Wirkung und Bedeutung des Bundesverfassungs-gerichtsbeschlusses vom 08. 10. 1997 - 1 BvR 9/97

für Eltern und Elterninitiativen gegen Aussonderung

Themenbereiche: Recht
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 1-98 Gemeinsam leben (1/1998)
Copyright: © Luchterhand 1998

Wirkung und Bedeutung des Bundesverfassungs-gerichtsbeschlusses vom 08. 10. 1997 - 1 BvR 9/97

Rechtskundige werden in dem Beschluß des BVG eine Vielzahl interessanter Ansätze für sublime Diskussionen finden, die der juristischen Theoriebildung nützlich sein werden. Den Betroffenen hat der Beschluß nicht oder nur unzureichend weiterhelfen können, ihr Anliegen auf Eingliederung in die allgemeinen Schulen zu fördern.

Was hatten Eltern, behinderte Schülerinnen und Schüler sowie deren Interessenvertretungen erhofft? Ihre Hoffnung fußte auf den langjährig gefestigten Zielen des Bundessozialhilfegesetzes, das die Eingliederung behinderter Menschen in die Gemeinschaft sicherstellen will und das diesen Anspruch untermauernde Diskriminierungsverbot gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG: "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden."

Seine rechtliche Kommentierung (Herdegen, Sachs) sah in der Überweisung zur Sonderschule eine Benachteiligung, sofern diese gegen den Willen der Betroffenen erfolgte. Die Hoffnung, wie nichtbehinderte Kinder zwischen Beschulungsformen wählen zu können, also zwischen Sonderbeschulung und Integration eine Entscheidung individuell treffen zu können, ist durch das BVG enttäuscht worden.

Was ist die Essenz des Beschlusses? Was läßt hoffen? Worauf kann aufgebaut werden?

Die auf das Leben der Betroffenen wirkende Essenz des Beschlusses ist die faktische Wirkungslosigkeit des Benachteiligungsverbotes. Wie andere Gesetzesnormen auch - insbesondere sei auf § 4 NSchG: Vorrang der Integration verwiesen - verflüchtigt, wenn er konkete Schutzwirkung entfalten soll. Wenn von Benachteiligungsschutz gesprochen wird, wundert es deshalb nicht, wenn Betroffene fragen, wer wen schützt, das BVG schützt zunächst mit konkretesten Angaben über Ablehnungskriterien von Integrationsanträgen jedenfalls nicht die behinderten Schülerinnen und Schüler, sondern eher die Gesellschaft und die Schulbehörden vor den berechtigten Ansprüchen einer Minderheit. Die niederschlagende Wirkung des Beschlusses ist deshalb eher weniger seine restriktive Auslegung des Benachteiligungsverbotes, sondern seine Maßstabslosigkeit bei der Bemessung individueller Eingliederungsansprüche behinderter Kinder und seiner Konkretheit bei der Entwicklung berechtigter Ablehnungskriterien. Fast könnte man darin eine sich tarnende Parteilichkeit erblicken, denn wie soll der Betroffene den Behörden, die ihre Entscheidungen zukünftig gut begründen müssen, nachweisen, daß ihre Ablehnungsgründe unrichtig ermittelt sind. Zu diesen Gründen gehören insbesondere:

  • fehlende organisatorische, finanzielle, sachliche und personelle Mittel

  • pädagogische Gründe in Verbindung mit der Behinderung

  • Eingriff in schutzwürdige Belange Dritter, "denkbare Belastungen für Mitschüler und Lehrpersonal" (S. 29)[1]

Kein Betroffener kann Angaben der Schulbehörden zu organisatorischen, finanziellen und sächlichen Hinderungsgründen kontrollieren. Sie entziehen sich der Überprüfung, schon allein deshalb, da sie öffentlich nicht verfügbar sind.

Was hoffen läßt, ist die eindeutige Aussage des Beschlusses, daß ein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot bei Zuweisung zur Sonderschule dann vorliegt, wenn die Förderung mit den bisherigen Mitteln der allgemeinen Schule möglich ist. Aus niedersächsischer Sicht ist diese Feststellung jedoch keine Weiterentwicklung, da das NSchG eine solche Regelung bereits seit 1993 kennt. Das BVG stellt klar, daß eine Zuweisung zur Sonderschule verfassungswidrig ist, "wenn die Sonderschulüberweisung erfolgt, obgleich der Besuch der allgemeinen Schule durch einen vertretbaren Einsatz von sonderpädagogischer Förderung ermöglicht werden könnte." (S. 28)

Was zudem hoffen läßt, ist die einer Ablehnung notwendig vorausgehende umfangreiche Prüfung des Gesamtsachverhaltes. Diese Prüfung hat auch Überlegungen zu umfassen, ob und wie eventuelle Hindernisse einer integrativen Beschulung beseitigt werden können. Je häufiger solche umfangreichen Prüfungen erfolgen, desto mehr wird die Diskussion um eingliedernde Beschulung versachlicht werden, selbst wenn die Betroffenen und ihre Eltern zuächst einmal hinnehmen müssen, daß sie in der Regel die Berechtigung eventuell vorgetragener Ablehnungsgründe kaum überprüfen können. Dem Beschluß des BVG kann summarisch entnommen werden, daß immer dann ein begründeter Verdacht eines Verstoßes gegen das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 vorliegt, wenn die integrative Beschulung ohne hohen zusätzlichen Aufwand den Bildungsinteressen der betroffenen Schülerinnen und Schüler in der allgemeinen Schule entsprechen kann.

Die Überweisung an die Sonderschule gegen den Willen der Betroffenen oder ihrer Eltern muß nicht gegen Art.  3 Abs. 3 Satz 2 GG verstoßen. Voraussetzung ist jedoch, so die generalisierenden Überlegungen des BVG, daß mit diesem Ausschluß von Entfaltungs- und Bestätigungsmöglichkeiten durch die öffentliche Gewalt eine hinlängliche Kompensierung der Behinderung durch Fördermaßnahmen in der Sonderschule einhergeht. Insoweit wird im konkreten Einzelfall eine Überweisungsverfügung der Schulbehörde gegen den Willen der Betroffenen auf diesen vom BVG geforderten Kompensierungsgehalt der Sonderbeschulung zu überprüfen sein. Würde nämlich die Sonderbeschulung den damit einhergehenden Ausschluß von Entfaltungs- und Bestätigungsmöglichkeiten durch besondere Förderung nicht kompensieren, würde eine Sonderschulzuweisung gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verstoßen. Der Beschluß wird künftig viele Betroffene, aber auch die Schulbehörden und die wissenschaftlich-pädagogisch Tätigen fordern, die Fördermöglichkeiten integrativer Unterrichtung bzw. der Sonderbeschulung zu evaluieren.

Worauf läßt sich aufbauen? Aufbauen läßt sich zunächst auf der Feststellung des BVG, daß eine vergleichsweise nicht unbeachtliche Zahl von Schülern künftig zu integrieren ist, da eine Sonderschulüberweisung gegen ihren Willen verfassungswidrig wäre. Dabei handelt es sich um die Schüler, die durch einen vertretbaren Einsatz von sonderpädagogischer Förderung in allgemeinen Schulen unterrichtet werden können. Darüber hinaus läßt sich aufbauen auf der erhöhten Begründungspflicht, der die Schulbehörden bei Überweisungen in die Sonderschule nachkommen müssen. Indem sie den Integrationswunsch des Einzelnen mit den Chancen eingliedernder und separierender Beschulung sowie ihren schulischen Ressourcen abgleichen müssen, wird der damit einhergehende höhere Informationsstand der Entscheidungsträger vorschnelle Verfügungen verhindern und es den Betroffenen und ihren Eltern ermöglichen, Entscheidungen durch Aufbereitung sachgerechter Argumente in ihrem Sinne zu beeinflussen. Entscheidend für die Beurteilung des einzelnen Integrationsantrages wird es sein, ob eine beabsichtigte Überweisung an die Sonderschule sich auf deren besondere Förderungsmöglichkeiten und -qualitäten, die denen einer integrativen Beschulung überlegen sein müssen, berufen kann (S. 22)

Bezogen auf die künftige Kapazitätenentwicklung eingliedernder Beschulung dürfte die Stellungnahme des BVG von besonderer Relevanz sein, daß der jeweilige Landesgesetzgeber zwar nicht alle Formen integrativer Beschulung bereitzuhalten habe, daß er sich also auf bestimmte integrative Beschulungsformen beschränken kann, sofern er dafür sorgt, daß die verbleibenden Möglichkeiten einer integrativen Erziehung und Unterrichtung den Belangen behinderter Kinder und Jugendlicher ausreichend Rechnung tragen." (S. 27) Wenngleich diese Aussage im Sinne der Quantifizierung des integrativen Angebotes vage bleibt, so ist sie andererseits so konkret, daß sie mit der bisherigen Praxis einseitiger Bevorzugung separierender Beschulungsformen nicht kompatibel ist, am Beispiel von Niedersachsen geradezu überdeutlich wird, daß bei ca. 500-800 Integrationsplätzen und 30 000 Schülerinnen und Schülern in Sonderschulen von einer aureichenden integrativen Beschulung keineswegs gesprochen werden kann. Insoweit beinhaltet der BVG-Beschluß eine konrete Aufforderung zu politischem Handeln, die wiederum die Betroffenen und ihre Vertreter und insbesondere die Interessenverbände herausfordert, mit Akribie und in regelmäßigen Abständen zu überprüfen, ob die Landesregierungen dem Gebot ausreichender Kapazitäten für integrative Beschulung gerecht werden. Sicherlich wäre es auch an der Zeit - zusammen mit den wissenschaftlich tätigen Pädagogen - zu einer stärker typologisierenden Einschätzung der Leistungsfähigkeit integrativer bzw. separierender Beschulung für Unterricht und Bildung zu gelangen. Wenngleich der BVG-Beschluß die Erwartung Betroffener, die sich über viele Jahre, ja Jahrzehnte, für ihr Anliegen einsetzten, enttäuscht, läßt sich aus ihm eine Plattform herausarbeiten und politisch erkämpfen, die zur - wenn auch nur allmählichen und schrittweisen - Stärkung der berechtigten Interessen behinderter Schülerinnen und Schüler führen wird.

Sonderbeschulung und Integration bilden Interessengegensätze, sind aber plurale Beschulungsmöglichkeiten und verhindern Einseitigkeit. In Konkurrenz zueinander schälen sich Vor- und Nachteile heraus, in Konkurrenz werden also mehr Reserven mobilisiert. Es ist dabei normal, daß Budgets begrenzt sind, anders wären sie auch nicht effizient; knappe Mittel lassen Angebote um ihre Gunst streiten. Dieser Wettbewerb ist jedoch nur anzunehmen und vertretbar, wenn beiden Angeboten gleiche Zulassungschancen eröffnet werden. Dazu hat das BVG einen, wenn auch sparsamen Anstoß geliefert.

Annegret und Helmut-Joachim König.

EIFER e. V. - ELTERNINITIATIVE FÜR INTEGRATION UND ZUR FÖRDERUNG

ENTWICKLUNGSVERZÖGERTER KINDER,

Georg-Dehio-Weg 13, 37075 Göttingen Wirkung und Bedeutung des Bundesverfassungsgerichtsbeschlusses vom 08. 10. 1997 - 1 BvR 9/97 - für Eltern und Elterninitiativen gegen Aussonderung

Quelle:

Annegret und Helmut-Joachim König: Wirkung und Bedeutung des Bundesverfassungs-gerichtsbeschlusses vom 08. 10. 1997 - 1 BvR 9/97 - für Eltern und Elterninitiativen gegen Aussonderung

Erschienen in: Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 1-98

Hermann Luchterhand Verlag, Neuwied 1998

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 27.04.2005



[1] Die Angaben in Klammern beziehen sich auf die Seitenzahlen des BVG-Beschlusses.

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