„Der unhaltbare Zustand währte schon zu lange“

Über die Tiroler Anfänge, geistig behinderten Menschen ein Leben außerhalb der Anstalt zu ermöglichen

Textsorte: Artikel
Releaseinfo: erschienen in: E. Dietrich Daum, H.J.W. Kuprian, S. Clementi, M. Heidegger, M. Ralser (Hg.): Psychiatrische Landschaften. Die Psychiatrie und ihre Patientinnen und Patienten im historischen Raum Tirol seit 1830. innsbruck university press 2011, S. 219-225.
Copyright: © Dietrich Daum et al. 2011

Abbildungsverzeichnis

    Anmerkung zum Titel

    Die Tiroler Anfänge der Ausgliederung geistig behinderter Menschen aus der Psychiatrie Hall i.T. sind nachzulesen in: Verein zur Integration geistig behinderter Menschen, Koordinationsstelle 1992–1995, Hall 1995. http://bidok.uibk.ac.at/library/igb-dokumentation.html.

    Psychiatriereform von oben – ein Gesetz und seine Folgen

    1991 trat österreichweit das Unterbringungsgesetz (UbG) in Kraft, mit dem u.a. die PatientInnenanwaltschaft installiert wurde. Sie stellte fest, dass im Psychiatrischen Krankenhaus Hall 130 Menschen mit der Diagnose „geistige Behinderung“ in den geschlossenen Abteilungen verwahrt wurden. Wie aus dem Gesetzestext hervorging, entbehrte dieses Einsperren nämlich jeder Rechtsgrundlage. Dieser Sachverhalt wurde vor Ort aufgezeigt, stieß aber auf großen Widerstand. Es gab verschiedenste Versuche, den Status quo mit Scheinveränderungen aufrecht zu erhalten. Überzeugt, dass diesen eingesperrten Personen andere Lebensbedingungen zustehen, wurden alle Rechtsinstanzen ausgeschöpft. Die Rechtsprechung beurteilte die Unterbringung in den geschlossenen Stationen als nicht rechtmäßig. Es entstand in der Folge großer Druck auf die Psychiatrie.

    Druck von unten – Öffentlichkeit und ihre Wirkung

    Für die PatientInnenanwaltschaft war das Öffentlichmachen der Missstände der nächste notwendige Schritt. Pressekonferenzen wurden abgehalten und VertreterInnen der verschiedenen Behinderteneinrichtungen eingeladen, sich vor Ort einen persönlichen Eindruck zu verschaffen. Es herrschte tiefe Betroffenheit. Um akzeptable Lösungen erarbeiten zu können, wurde ein Arbeitskreis UbG eingerichtet, an dem ExpertInnen zu Integrationsfragen, VertreterInnen namhafter Behinderteneinrichtungen sowie VertreterInnen der Psychiatrie teilnahmen. Es wurde eine gemeinsame Stellungnahme mit der Forderung nach Wohnformen unabhängig und außerhalb von der Psychiatrie formuliert. Die Aussendung an alle politischen Parteien, Mandatare und Medien erfuhr ein breites Echo. Der sozialdemokratische Landesrat für Soziales, Walter Hengl (Landesrat 1991–1994), sagte zu, konkrete Schritte einzuleiten, wenn er detaillierte Vorschläge zur Umsetzung erhalte. Die im Arbeitskreis versammelten Einrichtungen erklärten sich bereit, die zusätzlichen Wohn- und Betreuungsangebote aufzubauen, wenn die vielschichtigen Vorbereitungsarbeiten wie Wohnungssuche, Sensibilisierung der Gemeinden und Ähnliches unterstützend geleistet würden. Das Land Tirol wollte dafür allerdings keine landeseigene Stelle einrichten.

    Der Widerstand organisiert sich

    Von seinen Anliegen überzeugt, gründete der Arbeitskreis den „Verein zur Integration geistig behinderter Menschen – IGB“, um als Rechtsträger Personen anstellen zu können, die für die Ausgliederung der betroffenen Personen aus der Psychiatrie und für deren Reintegration zuständig waren. Die Mitglieder des Vereins IGB kamen aus dem Arbeitskreis UbG. Das waren der „Verein für Sachwalterschaft und PatientInnenanwaltschaft“, die „Lebenshilfe Tirol“, der Tiroler Verein „Integriertes Wohnen“ (IWO), VertreterInnen des später gegründeten Vereins „Tiroler Arbeitskreis für integrative Erziehung – TAFIE Innsbruck-Land“, die „Caritas Tirol“, die „Arche Tirol“, die „Sozialberatung des Landes Tirol“ und Privatpersonen wie Volker Schönwiese, Professor für Integrationspädagogik an der Universität Innsbruck, oder Max Profanter, Oberarzt in der Psychiatrie Hall. Nachdem Landesrat Walter Hengl die Finanzierung zugesichert hatte, wurde die Koordinationsstelle im August 1992 eröffnet.

    Ein Leben außerhalb der Psychiatrie als Ziel

    Gleich zu Beginn erstellte die Koordinationsstelle des Vereins IGB ein Konzept,[1] das einerseits als Richtlinie für die konkrete Umsetzung der Ausgliederung der Männer und Frauen mit geistiger Behinderung aus der Psychiatrie Hall diente und andererseits den beteiligten Trägereinrichtungen eine inhaltliche Orientierung zur Erstellung ihrer eigenen Betreuungskonzepte gab. Ausgangspunkt waren barrierefreie, dezentrale Wohneinheiten für maximal vier bis fünf Personen. Die betroffenen Menschen mit Behinderung sollten nach Möglichkeit in der Nähe ihrer Heimatgemeinden untergebracht werden. Auf der Basis des Normalisierungsprinzips wurden Mindeststandards für die Betreuung der Frauen und Männer außerhalb der Psychiatrie formuliert: Sie setzten einen respektvollen und altersgerechten Umgang mit den BewohnerInnen, die gleichberechtigte Teilhabe an allen Lebensbereichen sowie das Recht auf maximale Mitbestimmung bei der eigenen Lebensgestaltung voraus.

    Abbildung 1. Abb. 69: Graffiti in einer ehemaligen geschlossenen Station des Landeskrankenhauses Hall (ohne Datum)

    Abb. 69: Graffiti in einer ehemaligen geschlossenen Station des Landeskrankenhauses Hall (ohne Datum)

    Unter Achtung der individuellen Bedürfnisse wurde dabei ein besonderes Augenmerk auf einen normalisierten Tages- und Jahresrhythmus, auf die Trennung der Bereiche Wohnen, Arbeit und Freizeit, auf angemessene soziale Kontakte, auf Begegnungsmöglichkeiten zwischen den Geschlechtern sowie auf größtmögliche Selbständigkeit gelegt. Ihre eigenen Aufgaben sah die Koordinationsstelle in der Sensibilisierung der Öffentlichkeit, in der Beschaffung von geeignetem Wohnraum, in der Begleitung laufender Projekte, in der Suche nach Trägerschaften, in Verhandlungen mit den politischen EntscheidungsträgerInnen bezüglich der Finanzierung der Ausgliederung und in der Vernetzungsarbeit mit den beteiligten Behinderteneinrichtungen.



    [1] Das Konzept der Koordinationsstelle findet sich in: Verein zur Integration geistig behinderter Menschen, Koordinationsstelle 1992–1995, Hall 1995. http://bidok.uibk.ac.at/library/igb-konzept.html

    Verschiedene Interessen – ein Weg

    Zogen noch alle im Arbeitskreis vertretenen Einrichtungen und Personen weitestgehend an einem Strang, wenn es um das Ziel ging, den untragbaren Zustand ausschließender Verwahrung zu beenden, so zeichneten sich bald unterschiedliche Zugänge und divergierende Konzepte ab: Während es das Anliegen der Behinderteneinrichtungen war, ein dezentrales Netz kleiner Betreuungseinheiten zu schaffen, strebten die „Tiroler Landeskrankenanstalten“ (TILAK) und einige psychiatrisch tätige Personen die Schaffung einer großen stationären Einrichtung innerhalb des Areals der Landespsychiatrie an. Setzten manche auf eine möglichst rasche Umsetzung des Ziels, ein normalisiertes Leben unter normalen Lebensverhältnissen zu erlernen, so vertraten andere den Standpunkt, für eine Ausgliederung sei eine möglichst lange und intensive Vorbereitung innerhalb der Psychiatrie notwendig. Die Koordinationsstelle versuchte, diese und andere – zum Teil stark divergierende – Zugänge mit den konzeptuellen Vorstellungen des Vereins IGB zu vereinen, zwischen den Einrichtungen zu vermitteln bzw. die unterschiedlichen Ansätze miteinander zu vernetzen.

    Politischer (Un-)Wille

    Mit der Aufdeckung und Veröffentlichung der unhaltbaren Zustände durch die PatientInnenanwaltschaft kam nicht nur die Psychiatrie und das zuständige Bezirksgericht Hall unter Zugzwang, sondern es gelang auch, auf die politische Verantwortung des Landes Tirol aufmerksam zu machen. Mit Landesrat Hengl, der die Ressorts Gesundheit und Soziales in einem leitete und damit für alle anfallenden Belange zuständig war, fand sich ein engagierter und für Veränderung offener Politiker. Er setzte die Finanzierung der Koordinationsstelle durch, die er als „Pilotprojekt“ für einen Zeitraum von fünf Jahren vorsah und bekundete den Willen, die Ausgliederung geistig behinderter Menschen aus der Psychiatrie mitzutragen. Unabhängig von dieser politischen Willensbekundung erwies sich die reale Unterstützung von Seiten der zuständigen Behörde als intransparent, bürokratisch kompliziert und willkürlich. Da kein für alle gültiger Finanzrahmen vereinbart worden war, musste jedes Projekt für sich mit dem Land Vereinbarungen treffen. Dabei stellte sich heraus, dass mit zweierlei Maß gemessen wurde. Die etablierten Träger der Behindertenarbeit, vor allem die „Lebenshilfe Tirol“, konnten wesentlich bessere Konditionen aushandeln als die „kleinen“ Einrichtungen, wie etwa der Verein „TAFIE Innsbruck-Land“. Diese Ungleichbehandlung wurde erst im Laufe der Zeit erkannt. Die Vielfalt der Einrichtungen war Landesrat Hengl ein wichtiges Anliegen. Er intervenierte in seiner Abteilung, um die Hindernisse für die kleinen Einrichtungen zu beseitigen. Im Frühjahr 1994 trat Hengl in Folge der Niederlage der SPÖ bei der Landtagswahl zurück und übergab das Amt an seinen Nachfolger Herbert Prock. Damit verlor der Verein IGB eine wesentliche Stütze auf politischer Ebene. Prock war von Anfang an nicht an Inhalten und Qualitätsstandards interessiert, sondern wollte die Ausgliederung möglichst rasch beenden. Er forderte die Koordinationsstelle auf, mit allen bisher beteiligten Trägereinrichtungen einen Angebotskatalog für die weitere Ausgliederung vorzulegen. Die Einrichtungen der Behindertenarbeit erstellten ein Angebot, mit dem alle betroffenen Personen in kleine, dezentrale Wohneinheiten außerhalb der Psychiatrie ziehen hätten können. Trotzdem erhielt das „Heilpädagogische Zentrum“ als stationäre Einrichtung innerhalb der Psychiatriemauern von Landesrat Prock den Auftrag, für mehr als die Hälfte der betroffenen Personen Wohnplätze zu errichten. Er stellte die Finanzierung des Vereins IGB ein und beendete damit das von seinem Vorgänger auf fünf Jahre angelegte Ausgliederungsprojekt vorzeitig. Die Koordinationsstelle des Vereins IGB musste mit Dezember 1995 aufgelöst werden.

    Trotz alledem – es hat sich gelohnt

    In unmittelbarer Folge des Wirkens des Vereins IGB und der Koordinationsstelle entstanden nicht nur zusätzliche Wohn- und Betreuungsangebote in den bereits bestehenden Einrichtungen der Behindertenhilfe, sondern es wurde auch eine neue Trägerorganisation zum Zweck der Ausgliederung geschaffen. Engagierte Personen aus dem Umfeld des Arbeitskreises UbG und des Instituts für Erziehungswissenschaften an der Universität Innsbruck gründeten den Verein „TAFIE Innsbruck-Land“, der die erste Wohngemeinschaft für acht Menschen aus der Psychiatrie Hall realisierte und damit Pionierarbeit bei der Ausgliederung leistete. Zu dieser ersten Wohngemeinschaft in Wattens kam später eine zweite in Vomp dazu. Heute betreibt der Verein „TAFIE Innsbruck-Land“ neben den Wohngemeinschaften tagesstrukturierende Angebote, eine integrative Ateliergemeinschaft, ein Projekt zur beruflichen Integration von Jugendlichen und engagiert sich im Bereich der integrativen Erwachsenenbildung und in der Selbstvertretung. Die „Caritas Tirol“ schuf für acht Frauen und Männer eine eigene Wohngemeinschaft in Zams, und die „Lebenshilfe Tirol“ übernahm mehr als 30 Personen in Wohngemeinschaften in den Bezirken Kufstein, Kitzbühel, Lienz, Reutte und Innsbruck. Der Tiroler Verein „Integriertes Wohnen“ und die „Arche Tirol“ übernahmen einzelne Personen in ihre Wohngemeinschaften sowie in ambulante Einzelbegleitung. Die Menschen, die vorerst im „Heilpädagogischen Zentrum“ der Psychiatrie verblieben sind, wurden später vom Verein „W.I.R.“ (Wohn- und Beschäftigungsangebote für Menschen mit Behinderung) übernommen und leben heute in dezentralen Wohneinheiten mit begleitenden Tagesstrukturen.

    Resümee nach 15 Jahren

    Die Ideen des Vereins IGB boten den bestehenden Einrichtungen der Behindertenarbeit Denkanstöße, um die eigenen Betreuungskonzepte weiter zu entwickeln und ihre Angebote auf kleine Wohneinheiten und normalisierte Standards zu überprüfen. Sie zwangen die Psychiatrie Hall, die Verwahrung von Menschen mit geistiger Behinderung zu beenden und einzugestehen, dass dieser Personenkreis in einer Psychiatrie niemals ihren Rechten und Bedürfnissen entsprechend betreut werden kann. Die Konzepte des Vereins IGB haben sich über die Jahre bewährt und dienten als Modell für vielfältige Wohn- und Lebensformen. Damit wurden bereits vor über 15 Jahren Ideen realisiert, die mittlerweile als Standard und Konsens in der Integrationsarbeit gelten und die sich beispielsweise in der UN-Konvention für die Rechte behinderter Menschen wiederfinden: im Recht auf Assistenz zur individuellen Gestaltung des eigenen Lebens.

    Quelle

    Helmut Dietl / Marina Descovich / Evelina Haspinger: „Der unhaltbare Zustand währte schon zu lange“. Über die Tiroler Anfänge, geistig behinderten Menschen ein Leben außerhalb der Anstalt zu ermöglichen. erschienen in: E. Dietrich Daum, H.J.W. Kuprian, S. Clementi, M. Heidegger, M. Ralser (Hg.): Psychiatrische Landschaften. Die Psychiatrie und ihre Patientinnen und Patienten im historischen Raum Tirol seit 1830. innsbruck university press 2011, S. 219-225.

    bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

    Stand: 04.03.2015

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