Integration als Projekt der Gleichwertigkeit

Autor:in - Josef Fragner
Themenbereiche: Schule
Textsorte: Referat
Releaseinfo: erschienen in: Mit Kindern wachsen. NÖ Montessori-Werkstatt 18.-20. April 1996, Emmersdorf an der Donau, NÖ Schriften 101/Dokumentation, Neulengbach, Dezember 1997, ISBN 3-85006-093-4. Überarbeitete Abschrift der freien Rede.
Copyright: © Josef Fragner 1997

Einleitung

Ich möchte mich herzlichst für die Einladung bedanken und freue mich, daß ich vor Ihnen sprechen darf.

Ich bedaure es aufrichtig, daß ich gestern und vorgestern nicht hier sein konnte, weil ich davon überzeugt bin, daß ich pädagogisch und auch menschlich viele wertvolle Anregungen erhalten hätte.

Dem Befürworter einer integrativen Pädagogik ergeht es wahrscheinlich ähnlich wie beispielsweise denjenigen, die sich für die Prinzipien der Montessori-Pädagogik einsetzen. Zunächst werden sie ausgegrenzt und die pädagogischen Anliegen werden personifiziert. Früher hat es schöne Schachteln gegeben, in denen die jeweiligen Vertreter eingeordnet wurden: Freinet links, Montessori rechts oder auch umgekehrt. Oder: "Die kommt ja im Unterricht nicht zurecht, deshalb..." oder: "Der hat ja ein behindertes Kind". Schon war man lästige Verunsicherungen der eigenen Sichtweise los. Wenn das nicht mehr so leicht geht - man kann gewisse wissenschaftlich belegte oder persönlich erfahrene Vorteile nicht mehr leugnen - versucht man die Sache einzugrenzen. "Ja, bei der Lehrerin...! oder: "Ja, unter diesen Umständen", "aber nicht unter normalen Bedingungen, unter denen ich arbeiten muß".

Wenn auch diese Argumentation immer schwieriger wird - in der Integrationsbewegung war dieser Punkt durch die erfolgreichen Schulversuche und durch die gesetzliche Regelung in der Volksschule erreicht - kommt wahrscheinlich die diffizilste Form der Ablehnung. Man bedient sich des Vokabulars, ohne jedoch seine Einstellung, seine Meinung zu ändern. Man bleibt auf der Ebene der Technik, des Materials, der organisatorischen Bedingungen und fragt nicht nach dem pädagogischen Menschenbild.

Wir erlebten das in der Integrationsbewegung: Die früheren Gegner sprachen plötzlich genauso wie die Befürworter. Jeder meinte aber unter dem Wort "Integration" etwas anderes. Die einen "integrieren (besser müßte man sagen: "trimmen") leistungsschwache und vom Scheitern bedrohte Schüler in die traditionelle Regelschule, ohne an dieser nur annähernd etwas zu ändern. Diejenigen, die trotz Stützlehrer und Förderkurse nicht leistungsnormkonform "gemacht" werden kön- nen und Gescheiterte bleiben müssen, sind eben "integrationsunfähig" und gehen leicht aus dem Blickfeld verloren.

Integration, wie wir es verstehen, fordert eine Richtungsänderung des Denkens. Als pädagogische Idee zielt Integration nicht nur auf organisatorische Maßnamen ab, sondern es geht um die Vision einer humanen Schule, die für alle Kinder integrationsfähig ist und die Gleichwertigkeit und Würde jedes Kindes bei unterschiedlichster Leistungsfähigkeit Realität werden läßt. Wir fragen ausschließlich nach der Integrationsfähigkeit der Schule (nicht der Schüler!). Es gibt nur eine integrationsfähige Schule und Gesellschaft, nicht aber integrationsfähige Schüler!

Ein verbales Bekenntnis zur Integration, das caritativ motiviert ist, hilft wenig weiter, wenn nicht die Bereitschaft dahintersteht, daß wir den Begriff Integration inhaltlich bestimmen. Im Lehnstuhl der "Normalität" sitzend, fasziniert von den Defekten der "Behinderten", gnädig "Förderung" und "Therapie" gewährend, daß sich Behinderte uns anpassen können, das grenzt an Verhöhnung, auch wenn wir das Wort Integration dafür verwenden.

Menschen wie Gegenstände behandeln?

Die Wissenschaft, auch die wissenschaftliche Sonderpädagogik, kann Menschen wie Gegenstände definieren und behandeln und "muß" sie nicht wie Personen achten. So kann auf Grund theoretischer Konstrukte, deren Vorannahmen nicht immer geklärt und bewußt sind, beobachtet, diagnostiziert, festgestellt und gefördert werden, ohne daß die Lebenswelt dieser Personen, ihre eigenen Erlebnisse, Erfahrungen, Wünsche und Ziele gesehen oder respektiert werden, ohne daß sie selbst (mit-)bestimmende Subjekte ihrer Situation werden.

Es ist ein vergeblicher Versuch, den Menschen durch "festgestellte" Fähigkeiten oder Merkmale - seien sie durch noch so verfeinerte diagnostische Methoden erhoben - so zu beschreiben, daß sich daraus künftiges Verhalten vorhersagen läßt. Jeder handelt als Original, situativ abhängig davon, was er gelernt hat, wie er die Situation ein- schätzt, was er von ihr befürchtet, erwartet, erhofft, welche Vorstellung er von sich selbst hat. "Der Mensch wird zu dem Ich, dessen Du man ihm gewährt" (M. Buber).

Ernst Begemann sieht Integration als die Sicherung gleichwertiger Lebensmöglichkeiten für jeden. Diese gleichwertigen Lebensmöglichkeiten können aber nicht durch Maßnahmen am einzelnen "Behinderten" erreicht werden, sondern nur durch Teilnahme am gemeinsamen Leben mit wechselseitigem Lernen. Nur ein Leben mit gegenseitigen Beeinflussungen, mit wechselseitigen Beziehungen, mit gemeinsamen Erfahrungen kann Verstehen und ein Miteinander aufbauen. Ein gleichwertiges Leben für alle sollte individuelle spezifische Lebensformen zulassen und zugleich Orientierungen an gemeinsamen kulturellen Mustern und Werten ermöglichen.

Zu diesem gleichwertigen Leben braucht jede(r)

  • einen persönlichen Lebens-, Gestaltungs- und Rückzugsraum

  • eine Dauerbezugsperson

  • Nachbarn und gute Freunde

  • gesellschaftlich anerkannte Tätigkeiten

  • Unabhängigkeit und Sicherheit

  • Erfahrungen, daß er/sie als Subjekt nicht nur fremdbestimmt ist.

Gleichwertige Lebensmöglichkeiten können wir nur im Miteinander aufbauen, sie bereichern unser Leben meist erheblich. Auf eine häufige Fehlinterpretation sei ausdrücklich hingewiesen: Gleichwertigkeit bedeutet keineswegs Gleichartigkeit. Genau das Gegenteil ist der Fall: Die Anerkennung der Gleichwertigkeit, der Demokratie ist inkompatibel mit "einheitlichen" Lebensformen.

Integration ist also ein großes Projekt der Gleichwertigkeit.

Behinderte Menschen zwingen uns, sofern wir uns in einen Dialog einlassen, zu radikalem Denken. Dagegen wehrt sich aber unser Bewußtsein. Ich benenne einige Strategien, die uns vom Projekt der Gleichwertigkeit wegführen:

Die Gleichwertigkeit gerät in Gefahr durch das Wissen.

Mit Behinderung konfrontiert, versuchen viele mit einordnender Erklärung oder mit Hilfestellung der Behinderung zu begegnen. Das Wissen versucht, Behinderung dadurch zu bewältigen, indem es einordnet, indem das andere, das Neue, Unvertraute an dem Bekannten, an dem, wie es sein soll, gemessen wird. Durch einordnendes Erklären versucht das Wissen, den fordernden Charakter der Situation zu bewältigen, also ihn abzutun. Das Erklären, basierend auf dem Zusammenhang von Ursache und Folge, schafft aber nicht nur Erkenntnis, sondern auch Distanz. Durch die Beschreibung und Erklärung wollen wir eine Lebenswelt retten, die nicht auf den Begriff zu bringen ist. Durch die oft krampfhafte Suche nach Information entsteht nicht selten die paradoxe Situation, daß das gegenseitige Verstehen um so mehr darunter leidet, je mehr wir zu "wissen" glauben. Dies wird besonders bei behinderten Kindern deutlich. Das Kind muß das tun, was "die anderen" meinen, was sie wollen, planen und auch erreichen. Fluchtmöglichkeiten aus der "Wirklichkeit der anderen" gibt es selten.

Pädagogen wie Eltern versuchen ihre Bilder, ihre Vorstellungen und Träume bei behinderten Menschen zu verwirklichen. Dabei gewinnen "therapeutische Ziele", "Förderprogramme und -pläne" oft ein Eigenleben, das mit dem Leben des behinderten Menschen nichts mehr gemein hat. Es artet nicht selten in ein "Bescheid - Wissen" aus. Da ist auf einer Seite der Wissende, der Gebende, der Mächtigere, auf der anderen Seite der Empfangende, der Nehmende. Die Sicherheit, vermeintlich durch das Festhalten am "Bescheid - Wissen" gewonnen, gerät schnell ins Wanken, wenn wir uns auf das "Verstehen" einlassen. Beim Verstehen ist das "Sich-hinein-fühlen" die Richtschnur. Das Verstehen setzt aber einen Prozeß der aktiven Teilnahme voraus.

Uns scheint immer mehr die Fähigkeit verlustig zu gehen, uns auf das Risiko einer belastenden Interaktion einzulassen, aus der Sorge, unsere Gedanken, unsere Gefühle, unsere Wünsche und Träume, auch unsere Erwartungen und Hoffnungen gehen ins Leere, werden disqualifiziert, als wertlos zurückgewiesen. Der Fachmann muß und soll profundes Können und vielfältige Erfahrungen bezüglich der Lebensgestaltung mit einer Behinderung sammeln, doch sind das seine Erfahrungen und nicht die eines behinderten Menschen selbst. Nicht mehr der behinderte Mensch soll Ansatzpunkt des Handelns sein, sondern die "gemeinsame Welt" soll gesucht und erarbeitet werden. Dies setzt oft einen schmerzhaften Prozeß der Selbstveränderung voraus. Verstehen heißt dann nicht einfach, unverständliche Erscheinungs- und Verhaltensweisen von Behinderten in normale Denk- und Handlungsgewohnheiten intellektuell zu übersetzen, verstehen heißt "teilhaftig" werden, sich einnehmen lassen von etwas Unverständlichem, verstehen heißt antworten.

Die Gleichwertigkeit gerät in Gefahr durch die Hilfe.

Wir sind oft in einer paradoxen Hilfesituation: Hilfe neigt sich hinab, um aufzurichten und markiert eben durch diese Bewegung die tiefere Position des Beholfenen.

In unserer Arbeit sind wir geradezu umstellt von guten Absichten. Es kommt aber auf die guten Absichten allein nicht an; sie müssen begleitet sein von dem Vermögen, sie zu realisieren. Das Hegen guter Absichten ist zuwenig. Es kommt auf die Realisierung der hehren Ziele an. Die Hochschätzung der guten Absichten allein genügt keineswegs. Es ist die Frage offen, ob "gute Absichten und Dummheit" oder "schlechte Absichten und Intelligenz" mehr Unheil in die Welt gebracht haben. Denn Leute mit guten Absichten haben gewöhnlich nur geringe Hemmungen, die Realisierung ihrer Ziele in Angriff zu nehmen. Auf diese Weise wird Unvermögen, welches sonst verborgen bliebe, gefährlich, und am Ende steht dann der erstauntverzweifelte Ausruf: "Das haben wir nicht gewollt!"

Gibt es eine Möglichkeit, den anderen gleichwertig zu denken?

Wahrscheinlich können wir den Anspruch des anderen niemals theoretisch begreifend in unser Wissen einholen, nur in der Begegnung mit dem anderen, dem Du, das uns anspricht, anruft und dem wir zu antworten versuchen, erfahren wir unsere Möglichkeiten und Grenzen.

Wir spüren, daß es hier im Anderen um uns selbst geht. Dabei braucht es zunehmend mehr Mut, dieses andere, dieses Fremde wirklich in die eigenen Existenz aufzunehmen. Je größer die eigene Unsicherheit, desto klarer müssen offensichtlich Feindbilder sein. Das Fremde ist jedoch nicht das Gegenteil des Eigenen, sondern die Rückseite. Wir müssen lernen, das, was unser ist, als fremd, und das, was uns fremd war, als unsriges zu betrachten.

Unser Blick kann den anderen vergegenständlichen, seiner Freiheit berauben und der andere kann sich nur so verteidigen, daß mich auch der Andere zu vergegenständlichen trachtet. Ich kann dem anderen aber auch mit einem offenen Blick antworten, ein Blick, der bejaht und der in dieser Offenheit eine gemeinsame Basis sucht.

Ein radikaler Denker, der das alles vereinnahmende Ich in Frage stellt, ist Emmanuel Levinas.

Levinas entfaltet Verständnis vom anderen, indem der ethische Anspruch des anderen Menschen in einer für uns ganz neuen und gründlichen Form thematisiert wird. Für die Pädagogik könnten viele Gedanken Emmanuel Levinas' neue Akzente setzen.

Die Humanität des Menschen besteht darin, daß er "für-den-Anderen" sein kann. In der Verantwortung für den anderen lösen wir uns aus dem Sein. Menschsein vollzieht sich als Transzendieren zum "Jenseits des Seins". Für dieses "Jenseits des Seins", das Levinas auch "das unbegrenzte Land der Güte" nennt, gibt es keinerlei Garantie. Unbestreitbar gibt es nur die Tatsache der unbedingten Verantwortung, die Pflicht, ständig neu auf den Anruf des Antlitzes zu antworten.

Solange ich mich in absehbaren Routineabläufen sozialen Kontakts befinde, nehme ich den anderen Menschen in seiner Andersheit nicht wahr. Erst wenn mein Bewußtsein in seiner Rückläufigkeit und in seinem Selbstbezug in Frage steht, bricht meine Ordnung zusammen. Indem der andere Mensch in meine Welt tritt, ohne meinen Willen und ohne mein Zutun spricht er mich an. Dies ist die ursprüngliche Sprache. Ursprünglich ist nicht das Ansprechen, sondern das Angesprochen-werden. Der andere spricht mich an, ruft mich an, er sieht mich und dieser Blick von ihm genügt, mich aus meiner Welt zu setzen, ich bin außer mir. Durch diesen Anruf oder Anspruch fallen alle Bestimmungsgrößen des Umgangs. Kein Umgehen, kein Herumgehen wie um ein Ding, keine Zurückweisung des Umgangs, nur diese einzige Perspektive ist möglich. Ihm ins Gesicht sehen. Den anderen so anzusehen, bedeutet, nicht mehr selbstverständlich existieren zu können. Von ihm angesehen werden, verunsichert und beunruhigt mich, weil es jenseits empirischer Daten, aber auch jenseits meines Vorwissens über Diagnose, Sprachinventar, Entwicklungsstand ist. Die Einzigkeit des anderen kann durch nichts aufgehoben werden, weder durch Generalisierung, noch durch Universalisierung oder durch Vergleich mit vorher erlebten Situationen. Diese Begegnung stellt meine Ordnung in Frage, die aus Selbstgewißheit, aus meinem Vermögen, meinen Kenntnissen, meinen Bedürfnissen, meinem Besitz besteht. Sie stellt sie in Frage, weil der andere sich schon immer außerhalb dieser Ordnung befindet. Der andere ist außerhalb dieser Selbstbezüglichkeit mit all ihren totalisierenden Aspekten.

In kommunikativer Hinsicht läßt sich die Sache des anderen als Ästhesiologie der Nähe formulieren. Daher geht es darum, wie Nähe sich in Blick, Stimme und Haut organisiert, d.h. Organe schafft und gleichzeitig nicht innerhalb des Schemas intentionaler Akte verordnet werden kann. Levinas geht es um die Nähe des Anderen als ursprüngliche Sprache, Sprache ohne Worte und Sätze, reine Kommunikation. Diese Nähe steht gerade nicht im Modus des Erkennens und damit des Wissens oder der Vorstellung. Dem Anrufen geht kein Verstehen voraus. Verstehen ist demnach nicht notwendige Voraussetzung für die Kommunikation mit dem anderen Menschen. Ja mehr noch: Kommunikation verdankt sich gerade nicht den vorgängigen Ordnungsformen des Verstandes.

Levinas gibt Anlaß den gegenwärtigen Kommunikationsbegriff innerhalb der Pädagogik zu überdenken. Dabei geht es um die Wiedergewinnung des Ethischen der Kommunikation. Das Ethische der Kommunikation ist dimensional. Nähe als Bedingung der Kommunikation meint, daß diese sich in der Sinnlichkeit und durch sie organisiert als Nähe der Stimme, der Berührung und des Blicks. Nähe läßt sich nicht instrumentalisieren, weil sie von vornherein auf jeden universalisierenden Fokus verzichtet. Insofern ist Nähe nicht nur ohne gemeinsames Maß, sondern ist maßlos. Levinas verdanken wir den Versuch einer neuen Wahrnehmung der menschlichen Andersartigkeit. Der andere hat einen Anspruch an mich, der durch nichts verrechenbar ist. Meine Beziehung zum anderen Menschen ist zu keinem Zeitpunkt und unter keiner Bedingung umkehrbar: Die Erfahrung des anderen ist die Erfahrung seiner Unantastbarkeit.

Es gehört zu der schwierigen Würde des Menschen, besonders des Pädagogen, die Unantastbarkeit des anderen Menschen anzunehmen und gemeinsam eine menschenwürdiges Dasein zu gestalten.

Integration ist ein Projekt der Unantastbarkeit.

Wenn wir die Gleichwertigkeit zwischen mir und dem anderen, zwischen Erwachsenen und Kind ernst nehmen, so hat sich Erziehung zu Beziehung weiterzuentwickeln, so wird der pädagogische Dialog letztendlich von Unantastbarkeit gekennzeichnet. Dieses anzuerkennen, zwingt uns liebgewordene Gewohnheiten zu überdenken. Ich möchte einige anführen:

Die von Zygmunt Baumann immer wieder aufgegriffene Metapher der Moderne ist die des Gärtners, der der Natur seine künstliche Ordnung abringt. Ich denke dabei immer wieder an die großen englischen Gärten mit ihren erhabenen Solitärbäumen, dem gleichmäßig kurzgeschnittenen Rasen und dem fließenden Übergang in die "ungepflegte Natur, letzteres die Ungebildete symbolisierend, insgesamt ein Bild der Klassengesellschaft. Die zentralen Ordnungsprinzipien der Moderne sind "Gewißheit", "Eindeutigkeit", "universelle Prinzipien", einige Regeln der Pädagogik spiegeln dies wieder.

Die Regel der Kategorie.

Dies ist der kulturelle, aber auch künstliche Kraftakt, Menschen in homogene Kategorien einzuteilen.

Die Regel der Meßbarkeit.

Die Meßbarkeit durchdringt die schulische Lebenswelt. Zu diesem Zwecke wurde der Mensch und die Lebenswelt parzelliert, Schüler und Gegenstände in Stundentakt gepreßt, mit der Meßlatte der Notenskala "objektiviert".

Peter Hoeg zeigt dies in der ganzen Subtilität auf: "Ausgezeichnet". Das nennt man Lob. Es ist angeblich eine kleine Wohltat. Wenn sie das nächste Mal vorbeikam und direkt hinter einem war, da spürte man die Furcht bei dem, den sie gelobt hatte. Keine große Furcht, es hatte nichts mit körperlicher Strafe zu tun. Sondern eine kleine, feine Furcht, die vielleicht nur dem ganz deutlich werden konnte, der selbst nie besonders gelobt worden war. Die Furcht, nicht ebenso gut zu sein, wie beim letzten Mal, sich nicht auch diesmal verdient zu haben.

Richten und bewerten.

In dem großen Plan war das sehr wichtig. Wenn man lobt, dann richtet man auch. Und dann tut man etwas, das eine tiefe Wirkung hat. "Der Paradigmenwechsel (vom Zeichen zum Bezeichneten, vom Wertzeichen namens Ziffernnote hin zur Wertbeschau, zum Begutachten der "Werkstücke" selbst) wird ein Gutteil der Angst aus der Schule verbannen, die heute unsere Schüler quält." (R.Vierlinger)

Das Prinzip der Freiheit.

Das Prinzip der Freiheit sieht den Lehrer als einsamen, aber um so freieren Reiter durch die schulische Landschaft, auch wenn dies nicht selten einen "Ritter von der traurigen Gestalt"zur Folge hat.

"Ich könnte mir jetzt gar nicht mehr vorstellen, wieder alleine arbeiten zu müssen", so der fast einhellige Tenor von LehrerInnen, die ihre Berufszufriedenheit durch Teamteaching erhöhen.

Die didaktische Allmacht.

Zunächst ist der didaktische "Allmachtsmythos" aufzudecken, daß durch Lehren Lernen gemacht werden kann und daß es von der Differenziertheit und Angemessenheit didaktischer Vorplanung und Durchführung im Klassenraum abhängt, was und wie Schüler lernen. Natürlich ist schulisches Lernen angeleitetes Lernen, doch empirische Ergebnisse berichten, daß der Lernweg des Kindes weder in quantitativer, noch in qualitativer Hinsicht in erster Linie vom Lehrverfahren bestimmt ist. Lernen ist immer persönliche und situative "Eigenwelterweiterung" (Begemann). Deshalb ist der Versuch, "homogene" Schülergruppen zusammenzustellen, immer eine Sisyphusarbeit.

Die Lehrenden müssen einsehen, daß sie nur eine begrenzte Reichweite haben. Lernen hat Selbständigkeit zur Voraussetzung. Problemlösungen sind nicht willkürlich und schon gar nicht von außen herbeizuführen. "Willkürlich und bewußt kann man nachdenken, nachträglich die Erfahrungen reflektieren und vielleicht auch das Ergebnis logisch begründen. Daraus läßt sich keine lehrende Vermittlung von Lösungen, Erkenntnissen, Einsichten ableiten (Begemann 1992, 228 ff). Lernen ist ein beständiger Vorgang, den der Lernende selbst hervorbringt. Lernen ist also nicht allgemein, formal, funktional zu fördern, sondern Lernen vollzieht jeder selbst, je nach seinen Lebenssituationen und subjektiven Erfahrungsbereichen als Eigenwelterweiterung. Der Lehrende soll und kann nur Situationen schaffen, in denen die Aktivitäten der Schüler herausgefordert sind.

Integration ist ein Projekt der Wiederentdeckung "verlorener" Gebiete der Pädagogik.

Die sinnen-entleerte Pädagogik wird nicht selten zur sinnlosen Pädagogik. Die Verbannung der "niederen" Sinne aus der modernen Welt und somit auch aus der Pädagogik erfolgt systematisch. Schaukeln, drehen, balancieren, Freude an der Bewegung sind am Spielplatz gefragt, nicht beim Lernen in der Schule. Die "Wohnstubenatmosphäre" kann man höchstens bei Pestalozzi nachlesen, Wärme und Geborgenheit sind private Angelegenheiten. Das Gehör und vorwiegend das Auge sollen Unbestechlichkeit garantieren.

Wir haben uns, so denke ich, von der Vorstellung zu verabschieden, daß wir durch Wahrnehmung Zugang zu einer objektiven Welt haben. Das Bewußtsein bleibt deshalb so rätselhaft, weil es die Subjektivität, die Einzigartigkeit der Sichtweise jedes einzelnen Menschen ist. Es entsteht durch Beziehungen, durch die dynamische und dennoch gleichbleibende Beziehung von einem einzigartigen persönlichen Standpunkt aus, der während des ganzen bewußten Lebens erhalten bleibt. Alle Empfindungen und alle Erinnerungen sind von Beziehungen geprägt und relativ. Das Gehirn legt Beziehungen fest, und die primäre, ist die eines Gegenstandes zu der Person: der Selbstbezug. Das Gehirn schafft also ein Körperbild, ein Ich, das als Bezugsrahmen dient. Unser Leben ist immer ganzheitlich, also leiblich, und wir leben immer situativ, indem wir unsere Vorerfahrungen in der Gegenwart für unsere Lebensperspektive einbringen. Wir sind darauf angewiesen, daß wir sinnenvoll leben.

Wahrnehmung ist nach James J. Gibson eine Aktion, keine Reaktion, ein Akt der Aufmerksamkeit, kein ausgelöster Eindruck, eine Leistung, kein Reflex, kein "Ratespiel", sondern eine Suche nach Sinn.

Unsere gesamte Erziehung und Bildung ist darauf angelegt, uns ein Mißtrauen gegenüber unseren Sinnen einzuimpfen und ein wenig auf jene herabzuschauen, die ihre subjektiven Erfahrungen mit objektiven Tatsachen verwechseln. Gibson verlangt, daß wir wieder zurück zum Anfang gehen und von der unbestreitbaren Tatsache ausgehen, daß uns, wie jedem anderen Tier auch, unsere Umwelt ein Aktionsfeld bietet, einen "ökologischen Raum", in den wir schauen, lauschen, fühlen und uns bewegen. Doch wodurch wird dieses sinnenvolle Leben zerstört? Ich möchte dies kurz am Beispiel der Zeit, des Raumes und des Auges aufzeigen.

In unserer Lebenswelt wird der menschliche Körper durch die maßlos beschleunigte Zeit ins Hintertreffen versetzt. In unserer Zeit folgen die Ereignisse so schnell aufeinander, daß man ihnen entweder nur wahrnehmungslos folgen oder sie starr vor Schrecken wahrnehmen kann. Viele Menschen geraten durch die Herrschaft der Geschwindigkeit zuerst in Turbulenzen, in Rotation und damit zum "Durchdrehen". Eine Person, die "durchdreht", fällt in der Tat aus dem Lebenszusammenhang und vereinzelt sich in sinn-entleerter Rotation um sich selbst.

Mit der Zeiterfahrung ändert sich auch das Raumerlebnis. Heute wird im Zuge der fortschreitenden Einebnung von Vertrautem und Fremdem das Hier zum Irgendwo. Die Nivellierung von Vertrautem und Fremdem führt gleichzeitig zur Schrumpfung und Zerstückelung des Raumerlebens. Die Horizonte verarmen, weil sie an Bestimmtheit verlieren und schließlich auf alles oder auf nichts verweisen. Wird das Hier zum Irgendwo, so bin ich im Raum verloren.

Dies hat eine Entleiblichung des Subjekts zur Folge oder zur Voraussetzung. Dabei verwandelt sich der Leib in ein pures Körperding, das neben anderen Dingen im Raum vorkommt. Wenn Raumstrukturen ihre Bewohner prägen, so schafft ein Raum ohne Eigenschaften Menschen ohne Eigenschaften und Eigenschaften ohne Menschen.

Es ist in der Entwicklung notwendig, Raum zu gewinnen, sich Raum zu schaffen. Im Erkennen des "ursprünglichen Menschen" gibt es kein Nah und Fern, kein Ich und kein Nicht-Ich, weil der zu dieser Unterscheidung gehörende Raumbegriff noch nicht konstituiert ist. Die einzige Ordnung, die der Mensch herstellen kann, ist die Ordnung seines sensomotorische Handelns. Eine "sensomotorische Kooperation" ist natürlich leibnah, doch die uns vertraute Form der Wahrnehmung, in der uns die Wirklichkeit als die gegebene erscheint, tritt erst da auf, wo sich der sinnliche Aspekt des menschlichen Handelns von der Tat loslöst, wo also eine raum-zeitliche Distanz die Einheit von Sinnlichkeit und Bewegung zerstört. Die Körperwahrnehmung kennt keine universale Gesetzmäßigkeit, die Qualität des Körperlebens ist in hohem Maße abhängig von den Lebensformen der Menschen in ihrer Kultur. Wie aber Menschen ihren Körper erleben, hängt untrennbar damit zusammen, welche Beziehung sie in ihrem Kulturkreis erkennen zwischen Leib und Seele, zwischen hier und dort, zwischen Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit. Einzig Zwischen-Räume mit durchlässigen Grenzen bieten die Chance, daß Menschen stereotype Bilder, die sich im Laufe der Zeit verfestigt haben, auflösen können. Offene Grenzen sind Räume der Preisgabe an den Unterschied, an das Anderssein.

Wir leben in einer "Weltgesellschaft", die überall ist, und in der keiner von uns seinen Ort hat. In diese (unsere) Welt, in der der Raum von der Nachbarschaft aller mit allen Wirklichkeit geworden zu sein scheint, entdeckt man hinter den mächtigen Bildern und Erlebnissen der Fülle und der Omnipräsenz die Obdachlosigkeit des Individuums. Wir leben in einem "planetarischen Einerlei", in dem die Menschen ihren "Ort" verlieren - unbehaust in einem riesigen gesellschaftlichen und technischen Universum, das nur noch "Passagen", aber keine "Heimat" mehr kennt.

"Dennoch gelingt es manchmal, zu ruhen im Augenblick, dann entsteht, gleich wo, ein Raum" (P. Handke). Das Auge sollte das Schwinden der Sinne ausgleichen. Unter der Führung des Auges in Form des kontrollierenden Blickes sollte das moderne Subjekt seine Leidenschaften und Wünsche notfalls bis zum Endsieg über die niederen Sinne in der Gewalt haben. Beabsichtigt war ein störungsfreier Ablauf zwischen Reiz und Reaktion, zwischen Wissen und Verhalten, zwischen Theorie und Praxis. Das Auge wurde abgekoppelt und auf Distanz zum Körper gesetzt, aber zugleich mit Mikroskop, Fernrohr und Fernsehkamera bewaffnet. Doch genau das, was als Stärke der neuzeitlichen Sinnesorganisation angesehen wird, die unbeeinträchtigte Genauigkeit des Sehens, ist längst zur hauptsächlichen Schwäche geworden. Nirgends deutlicher als über die Augen sind die Menschen anfällig für ungeistige, begriffslose Botschaften.

Was in der Nachahmung des barocken Gottesauges zum Triumph eines mächtigen Überblicks über das Gegebene werden sollte, hat sich faktisch zu einem riesigen Desaster entwickelt. Vermutlich liegt eine doppelte Enteignung vor: Nachdem die Augenstärke für größere Aufgaben eingesetzt ist, wird die Augenschwäche nun als Garant für Abhängigkeiten benutzt. Die überbotenen Augen sind nur noch Einfallslöcher für Normalisierungskampagnen. Es gibt noch keinen Widerstand gegen die Botschaft, die das Medium ist.

Eine Gegenstrategie, die verlorengegangene Sinnlichkeit zurückzuholen, möchte ich mit Dieter Fischer die "leibliche Kultur" nennen.

Mit den Fähigkeiten der Sinne bzw. des Leibes und den Möglichkeiten der Sprache bzw. des Denkens schöpft der Mensch all jene Potentiale aus, die ihm eine möglichst ganzheitliche Beziehung zur Welt gestalten lassen. Gleichzeitig sind jene Potentiale auch die Quellen, aus denen heraus der Mensch kulturelle Leistungen erbringt.

Die Fähigkeit des Leibes erlaubt ihm die Ausbildung einer "leiblichen Kultur", die der Sprache und Kommunikation einer "mündlichen Kultur" und jene des Denkens einer "schriftlichen Kultur". Dies führt zu einer Eindimensionalität und Vernachlässigung von "Sinnlichkeit" und "Leiblichkeit". Das Bedürfnis des Menschen nach Sinn bleibt dagegen ungebrochen und doch meist unerfüllt.

Lernen kommt nicht vom Lehren

Die moderne Kognitionswissenschaft (Varela u.a. 1992) hat die Vorstellung aufgegeben, daß Inhalte durch Symbole im Gehirn gespeichert und lokalisiert werden. Statt dessen nimmt man Vernetzung, Selbstorganisation in Situationen und Assoziationen an. Diese Vernetzungen sind aber nicht einfach "Repräsentation einer vorgegebenen Außenwelt". Die physische Struktur der Symbole wird getrennt von dem, wofür sie steht, wird getrennt von ihre Bedeutung. Die Bedeutung hat mit dem globalen Zustand des Systems zu tun und ist nicht in einzelnen Symbolen lokalisierbar. Varela spricht von "Inszenierung" in der Situation im Zusammenhang mit der intendierten Handlung und der Lebenswelt des Handelnden. Das System selektiert oder inszeniert auf der Grundlage seiner Autonomie eine Bedeutungssphäre. Autonome Systeme "stehen in scharfem Kontrast zu jenen, deren Umweltkoppelung durch Input/Output-Relationen geprägt ist". Das bekannteste Beispiel liefert der digitale Computer. Hier legt immer der Planer die Bedeutung eingetasteter Segmente fest. Lebende Systeme fallen jedoch in eine ganz andere Kategorie. Nur unter sehr begrenzten Bedingungen können wir sagen, die Vorgänge in einer Zelle oder in einem Organismus seien durch Input/Output-Relationen definiert. Im allgemeinen wird die Bedeutung dieser oder jener Interaktion eines lebenden Systems jedoch nicht von außen auferlegt, sondern resultiert aus Organisation und Geschichte des Systems selbst.

Valera u.a. fassen Kognition als "verkörpertes Handeln" auf. Mit "verkörpert" meinen sie, daß Kognition von Erfahrungen abhängt, die ein Körper mit verschiedenen sensomotorischen Fähigkeiten ermöglicht. Diese sind in einen umfassenderen biologischen, psychologischen und kulturellen Kontext eingebunden. "Handeln" soll betonen, daß sensorische und motorische Prozesse, Wahrnehmung und Handlung, in der lebendigen Kognition prinzipiell nicht zu trennen sind. Beide gehören nicht nur zusammen, sondern haben sich auch gemeinsam entwickelt.

In einer klassischen Untersuchung zogen Held und Heinz Kätzchen im Dunkeln groß und setzten sie nur unter kontrollierten Bedingungen dem Licht aus. Eine Gruppe von Tieren durfte sich normal bewegen, war aber an ein einfaches Wägelchen mit einem Korb angeschirrt, in dem sich ein Tier der zweiten Gruppe befand. Die Tiere beider Gruppen machten also die gleichen visuellen Erfahrungen, doch die zweiten mußten völlig passiv bleiben. Als man die Tiere nach einigen Wochen freiließ, verhielten sich die Tiere der ersten Gruppe normal, die Tiere jedoch, die nur herumgefahren wurden, wirkten, als seien sie blind: sie stießen dauern an und fielen über Kanten.

Wer einwenden möchte, dieses Experiment betreffe Katzen, habe aber wenig mit der menschlichen Erfahrung zu tun, bedenke ein anderes Beispiel. Bach y Rita hat eine Videokamera für Blinde entworfen, die mehrere Punkte der Haut durch elektrisch aktivierte Vibration stimulieren kann. Mit dieser Technik konnten Bilder der Kamera in Muster der Hautstimulation umgesetzt werden, um den Sehverlust auszugleichen. Dabei haben die projizierten Muster keinen visuellen Gehalt, solange die Personen nicht aktiv sind, indem sie die Kamera per Kopf, Hand oder Körperbewegung ausrichten. Doch bei aktivem Verhalten des Blinden tritt nach mehrstündiger Erfahrung ein erstaunliches Phänomen in Erscheinung: der Blinde deutet die Hautempfindung nicht mehr als körperbezogen, sondern als Bilder in dem Projektionsraum, den er mit dem körperlichen gelenkten Blick der Videokamera erkundet. Um also reale Objekte der Außenwelt erfahren zu können, muß ein Blinder die Kamera aktiv (per Kopf oder Hand) ausrichten.

Kognition als verkörpertes Handeln ist untrennbar mit der Lebensgeschichte verknüpft. Allein diese Erkenntnis müßte den Lehrer und Erzieher demütiger machen. Dann würde er sich wahrscheinlich eher als Lern- und Lebensbegleiter verstehen.

Eine integrierende Schule ist eine moderne Schule.

Eine "moderne Schule" muß jeden Schüler für ein menschlich gleichwertiges, wohlgemerkt nicht gleichartiges, Leben in unserer Demokratie befähigen. Sie muß also aufhören, schwach Begabte zu brandmarken und auszusondern. Jeder sollte in und an der Schule lernen können, wie man heute als einzelner und in gesellschaftlicher Mitverantwortung leben kann. Dazu gehören in einer multikulturellen Gesellschaft angesichts globaler Mitverantwortung auch die Erfahrung und Befähigung, mit Menschen zu leben, die anders sind als man sich selbst versteht und anders gesehen werden von den Gruppen, zu denen man gehört.

Eine "moderne Schule" muß von vornherein "ja" sagen zur großen Spannweite der Begabungen. Es liegen genügend empirische Untersuchungen vor, die belegen, daß heterogene Verbände für die besonders Begabten eine reichere Verlockung zur optimalen Entfaltung darstellen als die homogenen. Die soziale Verantwortung, die dieser Gruppe zukommen wird, kann sie nur durch die Übung des Zusammenlebens mit allen erwerben. Es sind doch pädagogische Scheingefechte, wenn auf die "Verschiedenheit der Köpfe" mit einer traditionellen oder quasi progressiven Sortierprozedur geantwortet wird. Als ob zwei Schultypen bzw. drei Abstufungen der individuellen Vielfalt gerecht werden könnten.

Eine "moderne Schule" muß dem Schwinden des Zusammenhanges in der Schule wirksam entgegentreten. Immer mehr Lehrer und Lehrerinnen, Schüler und Schülerinnen empfinden Schule zunehmend als inhaltslos und sinnentleert. Statt einen neuen Sinnzusammenhang zu stiften, wird ein immer engeres Netz von schulund dienstrechtlichen Bestimmungen über die Schule gezogen, die Bürokratisierung der Schule nimmt ständig zu. Will jedoch Schule ihre umfassende Sinnkrise überwinden, so muß sie sich den veränderten Anforderungen der kindlichen Lebenswelt stellen. Weil für Kinder frühere Sicherheiten und Geborgenheiten in der Familie und im Umfeld verlorengegangen sind, muß die Schule ein Ort größerer Verläßlichkeit werden. Schule muß ein lebendiger Ort sein, der eine Vielzahl kindlicher Lebensäußerungen und Tätigkeiten zuläßt und nicht ein Durchgangsstadium für eine wie auch immer geartete Zukunft ist.

Eine "moderne Schule" muß im Unterricht die gleichgültige Oberfläche der uniformen Lehr- und Lernziele durch die fundamentale Erschließung durchstoßen. Dazu gehört, daß schulisches Lernen für die Schule lebensbedeutsam wird und der Zusammenhang gewahrt bleibt.

Eine "moderne Schule" dient allen Kindern und sollte sinnvollerweise in allen Schultypen praktiziert werden. Daß eine solche Schule bisher am konsequentesten in integrativen Klassen verwirklicht wird, ist vorwiegend dadurch bedingt, daß durch die Hereinnahme behinderter Kinder der Schein gleicher Leistungsfähigkeit aller Kinder durchbrochen wird.

Eine "integrierende Schule" ist keineswegs nur eine Schule für behinderte Kinder, sondern sie bietet auch Antworten auf ungelöste Probleme der bisherigen Schule.

Der Weg zu einer "modernen Schule" ist oft mühsam und herausfordernd, aber spannend und lohnend für alle Beteiligten.

Zur Person:

Dir. Prof. Dr. Josef Fragner

Direktor der Pädagogischen Akademie des Bundes in Linz. Vorsitzender des Vereins "Miteinander" in Linz.

Quelle:

Josef Fragner: Integration als Projekt der Gleichwertigkeit

Erschienen in: Mit Kindern wachsen, NÖ Montessori-Werkstatt 18.-20. April 1996, Emmersdorf an der Donau, NÖ Schriften 101/Dokumentation, Neulengbach, Dezember 1997, ISBN 3-85006-093-4

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Stand: 09.05.2005

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