Thesen zu: "Gemeinsame Erziehung, Bildung und Unterrichtung behinderter und nichtbehinderter Kinder und Jugendlicher in Kindergarten und Schule (Integration)"

Autor:in - Georg Feuser
Themenbereiche: Schule
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: Thesenpapier 1996
Copyright: © Georg Feuser 1996

Thesen zu: "Gemeinsame Erziehung, Bildung und Unterrichtung behinderter und nichtbehinderter Kinder und Jugendlicher in Kindergarten und Schule (Integration)"

1. Integration umschreibt die Idee vom Erhalt bzw. der Wiederherstellung gemeinsamer Lebens- und Lernfelder für behinderte und nichtbehinderte Menschen, um der Erweiterung der Entwicklungsmöglichkeiten aller willen.

2. Integrativer pädagogischer Arbeit geht es (in Anlehnung an E. Séguin, 1812-1880) um

  • die 'Wiederherstellung der Einheit des Menschen in der Menschheit' und

  • die 'Wiederherstellung der Einheit unserer zusammenhanglos gewordenen Mittel und Werkzeuge der Erziehung'. Sie ist Reformpädagogik.

Die Forderung von CONDORCET (1743-1794), Erziehung und Bildung 'so gleich und so allgemein, andererseits aber für jeden individuell so vollständig wie möglich zu gestalten, um niemand höheren Unterricht zu verweigern' (verhandelt in der Nationalversammlung 1789) kann als ein zentraler Ausgangspunkt einer Reformpädagogik gesehen werden, die heute im Sinne der "Integration" fortzusetzen ist. Ihre Ziele lassen sich als Bemühen um »Humanisierung« und »Demokratisierung« des gesamten Erziehungs-, Bildungs- und Unterrichtswesens zusammenfassen.

3. Integration erfordert, daß (Regel-)Kindergärten und (Regel-)Schulen für alle so gestaltet werden, daß jedes Kind/jede/r Schüler/in ohne sozialen Ausschluß und ohne persönliche Etikettierung als "defekt", "abweichend" oder "behindert" seinen/ihren individuellen Voraussetzungen gemäß umfassend gefördert und unterrichtet wird. Sie realisiert die endgültige Absage an eine durch Prozesse der Selektion und Segregation gekennzeichnete pädagogische und therapeutische Praxis dadurch, daß allen von »Behinderung« und/oder »psychischer Krankheit« betroffenen Kindern und Jugendlichen

  • die volle Teilhabe an den gesellschaftlichen Gütern und am sozialen Verkehr garantiert bleibt,

  • sie an den Orten/in den Stadtteilen, an denen sie leben, zusammen mit ihren nicht-behinderten Alterskameraden, Nachbarn und Freunden Kindergarten und Schulen besuchen können (Prinzip der Regionalisierung) und

dort alle speziellen Hilfen, pädagogische und therapeutischen Erfordernisse gewährt bekommen, derer sie für ihre weitere Persönlichkeitsentwicklung bedürfen (Prinzip der Dezentralisierung).

4. "Behinderung" verstehen wir als Ausdruck jener gesellschaftlichen, ökonomischen und sozialen Prozesse, die auf einen Menschen hin zur Wirkung kommen, der durch psycho-soziale und/oder biologisch-organische Beeinträchtigungen gesellschaftlichen Minimalvorstellungen und Erwartungen hinsichtlich seiner individuellen Entwicklung, Leistungsfähigkeit und Verwertbarkeit in Produktions- und Konsumtionsprozessen nicht entspricht. Sie definiert folglich einen sozialen Prozeß und ist in diesem selbst wiederum eine wesentlich Variable. Unter pädagogischen Aspekten kann »Be-Hinderung« als Ausdruck dessen verstanden werden, was ein Mensch mangels angemessener Möglichkeiten und Hilfen und durch vorurteilsbelastete Vorenthaltung an Inhalten und sozialen Bezügen nicht lernen durfte und als Ausdruck unserer Art und Weise, ihn wahrzunehmen mit ihm umzugehen.

5. "Integration" bedeutet pädagogisch (in gleicher Weise für Kindergarten und Schule), daß

  • a l l e Kinder und Schüler (ohne Ausschluß behinderter Kinder und Jugendlicher wegen Art und/oder Schweregrad einer vorliegenden Behinderung)

  • in Kooperation miteinander

  • auf ihrem jeweiligen Entwicklungsniveau

nach Maßgabe ihrer momentanen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskompetenzen

  • an und mit einem »gemeinsamen Gegenstand« (Projekt/Vorhaben/Inhalt/Thema)

  • spielen, lernen und arbeiten.

Integration ist kooperative (-» dialogische, interaktive, kommunikative) Tätigkeit im Kollektiv.

6. Integration begründet eine allgemeine (basale und kindzentrierte) Pädagogik. Sie ist insofern eine

  • basale Pädagogik, als sie Kinder und Jugendliche aller Entwicklungsniveaus, aller Grade der Realitätskontrolle, Wahrnehmungs- Denk- und Handlungskompetenzen ohne sozialen Ausschluß zu lehren und mit ihnen zu lernen vermag, eine

  • kindzentrierte Pädagogik, als sie

  • die Subjekthaftigkeit des Menschen (im Sinne seiner Biographie) und damit die Heterogenität einer jeden menschlichen Gruppierung voraussetzt und

  • die Lehr- und Lernangebote an den Gesetzmäßigkeiten menschlicher Entwicklung orientiert, d.h. unter Berücksichtigung der "aktuellen Zone der Entwicklung" eines Kindes/-Schülers sich mit diesem handelnd in Beziehung setzt und das Lehren und Lernen auf dessen "nächste Zone der Entwicklung" orientiert und eine

  • allgemeine Pädagogik, als sie unter den vorgenannten Bedingungen keinen Menschen von der Aneignung der für alle Menschen in gleicher Weise bedeutenden gesamten gesellschaftlichen Erfahrung ausschließt,

  • was lern- und unterrichtsorganisatorisch bedeutet:

  • »Gewähren« anstatt 'vorenthalten'

  • »Handeln« anstatt 'behandeln' und

  • pädagogisches Handeln »spezialisieren« (-» differenzieren durch entwicklungslogisch-biographisch orientiertes Individualisieren) anstatt Kinder/Schüler 'segregieren';

  • sie kann folglich prinzipiell auf eine Trennung zwischen Regel- und Sonderkindergarten bzw. Sonderschulen und verschiedene Regelschulformen verzichten kann.

7. Integration bedarf zu ihrer Realisierung im Feld der Pädagogik einer Didaktik, die vier Momente im Sinne eines nicht zu unterschreitenden und unveräußerlichen didaktischen Fundamentums ausweist, nämlich

  • eine durch biographisch-entwicklungslogische und -bezogene »Individualisierung« zu realisierende »Innere Differenzierung« (-» sie konstituiert das Humanum einer Pädagogik) und

  • (nach Maßgabe des vorgenannten Humanums) die »Kooperative Tätigkeit« (der Subjekte einer sozialen Gemeinschaft mit dem Ziel der Realisierung der Qualitäten eines Kollektivs) an einem »Gemeinsamen Gegenstand« (-» sie konstituiert das Moment des Demokratischen).

Der »gemeinsame Gegenstand« ist nicht das materiell Faßbare, das letztlich in der Hand der Kinder und Schüler zum Lerngegenstand wird, sondern der zentrale »Prozeß«, der (im Sinne des "Elementaren" und "Fundamentalen" der Klafki'schen Bildungstheorie, sowohl verstanden als Objekt- wie als Subjekt-Kategorien der Welt) hinter den Dingen und beobachtbaren Erscheinungen steht und sie hervorbringt.

8. Integrative Pädagogik ist auf allgemeiner Ebene insofern

  • demokratisch, als alle Kinder/SchülerInnen alles lernen dürfen und insofern

  • human, als dies unter Zurverfügungstellung aller erforderlichen materiellen und personellen Hilfen auf die einem/r jeden Kind/Schüler/in mögliche Art und Weise ohne sozialen Ausschluß erfolgen kann.

Integrative Pädagogik verlangt folglich nicht "individuelle Curricula" (z.B. gesonderte Lehrpläne für verschieden behinderte und nichtbehinderte Schüler), sondern »individualisierte« und das Lernen in Projekten (Vorhaben) und in Formen projektorientierten, offenen, zieldifferenten Unterrichts (am »gemeinsamen Gegenstand«). Nur ein solcher Unterricht ermöglicht, daß

  • sich jedes Kind wahrnehmend und handelnd in das Geschehen einbringen kann,

  • das Tun des einen, das des anderen beeinflußt und mit bedingt, wodurch jedes/r Kind/Schüler für jedes/n andere/n Bedeutung gewinnen kann und

  • sich alle Kinder/Schüler subjektiv als kompetent und wichtig für die Gemeinschaft erfahren können,

  • d.h. eine Identität mit dem anderen aufzubauen, am DU zum ICH zu werden.

9. Integrative Erziehungs- und Unterrichtspraxis erfordert organisatorisch

  • das Prinzip der Regionalisierung: Den wohnort/stadtteilbezogenen, im unmittelbaren Lebensumfeld aller Kinder und Jugendlichen möglichen Besuch von Kindergarten und Schule,

  • das Prinzip der Dezentralisierung: Die materiellen und personellen Hilfen sind am Ort des Lebens und Lernens und dort nicht isoliert z.B. in Therapieräumen, sondern eingebettet in das Gruppen-/Klassengeschehen zu gewähren,

  • das Prinzip des Kompetenztransfers: Im Zusammenhang mit der unverzichtbaren Team-Arbeit aller pädagogischen, therapeutischen und mitarbeitenden Fachkräfte (z.B. per-sönliche Assistenzen) unterschiedlichster Ausgangsberufe und Berufserfahrungen bzw. dem Team-Teaching von Regel- und Sonderschullehrer/in geht es (im Rahmen der Vorbereitung, Durchführung und Auswertung der gemeinsamen Arbeit und im Interesse deren Optimierung und hochgradigen Abstimmung) um den Austausch über und um die wechselseitige Aneignung von Kompetenzen der Kolleginnen und Kollegen - und

  • das Prinzip der integrierten Therapie: Therapeutisch einzulösende Bedarfe der Kinder und Schüler sind schon bei der gemeinsamen Planung der Vorhaben so zu berücksichtigen, daß sie direkt im Gruppen- und Unterrichtsgeschehen zum Tragen kommen und von den Kindern und Schülern als Hilfen bei Tätigkeiten erfahren werden können, für die sie in der kooperativen Tätigkeit motiviert sind. Darüber hinaus können sie für alle Kinder und Schüler präventive Qualitäten gewinnen.

10. Pädagogik und Therapie erkennen im integrativen pädagogischen Arbeitszusammenhang die als "pathologisch" erscheinende Tätigkeitsstruktur eines Menschen, gegen die immer antherapiert wurde, als entwicklungslogisches Produkt, als eine unter den gegebenen Bedingungen seiner Biographie optimal herausgearbeitete Aneignungsstrategie und Handlungskompetenz. Ausgehend von dieser geht es darum, neue Tätigkeitsstrukturen zu entfalten und eine Verbesserung der Realitätskontrolle anzustreben, d.h. auf Erweiterung und Stabilisierung der Autonomie und Identität des Betroffenen auf dem ihm nächst erreichbaren Entwicklungsniveau hinzuarbeiten.

Das "Besondere" der Pädagogik, derer wir für Integration bedürfen, liegt nicht in der "Besonderung" der Kinder und Schüler, sondern im "allgemeinen" der Grundlagen menschlicher Entwicklung und menschlichen Lernens, im "allgemeinen" einer basalen, subjektorientierten Pädagogik. Dieses "Allgemeine" herauszuarbeiten, ist das Spezielle unserer Arbeit; es in der "Besonderung" (der Kinder und Schüler) zu suchen, ist ein Irrweg!

Einen Weg ohne Integration zur Integration wird es nicht geben (das beweisen die Geschichte der Pädagogik und der Heil- und Sonderpädagogik in gleicher Weise); er bedeutet immer Selektion und Segregation. Das gilt auch für die als Integration beschriebenen und praktizierten Modelle: für das "Koop-Modell" und das Modell "Förderzentren" mit Schülern. Integration ist Ziel und Weg zugleich!

Literaturhinweise

FEUSER, G.: Gemeinsame Erziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder im Kindertagesheim - Ein Zwischenbericht. Bremen: Selbstverlag Diak. Werk e.V. [Slevogtstr. 52, 28209 Bremen] 1987 (3. Aufl.; 1. Aufl. 1984)

Gemeinsame Erziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder (Integration) als Regelfall?! In: Behindertenpädagogik 24(1985)4, 354-391

Unverzichtbare Grundlagen und Formen der gemeinsamen Erziehung und Bildung behinderter und nichtbehinderter Kinder in Kindergarten und Schule. In: Behindertenpädagogik 25(1986)2, 122-138

Allgemeine integrative Pädagogik und entwicklungslogische Didaktik. In: Behindertenpädagogik 28(1989)1, 4-48

Grundlagen einer integrativen Pädagogik im Kindergarten- und Vorschulalter. In: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft 13(1990)1, 5-26

Integration in der Sekundarstufe. In: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft 14(1991) 5, 23-39

Möglichkeit und Notwendigkeit der Integration autistischer Menschen. In: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft 15(1992)1, 5-18

Grundlagen und Voraussetzungen für integrativen Unterricht in der Schule der 10- bis 15jährigen. In: Hug, R (Hrsg.): Integration in der Schule der 10- bis 14jährigen. Innsbruck: Österreichischer Studienverlag 1994, 125-162

Vom Weltbild zum Menschenbild. Aspekte eines neuen Verständnisses von Behinderung und einer Ethik wider die "Neue Euthanasie". In: Merz, H.-P. und Frei, E.X. (Hrsg.): Behinderung - verhindertes Menschenbild?. Luzern: Edition SZH 1994, 93-174

Behinderte Kinder und Jugendliche. - Zwischen Integration und Aussonderung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995

Gemeinsames Lernen am gemeinsamen Gegenstand. Didaktisches Fundamentum einer Allgemeinen (integrativen) Pädagogik. In: Hildeschmidt, Anne u. Schnell, Irmtraud (Hrsg.): Integrationspädagogik. Auf dem Weg zu einer Schule für alle. Weinheim/München 1998, 19-35

FEUSER, G. u. MEYER, Heike: Integrativer Unterricht in der Grundschule - Ein Zwischenbericht. Solms-Oberbiel: Jarick Oberbiel Verlag 1987

Quelle:

Georg Feuser: Thesen zu: "Gemeinsame Erziehung, Bildung und Unterrichtung behinderter und nichtbehinderter Kinder und Jugendlicher in Kindergarten und Schule (Integration)"

Thesenpapier 1996

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 03.10.2005

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