"Pädagogik in der Krise" - oder "das Kind als Person"

Autor:in - Gunter Funke
Themenbereiche: Vorschulischer Bereich
Schlagwörter: Kinder, Identität, Spiel, Krise
Textsorte: Referat
Releaseinfo: Erschienen in: Mit Kindern auf dem Weg II. Referate zu NÖ Kindergartensymposien, NÖ Schriften 103/Dokumentation, Neulengbach, Oktober 1997, ISBN 3-85006-095-0
Copyright: © Gunter Funke 1997

"Pädagogik in der Krise" - oder "das Kind als Person"

Zu dem Thema "Pädagogik in der Krise" bin ich gekommen, weil ich nicht nur im Bereich der Psychotherapie arbeite, sondern auch mit vielen Pädagogen zu tun habe, sei es im Bereich der Lehrerfortbildung oder an der Universität im Bereich der Ausbildung. Nicht zuletzt aber auch über die "Internationale Pädagogische Werktagung, Salzburg". Wenn die Pädagogik in der Krise ist, dann ist sie in Not, und von dieser Not spüre ich viel, sowohl bei Pädagogen als auch bei Schülern. Darum ist das Nachdenken über "Pädagogik in der Krise" nicht nur als ein Nachdenken über ein Sachthema zu verstehen. Es ist ebenso - und vielleicht primär - auch ein Nachdenken über mich selbst, mich in dieser Zeit, über mich in diesem Beruf. Ich meine es ist müßig darauf hinzuweisen, daß nicht nur die Pädagogik in der Krise ist, dies gilt für viele helfende Berufe. Ich möchte mit der Frage beginnen, warum ich meine, daß die Pädagogik in der Krise ist.

Krisen entstehen einmal dadurch, daß etwas verlorengegangen ist, das wesentlich zum Leben dazugehört. So könnte man Krise ganz allgemein definieren. Es ist etwas verlorengegangen, abhanden gekommen, was wesentlich zum Leben und was unbedingt mit dazugehört. Das wäre der erste Punkt.

Zum zweiten entstehen Krisen ja auch dadurch, daß man eine neue Herausforderung spürt, daß ein Überstieg notwendig ist, ein "Sich-Aufmachen" in einen neuen Bereich. In der Existenzanalyse nennen wir dies ein "Sich-Transzendieren" auf etwas Neues, auf etwas anderes, auf etwas Unbekanntes hin. Das kann eine Krise auslösen und - da wird es dann spannend - wenn ich dieses Transzendieren, dieses Übersteigen, dieses Zugehen auf etwas Neues nicht schaffe, dann stecke ich auch in der Krise. Denn: Ich habe eine Möglichkeit, etwas, das für mich möglich war, etwas, das mich gefragt hat, das ich tun sollte, nicht realisiert. Das zeigt: Etwas ist liegen geblieben, ein Unbewältigtes liegt nun da, steht vor mir, obwohl es eigentlich hinter mir liegt, etwas ist ungelebt. Und das ungelebte Leben führt uns langfristig gesehen in die schwerste Krise hinein. Es entsteht dann, wenn ich die neue Herausforderung nicht annehem kann, mit ihr nicht umgehen kann, das, was wir in der Existenzanalyse das existenzielle Vakuum nennen. Es bleibt etwas leer. Und mit diesem Leergefühl lebt es sich nicht gut, eher schlecht: Ja, dieses "Existentielle Vakuum" kann sehr wohl zu psycho-somatischen Krankheiten führen.

Ein dritter Bereich, der in die Krise führt, ist das Phänomen der Überforderung. Herausforderung ist etwas anderes als Überforderung, und es gehört schon mit zur Krisenintervention, wie zur Krisenprophylaxe, daß wir lernen, uns vor Überforderungen zu schützen. Sie können einen kleinen Test machen, durch den sich feststellen läßt, ob man überfordert ist. Nämlich, ob Sie das Gefühl haben, noch genug Zeit zu haben für das, was Ihnen wichtig und wesentlich ist. Haben Sie das Gefühl, die Zeit reicht nicht mehr, dann stünde eine Revision des Lebensalltags an. Denn "Zeit ist das, was uns fehlt, wenn sich zu viel ereignet". Wenn sich zu viel ereignet, zu viel auf uns einströmt, dann geraten wir schnell in die Überforderung und ich stelle fest, daß gerade im Bereich der Pädagogik diese Überforderung da ist. Wenn ich sehe, mit wievielen Erwartungen die Gesellschaft, die Eltern, die Kinder, die Institutionen an die Pädagogik herangehen, dann müßte der Pädagoge multidimensional ausgebildet sein. Man muß Therapeut sein, Familientherapeut, Psychotherapeut, ein bißchen diagnostischer Arzt auch und man soll auch noch Pädagogik betreiben und Kinder auch noch erziehen. Man muß die Eltern ersetzen usw.usw. . Hier ist ein wesentlicher Bereich zu sehen, das die Überforderung in der Pädagogik da ist und diese Überforderung führt auch dazu, daß ich die Dinge, die mir wesentlich sind, nicht mehr in ganzer Hingabe tun kann. Ich kann es nicht ganzheitlich tun und schon entsteht das Gefühl von Sinnlosigkeit, weil ich nicht ganz dabei sein kann.

Wie sieht es nun mit der Pädagogik aus? Ist etwas verloren gegangen? Ich habe eben gesagt, Krisen entstehen dadurch, daß etwas verloren gegangen ist. Und ist das vielleicht die Herausforderung, daß wir das Verlorengegangene wieder entdecken, - und dann können sie jetzt das Entdecken mit Bindestrich schreiben, Entdecken, also etwas sichtbar machen, sodaß wir das Verlorengegangene neu zu entdecken und zu bergen hätten. In einem zweiten Schritt wäre dann das Neuentdeckte gleichzeitig zu integrieren in die heutige Herausforderung und in Lebensbereiche, in denen sich Pädagogik abspielt. Die Pädagogik gestaltet überaus viele Lebensbereiche mit. Also entdecken und integrieren. Es wäre zu wenig, nur etwas zu entdecken und wie ein Museumsstück dann irgendwie auszustellen und zu sagen: wir haben wieder etwas entdeckt. Nein, die Aufgabe besteht dann auch in der Integration. Und das glaube ich, ist die spannende Aufgabe, vor der wir stehen. Was aber - fragen sie mit Recht - was ist verloren gegangen in der Pädagogik? Dazu ein Zitat aus dem Bildungsbericht der Bundesregierung in Deutschland. Professor Zöpfel aus München hat das so formuliert: "Die Erfahrung der Pädagogen in den 70-er Jahren hat klar gemacht, daß trotz Tests, objektiver Lernzielkontrolle, Bemühen um Wissenschaftlichkeit und Effektivität, Operationalisierbarkeit usw. die Gesamtergebnisse kaum verbessert wurden, daß dagegen die Schulunlust wuchs, bis zur gegenwärtigen Verweigerung." Und jetzt kommt ein sehr interessanter Satz von Zöpfel. Er sagt: " Die Schüler erzwingen damit geradezu eine Veränderung in der Einstellung und dem Vorgehen ihrer Lehrer. Was erzwingen die Schüler und wodurch tun sie das, daß sie die Pädagogik letztlich in die Krise geführt haben? Denn das ist das, - sie merken, ich bin jetzt im Schulbereich - was mir immer wieder erzählt wird, daß man mit den Herausforderungen, die da sind, einfach nicht mehr fertig wird, weil die Schüler schlicht nicht mehr mitmachen. Nirgends ist man hilfloser als dort, wo man vor dem Phänomen der Verweigerung steht.

Und eine Kollegin sagte mir ganz erschrocken, - sie ist seit 15 Jahren in der Schule tätig und sie hat zum ersten Mal eine solche Klasse erlebt, die sich so verweigert hat - und sie sagt, sie ist ganz erschrocken gewesen über sich selbst, auf welche rigiden Mittel der Machtausübung sie zurückgegriffen hat in dieser Krisensituation. Und die verweigernden Schüler beobachten natürlich sehr genau: Wie verhält sich der Pädagoge? Und ob ihm wohl was anderes einfällt, als in Krisensituationen mit Macht zu drohen und einen Eintrag in das Klassenbuch zu betreiben. Wenn er das tut, dann hat sich der Lehrer in den Augen der Schüler als hilflos und für das Leben als inkompetent entlarvt, denn er kann mit Krisensituationen nicht adäquat umgehen. Und sie sagen dann: Von so jemanden sollen wir uns noch sagen lassen, wie man ein Gedicht interprätiert. So etwa bringen Schüler die Pädagogik oder die Pädagogen in die Krise.

Verlorene Personalität

Was Zöpfel als verlorengegangen angedeutet hat, kann man in dem einen Begriff zusammenfassen: Wir haben die Personalität verloren. Das was die Person des Lehrers, des Schülers aber auch der Ärzte, der Psychologen und Psychotherapeuten ausmacht. Fragen Sie einmal nach dem Wesen der Person, nach dem Wesen vom Menschsein. Dann beginnt eigentlich das Stottern und dann braucht es Logopädie im existentiellen Sinn und das wäre dann die Logotherapie, die Existenzanalyse als jene Therapie, die die existentielle Sprachlosigkeit zu überwinden hilft, indem sie dem Personsein des Menschen absolute Priorität zukommen läßt. Das wissen Sie auch und es hat sich mittlerweile auch herumgesprochen. In der Existenzanalyse steht die Frage nach der Person im Mittelpunkt, und es ist eigentlich sehr gut nachzuvollziehen und sehr gut nachzuempfinden, was passiert, wenn das Personale verlorengegangen ist. Das Personale ist das - ich möchte es nur kurz skizzieren - was den Menschen unbedingt ausmacht: seine Würde, seine Einmaligkeit und Einzigartigkeit. Die Person ist das Unteilbare, ist das Unableitbare im Menschen schlechthin. Und wenn ich sage, "es ist das Unableitbare", dann stehe ich damit im krassen Gegensatz zu allem kausalen Denken, denn kausales Denken beschreibt das Ableitbare. Das haben wir eben im Vortag sehr deutlich gehört, daß man eine Ursache bennen können möchte, um etwas zu erklären. Wo liegt denn die Ursache ihres Personseins? Haben sie darüber einmal wirklich nachgedacht? Hat die Person überhaupt eine Ursache? Sind die Eltern die Ursache der Person? Bin ich die Synthese von Vater und Mutter? Ich kann das auch nur kurz andeuten und sagen: Die Person ist das Unableitbare schlechthin und deshalb kann man Personsein oder das, was Person ist, auch nicht mit naturwissenschaftlichen Methoden und Mitteln erkennen und durchleuchten. Und damit stehen wir natürlich mitten drin in der Krise! Ich glaube, daß wir eine neue Besinnung brauchen und daß wir für den interdisziplären Dialog nicht nur die Fachrichtungen brauchen, sondern daß es wichtig ist, auch die Wissenschaften miteinzubeziehen, die sich um das Wesen des Menschen nicht im naturwissenschaftlichen, sondern im existentiellen Sinn kümmern.

Also: Das Personale ist das, was uns verlorengegangen ist in vielen Bereichen. Auch in der Architektur. Eine weitere Frage drängt sich auf: Warum ist das Personale verlorengegangen? Wesentlich für den Verlust des Personalen ist das funktionale Denken und Forschen und unser naturwissenschaftliches Vorbringen. Ich habe schon kurz angedeutet, daß das Personsein das Unableitbare, das Wesentliche, das, was mich im Tiefsten ausmacht, nicht mit naturwissenschaftlichen Mitteln zu eruieren ist. Der Mensch - so möchte ich sagen - gehört seinem Wesen nach nicht in das Reich der Naturwissenschaften. Seinem WESEN nach! Daß er seiner Biophysis nach an diesen Bereichen partizipiert, daß er sozusagen in diesen Bereichen lebt, das ist klar. Aber wir sind, um es in einem Bild zu sagen, im Psychophysikum - als Person - immer Ausländer. Daß ist nicht unser ganzes und wesentliche Zuhause, weil die Person sich nie total identifizeren kann mit dem, was sie hat an Psychophysikum. Ich bin immer mehr als das, was sich psychophysisch und auch sozial und biologisch über mich aussagen läßt. Und überlegen Sie einmal, was das auch bedeutet, etwa für behinderte Kinder. Ich halte das für das entscheidende Credo der Existenzanalyse, daß wir sagen, die Person kann nicht erkranken. Erkranken kann der Körper, erkranken kann die Seele, aber die Person?! Und das wäre auch einmal ein Thema für ein Symposion, daüber nachzudenken, zu streiten, ob diese These stimmt. Ich halte daran zunächst einmal fest, daß die Person, das Wesentliche, die Freiheit nicht erkranken kann, daß diese die Würde des Menschen ausmacht. Der Mensch gehört seinem Wesen nach nicht in den Bereich der Zwecke. Es ist doch interessant, daß wir etwa in der Schule oder auch sonst danach fragen, ob eine Schülerin etwa anwesend sei. Die Anwesenheit wird überprüft - "wir überprüfen die Anwesenheit" - und überlegen sie einmal - wie wir dann mit dem Begriff der Anwesenheit umgehen.

Es ist ein wunderbarer Begriff, den kann man sich auf der Zunge zergehen lassen. Und wenn man dann aber Anwesenheit überprüft, indem man eine Liste abhakt, dann verrät man schon diesen Begriff. Man fragt nicht nach der Anwesenheit. Man fragt nicht, "bist du als Mensch da?", sondern "kann ich die Summe der Sitzplätze abhaken?" Das heißt, wir haben auch den Begriff Anwesenheit funktionalisiert. Dafür möchte ich Sie ein bißchen wach machen. Achten Sie einmal darauf, wie in unserer Zeit die existentiellen Begriffe, die personalen Begriffe von der Funktionalität überlagert sind. Und es ist wichtig, die Sprache auf ihr Ursprüngliches nicht ihr Ursächliches, sondern auf ihr Grundsätzliches zurückzuführen und sie werden entdecken, wieviel Weisheit, wieviel Lebendigkeit in der Sprache steckt, die wir verloren haben. Das war übrigens ein großes Anliegen von dem großen Philosophen Martin Heidegger. Er hat ein "System" entworfen, indem Sie nicht einen technischen Begriff finden, um das, was Leben und Existenz ausmacht, zu beschreiben. Das ist großartig, in einer Zeit der aufkommenden Totalität der Technik hat es Heidegger geschafft, auf technische Begriffe zu verzichten - Menschsein, Personsein oder Menschsein als Personsein beginnt ja erst jenseits dessen, das ich nenne, "die Reiche der Zwecke".

Das wäre nun ein zweiter Aspekt, wodurch meiner Meinung nach Personsein verlorengegangen ist. Wir fragen zu sehr nach der Zweckmäßigkeit. Haben wir nicht zu viele Lebensbereiche den Zwecken untergeordnet? Zum Beispiel hat Aristoteles noch davon geträumt, daß das goldene Zeitalter dann beginnt, wenn der Webstuhl von alleine läuft. Und wir haben festgestellt, daß in dem Moment, in dem der Webstuhl von alleine läuft, das goldene Zeitalter eigentlich vorbei war, denn schon war der Mensch diesem Rhythmus untergeordnet. Er selbst hat nicht mehr dem Leben den Rhythmus, den Impuls gegeben, das heißt, ich kann nicht mehr mitbestimmen. Ich kann nicht mehr Einspruch erheben. Einmal eingesperrt in diese Zweckmäßigkeit - und daß eine Maschine läuft, ist sehr zweckmäßig - findet man den Ausweg nicht so einfach. Goethes Zauberlehrling hat zwar mittlerweile ausgelernt, jedoch kann er die beschworenen Geister immer noch nicht bannen. Der "Meister" wäre der, der durch und durch Person geworden ist. Ich bin nicht gegen Zweckmäßigkeit - , nur ist dann Einspruch zu erheben, wenn die Zweckmäßigkeit das Maß wird an dem Menschen sich orientieren sollen. Das hört sich dann so an, daß Eltern fragen: "Welchen Zweck hat es, daß mein Kind Musikunterricht in der Schule macht? Kann es damit im Leben etwas anfangen?" Spüren sie, wie hier schon im Empfinden unseres Lebensgefühls das Zweckmäßige das Bestimmende ist? Hubertus Tellenbach bekannter Psychiater, Daseinsanalytiker aus Deutschland, hat einmal sehr schön unterschieden zwischen dem "Entdecken" und dem "Erfinden". Und er hat gesagt, das Erfinden mehrt das Reich der Zwecke. Wir erfinden noch immer Zweckmäßiges. Und wenn sie sich die Lebenswelt, die alltägliche Lebenswelt anschauen, dann wird es immer noch verbessert, damit es zweckmäßiger ist. Deshalb sprechen wir ja auch von Ausbildung und nicht mehr von Bildung.

Und wir sollten hier an eine gute Tradition Alfred Adlers anknüpfen, der von Heilen und Bilden spricht aber nicht von Heilen und Ausbilden. Ausbilden ist schon die Einführung auf ein bestimmtes Ziel. Und ich habe vorige Woche vor Medizinern noch gesagt: Wir haben viele Ausgebildete, aber wenig Gebildete. Das Entdecken - also nicht Erfinden, das Erfinden mehrt das Reich der Zwecke - das Entdecken hat etwas Zweckfreies. Und für das, was Entdecken meint, steht in der Existenzanalyse der Sinnbegriff. Sinn kann man nicht erfinden, man muß ihn entdecken. Das ist der Unterschied zwischen Sinn und Zweck. Und wenn Frankl herausgearbeitet hat, daß der Mensch nach Sinn fragt, daß er in der Sinnfrage artikuliert, auch in der Sinnfrage das Personsein artikuliert, dann verstehen wir, daß wir diese Sinnfrage nicht in die Zweckfrage umbiegen können. Zweckfrei heißt auch spielen können. Und ich möchte alle dazu ermutigen, daß wir dem Spielen mehr Raum geben. Ich finde es ganz schlimm, wenn man auch noch im Kindergartenbereich die Schule immer mehr in dieses Alter vorzieht. Welche Lobby steht eigentlich dahinter? Es ist nicht die Lobby des Kindes. Das Kind will spielen, spielen, spielen. Es will nicht schon im vierten oder fünften Lebensjahr auf Zwecke hin funktionalisiert werden. Und das ist auch doch das, was in Elterngesprächen Thema ist: "Was kann mein Kind schon alles?" Und dann fragen Sie die Eltern einmal: "Erzähl mir etwas vom Wesen deines Kindes!" Oder ich mache das oft so, daß ich frage - nehmen wir mal den Bereich des Kindergartens: "Erzählen Sie mir einmal von dem Kind, zu dem Sie die beste Beziehung haben, das Sie am liebsten mögen." Und dann hören sie nichts Zweckmäßiges. Dann wird nicht aufgezählt, was das Kind leisten kann, sondern dann beginnt jemand zu beschreiben, das Wesen dieses Kindes. Und das hört sich schon ganz anders an. In diesen Feinheiten kann man das sehr deutlich unterscheiden.

Über das Spielen zur Bildung

Also das Spielen: Ich glaube, daß wir über das Spielen wieder zur Bildung kommen. Daß wir nämlich im Spielen uns bilden können, nämlich im Spielen uns versuchen, im Spielen unser Wesen ins Spiel bringen. Man sagt ja auch, "man muß sich ins Spiel bringen". Und sich ins Leben bringen, heißt sich ins Spiel bringen. Und man sagt auch: "Ich spiel nicht mehr mit!" Überlegen wir auch hier wieder, wie dicht die Sprache am Wesentlichen orientiert ist. Und da beginnt ja die Verweigerung, daß Kinder sagen: Ich spiele nicht mehr mit, ich mach nicht mehr mit! Und sie spielen nicht mehr mit, wenn sie spüren, daß sie als Person nicht mehr angesprochen werden, sondern "ich" in einer Funktion herausgerufen wird. Das heißt, es ist eine Kränkung - und das ist keine narzistische Kränkung, sondern eine menschliche Kränkung - wenn es mehr um Funktion, mehr um Rolle geht, als um mein Personsein. Menschsein heißt deshalb auch: Wahrgenommen werden, erkannt werden in meinem Personsein. Das ist das, was auch die tiefsten Störungen bei Kindern auslöst, wenn sie als Person nicht erkannt worden sind.

Dazu ein Beispiel, das einige von Ihnen sicher kennen. Da haben Eltern ihre Wohnung renoviert und sie müssen, weil das Wochenende kommt, noch schnell etwas erledigen. Sie haben also alles neu tapeziert und lassen die beiden Mädchen, fünf und sechs Jahre alt, für eine kurze Zeit in der Wohnung zurück mit den Farben. Sie wissen jetzt schon was kommt. Wenn man das jetzt aufschlüsselt, wesensmäßig aufschlüsselt, haben die Kinder sicher gesehen, daß die Eltern sich in den letzten Wochen oder Tagen bemüht haben, es schön zu machen und sie konnten in dem Sinne nicht spielend aktiv beteiligt sein. Nun nutzten sie die Chance und als die Eltern nach Hause kommen, stehen zwei strahlende Kinder in der Tür und sagen: "Schaut mal, was wir für euch gemalt haben!" Die frisch tapezierten Wände waren bemalt. Jetzt ist die Pädagogik in der Krise. Das wäre jetzt ein Thema für einen Arbeitskreis: Was hätten sie getan? Wie auf diese Kinder eingehen? Und da trennt es sich jetzt: Ich kann auf diese Kinder reagieren. Aber auf Personen kann man ja eigentlich gar nicht reagieren. Reagieren heißt: die Sache steht im Mittelpunkt und bestimmt, was getan wird. Die Frage ist doch die: Nehme ich die Kinder wahr in dem, was sie gemeint haben? Dann werde ich ihrem Wesen gerecht werden, auch an Umorientierungen der eigenen Vorstellungen und ich glaube, daß es deshalb auch so schwer ist. Und dies wäre ein weiterer Punkt, der den Verlust des Personalen mitbedingt, daß nämlich personale Begegnung das Absehen-Können von den eigenen Vorstellungen permanent fordert. Und eine Vor- stellung ist das, daß ich etwas vor den anderen hinstelle und ihn sozusagen nicht mehr als Mensch, nicht mehr als Person wahrnehme.

Auch etwas ganz Menschliches führt zum Verlust der Personalität im alltäglichen Umfang. Wenn ich es nicht mehr schaffe, den anderen, in dem was er gemeint hat, worum es ihm ging, zu erkennen und zu verstehen. Und gerade Kinder brauchen das Verstehen - das, worauf sie ausgerichtet waren. Eigentlich bräuchten diese beiden Kinder ein sehr langes Gespräch. Ein Gespräch, was deutlich macht:"Wir haben verstanden, worum es euch geht. Und trotzdem müssen wir euch zeigen, daß es mehr braucht, als nur eine gute Absicht." Jetzt könnte man mit den Kindern gute Pädagogik betreiben, auch im Sinne der Fertigkeit. Das heißt, daß sie lernen, ihre gute Absicht adäquat zu realisieren. Verstehen Sie? Hier setzt jetzt das Lernen, hier setzt jetzt auch die Funktionalität ein. Wir können das funktionale Lernen nicht unterminieren, wir können es nicht abschaffen, - das ist ganz wichtig, sonst bewältigen wir das Leben nicht - aber wir können es nur wirklich sinnvoll einsetzten, wenn vorher geborgen worden ist, was wir das Personale nennen. "Wozu wolltest du das tun?" Jeder, der mit diesen guten Absichten, jeder, der Personalität will, der Personalität lebt, der weiß dann, daß es wichtig ist, so etwas wie Kommunikation zu lernen, der weiß, daß es wichtig ist, psychische Dinge zu erkennen, Blockaden abzubauen. Und Kinder sind übrigens hoch motiviert dann, wenn wir sie in ihrem Personsein nicht in Frage stellen. Sie sind wirklich lernfähig, wenn man sie in ihrem Wesen wahrnimmt und annimmt. Das ist die alte schlichte Erfahrung, daß Kinder, die geliebt sind, besser lernen. Lieben heißt, jetzt aber nicht in diesem symbiotischen Verständnis, genau hinschauen: "Was willst du, worum geht es dir?" Und da sind Kinder übrigens den Erwachsenen recht weit voraus, weil Kinder das, was sie wollen, wirklich anmelden. Wenn wir in der Existenzanalyse vom "Willen zum Sein" sprechen, der bei vielen Menschen frustriert ist, und sie ständig sagen: "Ich weiß eigentlich gar nicht, was ich will", dann ist darauf aufmerksam zu machen, daß ein gesundes Kind weiß, was es will. Mit "gesund" meine ich jetzt nicht etwas Funktionales, sondern unter "gesund" verstehe ich hier in einem existentiellen Sinn. Auch das behinderte Kind weiß, was es will, weil es zum Personsein gehört, zu sagen: Ich will.

Nur der Mensch, der sagen kann, "ICH WILL", ist Person. Die ganze Konjunktivstruktur ist meiner Meinung nach eine halbneurotische Struktur, weil sie immer im "Möglichen" immer im "würde", "hätte" u.s.w. agiert. Aber der Konjunktiv ist nicht der Ort der Welterfahrung. Dieses "ICH WILL" ist Zeichen dafür, daß sich das Kind auseinandersetzten will. Das Kind sucht die Auseinandersetztung. Frankl beschreibt Personsein als die Fähigkeit "sich mit welchem Sachverhalt auch immer" auseinandersetzten zu können. Deshalb braucht Personsein eine echte Konfrontation. Das ist ein Bereich, der in weiten Kreisen der Pädagogik verloren gegangen ist. Es ist sicher Rogers großes Verdienst gewesen, das Empathische in seiner Wichtigkeit und Bedeutsamkeit entdeckt zu haben, aber das Personale kann eben nicht nur empathisch herausgefordert werden, sondern es bedarf auch durchaus der Konfrontation. Das Kind braucht jemanden, an dem es sich reiben kann. Martin Buber hat das so formuliert: "Das Ich wird immer erst am Du." Daß ich dem Kind ein Du werde als Pädagoge, als Arzt, als Psychologe, das ist ganz wichtig. Im Grunde gilt das, was ich sage, nicht nur für's Kind, sondern für's Leben überhaupt.

Ich möchte es noch an einem Beispiel deutlich machen, wie Konfrontation aussehen kann, Konfrontation mit den Möglichkeiten des Kindes. Ich muß ihm zeigen, daß in ihm potentielle Möglichkeiten schlummern, die es selbst bergen und realisieren kann. Eine Lehrerin bringt folgendes Gespräch, das sich auf einem Schulhof in der Pause abspielt. Und ich finde es insoferne exemplarisch, weil ich meine, in diesem Sinne könnten sich persönliche Gespräche ereignen. Sie schreibt: "Ich war in der großen Pause und hatte Schulaufsicht auf dem Schulhof und da kommt Sabrina mit ihrer Freundin zu mir. Nach einer Weile erzählt sie mir unvermittelt, daß sie seit einiger Zeit mehrfach den selben Alptraum gehabt hat." Und jetzt einmal dieses Gespräch; wie geht die Pädagogin darauf ein?

Sie fragt: "Inwiefern war das ein Alptraum? Wie kommst du darauf, daß es ein Alptraum ist?" Sabrina: "Ich habe ganz tolle Angst gehabt." "Wovor hattest du Angst?" "Daß ich ersticke, ich kriegte keine Luft mehr. Ich konnte mich nicht bewegen. Ich wollte zu meinen Eltern und konnte das nicht."

Also die Frage: Was hast du erlebt? Magst du mir den Traum einmal erzählen? Und dann erzählt sie: Sabrina befindet sich auf dem Sportplatz. Dort ist ein Mann, der von ihr verlangt, mehrere Male um den Sportplatz zu laufen. Sabrina bekommt Angst und wacht auf, so sagt sie. Immer dann, wenn der Mann auftaucht und sagt: "Du mußt mehrere Male um den Sportplatz laufen", bekommt sie Angst und wacht auf. Frage jetzt: "Wovor hattest du Angst in diesem Traum?" "Ich kriege keine Luft, wenn ich lange laufe. Das kann ich nicht." "Hast du das schon einmal erlebt?" "Ja, das ist ganz schrecklich, ich kriege dann keine Luft mehr, ich kriege Angst, daß ich ersticken muß" "Du willst also nicht um den Sportplatz laufen?" "Nein." "Gibt es etwas anderes, was du da auf dem Sportplatz tätest?" "Ja." "Was ist das?!" Sabrina: "Eine kurze Strecke kann ich gut laufen." "Bekommst du dann keine Atembeschwerden?" "Nein, nur wenn ich lang laufe." "Gibt es noch etwas anderes, was du noch gern tätest dort auf dem Sportplatz?" "Ja, werfen." "Mit welchem Ball? Würdest du gerne mit einem kleinen Schlagball oder mit einem dicken Ball werfen?" "Mit einem dicken Ball." "Gibt es noch etwas, das du auf dem Sportplatz gerne tun würdest?" "Vielleicht springen. Nein, so richtig gerne nicht." "Du willst also auf keinen Fall eine lange Strecke laufen, aber es würde dir Spaß machen, eine kurze Strecke zu laufen oder mit einem dicken Ball zu werfen." "Ja, das stimmt." "Sag mal Sabrina, mußt du eigentlich tun, was der Mann am Sportplatz gesagt hat?" Sie sieht micht erstaunt an. "Muß ich das tun? Was meinst Du? Eigentlich hat der mir ja gar nichts zu sagen." "Sieh dir den Mann noch einmal genau an, hat er dir etwas zu sagen oder nicht?" "Eigentlich hat er mir nichts zu sagen." "Das meine ich auch. Dir hat ja nicht jeder etwas zu sagen. Du sagst, daß du eigentlich nicht mehrmals um den Sportplatz laufen willst. Wie kannst du das fertig kriegen?" "Ich kann einfach weglaufen." "Das wäre eine Möglichkeit. Ginge das auch noch anders zu machen?" "Ich könnte meine Eltern holen." "Könntest du's alleine schaffen?" "Weiß ich nicht." "Ich glaube, daß du's auch alleine schaffen könntest. Hast du eine Idee?" "Nicht so richtig." "Könntest du das dem vielleicht sagen?" "Vielleicht." "Was meinst du, kannst du mit ihm sprechen und sagen, daß du nicht um den Sportplatz laufen willst?" Sabrina überlegt. "Ja, das könnt ich wohl." "Was würdest du dem Mann sagen?" "Ich würde ihm sagen, daß ich nicht mehrmals um den Sportplatz laufen will. Ich will gern eine kurze Strecke laufen und mit dem großen Ball werfen." "Geh doch mal hin zu dem Mann. Schau ihn an und sage ihm, was du eben zu mir gesagt hast, was du willst und was du nicht willst."

Und jetzt macht Sabrina spontan folgendes: Sie legt ihre Hände vor's Gesicht, geht ein paar Schritte zurück, steht eine Weile ganz still, nimmt ihre Hände wieder herunter, atmet tief durch, schaut mich an und sagt: "So, das hab ich ihm nun aber gesagt." Frage: "Wie geht es dir jetzt, wenn du an deinen Traum denkst?" "Gut." "Hast du noch Angst?" "Ne, nicht mehr, kein bißchen mehr." Hier endet die Darstellung.

In der Nachbetreuung hat sich gezeigt, daß in den Wochen danach der Traum nicht wieder aufgetaucht ist. Ich glaube, daß aus diesem Gespräch sehr schön deutlich wird, was es bedeutet, nach den Möglichkeiten zu fragen. Sie merken sofort: Keine Fixierung auf irgendein Problem, keine Festschreibung, einfach einmal ganz schlicht ein Herangehen, ein Heranspüren der Möglichkeiten. "Was möchtest du gerne tun? Was sonst noch?" Andere Möglichkeiten aufmachen können und dann vor allen Dingen die Frage: "Könntest Du's ihm sagen?" oder auch die Frage: "Hat dir eigentlich jeder was zu sagen?" Das ist eine sehr wichtige Frage, das Personale herauszuarbeiten. "Kannst du ihm sagen, was du willst?" Und dann die Konfrontation: "Ich glaube, du kannst es." Und vor allem die Leistung dieser Schülerin. In diesem Gespräch taucht so zwischen den Zeilen auf, was es heißt, personal zu kommunizieren und sich nicht durch irgendwelche Vostellungen oder auch durch irgendwelche Konzepte davon abbringen zu lassen. Ich wollte Ihnen das nur an diesem Beispiel zeigen. Sie können sich vorstellen, daß das ganze Thema Personalität natürlich jetzt nur kurz angedeutet worden ist, aber ich hoffe auch, daß Sie selber spüren, was gemeint ist, und daß Sie vor allen Dingen ihrem eigenen Gespür in diesem Punkt des Personalen wieder mehr Mut entgegenbringen, daß Sie sich selbst vertrauen, weil jeder von uns ja Person ist und weil es um dieses Personale in Pädagogik, Psychologie, Medizin auch in Kinderheilkunde auf jeden Fall geht.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Quelle:

Gunter Funke: Pädagogik in der Krise - oder Das Kind als Person

Erschienen in: Mit Kindern auf dem Weg II. Referate zu NÖ Kindergartensymposien, NÖ Schriften 103/Dokumentation, Neulengbach, Oktober 1997, ISBN 3-85006-095-0

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 05.04.2005

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