Von der Ausgrenzung zur Inklusion - Wer oder was ist normal im Bildungswesen?

Themenbereiche: Schule
Textsorte: Vortrag
Releaseinfo: Vortrag auf der Tagung der Evangelischen Akademie Hofgeismar zum Thema "Ist das denn normal?" Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen. Bad Orb 18.-20.1.2008
Copyright: © Helga Deppe-Wolfinger 2008

Von der Ausgrenzung zur Inklusion

Normal im deutschen Bildungswesen ist es, Kinder und Jugendliche im Verlauf ihrer Bildungsbiographie immer wieder neu zu sortieren und auszulesen. Nirgendwo sonst gibt es ein so ausgeklügeltes System institutioneller Ausgrenzung mit Folgen für das Bewusstsein und pädagogische Handeln von Lehrerinnen und Lehrern wie in Deutschlands Schulen.

Institutionelle Ausgrenzung

Institutionell ausgegrenzt wird in verschiedene Schulformen und innerhalb der Schulformen durch Ziffernnoten, Sitzenbleiben, Überweisung in niedrigere Schulformen und Ausschulung. Die Grundschule als gemeinsame Schule für fast alle Kinder endet in den meisten Bundesländern nach vier Jahren - so früh, wie in kaum einem anderen europäischen Land. Danach folgt ein fünfgliedriges Schulsystem: Neben dem Gymnasium gibt es die Realschule, die Hauptschule, die Förderschule (ehemals Sonderschule) und - als fünfte Säule - die Gesamtschule. Keine dieser Schulformen garantiert optimale Leistungen ihrer Schülerinnen und Schüler. Selbst im Gymnasium gibt es keine ausgewiesene Leistungsspitze, die mit anderen Ländern vergleichbar wäre, wie uns die Internationalen Schulleistungsstudien, vorab PISA, vor Augen geführt haben. Die Absteigerquoten von einer Schulform zur anderen überwiegen die Aufsteigerquoten bei weitem. Angesichts der hohen Absteigerquoten von einer Schulform in die andere spricht die PISA-E-Studie von "strukturbedingten Demütigungen" (Deutsches PISA-Konsortium 2002, 209/210). Bedenklicher noch als dieser Abwärtstrend ist die besonders enge Koppelung von sozialer Lage, Schulform und Schulerfolg in Deutschlands Schulen. Niedrige Schulformen gehen einher mit randständiger sozialer Lage und schulischem Misserfolg. In den Förder- und Hauptschulen sind Kinder aus unteren sozialen Schichten ebenso überrepräsentiert wie Kinder aus Migrantenfamilien. Ihre schulischen Leistungen sind besonders schlecht. Dieser Umstand wird sich noch verschärfen angesichts zunehmender Armut in der Gesellschaft. Ca. 3 Millionen Kinder unter 15 Jahren leben auf oder unter Sozialhilfeniveau - das ist etwa jedes 4. Kind dieses Alters (Butterwegge 2007, 1414). Für sie besondere Schulformen vorzuhalten, bedeutet, ihnen den Ausstieg aus der Armut durch Bildung zu erschweren. "Das deutsche Schulsystem bewegt sich offensichtlich in einem Teufelskreis" - so Gero Lenhardt vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung - "die Selektion erzeugt das Problem, das sie lösen soll, in dem sie schwächeren Schüler(inne)n Bildungsmöglichkeiten entzieht. Ihre Leistungsschwäche wird zum Anlass für zusätzliche Selektion" (Lenhardt 2002, 19).

Pädagogische Ausgrenzung

Das offen oder subtil ausgrenzende Schulwesen hat Auswirkungen auf das Schulklima in Deutschlands Schulen. In den meisten Schulen herrscht ein eher pessimistisches Klima vor, welches die Sicht auf die Fähigkeiten von Schülerinnen und Schülern versperrt, ihrer Leistungsfähigkeit misstraut. Zurückstellung bei der Einschulung, Nichtversetzung, Zuweisung zu unterschiedlichen Bildungsgängen nach dem 4. Schuljahr, Überweisungen in niedrigere Schulformen, Ausschulungen - dieses alles gehört zu den hoheitlichen Aufgaben der Lehrkräfte, die ihr pädagogisches Handeln prägen. Selbst in der Grundschule, der Schule für fast alle Kinder, klagen die Lehrkräfte darüber, dass sie sich mit Beginn des 3. Schuljahres bereits Gedanken machen müssen, für welche nachfolgende Schulform das Kind "geeignet" ist. Und selbst innerhalb des Systems der Förderschulen gibt es Abstufungen: so nimmt die Zahl der Schülerinnen und Schüler zu, die von der Schule für Lernhilfe auf die Schule für Praktisch Bildbare überwiesen werden. Auch mit schwierigen Schülerinnen und Schülern, also denen mit Verhaltensauffälligkeiten, tun sich Lehrkräfte schwer. Solange Lehrerinnen und Lehrer gezwungen sind, Kinder auf allen Stufen des Bildungssystems zu sortieren, solange die Klassen so groß sind, wie sie sind (bis zu 33 Schülerinnen und Schüler), solange Schulen wenig selbständig arbeiten dürfen, solange wird bei vielen Lehrkräften ein Aussonderungsblick vorherrschen vor dem Willen, für jedes Kind Verantwortung zu übernehmen und kein Kind zurückzulassen - auch kein Kind mit Verhaltensproblemen.

Dieser Aussonderungsblick wird begünstigt durch Etikettierungen, die soziale Tatbestände in Natur oder Schicksal umdeuten. Die lebhafte Debatte über ADSH ist hierfür ein Beispiel. Nicht, dass es ein Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom oder eine Hyperaktivitätsstörung nicht geben würde, wir alle kennen den Zappelphilipp oder das Kind, das uns nicht in die Augen schauen kann. Problematisch sind der inflationär anwachsende Gebrauch und diagnostische Unsicherheiten, die Verhaltensauffälligkeiten jeglicher Art dem Syndrom zuordnen (Mattner 2002, 14). ADHS als Krankheit zu diagnostizieren, legt Lehrerinnen und Lehrern nahe, den Leistungsanspruch gegenüber den betroffenen Kindern frühzeitig zurückzunehmen und/oder "sich von schwierigen Schülern zu trennen, anstatt sich ihrer Bildung mit dem Optimismus von Pädagogik und Demokratie zu widmen" (Lenhardt 2002, 17).

Allerdings: PISA und nachfolgende internationale Leistungsstudien haben Wirkungen gezeigt - auch jenseits der Debatte um veränderte Schulstrukturen. "Individuelle Förderung" ist gleichsam zur Zauberformel geworden, mit der die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler berücksichtigt werden sollen. In den bildungspolitischen Programmen aller größeren Parteien zur anstehenden hessischen Landtagswahl wird verstärkte individuelle Förderung in den Schulen versprochen. Der Blick auf den einzelnen Schüler, die einzelne Schülerin ist zweifellos ein Fortschritt gegenüber einer Pädagogik, die von homogenen Schülergruppen ausging, in der alle das Gleiche in gleicher Zeiteinheit lernen sollten, wobei einige Schüler unter- und viele überfordert waren. Individuelle Förderung ist vorab für die Schülerinnen und Schüler vorgesehen, die besondere Lernschwächen und/oder Verhaltensprobleme aufweisen - also eher am Ende einer Versagenskarriere, die für die betroffenen Schülerinnen und Schüler mit Misserfolgserlebnissen, Ängsten und Schulmüdigkeit verbunden war. Anders in Finnland, dem PISA-Siegerland. Dort gibt es neben dem Klassenunterricht eine Vielzahl von Fördergruppen, in denen Kinder und Jugendliche stundenweise, tageweise oder auch über längere Zeit in kleinen Gruppen gefördert werden. Im landesweiten Rahmenplan für den Unterricht heißt es hierzu: "Mit dem Förderunterricht ist sofort beim Aufkommen von Lernschwierigkeiten zu beginnen, damit der betroffene Schüler nicht ständig im Hintertreffen bleibt" (Zentralamt für Unterrichtswesen 2004). An diesem Förderunterricht nahmen 2003 27% aller Schülerinnen und Schüler teil, die meisten von ihnen im 1.-3. Schuljahr. Individuelle Förderung wird dort als Prävention für Schulversagen betrieben und dies für mehr als ein Viertel aller Schülerinnen und Schüler. Bei uns wird es wohl noch dauern, bis entsprechende Vorsorge in den Grundschulen Platz greift.

Normal ist es also, dass in Deutschlands Schulen viel Zeit und Energie für Auslese und Segregation verwendet wird. Es gibt allerdings auch eine Normalität, die dem Mainstream entgegenläuft: Integrative Förderung und inklusive Schulen, die kein Kind aussortieren und zurücklassen.

Integration

Seit den 1970iger Jahren gibt es eine Bewegung für die gemeinsame Erziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder. Angeregt durch positive Erfahrungen im Ausland - Skandinavien, Italien, Kanada und andere Länder - wurden Modellklassen eingerichtet, in denen alle Kinder eines Schuleinzugsbezirks gemeinsam lernen. Zunächst wurden Schulversuche in Grundschulen durchgeführt, später auch in weiterführenden Schulen - vorab in Gesamtschulen. Heute gibt es in den meisten Bundesländern Klassen mit Gemeinsamen Unterricht. In Hessen besuchen gegenwärtig etwa 12% aller Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf allgemeinbildende Schulen. Die Konzepte zur Begründung und Reichweite der Integration behinderter Kinder sind durchaus unterschiedlich. Eines ist ihnen allen aber gemeinsam: Sie eröffnen eine neue Sichtweise auf Menschen mit Behinderungen und sie plädieren für eine Schulform, die Separation und Segregation überwindet.

Die neue Sichtweise auf Menschen mit Behinderungen beinhaltet die Abkehr von der Defizitperspektive und den geschärften Blick auf die Kompetenzen eines jeden Kindes. Jedes Kind ist erziehungsfähig und erziehungsbedürftig. Damit stellt Integration die historische Hypothek der Sonderpädagogik in Frage, nämlich ihr Selbstverständnis aus der "Krankheitslehre", aus ihrer Nähe zu Medizin und Psychiatrie zu gewinnen. Lange Zeit war das Denken in der Sonderpädagogik ausgerichtet am Defekt des behinderten Menschen, der die Bereitstellung eines ausdifferenzierten Sonderschulwesens legitimierte. Es entstanden Schulen für Blinde, für Sehbehinderte, für Hörgeschädigte, für Körperbehinderte, für geistig Behinderte, für Lernbehinderte, für Erziehungsschwierige. Nicht das Kind mit allen seinen Fähigkeiten und Eigenheiten stand im Mittelpunkt, sondern nur noch das Defizit, welches es von anderen Kindern unterscheidet.

Die Integrationspädagogik hat dieses enge defektologische Denken überwunden. Sie verlagert den Begriff der Behinderung weg von der Person auf die Ebene des Hilfebedarfs und der institutionellen Bedingungen. Behinderung liegt dann vor, wenn ein Mensch aufgrund einer Schädigung oder Leistungsminderung nicht genügend in sein vielschichtiges Mensch-Umwelt-System integriert ist, schreibt Alfred Sander (Sander 1988, 106), einer der profiliertesten Vertreter der Integrationspädagogik. Integration als pädagogische Kategorie befasst sich deshalb mit den pädagogischen, institutionellen und gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Kinder lernen oder am Lernen gehindert werden. Die primäre Frage richtet sich also nicht auf die Integrationsfähigkeit des Kindes, sondern auf die Integrationsfähigkeit der pädagogischen Einrichtungen, vorab der Schule. Die Integrationsfähigkeit der Schule hängt ab von der Bereitschaft, Individualität junger Menschen zuzulassen und Gemeinsamkeit zu fördern. Reformpädagogik und Integrationspädagogik haben vielfältige Konzepte entwickelt, mit denen Kinder in Kooperation auf je individuellem Niveau gemeinsam lernen können. Offene Lernformen, binnendifferenzierter Unterricht, Projektarbeit sind mittlerweile soweit ausgereift, dass auch Kinder mit umfänglichen Lernbeeinträchtigungen sinnstiftend am Gemeinsamen Unterricht teilnehmen können. An pädagogischen Konzepten mangelt es also nicht. Auch die unterschiedlichen Schulstufen bergen prinzipiell keine Integrationshemmnisse. Nicht nur in der Grundschule, sondern auch in der Sekundarstufe wurde Gemeinsamer Unterricht erfolgreich erprobt, wie viele wissenschaftliche Begleituntersuchungen belegen.

Trotz dieser Erfolgsmeldungen tun sich die meisten Schulen nach wie vor schwer, unterschiedliche Kinder gemeinsam zu unterrichten. Auch mit der Ausbreitung des Gemeinsamen Unterrichts in der Fläche verwischen sich öfters die Maßstäbe für einen Unterricht, der Heterogenität zulässt und Gemeinsamkeit fördert. In der Praxis gewinnt mehr und mehr eine Additionspädagogik an Boden, die zusätzliche Unterstützung streng auf das behinderte Kind in der Regelklasse fokussiert, während sich der Unterricht für alle anderen Kinder nicht verändert, obwohl auch sie viele verschiedene kleine Persönlichkeiten sind. Integration verkommt hier zur Zwei-Gruppen-Theorie (behindert und nichtbehindert). Eine Mutter formulierte es so: In der Klasse gibt es "eine (Gruppe), die integriert wird und eine, in die integriert wird ... eine der Normalen und Eigentlichen und eine der Anormalen und Nichteigentlichen - und eine, die gefördert wird und eine, die lernt" (Hinz 2007, 83).

Offenbar ist es mit dem Begriff und der Praxis der Integration nur sehr eingeschränkt gelungen, "zu einem komplexeren Verständnis von Heterogenität vorzudringen, das verschiedenste Dimensionen zusammendenkt und zusammenhandelt - neben mehr oder weniger eingeschränkten Fähigkeiten auch Geschlechterrollen, ethnische Zugehörigkeiten, Nationalitäten, Erstsprachen .. soziale Klassen bzw. Milieus, Religionen, sexuelle Orientierungen, körperliche Gegebenheiten und anderes mehr" (ebenda, 85). Selbst wenn Lehrkräfte hoch sensibel mit Behinderungen umgehen, ist es durchaus möglich, dass sie bei Kindern mit Migrationshintergrund oder Kindern mit Verhaltensproblemen unbewusst in konservativen, defizitorientierten Zuschreibungen befangen bleiben. Oder auch umgekehrt. Um die volle Partizipation für alle Kinder in den Blick zu nehmen, wurde in jüngster Zeit der Begriff der Integration abgelöst von dem Begriff der Inklusion.

Inklusion

Inklusion meint die Abkehr von der Zwei-Gruppen-Theorie, meint optimierte und erweiterte Integration (Sander 2004, 11). Nicht mehr die Integration einer bestimmten Gruppe ist das Ziel, sondern die eine Schule für alle. Während die Integrationspädagogik auf das behinderte Kind im Zusammenleben und Zusammenlernen mit allen anderen Kindern gerichtet war, betrachtet die Inklusionspädagogik auch die übrigen Kinder als individuell verschieden und als prinzipiell zuwendungs- und förderungsbedürftige Kinder. Differenzen werden als produktiv wahrgenommen und im Unterricht fruchtbar gemacht. Die inklusive Schule macht radikal ernst mit der einen Schule für alle Kinder, auch für die schwierigen und wenig beachteten. In dieser Schule werden keine Fächer unterrichtet, sondern Kinder - sie bestimmen das Gesicht der Schule (Grundschule Süd-West 2006).

Dass eine solche Schule in der Praxis möglich ist, zeigen die Erfahrungen aus den skandinavischen Ländern, in denen die gemeinsame Schulzeit in der Regel 9 Jahre beträgt. Dort erbringen sowohl die lernstarken als auch die lernschwachen Schülerinnen und Schüler bessere Leistungen als in Deutschlands gegliederten Schulen. Der Zusammenhang zwischen sozialer Lage und Schulerfolg ist weniger eng als bei uns. Das heißt, dass mehr Schülerinnen und Schüler aus unteren sozialen Schichten einen guten Schulabschluss erreichen. Da es keine Schule gibt, in der Schüler abgeschoben werden können - auch keine Schule für Lernhilfe oder Erziehungshilfe - übernehmen die Lehrkräfte die Verantwortung auch für die schwierigen und lernschwachen Kinder. Förderkurse wie die oben erwähnten in Finnland helfen, Schulversagen schon frühzeitig vorzubeugen. Außerdem steht jeder Schule Personal zur Unterstützung der Lehrkräfte zur Verfügung - Schulpsychologen, Sozialpädagogen, Krankenschwestern, Berufsberater.

Aber auch in Deutschland gibt es Schulen, die den Anspruch an eine inklusive Schule erfüllen. Beispiele hierfür sind die Schulen, die in den Jahren 2006 und 2007 mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet wurden. Es sind allesamt Schulen, die - oftmals in sozialen Brennpunkten gelegen - eine sehr heterogene Schülerschaft zu guten Schulleistungen führen konnten (In Hessen: Offene Schule Kassel-Waldau, Helene-Lange-Schule in Wiesbaden). Sie arbeiten mit offenen Unterrichtsformen, Wochen- und Jahresarbeitsplänen, Lerntagebüchern, Schreibwerkstätten, projektorientierten und fächerübergreifenden Lehr- und Lernfomen. Individuelle Förderung und selbständiges Lernen haben einen großen Stellenwert. Der Deutsche Schulpreis wird von der Robert Bosch Stiftung, der Heidehof-Stiftung, dem ZDF und dem Stern vergeben, also von Entscheidungsträgern aus der Mitte der Gesellschaft heraus. Offenbar ist nicht mehr nur in pädagogischen Zirkeln, sondern auch in der Öffentlichkeit die Einsicht gereift, dass in einer demokratischen Gesellschaft der Abschied von der Ständeschule auf die Tagesordnung gehört.

Ein Beispiel, das ich besonders gut kenne, ist die Grundschule Süd-West in Eschborn (Grundschule Süd-West 2006). Sie gehörte 1986 zu den fünf Schulen, in denen die ersten Integrationsklassen in Hessen eingerichtet wurden. Es ist eine Schule in einem sozialen Brennpunkt mit einem hohen Anteil von Kindern aus marginalisierten Familien, einem hohen Anteil von Migrantenkindern und einem geringen Anteil von Kindern aus der Mittelschicht. Schon vor Einrichtung der ersten Klasse mit Gemeinsamem Unterricht erkannte das Kollegium die Notwendigkeit, die unterschiedlichen und je besonderen Bedürfnisse und Probleme ihrer Schülerinnen und Schüler aufzugreifen. Der Unterricht war schon damals durch eine flexible Unterrichtsgestaltung geprägt, die Binnendifferenzierung und individuelle Förderung der Kinder vorsah. Die Aufnahme von Kindern mit Behinderungen erforderte kein grundlegend neues Unterrichtskonzept, sondern lediglich eine Erweiterung der Differenzierungsangebote. Die zusätzlichen Sonderschullehrkräfte wurden als Chance für alle Kinder genutzt.

Auch heute noch stellt Gemeinsamer Unterricht eine wichtige Facette des Unterrichtsgeschehens in der Süd-West-Schule dar. Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf werden unabhängig von Art und Ausmaß der Beeinträchtigung an der Schule unterrichtet. Eine weitere Facette betrifft die Förderung von Kindern mit besonderen Fähigkeiten. Seit dem Schuljahr 2003/2004 nimmt die Schule an einem entsprechenden Modellprojekt des Landes Hessen teil. Dabei geht es der Schule weniger um "Elitebildung" als um die konsequente Anwendung von differenzierenden Unterrichtsmethoden auch für leistungsstarke Kinder.

Die pädagogischen Konzepte für binnendifferenziertes Lernen sind an der Süd-West-Schule über Jahrzehnte gereift und erprobt. Dennoch reicht individuelle Förderung im Rahmen des Klassenunterrichtes nicht aus, um allen Kindern gerecht zu werden - so die Einsicht der Schule. Die große Heterogenität der Schülerschaft, unter ihnen viele Kinder in Not, erforderte weitergehende Maßnahmen. Die Schule hat sich deshalb entschlossen, nicht nur innerhalb des Unterrichts zu differenzieren, sondern innere und äußere Differenzierung zu kombinieren.

Die ersten sechs Wochen im ersten Schuljahr finden in Form eines Klassenunterrichts (in drei Stammgruppen) statt, um die Lernausgangslagen der Schülerinnen und Schüler diagnostisch zu erfassen und Förderpläne zu erstellen. Anschließend werden die Unterrichtsstunden in den ersten beiden Schuljahren flexibilisiert: 16 Wochenstunden findet der Unterricht weiterhin in den Stammgruppen statt. Fünf Wochenstunden sind sogenannten Werkstattgruppen (Planetengruppen) vorbehalten, in denen die Kinder gemäß ihrer Fähigkeiten und Bedürfnisse in neue Lerngruppen eingeteilt werden - und zwar klassenübergreifend. So gibt es für leistungsstarke Kinder Förderstunden, in denen sie über einen längeren Zeitraum selbstgewählte Themen bearbeiten können. Für leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler gibt es Gruppen zur Erweiterung des Wortschatzes und Sprachverständnisses, zur akustischen Differenzierung, zur Vertiefung mathematischer Einsichten, zur Verbesserung der Arbeitsorganisation u.a. Für Kinder mit geistigen Behinderungen stehen lebenspraktische Übungen auf dem Plan. In den Randstunden (1. und 6. Schulstunde) finden zusätzlich Therapien und Übungen statt (Deutsch als Zweitsprache, Sprachheilunterricht, Ergotherapie, Psychomotorik, Verhaltenstraining im Bereich der Erziehungshilfe). Mit diesem breit gefächerten Angebot will die Schule eine Balance herstellen zwischen größtmöglicher individueller Förderung und gemeinsamen Aktivitäten aller Schülerinnen und Schüler.

Die Mischung von innerer und äußerer Differenzierung in der Süd-West-Schule scheint mir eine angemessene Form der Unterrichtsorganisation in einer inklusiven Schule und dies aus mehreren Gründen: Zum einen bezieht sie alle Schülerinnen und Schüler in die Differenzierungsmaßnahmen ein, nicht nur diejenigen mit ausgewiesenem Förderbedarf. Zum zweiten wird Unterricht mit therapeutischen Angeboten verknüpft, die in anderen Schulen überhaupt nicht vorzufinden sind. Und zum dritten trägt die Schule der Tatsache Rechnung, dass sie mit dem vorhandenen Personal nicht alle Individualitäten der Kinder optimal im Klassenunterricht mit in der Regel nur einer Lehrkraft berücksichtigen kann.

Das Beispiel der Süd-West-Schule zeigt, dass mit einem differenzierten schulischen Angebot auch schwierige Kinder in der Regelschule erfolgreich lernen können.

Fazit

Meine Antwort auf die Frage, wer oder was ist normal im deutschen Bildungswesen, lautet: Es gibt keine anormalen Kinder und Jugendlichen - jedes Kind ist in seiner Individualität normal und verdient pädagogischen Respekt und Förderung seiner Fähigkeiten - unter Berücksichtigung seiner Lern- und Verhaltensprobleme. Wir sollten unterscheiden zwischen der Person und ihrem Verhalten. Auch wenn gewisse Verhaltensweisen ungewöhnlich, störend und nicht normal sind - das Kind ist und bleibt ein normales Kind wie jedes andere auch. Normal ist allerdings auch eine Schulstruktur, die es erlaubt, sich der Kinder mit Problemen jeglicher Art zu entledigen. So besuchen 41.000 Schülerinnen und Schüler Schulen für Erziehungshilfe (Schmid 2007, 282). Und auch in den Lernhilfeschulen sind viele Kinder mit Verhaltensproblemen versammelt.

In den Regelschulen sind Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten dann gut aufgehoben, wenn sie die Sicherheit haben, "dass sie, auch wenn sie ständig unangenehm auffallen, nicht bloßgestellt und in die Ecke der ewigen Störenfriede gestellt werden, oder ihnen gar klassenöffentlich mit dem Ausschluss gedroht wird. Als Grundsatz sollte gelten: Du bleibst, was immer du anstellst, Mitglied unserer Klasse - auch wenn du vielleicht mal gesonderten Unterricht erhalten musst, auch wenn du für ein paar Wochen woanders (etwa in einer Einrichtung) bist, auch wenn wir wütend auf dich sind (und du auf uns) (Preuss-Lausitz 2004, 15). Das Aufbrechen der sozialen Isolation schwieriger Kinder ist ebenso wichtig wie ein veränderter Unterricht, der folgendes umfasst: Klarheit der Aufgabenstellung und Arbeitsabläufe, Differenzierung des Anspruchsniveaus nach dem Kenntnis- und Entwicklungsstand der Schülerinnen und Schüler, Offenheit für unterschiedliche Zeitrhythmen, Wechsel von Phasen der Konzentration und der Entspannung - und Raum für die Bearbeitung klasseninterner Konflikte. Zur Unterstützung sowohl der schwierigen Schüler als auch der Schüler, die mit schwierigen Mitschülern auskommen lernen müssen, und der Lehrkräfte bedarf eines Netzwerkes unterschiedlicher Professionen. In Hamburg gibt es regionale Beratungs- und Unterstützungszentren, in denen Jugendhilfe, Schule, Elternhaus, Gesundheitsdienst, Arbeitsorientierung miteinander verbunden sind. In Hessen gibt es Präventionslehrer, die die Regelschulen beraten und unterstützen und es gibt Zentren für Erziehungshilfe, in denen Sozialarbeiter und Lehrkräfte gemeinsam Schülerinnen und Schüler mit Verhaltensauffälligkeiten in Familie und Regelschule begleiten. Diese Angebote sind dann, aber auch nur dann hilfreich, wenn sie von Schulen wahrgenommen werden, die sich auf den Weg zu einer inklusiven Schule begeben haben. Inklusive Schulen übernehmen die Verantwortung für alle Kinder, "für die mit und ohne Behinderung, für die aus bildungsfernen und -nahen Elternhäusern, für die aus belasteten und beschützenden Umgebungen, für die sesshaften und die auf der Flucht, für die innerlich verletzten und für die unbekümmert aufgewachsenen, für die vernachlässigten und die überbehüteten, für die kräftigen und die zarten, für die, deren Erstsprache nicht Deutsch ist und für die, deren Muttersprache es ist, für die Mädchen und Jungen" (Schnell 2003, 284). Es stände unserem Bildungswesen gut an, wenn diese inklusiven Schulen zur Normalität würden!

Literatur

Butterwegge, Christoph (2007): Die "Normalität" der Kinderarmut. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 12, 1413-1416

Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.) (2002): PISA 2000 - Die Länder der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich. Opladen: Leske und Budrich

Grundschule Süd-West (2006): Die Kinder bestimmen das Gesicht einer Schule. 20 Jahre Gemeinsamer Unterricht an der Grundschule Süd-West Eschborn. Darmstadt

Hinz, Andreas (2007): Inklusion - Vision und Realität! In: Dieter Katzenbach (Hrsg.): Vielfalt braucht Struktur - Heterogenität als Herausforderung für die Unterrichts- und Schulentwicklung. Frankfurt am Main: Fachbereich Erziehungswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität, 81-98

Lenhardt, Gero (2002): Die verspätete Entwicklung der deutschen Schule. In: Pädagogische Korrespondenz 29, 5-22

Mattner, Dieter (2002): Zur Biologisierung abweichenden kindlichen Verhaltens. In: Hartmut Amft, Manfred Gerspach, Dieter Mattner: Kinder mit gestörter Aufmerksamkeit. ADS als Herausforderung für Pädagogik und Therapie. Stuttgart: Kohlhammer, 7-36

Preuss-Lausitz, Ulf (Hrsg.) (2004): Schwierige Kinder - schwierige Schule. Konzepte und Praxisprojekte zur integrativen Förderung verhaltensauffälliger Schülerinnen und Schüler. Weinheim und Basel: Beltz

Sander, Alfred (1988): Behinderungsbegriffe und ihre Integrationsrelevanz. In: Hans Eberwein, Sabine Knauer (Hrsg.): Integrationspädagogik. Kinder mit und ohne Beeinträchtigung lernen gemeinsam. Ein Handbuch. 6. Auflage. Weinheim und Basel: Beltz, 99-108

Sander, Alfred (2004): Inklusive Pädagogik verwirklichen. In: Irmtraud Schnell, Alfred Sander (Hrsg.): Inklusive Pädagogik. Bad Heilbrunn: Klinckhardt, 11-22

Schmid, Marc u.a. (2007): Psychische Belastung von Kindern und Jugendlichen in Schulen für Erziehungshilfe. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 8, 282-290

Schnell, Irmtraud (2003): Geschichte schulischer Integration. Gemeinsames Lernen von SchülerInnen mit und ohne Behinderung in der BRD seit 1970. Weinheim und München: Juventa

Zentralamt für Unterrichtswesen (2004): Rahmenpläne und Standards für den grundbildenden Unterricht an finnischen Schulen (Perusopetus). Helsinki

Quelle:

Helga Deppe-Wolfinger: Von der Ausgrenzung zur Inklusion - Wer oder was ist normal im Bildungswesen?

Vortrag auf der Tagung der Evangelischen Akademie Hofgeismar zum Thema "Ist das denn normal?" Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen. Bad Orb 18.-20.1.2008

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 03.03.2008

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