem Chef statt. Dabei kam heraus, dass das Praktikum viel besser gelaufen war, als alle (!) je gedacht hätten. Danach gab mir Christian meine Praktikumsnote. Raten sie doch mal! Es ist eine 1! Ich habe mich vielleicht gefreut! Dann kam der Abschied. Ich habe mich dort echt sauwohl gefühlt und bin entschlossen, Mediengestalterin zu werden. Ich werde darum kämpfen, denn ich will nicht in eine Behindertenwerkstatt! Ich brauche für diesen Beruf mindestens Mittlere Reife. Das werde ich schaffen, glaube ich.

3.5 "Lehrerfortbildung"

Nach vier Wochen Anlaufzeit erschien es mir wichtig, die beteiligten Lehrer über die Art der Behinderung sowie die Funktionsweise der unterstützenden Kommunikationsmittel aufzuklären.

Es waren so was wie Berührungsängste festzustellen.

In Bezug auf Leistungsüberprüfungen wurde Skepsis dahingehend geäußert, dass es doch recht schwer sein kann, auch Fehler zu notieren. Sollte mir ein Lehrer jedoch misstrauen, ist es sicherlich auch vorstellbar, dass Leistungsüberprüfungen ohne meine Person stattfinden können, indem der betreffende Lehrer selber Kathrins Wissen abfragen könne. Doch das war bisher nicht erforderlich.

Nach diesem Gespräch hatte ich den Eindruck, dass einige Lehrer aufgeschlossener der Integration von Kathrin in den "normalen" Schulalltag gegenüberstehen. Ein Schlüsselerlebnis hatte z. B. unsere Musiklehrerin, die vorher eher zurückhaltend auf Kathrin reagierte. Sie war sichtlich darüber erfreut, dass Kathrin aus fünf Tönen eine kleine Melodie bastelte und diese dann noch mit Text unterlegte.

Einmal kam auch ein Techniker von der Firma Prentke-Romich, von der ich den Talker habe. Er brachte noch ein paar Geräte für die Lehrer mit, damit sie einfach mal ausprobieren können, wie das Teil funktioniert. Meine Musiklehrerin war so aufgeregt, dass ihr die Hände zitterten, als sie eine Taste drücken sollte. Andere Lehrer waren wie kleine Kinder, die ein neues Spielzeug entdeckt haben. Das war ... Sie ahnen es schon: groovy!

Zur weiteren Erleichterung entwarf ich folgende Hilfestellungen:

1. Nummerische Strukturen schaffen

Sofern es nicht unbedingt erforderlich ist, dass Kathrin in vollständigen Sätzen antworten soll, kann bei mündlichen Abfragen auf Zahlen und Aufzählungen zurückgegriffen werden, wie beispielsweise Multiple-Choice-Fragen:

Die möglichen vom Lehrer aufgezählte Antworten können durchnummeriert und von Kathrin per Talker entsprechend beantwortet werden:

Beispiele:

  • in Geschichte "Wer segelte 1492 nach Amerika? 1. Picasso, 2. Rinaldo, 3. Kolumbus"?

  • in Mathematik: Es sollen die Winkel eines Dreiecks bestimmt werden. Anstatt "Winkel alpha steht in Beziehung zu Winkel beta" können die Winkel durchnummeriert werden: alpha = 1, beta = 2, gamma = 3.

  • Herausheben von Textstellen: Es erleichtert die Kommunikation, wenn die Seiten, Spalten und Zeilen durchnummeriert sind. Kathrin kann dann angeben: "57 1 13". Das bedeutet: auf Seite 57, Spalte 1, Zeile 13. Natürlich ist es situationsabhängig, ob diese Angaben in vollem Umfang gemacht werden müssen.

  • Praktische Versuche in Physik und Chemie: In Physik gab es mal folgende Versuchsanordnung: Es sollten Hilfsmittel so platziert werden, dass drei Lichtstrahlen durch eine Linse hindurch in einem Brennpunkt focusiert werden. Auch hier kann man numerisch arbeiten: Lichtquelle = 1, Streulinse = 2, Sammellinse = 3, Blende = 4. Kathrin kann nun zumindest die Reihenfolge wiedergeben: Also "1 4 3". Wie die Geräte nun praktisch aneinander gereiht werden, ist situationsabhängig. Der Lehrer kann die Geräte solange auf der Fläche hin- und herschieben, bis Kathrin die genaue Position durch ein Signal (meistens ein Fast-Herausspringen aus dem Rollstuhl) bestimmt.

  • Geografie: Zur Bestimmung von Orten, Flüssen, Ländern kann eine Rasterfolie verwendet werden (ähnlich wie in einem Straßenatlas), die über die entsprechende Seite im Atlas gelegt wird. London liegt dann in Quadrat "6 8". Der Rhein verläuft von "4 6 bis 7 9"

2. Kommunizieren in ganzen Sätzen

  • Eine Frage kann z. B. am Anfang des Unterrichtes an Kathrin gestellt werden. Sie hat dann entsprechend Zeit, sie zu beantworten. Ist sie fertig, muss der Lehrer wieder auf die Fragestellung zurückgreifen. Ein Nachteil ist jedoch, dass Kathrin in der Zeit ihrer Bearbeitung den weiteren Unterrichtsverlauf versäumt.

  • Eine weitere Möglichkeit ist das Beantworten einer Fragestellung zu Hause. Dies ist jedoch nur sinnvoll, wenn die Beantwortung dieser Frage in der nächsten Unterrichtseinheit wieder aufgegriffen wird. Wegen der zeitlichen Inanspruchnahme ist es sinnvoll, sie in diesem Fall dann von anderen Hausaufgaben zu befreien.

Nach meinen Beobachtungen müssen Lehrer in der Praxis nicht nur die von ihnen unterrichteten Schulfächer-Disziplinen beherrschen, sie müssen auch Pädagogen, Psychologen, Soziologen und auch Spezialisten für Suchtprävention, für Sexualerziehung oder für die Korrektur fehlentwickelten Sozialverhaltens sein.

Gerade auch in der Unterrichtung eines behinderten Kindes tun sich Defizite auf, auf die die meisten Lehrer nicht vorbereitet sind. Es kann selbstverständlich nicht gefordert und erwartet werden, dass die Lehrer alle sonderpädagogischen Kompetenzen in sich vereinigen müssen. Jedoch sollte für die Erfüllung der von den Kultusministern gesteckten Zielen - die stärkere Integration von behinderten Schülern - die zukünftigen Lehrer entsprechend vorbereitet werden.

Neben den schulischen Aufgaben nehmen wir auch an diversen außerschulischen Maßnahmen teil. Hierzu gehörten das Knüpfen und Pflegen von Beziehungen zur Universität ebenso dazu, wie die Teilnahme an Podiumsdiskussionen oder die Erlebnisse in einem Pfadfinderlager.

4 Außerschulische Veranstaltungen

4.1 "Integration statt Diskriminierung"

Die SPD-Fraktion im rheinland-pfälzischen Landtag veranstaltete in Mainz eine Podiumsdiskussion zu oben genanntem Thema. Als ich Kathrin davon berichtete, war sie sehr begeistert. Schließlich bestand für sie die Möglichkeit, ihre positiven Erfahrungen an einer Regelschule an entsprechende Entscheidungsträger weiterzugeben. Sie war das einzige behinderte Kind, das an dieser Veranstaltung teilnahm. Neben dem eher destruktiven Diskussionsverhalten der politischen Experten über die so genannten Behindertenurteile wirkte Kathrin's Aufforderung, alle Sonderschulen zu schließen und behinderte Kinder in den regulären Schulalltag zu integrieren, sehr erfrischend.

Sofern Kathrin Interesse und Motivation zeigt, ist es wichtig, sie an eine solche Lobbyarbeit heranzuführen, um über ihre Erfahrungen zu berichten und ggf. Kritik an der bisherigen Behindertenpolitik zu üben und Anregungen anzubieten.

4.2 Die Kontakte zur Uni: "Endlich mal was sinnvolles machen ..."

Basierend auf dem Gedanken, dass die technische Entwicklung immer schneller verläuft und, wenn noch nicht alles, dann aber sehr vieles möglich ist, kam mir die Idee, die Universität in Koblenz - Fachbereich Informatik anzuschreiben in der Hoffnung, die technischen Hilfemöglichkeiten für Kathrin zu optimieren. Meine Bemühungen haben sich gelohnt: Ein wissenschaftlicher Mitarbeiter hat sich bei mir gemeldet, und teilte mit, dass ein Student bereit wäre, eine Diplomarbeit über computerunterstützte Kommunikation zu schreiben. Um die Thematik zu forcieren, vereinbarten wir eine Art Vorstellungsgespräch, bei dem die Wissenschaftler die Technik kennen lernen sollten, mit der Kathrin es zu tun hat. Großes Entsetzen herrschte bei den Experten darüber, dass die Vokabeleingabe ausschließlich über den Talker selber erfolgt und nicht extern über den PC auf das Gerät eingespielt werden kann. Primäres Ziel ist es also, eine Eingabemöglichkeit über einen externen Rechner zu schaffen. Hierbei wird auch die Herstellerfirma des Talkers mit eingebunden.

Als weitere Aufgabe wäre die Entwicklung einer entsprechenden Lernsoftware. Bis dato erfolgt das "Überprüfen" der gelernten Vokabeln durch stures Abfragen. Eine für ein Kind nicht gerade motivierende Methode. Sicherlich ist die geeignetste Methode das Anwenden selber. Jedoch besteht in der Schule aus zeitlichen Gründen dazu kaum eine Gelegenheit, da Kathrin dort mit ihr vertrauten Personen über Buchstabenstafel oder Mimik kommuniziert.

Die Informatiker verabschiedeten sich sehr begeistert. "Endlich mal was Sinnvolles. Endlich können wir einem Menschen mit unserem Wissen das Leben erleichtern", so der Kommentar eines Mitarbeiters.

Es macht Sinn, den Kontakt zur Universität nicht abbrechen zu lassen. Die Entwicklung im Bereich der Informatik ist sehr schnelllebig, sodass wir als Laien interessante Neuheiten eher übersehen, statt an ihnen zu partizipieren.

Im Laufe der Zeit zogen die Ideen immer weitere Kreise: die Informatiker entwickelten Ideen, wie die Kommunikation von Kathrin mittels linguistischer Theorien und Erkenntnissen erleichtert werden kann. Der Bogen spannt sich von Wortvorhersage bis hin zum SMS-System der Handys (Versenden von Kurznachrichten).

Diese Diskussion in Mainz hat mir nicht so gefallen. Es war ein wenig langweilig, weil die Leute dort nicht so viel über Integration gesprochen haben, sondern nur über ihr Leid geklagt haben, dass sie mit Nichtbehinderten haben. Es wäre schön gewesen, wenn sie da etwas über die Zukunft gesprochen hätten.

Die Leute von der Uni dagegen sind echt groovy. Ich glaube, denen macht es wirklich Spaß für mich und auch für andere nichtsprechende Leute neue Sachen zu erfinden. Jedenfalls waren sie schon sehr oft bei mir und haben sich informiert und getüftelt und gute Ideen gesponnen. Auf jeden Fall wird gerade ein spezielles Programm gebastelt, mit dem ich viel leichter ungespeicherte Wörter abrufen kann.

4.3 Freizeitpädagogik

Außerschulische freizeitpädagogische Aktivitäten gehören aber auch zu einer erfolgreichen Integration. Indem Kathrin sieht, wie sich andere nichtbehinderte Kinder verhalten, kann sie Rückschlüsse ziehen über Verhaltensweisen ihrer Mitschüler. Sie hat Vergleichsmöglichkeiten.

Zwei Mal nahmen wir an einem Pfadfinderlager und einmal an einer Konfirmandenfreizeit teil. Bei der Konfirmandenfreizeit hatte ich das Gefühl, dass Kathrin zwar akzeptiert wurde, aber dennoch so was wie eine unsichtbare Barriere zwischen den Teilnehmern und "uns" lag. Natürlich versuchte ich mich auch hier weit gehend zurückzuziehen, leider wurde Kathrin jedoch kaum in das Spiel der anderen Kinder einbezogen.

Anders bei den Pfadfinderlagern. Während der Zeltlager wurde sie ohne mein Einwirken von Anfang an zu jeder Aktion mitgenommen. Es wurde probiert, Kathrin so weit wie möglich in das Geschehen zu integrieren. Und dies gelang, da wir Gäste einer sehr offenen und fürsorglichen Gruppe gewesen sind.

In Bezug auf Freizeitpädagogik ist mit einer Behinderung, wie Kathrin sie hat, nach meiner bisherigen Erfahrung fast alles möglich. Sicherlich bedarf es einer sorgfältigen Vorbereitung und manchmal ist es auch körperlich sehr anstrengend. So war der Besuch von Fantasialand bei Brühl für mich ein Austesten, was überhaupt möglich ist. Es war jedoch nicht risikobehaftet, sondern wir hatten unseren Spaß. Grund genug, weiterhin solche Aktionen zu planen und durchzuführen. Ein großes Ziel ist es, gemeinsam in einem großen Boot auf der Ostsee zu segeln.

Die Pfadfinderlager waren echt groovy, weil die Leute mich sofort akzeptierten. Ich hatte nicht so das Gefühl dort jemanden zu stören oder besondere Mühe zu machen. Außerdem war es abenteuerlich: Das Singen am Lagerfeuer, oder das gemeinsame Kochen und der Mitternachtsgottesdienst in einem riesigen Pfadfinderzelt mit Feuer drin und Stroh und so. Nicht zu vergessen war der nächtliche Gang zu einem der engen Dixies (mobile Toilettenhäuschen).

5 Wie geht es weiter???

Wir sind in einen größeren Raum umgezogen - sehr zum Leidwesen von den Jungs, die jetzt auf Kathrin Rücksicht nehmen müssen und nicht mehr so oft mit ihren Kumpels zusammen sein können, weil die anderen Klassen in den ersten Stock zogen, während wir - wegen Kathrin - im Erdgeschoss untergebracht wurden. Aber diese Unstimmigkeiten haben sich relativiert. Ein Junge verließ die Klasse. Auch dies wirkte sich auf das Verhalten der Mitschüler aus.

Nach unseren Herbstferien geht es erst mal auf Klassenfahrt. Wir sind schon gespannt, wie viele Abenteuer wir diesmal zu bestehen haben.

Ansonsten sind wir schon ganz zuversichtlich, dass in zwei Jahren die mittlere Reife geschafft ist.

Abschließend möchte ich sagen, dass es für mich eine sehr schöne Aufgabe ist, mit Kathrin in die Schule zu gehen. Manchmal ist es allerdings etwas anstrengend: Entweder ist sie müde oder ich bin es und dann tun wir uns schon schwer, den Tag rumzukriegen. Aber meistens fangen wir uns.

Na ja, manchmal ärgern wir uns ein bisschen. Aber ich finde das gehört dazu. Aber in Großem und Ganzem passen wir gut zusammen.

Die Schule macht mir auch weiterhin Spaß. Ich denke schon, dass ich die mittlere Reife schaffe. Was ich danach mache - ob Schule oder Ausbildung - na ja, ich weiß es noch nicht so richtig. Es ist ja auch noch ein wenig Zeit.

Autoren

Kathrin Lemler,

Andernacher Straße 27, 56220 Kettig

Steffen Gottlieb,

Lebenshilfe-Koblenz, Ernst-Sachs-Straße 10,

56070 Koblenz

Quelle

Kathrin Lemler/Steffen Gottlieb: Ein wenig Mut gehört dazu... . Wie geht das so: Integration eines nichtsprechenden Kindes in eine Regelschule

Erschienen in: Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 3-00, S.125-130

Hermann Luchterhand Verlag, Neuwied 2000

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 09.03.2006

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