Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten und Unterschiede in der Betrachtung von Behinderung und Geschlecht als soziale Konstrukte

Autor:in - Magdalena Dengg
Themenbereiche: Disability Studies
Textsorte: Bachelorarbeit
Releaseinfo: Bachelorarbeit zur Erlangung des akademischen Grades einer Bachelor of Arts (BA) am Institut für Erziehungswissenschaften eingereicht von Mag.a Magdalena Dengg bei Frau Mag.a Kremsner Gertraud Fakultät für Bildungswissenschaften der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck
Copyright: © Magdalena Dengg 2015

Vorwort

Schlägt man im Duden (Deutsches Universalwörterbuch) den Begriff „Repräsentation“ nach, so erhält man u.a. folgende Erklärung: Eine Repräsentation ist eine „Vertretung einer Gesamtheit von Personen durch eine einzelne Person oder eine Gruppe von Personen […]“ (Duden Deutsches Universalwörterbuch 2007, 1386). Eine Repräsentation ist also eine Vorstellung, Vergegenwärtigung, Darstellung, Stellvertretung, wobei z.B. von einer Person auf eine ganze Personengruppe geschlossen wird. Durch Repräsentationen (z.B. Bilder, Fernsehen, usw.) wird die Wirklichkeit künstlich konstruiert. Doch was im Duden nicht steht, ist die Tatsache, dass in Repräsentationen immer auch Wissenskontexte und Wertungen eingelagert sind, die sich mit der repräsentierten „Wirklichkeit“ verbinden, auf die sie sich beziehen. Und ebenso fehlt im Duden, dass uns Repräsentationen lehren, die präsentierte Wirklichkeit auf eine bestimmte Weise zu sehen und kognitiv-emotive Haltungen dazu einzunehmen.[1] Wie wird die Frau heute in den Medien und für die breite Masse repräsentiert? Dies hängt wohl von dem jeweiligen Medium ab, doch die Arten der Repräsentationen sind begrenzt. Schaltet man sich einen Musiksender im Fernsehen ein, so wird die Frau als Sexsymbol, als Hure oder nicht zu erreichende, zu Fleisch gewordene Perfektion dargestellt. Ebenso geschieht dies in den meisten Print-Medien und in der Werbung. Natürlich gibt es da noch das Bild der übergewichtigen Hausfrau mit der schlechten Frisur, jenes der gestressten Mutter mit Baby-Erbrochenem auf der Bluse und das der karrieregeilen, finanziell unabhängigen und blondierten Business-Frau. Doch keine dieser Repräsentationen entspricht nun tatsächlich der Wirklichkeit. Jedenfalls nicht jener der Autorin.

Aufgrund dieser Repräsentationen, dieser sozialen Konstruktionen der Frau und aufgrund meines Studiums bin ich schließlich zu dem Schluss gekommen, dass wohl nicht nur die Welt der Geschlechter aus lauter Repräsentationen besteht, sondern dies in anderen Gebieten (Welten!) ebenso sein muss. Bei der Auseinandersetzung mit den Disability Studies erkannte ich dann Parallelen zwischen den beiden Gebieten: Behinderung und Geschlecht als Repräsentationen, als soziale Konstrukte. Aus diesem Grund entstand folgende Fragestellung für die vorliegende Arbeit:

Welche Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten und Unterschiede gibt es in der Betrachtung von Behinderung und Geschlecht als soziale Konstrukte?



[1] Vgl. Dederich 2012, 77f

1. Einleitung – Hinführung zur Thematik

In der vorliegenden Arbeit wird davon ausgegangen, dass sowohl Behinderung als auch Geschlecht sozial konstruiert sind bzw. sozial konstruierte Komponenten mit sich bringen. Das bedeutet, dass beide Kriterien – Geschlecht und Behinderung – gesellschaftlichen Machtverhältnissen unterliegen, von diesen beeinflusst, eingeschränkt und definiert werden. Aufgrund dieser Grundannahme soll herausgefunden werden, welche Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten und Unterschiede es in der Betrachtung von Geschlecht und Behinderung als soziale Konstrukte gibt. Im Detail heißt das, dass verdeutlicht werden soll, ob sich Einordnung, Diskriminierung, Unterdrückung, soziale Ausgeschlossenheit, Gewalt und Ähnliches in beiden Fällen auf ähnliche oder gleiche Weise ausdrücken, oder ob es trotz der Tatsache, dass beide sozial konstruiert sind, gravierende Unterschiede in der Realisierung und Darstellung der Konstruktion gibt. Dies impliziert die Annahme, dass es mehr oder weniger starke Verbindungen zwischen Geschlecht und Behinderung als soziale Konstrukte gibt. Dass diese Annahme historisch, wissenschaftlich und sozial belegbar ist, wird ein Kapitel über die historische Einbettung der Disability Studies zeigen. Inwiefern Geschlecht und Behinderung soziale Konstrukte sind, werden die darauffolgenden Kapitel verdeutlichen. Hierfür werden sowohl Geschlecht als auch Behinderung vorerst getrennt betrachtet. Es soll herausgefunden werden, auf welche Art und Weise die jeweilige soziale Konstruktion entsteht, wie sie sich äußert und was sie bedeutet. Dabei sollen Meinungen von ExpertInnen und PhilosophInnen herangezogen sowie Beispiele dargebracht werden, um auf möglichst vielfältige Weise verständlich zu machen, was eine soziale Konstruktion in den Bereichen Geschlecht und Behinderung bedeutet und wie sie sich darstellt.

In einem letzten Kapitel sollen die zuvor gewonnenen Erkenntnisse miteinander in Beziehung gesetzt werden, um Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten und Unterschiede in der sozialen Konstruktion der beiden genannten Bereiche erkennen und darstellen zu können.

An dieser Stelle ist es noch von besonderer Wichtigkeit, darauf aufmerksam zu machen, dass, auch wenn eine Orientierung am weiblichen Geschlecht in dieser Arbeit weder angestrebt wurde noch vorgesehen war, sie sich doch nicht immer vermeiden ließ. Dies liegt hauptsächlich daran, dass die Emanzipation der Frau und der Kampf der Frau gegen Unterdrückung, Gewalt und Diskriminierung in den Gender Studies im Vordergrund stehen. In der vorliegenden Arbeit wurde versucht, eine Verbindung zwischen beiden Geschlechtern und Behinderung als soziale Konstrukte herzustellen. Ist dies aufgrund der Vorrangigkeit des weiblichen Geschlechts in Bezug auf soziale, kulturelle und gesellschaftliche Diskriminierungen nicht gelungen, so soll dies weder als weitere Diskriminierung dem männlichen Geschlecht gegenüber noch als Bevorzugung verstanden werden.

Der Vollständigkeit halber soll an dieser Stelle noch verdeutlicht werden, dass in der vorliegenden Arbeit mit dem Begriff „Menschen mit Behinderung“ bzw. „Frauen/Männer mit Behinderung“ nicht zwischen der Art und Weise der Beeinträchtigung (körperlich und/oder kognitiv) und auch nicht am Grad der Beeinträchtigung unterschieden wird. Dies würde den Umfang der Arbeit sprengen und ist nicht relevant für die Beantwortung der Forschungsfrage, da die soziale Konstruktion von Behinderung bzw. Beeinträchtigung im Allgemeinen betrachtet werden soll.

Um einen besseren Einstieg in das Thema gewährleisten und um die historischen, sozialen und konstruierten Parallelen von Geschlecht und Behinderung darzustellen zu können, werden in den folgenden Kapiteln eine kurze Begriffsbestimmung, eine überblicksartige Einführung in die Disability Studies sowie eine historische Einleitung gegeben. Eine kurze Darstellung der Disability Studies soll die Basis der Arbeit bilden, eine historische Einbettung von Behinderung und Geschlecht bzw. der Disability und der Gender Studies – wie sie im folgenden Kapitel passiert – ist deshalb sinnvoll, da die feministischen Bewegungen grundlegend für die Entstehung der Disability Studies waren. Diese Einbettung soll darstellen, dass die Verbindung von Behinderung und Geschlecht nicht wahllos, sondern durchaus geschichtlich und sozial nachvollziehbar ist. Es soll jedoch nicht der geschichtliche Verlauf der Behindertenbewegung, sondern eine Verbindung zwischen Geschlecht und Behinderung, zwischen den Gender Studies und den Disability Studies gegeben werden. Ein kurzer Abriss über die Entstehung der Disability Studies ist dabei unumgänglich. Ebenso soll ein kurzer Abriss der Frauenforschung in der Behindertenpädagogik mehr Einblick in die Thematik geben.

1.1 Begriffsbestimmung

Auf eine genaue und detaillierte Begriffsbestimmung wird an dieser Stelle bewusst verzichtet, da insbesondere Begriffe wie „soziale Konstruktion“ in Bezug auf Geschlecht und Behinderung sowie die Terme „Geschlecht“ und „Behinderung“ im Hauptteil der vorliegenden Arbeit erklärt und definiert werden. Die Begriffsbestimmung wird somit in den Hauptteil der Arbeit eingewoben bzw. diesen darstellen.

Lediglich der Ausdruck „soziale Konstruktion“ im Allgemeinen soll an dieser Stelle erklärt werden, um den Einstieg in das Thema zu erleichtern. Vorweg muss jedoch gesagt sein, dass eine allgemeingültige Definition des Begriffs „soziale Konstruktion“ nicht zu finden war. Deshalb werden die Terme „sozial“ und „Konstruktion“ vorerst getrennt voneinander betrachtet, um sie dann in Beziehung zueinander setzen und so eine Begriffsbestimmung erstellen zu können.

Im allgemeinen Wortgebrauch versteht man unter einer Konstruktion etwas künstlich Hergestelltes, etwas nicht Natürliches, etwas Gemachtes. Auch kann eine Konstruktion ein Entwurf von etwas sein, so zum Beispiel der Entwurf eines Bauwerks oder auch einer schriftlichen Arbeit, die wir gedanklich erstellen, noch bevor wir zu schreiben beginnen. Wir konstruieren auch gedanklich unsere Umwelt. Im Detail heißt das, dass unser Gehirn aufgrund unserer Erfahrungen unsere Wahrnehmungen so konstruiert, dass sie für uns „richtig“, plausibel und stabil sind.[2] Passt eine neue Wahrnehmung nicht mehr in unseren Erfahrungs- und Wahrnehmungsschatz, so werden im Gehirn neue Verbindungen gesucht und hergestellt, sodass für uns wieder ein Gefühl der „Richtigkeit“ entsteht – auch wenn dadurch vorher für richtig Gehaltenes verworfen werden muss. Die Lebenswirklichkeit eines jeden Individuums ist somit das Ergebnis eines subjektiven Konstruktionsprozesses – wir gestalten uns unsere eigene Wirklichkeit und unsere eigene Welt.[3] Dies impliziert natürlich auch, dass sich unsere Wahrnehmung der Welt nur ändern kann, wenn wir zuvor nicht Gekanntes bzw. nicht Wahrgenommenes kennenlernen, aufnehmen und verarbeiten. Bekommen wir also beispielsweise stets nur das Bild des bedürftigen, hilflosen und vielleicht leidenden Menschen mit Behinderung von außen vermittelt, so halten wir das an uns herangetragene Bild für wahr und richtig. Dies impliziert auch, dass unsere Konstruktionen der Welt ein Stück weit von außen gesteuert werden können, wenn uns beispielsweise bewusst nur bestimmte Bilder gezeigt werden. Erst eine Veränderung dieses Bildes kann zu einer Veränderung unserer Wahrnehmung und somit zu einer Veränderung unserer Vorstellung der Welt führen. Diese Annahme – der Mensch konstruiert sich seine eigene Welt – ist Teil der Theorie des Konstruktivismus.[4] Eine detaillierte Erklärung des Konstruktivismus wird hier jedoch bewusst ausgespart, da sie nicht zentral für die vorliegende Arbeit ist und ihren Umfang sprengen würde.

Der Begriff „sozial“ leitet sich vom Lateinischen „socialis“ (d.h. gesellschaftlich, gesellig) ab und bedeutet so viel wie das Zusammenleben der Menschen betreffend.[5] Zum weiteren Verständnis dazu: Mit dem Begriff „Sozialisation“, abgeleitet vom lateinischen Wort „sociare“ (d.h. verbinden, vereinigen), bezeichnet man formal den Vorgang der Vergesellschaftung des Menschen und die Eingliederung von Individuen in die sozialen Gruppen, Instanzen und Felder unseres Systems.[6] Innerhalb der Sozialisation nimmt der Mensch verschiedene soziale Rollen ein, auch erlernt er soziale Handlungsfähigkeiten.[7] Diese sind wiederum durch die gesellschaftlichen Norm- und Wertvorstellungen der Gesellschaft definiert und werden vom sozialen System erwartet.[8] Dadurch reift der Mensch zu einer sozial handlungs- und lebensfähigen Person heran.[9] Der Begriff „sozial“ wird des Weiteren auch gerne im Sinne von hilfsbereit und gemeinnützig verwendet, z.B. als Name einer Institution.

Verbindet man nun die Bedeutungen von „Konstruktion“ mit dem Begriff „sozial“, so entsteht beispielsweise eine Erklärung wie folgende: Eine soziale Konstruktion ist ein gedanklicher Aufbau, etwas gedanklich-abstrakt Gemachtes, das die Gesellschaft betrifft. Es handelt sich also um etwas, das in Bezug auf das gesellschaftliche Miteinander künstlich vom Menschen geschaffen, konstruiert wird. Dabei muss es für die konstruierenden Personen als wahr und richtig gelten – andernfalls wird versucht werden, die soziale Konstruktion bzw. ihre Wahrnehmung zu ändern. Diese Erklärung impliziert dabei die Tatsache, dass eine soziale Konstruktion niemals von Endgültigkeit geprägt ist und somit auch immer verändert werden kann. Spinnt man diesen Gedanken weiter, so wird klar, dass es jedoch auch immer Kräfte und Energien geben muss, welche diese Konstruktionen aufrechterhalten. „Konstruiert“ kann somit als „gesellschaftlichen Machtverhältnissen unterliegend“[10] definiert werden bzw. eine soziale Konstruktion ist etwas vom Menschen künstlich Geschaffenes, ein gedanklich-abstraktes Gebilde, welches das Zusammenleben der Menschen betrifft und gesellschaftlichen Machtverhältnissen unterliegt.[11] In diesem Sinne wird der Begriff der sozialen Konstruktion in der vorliegenden Arbeit verwendet. In weiterer Folge stellt sich dabei die Frage, in welchem Kontext wie und warum etwas sozial konstruiert wird – darauf soll in den folgenden Kapiteln eingegangen werden.

1.2 Einführung in die Disability Studies

Mit dem Begriff der Disability Studies – „disability“ kommt aus dem Englischen und bedeutet übersetzt „Behinderung“ oder „Beeinträchtigung“ – wird eine noch sehr junge, seit gut 20 Jahren existierende wissenschaftliche Forschungsströmung bezeichnet, die ihre Ursprünge in den USA und in England hat.[12] Die Anfänge der Disability Studies gehen auf politische Behindertenbewegungen zurück. Sie entstanden also, ebenso wie die Gender Studies, im Kontext emanzipatorisch ausgerichteter sozialer Bewegungen und haben einen gesellschaftskritischen Anspruch.[13] Hauptsächlich wurde bei den Behindertenbewegungen zu Gleichberechtigung und Emanzipation aufgerufen. Die meist behinderten Mitglieder verfolgten das Ziel, als gleichberechtigte BürgerInnen der Gesellschaft anerkannt zu werden. Deutliche politische Ziele standen zu dieser Zeit im Fokus.[14]

Daraufhin entwickelte sich auch ein großes wissenschaftliches und theoretisches Interesse von Seiten einiger WissenschaftlerInnen mit Behinderungen – hier zu nennen sind beispielsweise der britische Soziologe Michael Oliver und der US-amerikanische Sozialwissenschaftler Irving Kenneth Zola.[15] So begann eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Behinderung, die es so noch wenig gab: Behinderungsbezogene Fragen und Themen aus Sicht von Menschen mit Behinderungen wurden in den Mittelpunkt gerückt.[16] Mit der Etablierung der Disability Studies kam es somit zu einer Veränderung des Blickwinkels auf das Thema Behinderung: Behinderung nicht mehr als individuelles Gebrechen, sondern als sozial konstruiert und bestimmten gesellschaftlichen Machtverhältnissen unterliegend anzusehen war eine Neuheit.[17]

Außerdem läuteten die Disability Studies einen Perspektiven- und Paradigmenwechsel in der Behinderten-Forschung ein, da nicht mehr aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft untersucht wird[18]: „Man könnte auch sagen, dass nicht mehr die Mehrheit auf die Minderheit schaut, sondern die Minderheit auf die Mehrheit.“ (Raab 2012, 3) Bis dahin wurde Behinderung hauptsächlich als medizinisches, physiologisches oder psychisches Defizit gesehen – mit der Etablierung der Disability Studies entstand jedoch eine interdisziplinäre Wissenschaft, die Behinderung als soziale, historische und kulturelle Konstruktion begreift.[19] Aus diesem Grund widmen sich die Disability Studies der sozial- und kulturwissenschaftlichen Erforschung von Behinderung und stellen den Begriff in den Mittelpunkt von Kultur- und Gesellschaftsanalyse. Eine wichtige Grundannahme ist dabei, dass Behinderung nicht mit medizinisch diagnostizierbaren Beeinträchtigungen gleichgesetzt werden kann, sondern immer aus gesellschaftlich konstruierten Barrieren hervorgeht, wodurch die Betroffenen daran gehindert werden, am gesellschaftlichen, sozialen, kulturellen Leben teilzuhaben.[20] Die Disability Studies setzen sich mit dem Thema „Behinderung“ kritisch auseinander, wobei jedoch besonders darauf geachtet wird, dass aus der Sicht von Menschen mit Behinderungen geforscht wird. Im Fokus steht dabei die besondere Situation von Menschen, „[…] bei denen körperliche, kognitive, sprachliche, emotionale oder Verhaltenseigenschaften als negativ andersartig wahrgenommen werden; auf der Grundlage tradierter wissenschaftlicher Leitdifferenzen erscheinen diese Eigenschaften als Dysfunktionen, Pathologien oder Anomalien.“ (Dederich 2012, 9) Somit werden Produktion, Konstruktion und Regulation von Behinderung durch die Mehrheitsgesellschaft aus der Sicht von Menschen mit Behinderung in den Mittelpunkt gerückt.[21]

Laut Markus Dederich haben wir heute eine zwiespältige Situation: Einerseits sind positive Entwicklungen zu vermerken, wie beispielsweise in der integrativen Beschulung und an einem Diskriminierungsverbot erkennbar. Andererseits bzw. gleichzeitig gibt es jedoch immer noch die Auffassung, dass Behinderung ein individuelles oder gesellschaftliches Problem ist, das „behoben“ oder „überwunden“ werden muss.[22] Das selbstverständliche Teilhaben von Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft ist immer noch eher Ausnahme als Regel. Menschen mit Behinderung bilden immer noch eine Randgruppe, die mit Benachteiligung und Diskriminierung konfrontiert ist – im gesellschaftlichen oder öffentlichen Leben ist sie nur eingeschränkt präsent.[23] Die Disability Studies beschäftigen sich somit damit, Behinderung neu zu denken, denn die gesellschaftliche Emanzipation von Menschen mit Behinderung durch „[…] die Organisation und Verbindung von Menschen, Ressourcen und Wissen […]“ (Linton 1998, zitiert nach Dederich 2012, 18) bleibt das Ziel dieses wissenschaftlichen Ansatzes.

Im folgenden Kapitel sollen historisch bedingte, soziale und gesellschaftliche Verbindungen zwischen den Gender Studies und den Disability Studies dargestellt werden.[24]



[2] Vgl. Bundschuh 2007, 25

[3] Vgl. ebd.

[4] Vgl. ebd., 60.

[5] Vgl. Bundschuh 2007, 248

[6] Vgl. ebd.

[7] Vgl. ebd.

[8] Vgl. ebd., 249

[9] Vgl. ebd.

[10] Vgl. Dederich 2012

[11] Vgl. Dederich 2012

[12] Vgl. ebd., 9

[13] Vgl. Raab 2012, 3f

[14] Vgl. Dederich 2012, 17f

[15] Vgl. Raab 2012, 3

[16] Vgl. Dederich 2012, 17f

[17] Vgl. Dederich 2012, 16ff

[18] Vgl. Raab 2012, 3

[19] Vgl. Dederich 2012, 17f

[20] Vgl. Raab 2012, 3f

[21] Vgl. Raab 2012, 3

[22] Vgl. Dederich 2012, 10

[23] Vgl. ebd., 9f

[24] An dieser Stelle soll auf das Werk „Disability History“ (2010) von Bösl, Klein und Waldschmidt (Hrsg.) verwiesen werden. Das genannte Werk wurde für die vorliegende Arbeit nicht verwendet, ist aber von besonderer Wichtigkeit für die Historisierung und gegenwärtigen Darstellung der Disability Studies und von Behinderung.

2. historische Einbettung – Verbindungen zwischen den Gender Studies und den Disability Studies

Noch in der frühen Neuzeit wurden Menschen mit Behinderung als Freaks und Monster bezeichnet[25] und es dauerte bis ins späte 20. Jahrhundert, bis es zu gravierenden Behindertenbewegungen kam – ausgelöst von und parallel zu den Frauenbewegungen. Erst dann etablierten sich die Disability Studies an den Hochschulen.[26] Prinzipiell sind die Disability Studies aus unterschiedlichen Strömungen entstanden. So formuliert Snyder: „Gruppen behinderter Menschen hatten ihre Lebensbedingungen einer Kritik unterzogen und angefangen, den Diskursen, die nicht mit ihnen, sondern über sie geführt wurden, in künstlerischer, wissenschaftlicher und pädagogischer Hinsicht etwas entgegenzusetzen.“ (Mitchell/Snyder 2002, zitiert nach Dederich 2012, 21) Snyder nimmt hier Bezug auf die Independent-Living-Bewegung, deren Ziel und Weg lautete: „Nichts über uns ohne uns!“ (ebd.). Des Weiteren erkannte man, dass viele erlebte Schwierigkeiten und Hindernisse nicht auf die Schädigungen zurückzuführen waren, sondern auf gesellschaftliche Diskriminierungen und soziale Barrieren. So entstand 1972 das erste „Center for Independent Living“ mit Peer Counseling- Angeboten in den USA, in dem Beratungen von Menschen mit Behinderung für Menschen mit Behinderung angeboten wurden.[27] Im Vergleich dazu begann die feministische Frauenbewegung zu hinterfragen, was bis in die 1970er Jahre als normal galt, nämlich beispielsweise das Verbot der Abtreibung, die Pathologisierung von Homosexualität als Krankheit, die Benachteiligung von Frauen beim Scheidungsrecht sowie die Diskriminierung nicht verheirateter Frauen.[28] All dies wurde als sozial und gesellschaftlich konstruiert entlarvt und nicht mehr als gegeben oder normal hingenommen.

Wie also hier schon erkennbar ist, sind es insbesondere die politischen Wurzeln und die Themenverwandtschaft[29], welche die Disability Studies mit den Gender Studies verbinden. Doch die beiden Forschungsströmungen bedingen sich nicht nur bzw. haben sich die Disability Studies nicht nur über die Bewegungen der Gender Studies entwickelt, auch handelt es sich auf beiden Seiten um emanzipationsorientierte Forschungsrichtungen[30], denen Unterdrückung, Ausgrenzung und Diskriminierung bzw. die Bekämpfung dieser zu Grunde liegen. In beiden Forschungsrichtungen geht es um dieselben bzw. um ähnliche Themen, die im Mittelpunkt stehen: um Anerkennung, den Kampf gegen Ausgrenzung und Unterdrückung, fehlende Chancengleichheit und die Existenz sozialer Barrieren. Man lehnt sich auf gegen eine schicksalhafte Zuschreibung dessen, was eine Frau bzw. ein Mensch mit Behinderung ist. Als bestes Beispiel dafür sei auf die Auseinandersetzung mit dem § 218 im Zuge der zweiten Frauenbewegung verwiesen.[31] Die Kritik an diesem Paragraphen richtete sich „gegen den fremdbestimmten Umgang mit dem Körper durch (männlich dominierte) medizinische und juristische Praktiken“ (Villa 2001, 146). Man forderte Selbstbestimmung und einen autonomen Umgang mit dem Körper, was durch den Slogan „mein Bauch gehört mir“ (ebd.) verdeutlicht wurde.[32] Denn, „ein Mensch muss, um überhaupt Mensch zu sein, Kontrolle über sich haben, über seinen Körper ebenso wie über sein Bewusstsein“ (ebd.). Ähnliches bzw. Gleiches fordert auch die Behindertenbewegung: Selbstbestimmung über den eigenen Körper und einen autonomen Umgang mit dem eigenen Körper. Die beiden Forschungsausrichtungen haben dabei weiter gemeinsam, dass die Perspektive der Betroffenen gezeigt wird: Aus der Sicht von Frauen und von Menschen mit Behinderung werden Differenzverhältnisse und Ungleichheiten untersucht.[33]

Aufgrund der Verbindungen zwischen den Gender und den Disability Studies soll an dieser Stelle auf die Frauenforschung in der Behindertenpädagogik verwiesen werden. Ausschlaggebend für die Frauenforschung im Behindertenbereich war die Tatsache, dass zwar Geschlecht und Behinderung für sich schon Fläche für Diskriminierungen bieten, beide Komponenten gemeinsam jedoch doppelte Angriffsfläche bieten können.[34] Auch hier soll dabei kein Überblick über die Behindertenpädagogik gegeben werden. Die Darstellung dient jedoch der Verdeutlichung der Verwobenheit von Gender und Disability Studies bzw. Geschlechterthemen und Themen von Menschen mit Behinderung.

Laut Ulrike Schildmann weist die Frauenforschung in der Behindertenpädagogik drei Entwicklungsphasen auf: eine Initiativphase, eine Phase der Ausdifferenzierung und Etablierung sowie eine Phase der wissenschaftlichen Vertiefung, die noch anhält.[35]

Die Frauenforschung in der Behindertenpädagogik steht in enger Verbindung mit der Frauenbewegung in den 70er Jahren.[36] Erstmals wurde erkannt, dass nicht nur der Rolle der Frau an sich besondere Bedeutung beigemessen werden muss, sondern die Rolle der Frau mit Behinderung besonderer Beachtung bedarf. Da Behinderung und Geschlecht per se schon genügend Anlauffläche für Diskriminierung bieten, fiel schnell der Begriff der doppelten Diskriminierung[37], wodurch klar wurde, dass beide Kriterien – Behinderung und Geschlecht – nicht (nur) getrennt voneinander betrachtet werden dürfen, sondern auch die Situation einer Frau mit Behinderung besondere Beachtung braucht.[38] Aus dieser Erkenntnis heraus entstanden – nur um ein Beispiel zu nennen – die „Krüppelfrauengruppen“ im „Internationalen Jahr der Behinderten“ 1981[39]. So wurde der Zusammenhang zwischen der Behindertenpädagogik und der Frauenbewegung der 70er und 80er Jahre prägend und maßgeblich hergestellt.[40] Dass eine solche neue Sichtweise auf die Frau mit Behinderung allerdings nicht nur Zustimmung erfährt, muss nicht geklärt werden. Schildmann erklärt, dass sich der Begriff der doppelten Diskriminierung schnell als ein politischer Begriff herausstellte, „denn weibliche Lebensbedingungen und Behinderung verknüpfen sich nicht – im Sinne des Begriffes – additiv, vielmehr verschärft Behinderung (zu verstehen als soziale Folge von Krankheit, gesundheitlichen Schädigungen und individuellen Einschränkungen) die im patriarchalisch-kapitalistischen System bereits strukturell angelegten Abwertungen, Benachteiligungen, Diskriminierungen von Frauen und deren Lebens- und Arbeitszusammenhängen“ (Schildmann 2000a, 10). Mit diesen Erkenntnissen und neuen Forschungsbereichen kam es – zeitgleich auf internationaler Ebene in Deutschland, den USA und Kanada – zu öffentlichen Diskussionen in der ersten Hälfte der 80er Jahre.[41] Doch nicht nur diese Erkenntnis brachte die Initiativphase, die nach Schildmann von ca. 1978 bis ca. 1988 dauerte[42], zu Tage. Insbesondere im Fokus standen laut Schildmann vier Arbeitsfelder: Mütter von Kindern mit Behinderung, Mädchen mit Behinderung, Frauen mit Behinderung und beruflich tätige Frauen in der Behindertenpädagogik.[43]

Die Phase der Ausdifferenzierung bzw. Etablierung fand nach Schildmann von ca. 1988 bis ca. 1997 statt, da es zu dieser Zeit zu einer starken thematischen Ausdifferenzierung und einer gewissen Etablierung der Frauenforschung in der Behindertenpädagogik kam.[44] Am deutlichsten im Mittelpunkt stand dabei das Forschungsfeld der sozialen Lage von Frauen mit Behinderung, welches schließlich den Ausgangspunkt des gesamten Fachgebietes darstellt. Ebenso kam es zu dieser Zeit in Deutschland zu von den Landesministerien geförderten Gründungen landesweiter Netzwerke behinderter Frauen und zu umfassenden empirischen Studien im Bereich der Frauenforschung in der Behindertenpädagogik.[45] 1996 und 1997 wurden die ersten beiden Fachtagungen zur Geschlechterproblematik in der Behindertenpädagogik durchgeführt.[46] Ansätze zu einer wissenschaftlichen Vertiefungsphase gibt es laut Schildmann seit ca. 1997/98.[47] Hinweisend dafür sind diverse wissenschaftliche Arbeiten und Publikationen und die Tatsache, dass die Disability Studies immer mehr in den Vordergrund rücken. Besonders gut erkennbar ist dies allein an den Studienplänen sozial-wissenschaftlicher Studienrichtungen, aus denen die Disability Studies nicht mehr wegzudenken sind.

Eine tiefergehende Vergleichbarkeit der beiden Forschungsströmungen soll an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden, dies würde den Rahmen der Arbeit sprengen. Im folgenden Kapitel soll stattdessen auf das Geschlecht als soziales Konstrukt eingegangen werden.



[25] Vgl. Dederich 2012, 86f

[26] Vgl. ebd., 17f

[27] Vgl. ebd., 22f

[28] Vgl. Villa 2007, 23

[29] Vgl. Dederich 22ff

[30] Vgl. Dederich

[31] Vgl. Villa 2001, 146

[32] Vgl. ebd., 146f

[33] Vgl. Raab 2012, 2

[34] Vgl. Schildmann 2000a, 9

[35] Vgl. Schildmann 2000a, 9

[36] Vgl. ebd.

[37] Vgl. ebd., 10

[38] Vgl. ebd., 9f

[39] Vgl. ebd., 9

[40] Vgl. ebd.

[41] Vgl. Schildmann 2000a, 10

[42] Vgl. ebd., 11

[43] Vgl. ebd., 11f

[44] Vgl. ebd., 11

[45] Vgl. ebd., 11f

[46] Vgl. ebd., 14f

[47] Vgl. ebd., 15ff

3. Geschlecht als soziales Konstrukt

Um auf das eigentliche Thema dieses Kapitels eingehen zu können – das Geschlecht als soziales Konstrukt – muss erst der Begriff „Geschlecht“ definiert werden. An dieser Stelle soll auf die Unterscheidung zwischen „sex“ und „gender“ eingegangen werden, um in weiterer Folge Geschlecht und Identität und Geschlecht als Rolle sowie als soziales Konstrukt darstellen zu können.

Der Begriff „Geschlecht“ beruht zwar auf biologischen Merkmalen, im Generellen wird dabei auf die Zweigeschlechtlichkeit Bezug genommen[48], jedoch eben nicht nur. Das Geschlecht wird auch immer – völlig unabhängig von der Art der Gesellschaft oder der historischen Einordnung – kulturell überformt und sozial gedeutet.[49] Hierfür unterscheidet man zwischen dem Begriff „sex“ für das biologische Geschlecht und „gender“ für das soziale.[50] Im Deutschen gibt es dafür keine passende Übersetzung, weshalb sich die englischen Begriffe auch im deutschen Sprachgebrauch durchgesetzt haben. Wie wir uns im weiteren Schritt als Mann oder Frau fühlen, wie wir unsere Geschlechtszugehörigkeit und jene unserer Mitmenschen wahrnehmen, wird durch alltägliche Interaktionen und Kommunikation, durch Beobachtung und Nachahmung erzeugt, bestätigt, verfestigt und neu interpretiert.[51] Diese Vorstellungen von der Bedeutung des Geschlechts bzw. diese Hervorbringung der sozialen Wirklichkeit der Geschlechter nennt man – wiederum aus dem Englischen übernommen – „doing gender“.[52] Schlicht und banal kann doing gender beschrieben werden als das, was als „typisch männlich“ bzw. „typisch weiblich“ gemeint ist – und auf dieser Basis kreiert jeder von uns seine Geschlechtsidentität:[53] Kinder lernen schon in den ersten Lebensjahren, dass sie ein Junge oder ein Mädchen sind und alle Menschen in ihrer Umgebung ebenso nach dem Geschlecht klassifiziert werden können. Gelernt wird diese Klassifizierung über Interaktionen mit den Menschen im Umfeld, wodurch geschlechtsbezogene Komponenten zuerst auf äußerliche Merkmale, später auf Verhaltens- und Persönlichkeitsmerkmale bezogen werden.[54] Jedes Kind kreiert sich somit sein eigenes Bild, seine eigene Vorstellung davon, wie eine Frau bzw. ein Mann ist bzw. zu sein hat. Diese Bilder und Vorstellungen werden schließlich Leitbilder für das eigene Verhalten – das Kind versucht, dem Bild des Mannes bzw. der Frau gerecht zu werden und möglichst geschlechts-adäquat zu sein. Diese Konstruktion von Geschlechtlichkeit geschieht dabei in allen Dimensionen der Sozialisation, also in den sexuellen, körperlichen, den kognitiven, emotionalen Dimensionen und in jenen der Wertvorstellung und der Moral.[55] Unter Geschlecht kann somit nicht nur das biologische männliche und weibliche Geschlechtsorgan verstanden werden. Vielmehr handelt es sich um eine soziale Konstruktion, die sich in sozialen Handlungen äußert, wodurch wir Männlichkeit und Weiblichkeit unterscheiden. Simone de Beauvoir argumentiert die soziale Konstruktion von Geschlecht dahingehend, dass die Menschen erst durch Erziehung, Traditionen, Normen, Ideologien und Institutionen zu Frauen und Männern werden.[56] Sie unterstreicht ihre Argumentation mit dem prägnanten Satz: „Wir werden nicht als Frauen geboren, wir werden zu Frauen gemacht.“ (de Beauvoir 1949, zitiert nach Villa 2007, 19). De Beauvoir meint damit, dass beispielsweise der weibliche Säugling nicht qua Natur oder Schicksal die Bestimmung, Hausfrau oder Mutter zu werden, in sich trägt.[57] Der weibliche Säugling wird im Laufe seiner Sozialisation zu dem gemacht, was zum jeweiligen historischen Zeitpunkt gerade unter „Frau-Sein“ verstanden bzw. damit assoziiert wird.[58]

Was nun dieses „Gewordensein“ von Mann und Frau, diese soziale Konstruktion für das Rollenverhalten von Mann und Frau, Junge oder Mädchen bzw. für die Ausbildung der Identität bedeutet, wird im folgenden Kapitel dargestellt.

3.1 Geschlecht und Identität, Geschlecht als Rolle

Im Laufe des Sozialisationsprozesses eines Menschen entsteht somit die Ich- Identität[59] – der Mensch entwickelt ein dauerhaftes Bewusstsein von sich selbst, er nimmt sich als Person wahr. Einen zentralen Part dieser Ich-Identität nimmt die Geschlechtsidentität[60] ein. Wie oben schon beschrieben, lernt der Mensch Junge oder Mädchen, Mann oder Frau zu sein und übernimmt bzw. interpretiert für sich bestimmte Deutungsmuster, Selbst- und Fremdwahrnehmungen.[61] Jeder Mensch konstruiert sich somit sein Bild von Männlichkeit und Weiblichkeit. Doch die Ich-Identität und die Geschlechtsidentität sind keine statischen Größen, sie sind Konstrukte, die einem individuellen Konstruktionsprozess unterliegen: Der Mensch versucht stetig, eine Balance zwischen inneren Vorstellungen und äußeren Einflüssen herzustellen.[62]

Ähnlich wie eine Rolle, die wir je nach Kontext, Umfeld, Mitmenschen usw. einnehmen, ist die Geschlechtsidentität in allen zwischenmenschlichen Interaktionen von großer Wichtigkeit. Sie leitet unser Handeln, unser Kommunizieren – genauso wie eine Rolle zeigt sie Grenzen und Regeln auf. Identität bzw. Geschlechtsidentität entsteht somit in und durch Kultur.[63] Im Groben kann hier wohl gesagt werden, dass die Geschlechtsidentitäten – und die damit verbundenen Rollen von Frau und Mann – in beinahe allen Kulturen ähnlich sind. Vergleichbare Komponenten sind in allen Kulturen zu finden. Dies liegt hauptsächlich an der Einordnung in die Zweigeschlechtlichkeit[64]. Doch abhängig sind unsere Geschlechtsidentität und jede damit verbundene Rolle, die wir als Mann oder Frau einnehmen, von den kulturell situierten, zeitlich begrenzten Repräsentationen des jeweiligen Geschlechts. Die Repräsentationsräume bzw. der Kontext ist hierfür ausschlaggebend, wie wir uns als Frau oder Mann verhalten.[65]

Unter gender bzw. doing gender werden somit all jene Eigenschaften und Fähigkeiten verstanden, die als „männlich“ oder „weiblich“ angesehen werden.[66] So geschieht auch die „Aufteilung“, welches Geschlecht für welche Aufgaben „zuständig“ ist, und es soll verdeutlicht werden, was sich für einen Jungen oder ein Mädchen „gehört“ bzw. „nicht gehört“. Gender und doing gender sind somit sozial konstruiert, unterliegen einer gewissen Interpretation und sind prinzipiell veränderbar, „umkonstruierbar“.[67] Carol Hagemann-White sagt dazu: „Das Geschlecht ist nicht etwas, das wir haben oder sind, sondern etwas, das wir tun (doing gender).“ (Hagemann-White 1993, zitiert nach Schildmann 2000c, 47) Im Sinne des doing gender ist eine soziale Konstruktion somit eine soziale Handlung, denn Geschlecht hat man demzufolge nicht nur, man „tut“ es, und man hat Geschlecht nur, indem man es „tut“. Hagemann-White meint an dieser Stelle weiter, dass das einzelne Individuum nicht für sich sein und nach eigenem Wunsch sein Geschlecht leben kann. Dies sei „[…] vielmehr ein interaktiver Vorgang, worin wir ganz unabdingbar auf die Mitwirkung unserer Gegenüber und so auf die mit ihnen geteilte unbewusste Alltagstheorie des Geschlechts in unserer Kultur angewiesen sind.“ (Hagemann-White 1993, zitiert nach ebd.) An dieser Stelle verdeutlicht Mogge-Grotjahn – und bezieht sich dabei auf Erving Goffman (vgl. z.B. Goffman 1973, Goffman 1975[68]) –, dass der Rahmen, innerhalb dem sich unsere alltäglichen Interaktions- und Kommunikationsprozesse vollziehen, schon aus strukturierten und definierten Situationen besteht – womit die Grenze des Machbaren vorgegeben ist.[69]

Wie wir uns also verhalten, wie wir als Mann oder Frau, Junge oder Mädchen agieren und reagieren, hängt von unserer Geschlechtsidentität ab bzw. beeinflusst sie unser Verhalten in jeglichen Rollen.[70] Und unsere Geschlechtsidentität, also unsere Vorstellungen von einem Mann und einer Frau bzw. von uns selbst als Mann oder Frau, ist immer kontext- und kulturabhängig und wird von uns innerhalb dieses Rahmens von Kultur und Geschichte in Wechselbeziehung zu anderen gelebt bzw. „getan“.[71] Folgt man diesem Gedanken weiter und führt man sich vor Augen, dass eine allgemeine Unzufriedenheit und auch Unsicherheit über die Rollenverteilungen der Geschlechter, über das doing gender herrscht, so kommt man nicht umhin auch die Frage zu stellen, woher diese Konstruktion von Geschlecht kommt und wie sie entsteht und geschieht. Dies soll im folgenden Kapitel weiterverfolgt werden.

3.2 Die Repräsentation und Konstruktion von Geschlecht

Wie eingangs schon erwähnt, gibt es verschiedene Repräsentationen von Geschlecht. Insbesondere die Frau wird beispielsweise in den Medien in den Mittelpunkt gerückt – meist als schlanke, trainierte, wunderschöne Perfektion – und wird so zum Vorbild für junge Mädchen, die versuchen, ihre Identität, ihre Geschlechtsidentität anhand eines historisch entstandenen Konstrukts aufzubauen. Doch auch Männer bzw. Jungen sind vor der Repräsentation des Geschlechts nicht gefeit. Ihnen wird ebenso ein perfekt geformtes, durchtrainiertes, erfolgreiches männliches Konstrukt vorgesetzt, an dem sich insbesondere junge Männer orientieren. Beiden Geschlechtern, Männern und Frauen, wird gezeigt, wie sie sein sollten, wie sie auszusehen haben, was sie haben oder nicht haben müssen, um möglichst der Repräsentation, der Konstruktion einer unerreichbaren, vervollkommneten Perfektion gerecht zu werden.

Zum Thema der Konstruktion von Geschlecht sagt Schildmann: „Die soziale Konstruktion der Kategorie Geschlecht zeigt sich als Resultat gesellschaftlicher 0Konstituierungsprozesse, d.h. das Spannungsfeld zwischen den Geschlechtern unterliegt den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen einer Epoche.“ (Schildmann 2000c, 47) Wird beispielsweise die Konstruktion „Frau“ heute hauptsächlich über die Medien, vorrangig über das Fernsehen und über Werbung, erstellt, so geschah dies vor hundert Jahren noch auf andere Weise und auch die Konstruktion der Frau sah anders aus als heute. Als Erklärung für die soziale Konstruktion von Geschlecht erklärt Schildmann weiter: „Die Kategorie Geschlecht dient als Prinzip sozialer Gliederung […] und umfasst eine wesentliche gesellschaftliche Hierarchieebene. Sie ist ein struktureller Indikator gesellschaftlicher Ungleichheitslagen […] und als solcher sehr stabil. […]. Durch die neuere feministische Frauenforschung wurde aber dieses Bild ins Wanken gebracht: Das biologische Geschlecht wurde in seinem gesellschaftlichen Zusammenhang, ohne den es nicht existiert (sex and gender), bewusst gemacht. […].“ (ebd.) In diesem Kontext betont Mogge-Grotjahn, dass soziale Konstruktionen von Geschlecht deshalb so schwer veränderbar sind, weil „die ökonomischen, politischen, rechtlichen und sozialen Strukturen der Gesellschaft mit den ureigensten, persönlichsten und privatesten Erfahrungen der Subjekte unauflöslich verbunden sind“ (Mogge-Grotjahn 2004, 10). Es besteht somit eine Wechselwirkung zwischen dem Innen und dem Außen, zwischen der Geschlechtsidentität bzw. den Vorstellungen davon und den von außen herangetragenen Konstrukten von Männlichkeit und Weiblichkeit. Mann und Frau versuchen stetig, sich als „Mann“ oder „Frau“ zu präsentieren (sind dazu sogar vom Außen gezwungen), beispielsweise durch einen bestimmten Habitus, durch die Darstellung von Stärke und Schwäche, durch den Umgang mit der eigenen Befindlichkeit – orientiert an den eigenen, entwickelten Vorstellungen und an den gesellschaftlich erwünschten Bildern von Männlichkeit und Weiblichkeit bei gleichzeitigem Versuch, die „Ordnung“ bzw. die soziale Gliederung aufrechtzuerhalten.[72]

Auch Judith Butler (vgl. z.B. Butler 1991, Butler 2004[73]), deren Arbeiten in der feministischen Theorie nicht mehr wegzudenken sind, sieht Geschlecht als soziale Konstruktion. Sie geht jedoch noch einen Schritt weiter und versteht nicht nur gender als sozial konstruiert, sondern auch sex. Sie lehnt die Trennung von sex und gender ab und ist der Meinung, dass die gesamte Wirklichkeit – somit auch das biologische Geschlecht – Bedeutung erlangt, indem sie von Menschen hergestellt bzw. konstruiert wird.[74] Butlers Überlegungen gehen dabei auf Michel Foucault (vgl. z.B. Foucault 1969, Foucault 1981[75]) zurück und basieren auf der These, dass Realität erst durch Sprache entsteht. Erst durch das Benennen entsteht Bedeutung, also durch Konstruktion entsteht Wirklichkeit.[76] Die von uns erlebte „Wirklichkeit“ erlangt also erst ihre Bedeutung, ihre Existenz durch ihre Benennung – was verständlich ist, wenn man bedenkt, dass der Mensch von Grund auf „verstehen“ und somit einordnen und benennen will. Kritisiert werden muss Butlers Theorie an dieser Stelle aber mit der Frage: Hat etwas somit keine Bedeutung, keine Existenz, wenn man es nicht benennt? Und müssen soziale Ungerechtigkeiten, wie beispielsweise Diskriminierung, nicht erst recht benannt werden, eben weil sie Bedeutung haben?

Verwendet man Butlers Gedankengut aber als Basis und geht man von ihrer Theorie aus, so stellt sich unweigerlich die Frage, ob es Geschlechterverhältnisse gäbe, wenn die Geschlechter als solche nie definiert worden wären. Würde es ohne Benennung die Unterscheidung zwischen Mann und Frau gar nicht geben? Würden Diskriminierung, Unterdrückung und Gewalt in der Hinsicht gar nicht existieren? Existieren würden sie wohl schon, dann vielleicht auf einer anderen Ebene, in anderer Hinsicht – wo wir wieder bei Schildmanns Erklärung der Kategorie Geschlecht als Prinzip sozialer Gliederung wären.[77] Würde das Geschlecht nicht als gesellschaftliche Hierarchieebene funktionieren, dann wahrscheinlich ein anderer Bereich, eine andere Kategorie.

Andererseits muss aber auch beachtet werden: Wenn die Wirklichkeit erst durch Benennung entsteht, so kann sie auch umbenannt werden – wodurch eine andere Wirklichkeit entstehen kann. Was also sozial konstruiert wurde, kann auch dekonstruiert werden, was laut Butler beispielsweise durch „spielerische Überschreitungen der geschlechtsgebundenen Normen“ (Butler 1991, zitiert nach Mogge-Grotjahn 2004, 85f) versucht werden kann. Dieses Argument bildet die Basis von Butlers Dekonstruktions-Theorie.[78] Laut dieser Theorie wird der Körper als „Scharnier von Struktur und Subjekt“ (Villa 2001, ebd., 86) verstanden. Wichtig dabei ist, dass mit der (De-) Konstruktions-Theorie von Butler nicht die Existenz des Körpers bzw. des biologischen Geschlechts infrage gestellt wird. Vielmehr wird die Annahme kritisiert, unser Körper sei unveränderlich, lediglich biologisch konstituiert und die soziale Bedeutung des Geschlechts würde ihm „übergestülpt“ werden.[79] Butler meint damit, dass soziale Verhältnisse in unsere Körper „eingeschrieben“ werden und wir unsere Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit „verkörpern“.[80] Somit wird klar, dass es eine untrennbare Verbindung zwischen Körper und Identität gibt. Ein „Verkörpern“ ist jedoch nur mit einem Gegenüber möglich. Wir brauchen jemanden, der unsere „Verkörperung“ wahrnimmt – im Gegenzug nehmen wir auch die „Verkörperung“ unseres Gegenübers wahr. In weiterer Folge muss die Verbindung somit „Körper – Identität – Gesellschaft“ heißen.

Die Auseinandersetzung mit der Konstruktion und Dekonstruktion des Geschlechts macht somit weiter deutlich, dass die Menschen die Bedeutung des Geschlechts immer wieder neu hervorbringen.[81] Dieses immer wieder neu Hervorbringen, dieses Wiederholen beschreibt Butler folgendermaßen: „[…] die Konstruktion ist weder ein Subjekt noch dessen Handlung, sondern ein Prozeß [sic] ständigen Wiederholens, durch den sowohl ‚Subjekte‘ wie ‚Handlungen‘ überhaupt erst in Erscheinung treten. Es gibt da keine Macht, die handelt, sondern nur ein dauernd wiederholtes Handeln, das Macht in ihrer Beständigkeit und Instabilität ist.“ (Butler 1997, zitiert nach Redecker 2011, 55)

Damit schließt sich der Kreis wieder zum Thema doing gender. Doing gender bestimmt im großen Ausmaß die Interaktion und Kommunikation der Menschen. Doch auch hier stellt sich die vorhergehend schon gestellte Frage nach dem Warum dieser Konstruktionen. Auch Goffman beschäftigte sich mit dieser Frage und stellte fest: „[…] dass die körperlichen Unterschiede zwischen den Geschlechtern als solche keine große Bedeutung für die menschlichen Fähigkeiten haben, die wir zur Bewältigung der meisten Aufgaben benötigen. Dann aber lautet die interessante Frage: Wie konnten in der modernen Gesellschaft derartig irrelevante biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern eine anscheinend ganz enorme soziale Bedeutung gewinnen? Wie wurden diese biologischen Unterschiede, ohne biologische Notwendigkeit, sozial erweitert?“ (Goffman 1994, zitiert nach Mogge-Grotjahn 2004, 88). Eine Antwort wird durch die dekonstruktivistische Theorie versucht zu geben, indem sie besagt, dass Geschlechterdifferenzen und –konstruktionen erst durch ihre Thematisierung und Erforschung Bedeutung erlangen.[82] Das mag wohl sein, doch noch wichtiger – und tiefergehender – ist die Tatsache, dass der Mensch nach Ordnung und Erklärung strebt. Er versucht, alles Unverständliche einzuordnen, zu kategorisieren, zu erklären. Eine Erklärung für die Entstehung und Stabilität der sozialen Konstruktion der Geschlechter ist somit die Ordnung: Soziale Konstruktion bedeutet für den Menschen soziale Ordnung.[83] Erst durch die Einordnung von allem, was um ihn herum geschieht, durch die Konstruktion und – wenn man so will – Zurechtlegung und Kontrolle der Wirklichkeit fühlt sich der Mensch sicher. Es werden Normen gebildet. Diese Annahme impliziert aber auch die Tatsache, dass es neben der Norm auch das nicht der Norm Entsprechende gibt. Doch die faktische Wirksamkeit seiner Konstruktion bringt den Menschen dazu, zu glauben, dass er nur so und nicht anders handeln könnte, weil er beständig durch sein Tun eine jeweilige soziale Ordnung hervorbringt.[84] Wichtiges Schlagwort dabei ist „Unbewusstheit“.[85] Die Normenbildung und die Konstruktion der Wirklichkeit sind so tief im Menschen, in der Sozialisation verankert, dass sie dem Menschen nicht bewusst sind. Villa erklärt dies so: „Unbewusstheit […] ist damit ein zentraler Mechanismus der subjektiven Individuation durch Vergesellschaftung […]“ (Villa 2001, 145). Und Villa erklärt weiter, dass Gesellschaft als subjektive Wirklichkeit „[…] nur dadurch als Gesellschaft existiert, weil Menschen sie durch zum großen Teil unbewusstes, weil früh internalisiertes ‚Rezeptwissen‘ erzeugen. […] Soziale Praxis funktioniert nicht (oder ausgesprochen selten) nach expliziten Regeln, die rein kognitiv erlernt werden. Vielmehr sitzen sie ‚tief unter der Haut‘“ (ebd.). Villa meint damit Interaktionen wie beispielsweise angemessenen Abstand halten, die Lautstärke der Stimme an die Situation anpassen, usw.[86] Kurz: Soziale Konstruktion bedeutet soziale Ordnung.[87] Doch was geschieht mit denen, für die diese „soziale Ordnung“ anders aussehen muss bzw. die sich in dieser konstruierten Ordnung nicht wohl fühlen oder zurecht finden? Was ist mit denen, die der Norm nicht entsprechen? Butler hat dies sehr prägnant auf den Punkt gebracht: „Unser Leben – das von Frauen und Männern – wird von Normen beherrscht. Wenn wir uns diesen widersetzen, kann es sein, dass wir herausfallen oder herausgestoßen werden.“ (Butler 2002, 157) Weiter betont sie – und bietet dadurch ebenfalls eine Erklärung für die Normenbildung, für die Konstruktion der Wirklichkeit –, dass uns Normen ein Gefühl des Gemeinsamen geben, auch wenn dabei jene ausgeschlossen werden, die nicht der Norm entsprechen.[88] „In diesem Sinne sehen wir die Norm als das, was uns verbindet, aber wir sehen ebenfalls, dass die Norm nur durch eine Strategie des Ausschließens Einheit schafft.“ (ebd.) Auch wenn diese Tatsache von vielen ignoriert wird, einfach um des Gefühls willen, dazuzugehören. Butler nennt dies „das Doppelte der Norm“ (ebd.) und meint damit die Ambivalenz der Konstruktion bzw. der Normenbildung: das Dazugehören und das gleichzeitige Ausschließen. Normen bestimmen darüber, was eine lebenswerte Existenz darstellt – überspitzt formuliert wird so entschieden, welches Geschlecht wertvoll ist und welches nicht. Wird einem dieser Gedanke in seiner vollen Bandbreite erst einmal bewusst, so braucht es nicht viel, dass man sich die Frage stellt, wie es trotz der schon vorhandenen Wertung und Ausschließung und damit schon brutalen Ausschließung eines Geschlechts noch zusätzlich zu Gewalt und Diskriminierung kommen kann. Ist der Ausschluss nicht schon Diskriminierung genug? Oder ist jede weitere Gewalthandlung Teil eines weiteren oder des andauernden Ausschlusses? Um dies verständlicher zu machen, soll der weitverbreitete Hass gegen Homosexuelle genannt werden. Nicht selten kommt es vor, dass Homosexuellen Leid zugefügt wird, dass sie bedroht und diskriminiert werden – lediglich aufgrund dessen, weil sie nicht mit den Geschlechternormen konform gehen. Butler erklärt dies als Deutung daraufhin, „dass das Leben selbst diese Normen verlangt. Dahinter verbirgt sich der ängstliche und starre Glaube, dass der Sinn der Welt und der Sinn des Selbst radikal untergraben werden, wenn solch einem nicht einzuordnenden Lebewesen erlaubt wird, innerhalb der sozialen Welt zu existieren. Es handelt sich um den törichten und gewaltsamen Versuch, die Ordnung wiederherzustellen und die Herausforderung abzulehnen, diese Welt als etwas anderes als Naturgegebenes oder Unausweichliches neu zu denken.“ (ebd., 158) Es handelt sich also um einen Schutz der eigenen Wahrheit, der genormten Geschlechterordnung, der eigenen konstruierten Wirklichkeit. Alles, was dabei nicht in unsere Wirklichkeit passt, sie zu verändern, zu erschüttern droht, wird bekämpft und vertrieben. Doch das hat nicht nur Folgen für alles außerhalb der Norm: „Durch die Zufluchtsuche zu Normen wird der Bereich des menschlich Verständlichen eingegrenzt, und diese Eingrenzung hat Folgen für jegliche Ethik und jede Vorstellung von sozialem Wandel.“ (ebd., 159) Solange also an Normen festgehalten wird, solange ihre Grenzen starr fixiert bleiben, kann sich das Denken des Einzelnen und jenes einer ganzen Gesellschaft nicht ändern, was Auswirkungen auf die Zukunft der gesamten Gesellschaft hat.[89]

Im folgenden Kapitel soll ein Beispiel für Normenvorstellung bzw. die Konstruktion von Geschlecht dargebracht werden.

3.3 Geschlecht als Stigma – unterdrückte Frauen als Subalterne

Die Rollen von Frauen und Männern sind heute im Allgemeinen deutlich ausdifferenziert und innerhalb klarer Grenzen sozial konstruiert – überall auf der Welt, in allen Kulturen. Scheinbar nebenbei erhielten Frauen dabei eine untergeordnete Position. Die sozialen Konstruktionen der Geschlechter führten zu einer Hierarchisierung, bei der Frauen meist deutlich benachteiligt werden. Frauen haben dabei einen erschwerten Zugang zu Macht, ihre Löhne sind im Durchschnitt sehr viel geringer als jene der Männer, ihnen fällt automatisch die Rolle der Hausfrau zu, sobald sie Kinder gebären. Manche sprechen in einigen Bereichen aber von einer Bevorzugung der Frau, beispielsweise, weil sie keinen Präsenzdienst beim Militär leisten muss.[90] Die Frage sei dahingestellt, ob es sich um eine Bevorzugung oder eine erneute Diskriminierung handelt, wenn der Grund für diese Bevorzugung eine Einordnung in die Gruppe „des schwachen Geschlechts“ ist. Egal wie, man findet auf der ganzen Welt eine Hierarchisierung der Geschlechter vor – wie gesagt, sind Frauen dabei den Männern meist unterstellt. Dabei handelt es sich in allen Fällen um gemachte Hierarchisierungen, um soziale Konstrukte, die nur schwer zu dekonstruieren sind.

An dieser Stelle soll ein Beispiel von Gayatri Chakravorty Spivak (2014) und ihre Theorie über die Subalternen für die soziale Konstruktion von Geschlecht – hier sogar in zweifacher Weise – gegeben werden. In ihrem Werk „Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation“ (2014) setzt sich Spivak mit der „Frage von Unmöglichkeit und Möglichkeit eines Sprechens der Subalternen“ (Spivak 2014, Klappentext) auseinander. Hierfür bedarf es einer vorhergehenden Erklärung: Unter „subaltern“ versteht man das untergeordnet Sein oder auch einen untergeordneten Rang einnehmend. Spricht man also von einer subalternen Gruppe oder Person, so versteht man darunter eine ausgegrenzte, untergeordnete Gruppe oder Person, die unterwürfig sowie geistig unselbstständig ist und nur über beschränkte Entscheidungsbefugnis verfügt.[91] Wenn Spivak dabei in ihrem Werk die Frage „Can the Subaltern Speak?“[92] stellt, darf man „speak“ nicht einfach mit „sprechen“ übersetzen. Vielmehr geht es darum, dass Subalterne nicht gehört werden – selbst wenn sie sprechen.[93] Spivak kritisiert dabei auch ExpertInnen, im Speziellen Gilles Deleuze und Michel Foucault, die versuchten, die Unterdrückten „für sich selbst sprechen“ zu lassen, was für Spivak eine Geste der Erhöhung seiner selbst ist.[94] Und auch eine Rekonstruktion, eine „Übersetzung“ der Stimme der Subalternen ist laut Spivak nicht möglich – insbesondere nicht, wenn es sich um weibliche Subalterne handelt.[95] Als erklärendes Beispiel dafür nennt Spivak die indische Witwenverbrennung.[96] Dabei steigt die Hindu-Witwe auf den Scheiterhaufen ihres toten Ehemannes und opfert sich durch Verbrennung auf diesem selbst. Dieser Ritus war nicht kasten- oder klassenspezifisch und wurde auch nicht durchgängig praktiziert.[97] Interessant an diesem Ritus der Witwenverbrennung ist aber die Tatsache, dass er gleich doppelt sozial konstruiert wurde, nämlich einerseits von den frühen kolonialen britischen Männern, auf die die Abschaffung des Witwenopfers im Jahr 1829 zurückgeht und die versuchten, die indische Frau vor ihrer eigenen Kultur zu retten, und andererseits von den indischen Männern selbst, die diesen Brauch zu legitimieren versuchten und schlicht erklärten[98]: „Die Frauen wollten tatsächlich sterben.“ (ebd., 81) Spivak meint an dieser Stelle: „Die beiden Sätze reichen aus, um einander über weite Strecken [zu] legitimieren. Niemals trifft man auf das Zeugnis eines Stimmbewusstseins der Frauen.“ (ebd.) Die indischen Witwen standen somit als Subalterne dazwischen und wurden nicht gehört. Spivak verwendet dieses Beispiel der sozialen Konstruktion von Geschlecht, um zu zeigen „[…] wie eine Erklärung bzw. ein Narrativ der Realität als normativ etabliert wurde“ (ebd., 42). Besser gesagt, zwei Erklärungen in zwei unterschiedlichen Ländern bzw. Kulturen wurden normativ etabliert und waren doch nichts als Erklärungen. Es entstanden also zwei verschiedene soziale Konstrukte der indischen verwitweten Frau, ohne, dass diese selbst gehört wurde. Spivak hat dafür den Satz kreiert „Weiße Männer retten braune Frauen vor braunen Männern“ (ebd., 78). Versucht man sich einmal die eine Seite dieser speziellen Konstruktion zu verdeutlichen, so wird schnell klar, dass die britischen Männer diesen Brauch als brutale Hinrichtung der indischen Frauen ansahen, die dem „Gesetz“ der indischen Männer folgen mussten. Schlicht: Die britischen Männer wollten den Frauen helfen, sie retten, befreien. Doch Spivak verdeutlicht dabei, dass der Akt des Helfens eigentlich einerseits ein Akt der Selbsthilfe ist und hier andererseits dazu dient, aus der offenbar so brutalen und barbarischen indischen Gesellschaft eine „gute“ Gesellschaft zu machen.[99] Sie meint dazu, „[…] dass der Schutz der Frau […] zu einem Signifikanten für die Errichtung einer guten Gesellschaft wird, die in solchen inaugurativen Momenten die reine Legalität oder Unparteilichkeit der Rechtspolitik überschreiben muss“ (ebd., 82). Somit wurde ein Akt, der als Ritual geachtet war, zu einem Verbrechen.[100]

Auf der anderen Seite, bei Betrachtung der indischen Konstruktion, muss gesagt sein, dass Selbstmord in der indischen Kultur verwerflich ist. Die Witwenverbrennung stellte dabei eine Ausnahme dar – schon allein deshalb, weil sie nicht als Selbstmord gehandelt wurde.[101] Es wurde somit Raum für „bestimmte Arten des Selbstmordes“[102], für die Selbstopferung geschaffen, und dies nur für Frauen. Selbst wenn die Selbsttötung auf dem Scheiterhaufen nicht Vorschrift war, so wurden diese Frauen doch als äußerst mutig gefeiert, das Sterben wurde dabei sogar als Belohnung angesehen, und die Frauen wollten die Ideale des weiblichen Verhaltens in Ehren halten.[103] Des Weiteren galt es als schwerer Verstoß, wenn die Witwe sich kurz vor dem Ritual doch „umentschied“. Ein solches Umkehren wurde bestraft. War jedoch ein lokaler britischer Polizeibeamter anwesend, so war die Umkehr Zeichen echter freier Wahl und Freiheit.[104]

Die Voraussagung einer „himmlischen Belohnung“ (ebd., 93) machte die Frau zum Objekt, zum Besitz des bzw. eines Mannes. Die Grenzen des eigenen Willens verschwimmen hier somit zunehmend.[105] Diese Ironie, die, wie Spivak sagt, „darin liegt, den freien Willen der Frau in einer Selbstopferung anzusiedeln“ (ebd.), wird sehr deutlich durch folgenden indischen Vers: „Solange die Frau [als Ehefrau; stri] sich nicht anlässlich des Todes ihres Ehemannes im Feuer verbrennt, wird sie niemals von ihrem weiblichen Körper [strisarir – das heißt, im Kreislauf der Geburten] entbunden werden […].“ (ebd.) Der weibliche Körper wird somit als Last, als etwas, das man besser loswerden sollte, abgehandelt. Die Selbsttötung im Feuer wird als universeller Weg dahin dargestellt, den weiblichen Körper endgültig hinter sich lassen zu können und nur noch in männlichen Körpern wiedergeboren zu werden.[106] Einen weiblichen Körper zu haben, wird somit als Unglück, als Last bezeichnet, was wiederum die Hierarchisierung der Geschlechter in Indien verdeutlicht, wobei die Frauen den Männern klar untergeordnet sind und als minderwertig gelten.

Auf der einen Seite steht somit der weiße Mann, der die braune Frau vor dem braunen Mann, vor dem System retten will – und sie dabei noch mehr sozial konstruiert durch die absolute Identifikation des „Gute-Ehefrau-Seins“ (ebd., 98) mit der Selbstopferung auf dem Scheiterhaufen ihres toten Ehemannes. Auf der anderen Seite steht die hinduistische Manipulation der Frau, deren Abschaffung zu einer nicht nur zivilen, sondern sogar – aus britischer Sicht – guten Gesellschaft führen würde.[107] Spivak fasst dies mit folgenden Worten zusammen: „Zwischen Patriarchat und Imperialismus, Subjektkonstituierung und Objektformierung, verschwindet die Figur der Frau, und zwar nicht in ein unberührtes Nichts hinein, sondern in eine gewaltförmige Pendelbewegung, die in der verschobenen Gestaltwerdung der zwischen Tradition und Modernisierung gefangenen ‚Frau der Dritten Welt‘ besteht.“ (ebd., 101) Die Witwen wurden somit von zwei Seiten zum Schweigen gebracht: Vom lokalen Patriarchat wurden sie als Aufrechterhalterinnen der Tradition verherrlicht. Für die britischen Männer wurden sie zum Beleg für die barbarische, zurückgebliebene indische Gesellschaft.[108] So konnten die Witwen als Subalterne nicht mehr gehört werden, denn jede ihrer Aussagen wurde als Legitimation einer Seite missbraucht und missverstanden. Es war nicht entscheidend, was sie sagten, sondern was gehört wurde, und der Kreis zu Spivaks Theorie „Die Subalterne kann nicht sprechen“ (ebd., 106) schließt sich.[109] Ein wichtiger Gedanke darf dabei aber nicht vergessen werden: „Wenn die Subalterne sich nicht artikulieren kann, dann heißt dies im Umkehrschluss auch, dass jede/r, die oder der sich artikulieren kann, nicht subaltern ist.“ (Steyerl 2014, zitiert nach ebd., 12) Bedeutet dies aber nun – umgemünzt auf die heute Situation der Frau, auf die heutige soziale Konstruktion von Geschlecht und unter der Annahme, dass die Frau von heute auch als „subaltern“ bezeichnet werden kann – dass sich Frauen durch die Frauenbewegung Gehör verschaffen konnten und aus dem Kreis der Subalternen aussteigen konnten? Die Antwort muss lauten: nicht vollständig. Denn auch hier, in der Betrachtung der sozialen Situation der Frau in der heutigen Zeit, wird noch immer meist über sie und für sie gesprochen. Die Frau wird konstruiert, indem über sie und für sie als Frau, Mutter, Hausfrau gesprochen wird. Indem beispielsweise darüber diskutiert wird, dass Frauen im Westen immer noch deutlich weniger verdienen als Männer, und dies mit diversen Erklärungen zu legitimieren versucht wird. Ich denke, es gibt Bereiche, in denen es die Frau geschafft hat, sich Gehör zu verschaffen, gehört zu werden und aus dem Kreis der Subalternen ein Stück weit austreten konnte. Damit meine ich Bereiche, wie die Wahlbeteiligung der Frau, die (begrenzte) Möglichkeit zur Bildung u.Ä. Doch hauptsächlich wird noch viel mehr über die Frau bestimmt, über sie gesprochen, anstatt zu hören, was sie selbst sagt. Ohne Zweifel kann Spivaks Theorie auf die soziale Konstruktion von Geschlecht – völlig irrelevant in welcher Kultur, an welchem Ort, zu welcher Zeit – übertragen werden. Denn gerade am Beispiel der Frau von heute ist ebenso eine mehrfache Konstruktion erkennbar: Auf der einen Seite wird, meist von männlicher Hand, versucht, die „Tradition“ der Frau am Herd, an deren Rockzipfel die Kinder hängen, hochzuhalten. Auf der anderen diesem „Dilemma“ der Einordnung als Hausfrau und Ehefrau herauszuhelfen und so vielleicht, mit Spivaks Beispiel verbindend, eine „gute“ oder vielleicht „noch bessere“ Gesellschaft zu gestalten. Dabei wird sie als Beweis für eine patriarchale Gesellschaft betrachtet. An dieser Stelle stellt sich die Frage, ob ein- und dieselbe Person in gewissen Bereichen subaltern sein kann und in manchen nicht. Ist die Frau prinzipiell subaltern? Die Frage kann wohl mit „ja“ beantwortet werden, beachtet man die Bedeutung des Wortes „subaltern“ als „untergeordnet“ und die Tatsache, dass eine die Frau unterdrückende Hierarchisierung noch besteht und Mädchen (wie Jungen) schon von Geburt an, vielleicht sogar schon vor der Geburt, sozial konstruiert werden. Und sei es aufgrund der Farbe der Decke, mit der sie nachts zugedeckt werden.

Die meiste Anwendung des Begriffs der Subalternität fand ab den 1970er Jahren in Indien und in Lateinamerika statt.[110] So schloss die nationale Geschichtsschreibung in Indien die breite Masse der indischen Bevölkerung als Subalterne vom Status politischer Subjekte aus – die Subalternen, die die Mehrheit der Bevölkerung darstellten, wurden einfach nicht als politische Subjekte erkannt. Ihr Widerstand gegen die britische Kolonialmacht wurde schlicht ignoriert.[111] Ähnlich verhielt bzw. verhält es sich mit den Frauen in unserer heutigen Gesellschaft. Sie stellen die Mehrheit der Bevölkerung dar und werden doch noch größtenteils aus wichtigen politischen und gesellschaftlichen Entscheidungen ausgeschlossen. Die Möglichkeiten einer Frau, ein höheres Amt innerhalb der Politik oder der Regierung zu erlangen, sind äußerst gering und begrenzt. Es mussten erst Gesetze geschrieben werden, die es den Frauen – in klar umrissenen Bereichen und mit einer genauen Angabe der Verteilung vom männlichen und weiblichen Geschlecht – ermöglichten, berufliche Positionen zu erlangen, die den Status der Frauen erhöhen sollten und doch aber keine bis wenig Entscheidungsmächtigkeit brachten. Und doch ist darin eine Veränderung erkennbar, wenn man die historische Entwicklung der sozialen Konstruktion der Frau betrachtet und die Situation der Frau von heute mit jener der Frau von vor 100 Jahren vergleicht.

Wie auch Spivak in ihrem Text feststellt, ist es unmöglich, der Subalternen im Nachhinein eine Stimme zu verleihen.[112] Es geht jetzt also nicht mehr darum, versuchen zu erklären, wie die Sicht der Frau durch ihre eigenen Worte dargestellt ausgesehen hat. Es geht darum, die heutige Frau in ihrer Subalternität und in ihren sozialen Konstruktionen zu erkennen und ihr Schweigen zu hören. Laut Steyerl liegt das Vermächtnis von Spivaks Text nicht in der Aufgabe, „[…] das autistische ‚Für-sich-selbst-Sprechen‘ der einzelnen Subjekte zu verstärken, sondern vielmehr darin, ihr gemeinsames Schweigen zu hören“ (Steyerl 2014, zitiert nach ebd., 16). Es müssen alle Seiten des „zum Schweigen Bringens“ gesehen werden: nämlich die eine Seite, die versucht, der Frau Tradition überzustülpen und ihr dadurch Minderwertigkeit zuschreibt, und die andere Seite, die versucht, sie aus ihrer „misslichen Lage“ zu retten, ohne nach ihrer Sicht der Dinge zu fragen. Jemanden anders „für sich selbst sprechen zu lassen“ ist laut Spivak eine uneingestandene Erhöhung seiner selbst.[113] Als Subalterne gehört zu werden, ist jedoch möglich – sonst hätte sich die Situation der Frau von heute im Vergleich zur Frau von vor 100 Jahren kein Stück verändert.

Im folgenden Kapitel soll nun Behinderung als soziales Konstrukt betrachtet werden, um schließlich die Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen beiden sozialen Konstruktionen herausarbeiten zu können.



[48] Vgl. Wetter o.J.

[49] Vgl. Mogge-Grotjahn 2004, 8

[50] Vgl. ebd.

[51] Vgl. ebd., 8f

[52] Vgl. ebd., 9f

[53] Vgl. Mogge-Grotjahn 2004, 82f

[54] Vgl. ebd.

[55] Vgl. ebd., 93f

[56] Vgl. Villa 2007, 19

[57] Vgl. ebd.

[58] Vgl. Villa 2007, 19

[59] Vgl. Mogge-Grotjahn 2004, 96f

[60] Vgl. ebd.

[61] Vgl. ebd., 96

[62] Vgl. ebd., 94ff

[63] Vgl. ebd., 96f

[64] Vgl. Wetterer o.J

[65] Vgl. Mogge-Grotjahn 2004, 99f

[66] Vgl. ebd., 87f

[67] Vgl. ebd., 8f

[68] Die hier angeführten Texte von Goffman wurden nicht für die vorliegende Arbeit verwendet, dennoch soll an dieser Stelle auf sie als die wichtigsten seiner Werke verwiesen werden.

[69] Vgl. Mogge-Grotjahn 2004, 82f

[70] Vgl. ebd., 93ff

[71] Vgl. ebd.

[72] Vgl. Mogge-Grotjahn 2004, 9f

[73] Die hier angeführten Texte von Butler wurden nicht für die vorliegende Arbeit verwendet, dennoch soll an dieser Stelle auf sie als die wichtigsten ihrer Werke verwiesen werden.

[74] Vgl. Mogge-Grotjahn 2004, 84f

[75] Die hier angeführten Texte von Foucault wurden nicht für die vorliegende Arbeit verwendet, dennoch soll an dieser Stelle auf sie als die wichtigsten seiner Werke verwiesen werden.

[76] Vgl. Mogge-Grotjahn 2004, 84f

[77] Vgl. Schildmann 2000c, 46ff

[78] Vgl. Mogge-Grotjahn 2004, 85f

[79] Vgl. ebd., 86

[80] Vgl. ebd.

[81] Vgl. Redecker 2011

[82] Vgl. Mogge-Grotjahn 2004, 84ff

[83] Vgl. ebd., 86f

[84] Vgl. ebd.

[85] Vgl. Villa 2001, 145ff

[86] Vgl. Villa 2001, 146

[87] Vgl. Mogge-Grotjahn 2004, 86f

[88] Vgl. Butler 2002, 157

[89] Vgl. Butler 2002, 158f

[90] Vgl. Goffman 1994, 119

[91] Vgl. Spivak 2014, 8f

[92] Vgl. ebd.

[93] Vgl. Spivak 2014, 7ff

[94] Vgl. ebd., 21ff

[95] Vgl. ebd., 11f

[96] Vgl. ebd., 80

[97] Vgl. ebd.,

[98] Vgl. ebd., 80f

[99] Vgl. Spivak 2014, 82

[100] Vgl. ebd.

[101] Vgl. ebd., 84f

[102] Vgl. ebd., 85

[103] Vgl. ebd., 85f

[104] Vgl. ebd., 88f

[105] Vgl. Spivak 2014, 89

[106] Vgl. ebd., 92ff

[107] Vgl. ebd., 98

[108] Vgl. Spivak 2014, 101f

[109] Vgl. ebd., 11f

[110] Vgl. Spivak 2014, 10

[111] Vgl. ebd., 10f

[112] Vgl. Spivak 2014, 11

[113] Vgl. ebd.

4. Behinderung als soziales Konstrukt

Obwohl der Begriff „Behinderung“ im allgemeinen Sprachgebrauch häufig genutzt wird und wissenschaftlich etabliert ist, gibt es doch bis heute keine allgemein gültige, anerkannte Definition davon.[114] Eine Erklärung dafür könnte sein, dass „es sich um einen medizinischen, psychologischen, pädagogischen, soziologischen sowie bildungs- und sozialpolitischen Terminus handelt, der in den jeweiligen Kontexten seiner Verwendung unterschiedliche Funktionen hat“ (Dederich 2009, 15), was eine allgemeine Definition beinah unmöglich macht. Gleichzeitig zeigt die vielfältige Verwendung des Begriffs „Behinderung“ das Ausmaß der Beschäftigung mit dem Terminus bzw. mit Menschen mit Behinderung. Verallgemeinernd kann jedoch gesagt werden, dass es Behinderung per se nicht gibt, sondern vielmehr „der Begriff eine von Kriterien abhängige Differenz“ (ebd.) markiert. D.h. dass der Begriff „Behinderung“ hauptsächlich negativ im Sinne einer Unterscheidung, einer Andersartigkeit, einer Abgrenzung und Abnorm verwendet wird.[115] Und diese Abnorm betrifft immer den Körper.

Laut Schildmann ist Behinderung eine flexible, durch weniger Festigkeit (als beispielsweise das Geschlecht) gekennzeichnete Strukturkategorie.[116] Behinderung ist dabei in jeder modernen Gesellschaft zu finden, ein einheitlicher, allgemein anerkannter Behindertenbegriff fehlt jedoch. Jeder vorhandene Begriff ist dabei aber zweckgebunden und hat bestimmte Folgen für die betroffenen Männer und Frauen.[117] Was dies im Detail bedeutet, soll in den folgenden Kapiteln erklärt werden. Wichtig dabei ist aber, dass im Mittelpunkt immer der Körper steht: der Körper im Mittelpunkt von medizinischen, gesellschaftlichen, sozialen, pädagogischen, politischen, psychologischen etc. Blickrichtungen; der Körper als Ich-Identität; der Körper als Rollenentstehung; der Körper und damit der Mensch, der „be-hindert“ wird durch etwas an etwas.

4.1 Behinderung und Identität, Behinderung als Rolle

Wie oben schon erläutert wurde, entsteht die Ich-Identität eines Menschen im Laufe seines Sozialisationsprozesses. Der Mensch entwickelt ein dauerhaftes Bewusstsein von sich selbst, er nimmt sich als Person wahr.[118] Die Entstehung der Ich-Identität stellt für einen Menschen mit Behinderung jedoch eine größere Herausforderung dar als für einen Menschen ohne Behinderung – wird ihm doch schnell ein Gefühl der Andersartigkeit, der Abnormität entgegengebracht. Wie schon oben beschrieben, lernt der Mensch Junge oder Mädchen, Mann oder Frau zu sein, wodurch bestimmte Deutungsmuster sowie Fremd- und Selbstwahrnehmung entstehen.[119] Je nach Art der Beeinträchtigung hat ein Mensch mit Behinderung jedoch auch mit dem sozialen Konstrukt der „Andersartigkeit“ zu kämpfen. Vergleicht sich beispielsweise ein körperlich beeinträchtigtes Mädchen mit einem Mädchen gleichen Alterns ohne Behinderung, so wird es schnell einen scheinbar nicht zu überwindenden „Unterschied“ finden, etwas, das den eigenen Körper von jenem des anderen Mädchens unterscheidet und das aber nicht veränderbar, überwindbar scheint. Es entsteht ein Gefühl der „Andersartigkeit“ – ein sozial konstruiertes „Anderssein“, das nicht nur das eigene Körperbild und jenes über andere beeinflusst, sondern auch die eigene Geschlechtsidentität: Wie kann ein Mädchen mit körperlicher Beeinträchtigung zu einer sexuellen, selbstbewussten Frau werden, wenn es einer nicht zu erreichenden Norm zu entsprechen versucht und auch das Gefühl vermittelt bekommt, minderwertig zu sein und das Ziel nie erreichen zu können? Darüber hinaus werden Menschen mit Behinderung – je nach Art, Weise und Grad der Behinderung – häufig als sexuelle und geschlechtliche Neutren betrachtet, was der Entstehung der Geschlechtsidentität und damit der Ich- Identität deutlich entgegensteht.

In weiterer Folge werden Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft hauptsächlich als hilfsbedürftig, abhängig von anderen und unselbstständig dargestellt und wahrgenommen. Dies gründet auf der schon lange präsenten Assoziation von Behinderung mit Leiden.[120] Es wird automatisch davon ausgegangen, dass ein Mensch aufgrund seiner Behinderung leidet, und dieses Leiden wird dafür missbraucht, eine reduzierte Lebensqualität zu unterstellen. Ein Leben mit Behinderung wird als Qual oder Last eingestuft und damit als unerträglich angesehen, wobei Menschen mit Behinderung in weiterer Folge der Lebenswille, manchmal sogar das Lebensrecht abgesprochen wird.[121] Und auf dieses Leiden mit all seinen Assoziationen und Interpretationen folgt ein Gefühl des Mitleids Menschen mit Behinderung gegenüber – ein Mensch mit Behinderung wird als Opfer (seiner selbst bzw. seines Körpers) gesehen. Deswegen ist es für einen Menschen mit Behinderung deutlich erschwert, auch noch andere Rollen, als jene eines behinderten Menschen, eines „Opfers“ einzunehmen – die Rolle wird ihr/ihm übergestülpt. Als Mann im Rollstuhl die Rolle des Vaters einzunehmen, scheint für viele Menschen ohne Behinderung schier undenkbar. Und für die Rolle der selbstbestimmten, arbeitenden Frau, die Karriere machen will, scheint die körperlich beeinträchtigte Frau einfach nicht geeignet. An dieser Stelle soll auf die Ambivalenz der Klischees und Vorurteile hingewiesen werden. Kämpft die Frau ohne Behinderung auf der einen Seite gegen sexistische, frauenfeindliche Rollenbilder, so erleidet die Frau mit Behinderung auf der anderen Seite Diskriminierung aufgrund der Verweigerung genau jener Rollenausübungen. Rannveig Traustadóttir bringt mit folgendem Zitat das Fehlen sozialer Rollen für Frauen mit Behinderung auf den Punkt:

„The major factor unifying the scholarly writings is the conceptualization of women with disabilities as a group with a multiple minority status. This scholarship typically combines disability studies and feminist studies to explore the combined discrimination based on disability and gender. Some authors have characterized women with disability as ‚roleless‘ because of the limited social roles available for them and the absence of institutional means to achieve valued adult roles. Women with disabilities are not seen as fit to fill the traditional roles of a mother, wife, homemaker, nurturer, or lover and economically productive roles are not seen as appropriate for them either.“ (Traustadóttir 1990, zitiert nach Schildmann 2000c, 43f)

Es wird Frauen mit Behinderung schlicht nicht zugetraut, Mutter, Ehefrau, Geliebte, beste Freundin, Hausfrau u.Ä. zu sein, meist wird ihnen sogar verboten, eine Familie zu gründen.[122] Die Behinderung macht sie dabei aus Sicht der Gesellschaft unfähig und es wird klar, dass nicht die Behinderung an sich diese Frauen „hindert“, sondern die gesellschaftliche soziale Konstruktion.[123] Neben der Rollenausübung wird dabei auch immer die Arbeitsfähigkeit der Frau mit Behinderung in Frage gestellt, oft sogar ignoriert. Schildmann schreibt in diesem Kontext:

„[…] Diese in einigen Ländern fest verwurzelte gesellschaftliche Vorgabe, deren eugenischer Charakter nicht zu übersehen ist, beeinflusst die betreffenden Frauen bereits vom Anfang ihres Lebens an. Die Erziehung und Sozialisation zur gesellschaftsfähigen Frau […] wird […] ins Gegenteil verdreht: Die frühkindliche Erziehung orientiert sich oftmals nur an den Schädigungen des Kindes und an deren gewünschter Beseitigung, sie übersieht dabei häufig die Geschlechtlichkeit des Kindes. Und die Sexualerziehung selbst […] orientiert sich an dem, was gesellschaftlich gerade nicht erwünscht ist. Die Sexualität und ihre Bedeutung für die menschliche Entwicklung werden weitgehend negiert und häufig erst dann bemerkt, wenn sie Problemcharakter angenommen hat: wenn das Mädchen oder die Frau schwanger wird, sei es gewollt oder durch sexuellen Missbrauch. In den Schulen werden vor allem sogenannte alltagspraktische Fähigkeiten vermittelt, die auf die spätere eigene Versorgung der geistig behinderten Mädchen abzielen, aber den gesellschaftlichen Rahmen der familialen Reproduktionsarbeit ablehnen oder übersehen. Identitätsprobleme entstehen für die betreffenden Mädchen spätestens dann, wenn sie beginnen, sich mit ihren Müttern, Schwestern und anderen Frauen zu vergleichen. […].“ (Schildmann 2000a, 22f)

Schildmann spricht hier Identitätsprobleme an, welche für Menschen mit Behinderung in ihrer Identitätsentwicklung scheinbar vorausgeplant sind und welche die untrennbare Verbindung zwischen Körper und Identität, wie sie Butler in ihrer Dekonstruktions-Theorie beschreibt, verdeutlichen: Der Körper wird als „Scharnier von Struktur und Subjekt“ (Villa 2001, 145), oder, mit anderen Worten, als Drehpunkt von Identität und sozialer Konstruktion verstanden.

Den Körper im Mittelpunkt der Betrachtung haben auch die Modelle innerhalb des Diskurses von Behinderung und zwar gleichermaßen das medizinische, das soziale und das kulturwissenschaftliche bzw. kulturelle Modell von Behinderung. Doch thematisieren sie den Körper auf unterschiedliche Art und Weise. An dieser Stelle soll kurz auf die drei genannten Modelle eingegangen werden, um das Verstehen des folgenden Kapitels zu erleichtern.

Im medizinischen Modell wird der Körper losgelöst von gesellschaftlichen und historischen Kontexten verstanden. Er wird zum Zweck der Prävention, Heilung oder Linderung von Pathologien diagnostiziert und behandelt.[124]

Das soziale Modell hingegen beschreibt gesellschaftliche Reaktionen auf abweichende Merkmale des Körpers bzw. seiner Funktionen, Symmetrie, Bewegungen und Gesten sowie in weiterer Folge Deutungsmuster, die in Normen und Wertvorstellungen verankert sind. Daraus resultierende Prozesse der Abwertung, Ausgrenzung, Diskriminierung und Unterdrückung und die Folgen für die Betroffenen stehen ebenso im Mittelpunkt.[125] Ein zentraler Punkt des sozialen Modells ist dabei die Kritik am medizinischen Modell, weil dieses Behinderung als „individuelles“, medizinisches Problem sieht, das es zu erkennen, zu bewältigen und, wenn möglich, zu beseitigen gilt. Damit hat das soziale Modell maßgeblich zu einer Sensibilisierung für gesellschaftliche Begebenheiten, für die soziale Konstruktion von Behinderung beigetragen.[126] Die interne Kritik an dem sozialen Modell richtet sich jedoch gegen die Tendenz, das Konzept der Schädigung unhinterfragt hinzunehmen – erst im kulturwissenschaftlichen Modell wird der Körper als variables historisches und gesellschaftliches Konstrukt gesehen.[127]

Das kulturwissenschaftliche (oder kulturelle) Modell geht von den Erkenntnissen des sozialen Modells aus, stellt aber in weiterer Folge die Frage in den Raum, wie, unter welchen Voraussetzungen und anhand welcher Mittel sowie mit welchen Folgen Gesellschaften den Körper in den Mittelpunkt stellen.[128] Es wird danach gefragt, wie der individuelle Körper thematisiert und in den Blick genommen wird, wie Wissen über ihn hervorgebracht, er künstlich dargestellt und zum Objekt gemacht wird.[129] Beim kulturellen Modell wird somit davon ausgegangen, dass sowohl der „gesunde“ Körper als auch der „beeinträchtigte“ Körper „als biophysische Größe angesehen werden kann, dass jedoch gleichzeitig Geschichte und Biographie, Bedeutung und Erfahrung, soziales Handeln und soziale Lage so unauflösbar in ihn eingewoben sind, dass sich eine binäre Trennung zwischen ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ als kurzschlüssig erweist“ (Waldschmidt 2005, zitiert nach Dederich 2012, 57f). Das kulturelle Modell behandelt Behinderung somit als soziales, gesellschaftliches Konstrukt und beschäftigt sich damit, wie diese Konstruktionen und Repräsentationen entstehen. Dederich meint an dieser Stelle:

„Die Repräsentation von versehrten, entstellten oder verkrüppelten Menschen in Gemälden, literarischen Texten, Bühnenwerken und Filmen, aber auch im Medium der Wissenschaft oder der Unterhaltung, beispielsweise in teratologischen Sammlungen oder Freak-Shows, dient somit nicht einfach der Abbildung einer spezifischen Realität. Vielmehr wird in ihnen Wirklichkeit sozial konstruiert. […].“ (ebd., 77f)

Mit jeder Darstellung von Menschen mit Behinderung wird somit laut Dederich Behinderung konstruiert. Wie dabei diese Repräsentationen und die sozial konstruierte Wirklichkeit aussehen, wird im folgenden Kapitel dargestellt.

4.2 Die Repräsentation und Konstruktion von Behinderung

Eine wichtige Grundannahme der Disability Studies ist, dass Behinderung nicht mit medizinisch diagnostizierbaren Beeinträchtigungen gleichgesetzt werden kann, sondern immer aus gesellschaftlich konstruierten Barrieren hervorgeht, wodurch die Betroffenen daran gehindert werden, am gesellschaftlichen, sozialen, kulturellen Leben teilzuhaben.[130] Doch was bedeutet „gesellschaftlich und sozial konstruiert“ im Sinne einer Behinderung? Der Begriff „Konstruktion“ bzw. „Konstrukt“ ist gerade im Kontext der Disability Studies kein selten verwendeter Terminus. Doch je nach Verwendung kann er unterschiedliche Bedeutungen haben. Ian Hacking unterscheidet dabei drei in den Disability Studies immer wiederkehrende Bedeutungen: Konstruktion als Interpretation, als Prozess oder Produkt.[131] Laut Hacking wird der Begriff verwendet, um „eine kritische Haltung zum Status quo“ (Hacking 1999, zitiert nach Dederich 2012, 27) zu verdeutlichen. Häufig ist laut Hacking damit Folgendes gemeint: „X hätte nicht existieren müssen und müsste keineswegs so sein, wie es ist. X – oder X, wie es gegenwärtig ist – ist nicht vom Wesen der Dinge bestimmt; es ist nicht unvermeidlich.“ (Hacking 1999, zitiert nach ebd.) Weiterführend gibt er an, dass einige KonstruktivistInnen davon ausgehen „dass X, so wie es gegenwärtig ist, etwas Schlechtes ist und daher am besten abgeschafft oder zumindest von Grund auf umgestaltet würde“ (Hacking 1999, zitiert nach ebd.).

Hauptsächlich durch die Medien wird das X, das Bild des bedürftigen, hilflosen Menschen mit Behinderung übermittelt, für den Geld gesammelt werden muss, um ihn möglichst schnell in einer geeigneten Institution unterbringen zu können. Es besteht die Repräsentation des Menschen mit Behinderung als unvollständiger, notleidender und „beschädigter“ Mensch. Manchmal bzw. hauptsächlich zur Zeit der Paralympischen Spiele entstehen auch Repräsentationen des Menschen mit Behinderung als durchtrainierter, starker Mensch, der „sich wieder ins Leben zurückgekämpft“ hat. Wie das Schwarz-weiß-Denken erscheinen diese beiden diskriminierenden Repräsentationen, denn die Graustufen, die dazwischen liegen, finden oftmals keinen Weg ins Denken von Menschen ohne Behinderung. Wie

Dederich formuliert: „Mit Wahrheitsansprüchen gekoppelte Repräsentation lässt uns die Welt auf bestimmte Weise sehen – und bringt andere Sehweisen und damit andere Erfahrungswirklichkeiten zum Verschwinden.“ (ebd., 79) Die Graustufen, also „die anderen Erfahrungswirklichkeiten“ verschwinden und werden vergessen, die Repräsentationen werden als Wahrheit verstanden. Volker Schönwiese (2005) unterscheidet dabei vier Träger und Vermittler von Repräsentationen:

  • „historisch entstandene Bilder

  • durch die Wissenschaften systematisch geschaffene Bilder

  • in der individuellen Sozialisation erworbene Bilder und

  • über die Medien produzierte beziehungsweise verstärkte Bilder von Behinderung.“ (Schönwiese 2005, zitiert nach ebd., 79)

Der Körper steht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit – hier allerdings, im Rahmen der Repräsentationen bzw. der sozialen Konstrukte, wird deutlich, dass vom Äußeren auf das Innere geschlossen wird. Bestehend aufgrund der Annahme, dass es eine regelförmige Korrelation zwischen Innen und Außen gibt, wird der Körper zum Ort der Wahrheit gemacht.[132] Erkennbar ist dies nicht nur im Kontext von Behinderungen. So werden beispielsweise als schön empfundene Menschen auch automatisch als erfolgreicher wahrgenommen bzw. eingestuft. Über äußere Merkmale wird somit auf die Persönlichkeit oder Teile davon geschlossen, bzw. die körperliche, äußere Beschaffenheit dient dazu, etwas über das Innere des Menschen zu erfahren.[133] An dieser Stelle wird deutlich, dass die Produktion von Repräsentationen, sozialen Konstruktionen und in weiterer Folge Vorurteilen im Kontext von Behinderung stark mit dem Sehen verbunden ist.[134] Es werden „Bilder“ gesehen, die dann mit einer Norm, mit der „Normalität“ verglichen werden, um sie dann einzustufen. Abweichende körperliche Merkmale werden dann zu „Sinnbildern ‚innerer‘ und sozialer Devianz. Der Körper wird zum Medium, in dem die Grenzen, die Übergänge, die Verschiebungen zwischen Norm und Abweichung markiert werden.“ (ebd., 127) An dieser Stelle soll kurz auf die Begriffe „Norm“ und „Normalität“ eingegangen werden, denn „[…] um den behinderten Körper zu verstehen, muss man sich dem Konzept der Norm, des normalen Körpers zuwenden“ (Davis 1995, zitiert nach ebd., 127).

Der Begriff der Norm wird grob am besten mit folgendem Zitat verdeutlicht:

„Wir leben in einer Welt der Normen. Jeder von uns strebt danach, normal zu sein, oder versucht umgekehrt, diesen Zustand zu vermeiden. Wir ziehen in Erwägung, was die durchschnittliche Person tut, denkt, verdient oder konsumiert. Wir bringen unsere Intelligenz, unseren Cholesterinspiegel, unser Gewicht und die Körpergröße, den sexuellen Antrieb und andere körperliche Dimensionen anhand eines Konzeptes in eine Rangordnung von subnormal bis überdurchschnittlich.“ (Davis 1995, zitiert nach ebd.)

Entsprechen wir der Norm, so fühlen wir uns der Gesellschaft zugehörig. Entscheiden wir uns bewusst dazu, nicht der Norm zu entsprechen, so wollen wir auffallen, uns gegen etwas, beispielsweise das System oder die Gesellschaft, auflehnen. Entsprechen Personen jedoch aufgrund von körperlichen Unterschieden nicht der Norm, so werden sie ausgegrenzt. Doch was ist die „Norm“?

Unter der Norm versteht man in der Baukunst beispielsweise die Richtlinie gerader und ebenmäßiger Bauwerke.[135] Auch in der Mathematik dient die Norm der Verräumlichung, Vermessung und Kartografierung, ist also ein Werkzeug der Konstruktion.[136] Unter dieser Auffassung wurde der Begriff der Norm schon in der Antike auf verschiedene Wissensbereiche übertragen, wie z.B. auf die Naturphilosophie und die Rechtsphilosophie. So wurde der Begriff schon zu dieser Zeit im Sinne von „Maßstab“, „Regel“ und „Vorschrift“ verwendet.[137] Im Laufe der Zeit wurde der Begriff durch Bedeutungen, wie „Gesetz“, „Gleichmaß“ und „Durchschnitt“[138] erweitert, in der Medizin und der Psychologie des 17. Jahrhunderts wurde der Begriff als Maß „des Gesunden [verstanden], da das Durchschnittsmaß als das von Natur Richtige und Gewollte verstanden wird“ (ebd., 129). In der Soziologie hat sich der Begriff als eine generalisierte „Erwartungshaltung“ etabliert, als etwas, das erfüllt werden soll und das eng mit Begriffen wie „Macht“ und „Herrschaft“ verbunden ist.[139] Diese Bedeutung ist besonders wichtig, wenn es um die Frage geht, wer die Macht hat, „Normen“ zu bestimmen, zu definieren, durchzusetzen und zu verändern. Die Einhaltung bzw. Nicht-Einhaltung sozialer Normen wird in weiterer Folge sanktioniert, also durch Belohnung oder Bestrafung gewährleistet.[140] Im Allgemeinen werden soziale Normen „als gesellschaftlich bedingte, interkulturell variable und historisch veränderbare Handlungsmaximen, Verhaltensmaßregeln, -anweisungen oder -forderungen beschrieben, d.h. als Regulative, die Gesellschaften ihren einzelnen Mitgliedern zumuten. Sie legen fest, was in spezifischen sozialen Situationen geboten oder verboten ist.“ (ebd., 130) Legitimiert werden die Normen dabei durch soziokulturelle Wertvorstellungen.[141] Soziale Normen strukturieren somit die Erwartungen von InteraktionspartnerInnen und machen Handeln und Interagieren vorhersehbar. Sie strukturieren den sozialen Austausch, reduzieren Komplexität, verengen Verhaltensmöglichkeiten und helfen beim Einordnen sowie beim Hierarchisieren.[142]

Klar wird hier somit, dass man allgemein unter Norm „ein Mittelmaß“ versteht, also „das, was für die Mehrzahl der Vertreter [und Vertreterinnen, Anm. d. A.] einer bestimmten Gattung zutrifft oder was den Durchschnitt bzw. die Maßeinheit eines messbaren Merkmals ausmacht“ (Historisches Wörterbuch der Philosophie 1984, zitiert nach ebd., 131). In weiterer Folge wird aber auch klar, dass das „Normale“, die „Norm“ eine Art Sicherheit gibt, einen Anhaltspunkt, an dem Orientierung geschieht. Und sie hat herstellenden, produktiven und sichernden Charakter.[143] Übernimmt man dies für Behinderung als soziale Konstruktion, so wird deutlicher, woher der Begriff der sozialen Konstruktion von Behinderung kommt bzw. welchen Ursprung er hat: Behinderung wird als nicht der Norm entsprechend gesehen. Ein Mensch ohne Behinderung sieht körperliche Abweichungen am Menschen mit Behinderung, vergleicht ihn mit dem „Durchschnitt“ und dem „Ideal“ eines Menschen und erkennt ihn als fehlerhaft, als unvollständig, als nicht dem Ideal entsprechend und damit als „abnormal“, nicht „normenhaft“. Er sieht seinen eigenen Körper als eher dem Ideal, der Normalität entsprechend. Und dieses Schubladendenken, diese Einordnung in „naturgemäß“ und „naturwidrig“ führt auch zu einem Gemeinschaftsgefühl bei Menschen ohne Behinderung. Ein Mensch ohne Behinderung fühlt sich „normal“, der breiten Masse zugehörig, indem er Menschen mit Behinderung davon ausgrenzt. Automatisch entsteht dabei eine Hierarchisierung, in welcher Menschen mit Behinderung weiter nach unten rutschen, je „schwerwiegender“ und „offensichtlicher“ ihre Behinderung ist. Gefühle von Mitleid, Scham, Ekel u.Ä. und daraufhin Diskriminierungen und Ausgrenzungen sind in weiterer Folge Reaktionen eines Menschen ohne Behinderung aufgrund dieser sozial konstruierten Hierarchisierung.

An dieser Stelle soll auf die oben beschriebenen Modelle von Behinderung Bezug genommen werden. Das soziale Modell beschreibt den Körper, jedenfalls implizit, als rein biologisches Phänomen ohne Geschichte, der behinderte Körper wird also auf der Ebene der Schädigung sowie aufgrund seiner Anatomie und Funktion gesehen.[144] Dies erweckt den Anschein, dass Behinderung rein natürlich und somit nicht sozial konstruiert ist.[145] Hughes und Paterson stellen jedoch fest, dass Schädigung „gleichermaßen eine gelebte Erfahrung und eine kulturelle Konstruktion“ (Hughes/Paterson 1997, zitiert nach Dederich 2012, 144) ist.[146] Diesem Gedanken weiterfolgend steht laut Dederich die Trias von Wissen, Macht und Diskurs im Mittelpunkt der kulturellen Konstruktion des (behinderten) Körpers[147] und damit werden erst durch die Sprache körperliche Empfindungen und Handlungen kommunizierbar und sinnhaft.[148] Sprache bringt laut Dederich erst hervor, was sie repräsentiert[149] – wodurch ein Bogen gespannt werden kann zu Butlers These, dass die gesamte Wirklichkeit erst Bedeutung erlangt und hergestellt bzw. konstruiert wird durch Sprache. Laut Butler entsteht Realität erst durch Sprache, durch das Benennen entsteht Bedeutung und durch Konstruktion entsteht (konstruierte) Wirklichkeit.[150] Auch hier gilt – ebenso wie bei der Konstruktion von Geschlecht – dass die Wirklichkeit, wenn sie erst durch Benennung entsteht, auch umbenannt werden kann. Was sozial konstruiert wurde, kann auch dekonstruiert werden. An dieser Stelle kann Butlers Dekonstruktions-Theorie[151] noch weiter auf die soziale Konstruktion von Behinderung umgesetzt werden, da sie darin die Annahme kritisiert, unser Körper sei unveränderlich, lediglich biologisch konstituiert und die soziale Bedeutung (des Geschlechts) würde ihm „übergestülpt“ werden.[152] Sie meint damit, dass uns soziale Verhältnisse in den Körper „eingeschrieben“ werden und wir unsere Vorstellungen „verkörpern“.[153] Genauso, wie wir die soziale Konstruktion von Geschlecht „verkörpern“, also beispielsweise den Habitus von „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ übernehmen und darstellen, so „verkörpert“ auch ein Mensch mit Behinderung die ihm zugetragenen sozialen Konstruktionen von Behinderung und findet sich beispielsweise in der Rolle des Opfers wieder bzw. „verkörpert“ diese. Seine Behinderung wird damit sozial konstruiert, indem sie von außen benannt, durch Sprache „verwirklicht“ und ihm zugetragen bzw. von ihm „verkörpert“ wird. Dies wirft jedoch die Frage auf, ob es Behinderung in der heutigen Bedeutung überhaupt gäbe, wäre sie nicht benannt worden. Überträgt man Butlers Theorie auf Behinderung, so sind Menschen mit Behinderung erst zu jener diskriminierten Randgruppe geworden, weil sie als solche bezeichnet wurden. Dederich formuliert die Konstruktion des Körpers durch Sprache – in Bezug auf Foucault – folgendermaßen:

„Durch die Sprache und durch regelförmiges soziales Handeln bleibt die Macht nicht rein äußerlich […]. Die Macht des Diskurses ist subtiler. Sie richtet sich über den Körper im Subjekt selbst ein. In der Folge sind Machteffekte und Subjektivität nicht mehr klar voneinander zu trennen. Im Subjekt wird die Macht nicht nur in psychische, sondern in körperliche Realität verwandelt. Der Körper ist insofern nicht nur ein Gegenstand des Wissens, er ist das Ziel von Machtpraktiken, die in Form von Herrschaftstechniken auf ihn einwirken […] und sich in ihm einnisten.“ (Dederich 2012, 145)

Dederich bezeichnet dies weiter als Prozess, der den Körper in eine Materialisation von Etiketten, Zwängen und Regulierungen verwandelt.[154] Der Körper wird also durch soziale Konstruktionen dazu gezwungen, diese wahr zu machen. An dieser Stelle betont Dederich, wiederum bezugnehmend auf Hughes und Paterson, insbesondere die Wichtigkeit der leiblichen Erfahrungen von Menschen mit Behinderung für den Behindertendiskus, wobei das „Sprechen über den Körper dem leiblich gelebten Leben unhintergehbar nachgeordnet“ (ebd., 149) ist. Erklärt werden kann dies durch das Beispiel, dass erst ein Gefühl bemerkt werden muss, um es dann benennen und beschreiben zu können, wobei wiederum die Subjektivität deutlich wird, denn ich spüre und erkenne mich selbst erst durch meinen Körper.[155] Diskriminierung und unterdrückende gesellschaftliche Prozesse treffen also von außen auf den Körper, werden von außen an einen Menschen mit Behinderung herangetragen und werden von diesem dann auf der Grundlage vorheriger Erfahrungen verarbeitet: „Behinderung wird im, am und durch den Körper erfahren, genauso wie die Schädigung im Lichte der persönlichen und kulturellen Narration erfahren wird, die zur Konstitution ihrer Bedeutung beitragen.“ (Hughes/Paterson 1997, zitiert nach ebd., 152) Aufgrund dessen unterstreicht Dederich nicht nur die Wichtigkeit der sozialen Konstruktion von Behinderung von außen, also die „Form- und Wirkkräfte der Kultur“, die den (behinderten) Körper konstituieren, sondern auch die Antwort des Subjekts auf eben diese Form- und Wirkkräfte. Die Schädigung wird somit zugleich „erfahren“ und „verkörpert“,[156] wodurch wiederum Bezug auf Butler genommen werden kann: Auch sie ist der Meinung, dass soziale Konstruktion nicht einfach „übergestülpt“, sondern ebenso „verkörpert“ wird.[157]

Folgt man diesem Gedanken der „Verkörperung“ weiter, so wird klar, dass die Behinderung selbst für einen Menschen mit Behinderung allgegenwärtig und stets präsent ist. Sie wird ihm von außen herangetragen und gleichzeitig verkörpert er sie stets. Die Schwierigkeit, eine soziale Konstruktion, die diskriminierend, unterdrückend und ausgrenzend wirkt, „umzukonstruieren“, zu verändern, wird damit durch diese Wechselseitigkeit deutlich. Es stellt sich die Fragen, wo begonnen werden sollte, um eine Dekonstruktion bzw. ein „Umkonstruieren“ erreichen zu können. Doch nicht vergessen werden darf, dass eine Möglichkeit des Umkonstruierens besteht. Judith Butler unterstreicht dies mit folgenden Worten: „Aufgrund seiner Existenz im Modus des Werdens und weil er ständig mit der konstitutiven Möglichkeit lebt, anders zu werden, ist der Körper das, was die Norm auf zahllose Weisen besetzen kann, über die Norm hinausgehen kann, die Norm umarbeiten kann und was zeigen kann, dass die Realitäten, von denen wir glaubten, wir wären auf sie festgelegt, offen für Veränderungen sind.“ (Butler 1997, zitiert nach Redecker 2012, 48) Eine soziale Konstruktion ist somit nichts Gegebenes, nicht Unveränderliches, sondern etwas stets dem Wandel Unterliegendes und damit veränderbar.

Ein Beispiel für das „Umkonstruieren“ bzw. für Menschen mit Behinderung als Subalterne soll im folgenden Kapitel gegeben werden.

4.3 Behinderung als Stigma – Menschen mit Behinderung als Subalterne

In Spivaks oben beschriebenem Beispiel für ihre Theorie „Die Subalterne kann nicht sprechen“ (Spivak 2014, 106) wird eine doppelte soziale Konstruktion der Witwen deutlich, die sich auf dem Scheiterhaufen ihrer toten Ehemänner selbst verbrennen. Die britischen Männer sahen in der Witwenverbrennung einen barbarischen Akt, der Beweis für die Minderwertigkeit der indischen Gesellschaft war. Sie versuchten „als weiße Männer die braune Frau vor dem braunen Mann“ zu retten und die indische Gesellschaft dadurch zu verbessern.[158] Laut Spivak wurde der Schutz der Frau somit zu einem Signifikanten für die Errichtung einer guten Gesellschaft.[159] Vom lokalen Patriarchat wiederum wurden die Witwen als Aufrechterhalterinnen der Tradition verherrlicht.[160] Der Tod wurde ihnen als Belohnung und als endgültige Erlösung vom weiblichen Körper dargestellt. So wurde es den Witwen als Subalterne unmöglich, gehört zu werden, denn jede der beiden Aussagen wurde als Legitimation einer Seite missbraucht und missverstanden. Betrachtet man Behinderung als soziales Konstrukt, so wird deutlich, dass Spivaks Theorie auch auf die Konstruktion von Behinderung übertragen werden kann: Menschen mit Behinderung können als Subalterne betrachtet werden, die ebenso von mehreren Seiten konstruiert und nicht gehört werden. Auf der einen Seite glaubt man ihre „Situation“ als misslich zu erkennen und versucht sie zu retten – schlussendlich, um die Gesellschaft verbessern zu können, vergleichbar mit der Ausgangslage der britischen Männer. Menschen mit Behinderung werden dabei als sozial bedürftig dargestellt, als nicht in der Lage, selbst über sich zu entscheiden oder selbstbestimmt ihr Leben zu führen. Auf der anderen Seite werden Menschen mit Behinderung Definitionen und Lebensmodelle, vielleicht sogar eine auf das Leben selbst bezogene Ausweglosigkeit übergestülpt. Wie die indischen Witwen werden somit auch Menschen mit Behinderung als Subalterne zum Schweigen gebracht bzw. nicht gehört. Ein genaueres Beispiel, jenes der „Prothesenkörper“, soll dies weiter verdeutlichen.

Der Begriff „Prothesenkörper“ entstand erstmals während und nach dem Ersten Weltkrieg aufgrund der enormen Anzahl der heimkehrenden und im Krieg verletzten Soldaten.[161] Es kam zu einer Veränderung des Bildes über Menschen mit Behinderung. Wurden sie vorher noch hauptsächlich als Krüppel, Monstren und Freaks, als andersartig und minderwertig angesehen, kam den heimkehrenden kriegsverletzten Soldaten der Status der Helden entgegen. Gleichzeitig machten sie aber auch die Grausamkeiten des Krieges für die Bevölkerung real.[162] Jede Verletzung und damit jede Behinderung wurde als Zeichen eines Heroismus gefeiert und war Beweis für die Kraft und den Mut des Volkes. Gleichzeitig aber zeigten die Verletzungen ebenso den Verlust des Normalen für die Betroffenen und machten die Grausamkeiten des Krieges für die Daheimgebliebenen plötzlich real und wirklich.[163] Die Kriegsversehrten wurden so zu einem nationalen Problem für die Krieg führenden Staaten.[164]

Am männlichen Soldatenkörper kam es dann zu einer neuartigen Verbindung von Mensch und Technik aufgrund der Tatsache, dass es sich bei den Verletzungen hauptsächlich um Amputationen handelte.[165] Die fehlenden Gliedmaßen stellten dabei einerseits schmerzliche Erinnerung an den Verlust der Normalität, des vorherigen, „normalen“ Lebens dar, das Vergessen des Erlebten wurde durch die Versehrtheit unmöglich. Andererseits wollte man die Männer wieder „arbeits- und alltagstauglich“ machen.[166] Ein Grund dafür war die Tatsache, dass man den kriegsbedingten Anstieg der Frauenerwerbstätigkeit zurückdrängen wollte. Die Frauen waren in Abwesenheit ihrer Männer dazu gezwungen gewesen, deren Platz einzunehmen, arbeiten zu gehen und die Familie zu ernähren. In dem Moment, in dem die Männer jedoch zurückkehrten, sollte dies – aus patriarchaler Sicht – wieder geändert werden. Das Problem war nur – überspitzt formuliert –, dass die männlichen Körper nicht mehr so funktionierten, wie sie es vor den Verletzungen, vor der Behinderung taten.[167] Somit fand die Prothetik einen enormen Aufschwung, da man versuchte, die Körper der Soldaten wieder „arbeitstauglich“ und „funktionstüchtig“ zu machen.[168] Es kam zur „Remaskulinisierung“ durch die Technik[169], wodurch die Männer wieder arbeiten konnten und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung wieder hergestellt werden sollte. Eine möglichst präzise Rekonstruktion körperlicher Funktionen stand im Mittelpunkt und man versuchte, eine Verbindung zwischen menschlichem Körper und totem Artefakt herzustellen.[170] Dies erforderte eine „Normalisierung“ des Körpers:

„Die Verknüpfung zwischen Rehabilitation und industriellem Kapitalismus […] ist ein sozial-mechanisches System der Normierung, in das der Körper des Soldaten-Arbeiters eingefügt wird. Erklärtes Ziel von Rehabilitation und Prothesenforschung ist es, den Arbeiter in den modernen Arbeitsprozess so einzupassen, dass er an der totalen Mobilmachung des Kriegs teilnehmen und danach unverändert wieder in die industrielle Produktion der Friedenszeit eintreten kann. In der Unauffälligkeit der kleinen Normen steckt eine umfassende, Körper und Technik durchdringende Revolution.“ (Berz/Price 2003, zitiert nach Dederich 2012, 105)

Man spricht deshalb auch von der Technisierung der männlichen Körper bzw. von der Verknüpfung von Männlichkeit und Technik.[171]

Mithilfe des Beispiels der Prothesenkörper wird das Denken deutlich, dass Behinderung qualitätsmindernd ist und die Lebensqualität reduziert. Und es wird klar, dass Macht und Machtverhältnisse mit Normenvorstellungen verknüpft sind.[172] So wird nun ebenfalls offensichtlich, dass die verwundeten, beeinträchtigten Soldaten in mehrfacher Weise von außen sozial konstruiert wurden, wodurch eine Verbindung zu Spivaks Text „Can the Subaltern Speak?“ (2014) deutlich wird. Auf der einen Seite betrachtete man ihre „neue“ Situation, obwohl sie nun als Helden gefeiert wurden, als nicht mehr ausreichend, nicht genügend. Ihr vorheriger Platz in der Gesellschaft als arbeitsfähige, „taugliche“ Männer war von ihnen ohne Hilfe nicht mehr zu besetzen – und die Frage nach einem „anderen“, „neuen“ Platz wurde nicht gestellt. Es darf angenommen werden, dass man sie wieder zurückdrängen wollte in ihr altes Leben, unter anderem deshalb, um die Industrialisierung, den gewohnten Verlauf der Gesellschaft zurückzugewinnen bzw. aufrechterhalten zu können. Man entschied über sie, wollte wieder eine „gute“ und „zivilisierte“ Gesellschaft und Normalität herstellen, wodurch sie als subalterne Gruppe verstummten. Auf der anderen Seite – oder auch gleichzeitig – wurde angenommen, dass die verwundeten Soldaten ihre Behinderungen „loswerden“ wollten. Man wollte sie „retten“ vor einem „behinderten Leben“. An eine selbstbestimmte Entscheidung für ein Leben mit Behinderung bei gleichzeitiger Akzeptanz der und selbstverständlicher Inklusion in die Gesellschaft war nicht zu denken. Als „Prothesenkörper“ (Schneider 2005) konnten sie in die Mitte der Gesellschaft zurückkehren, ihre Plätze als arbeitende, „funktionierende“ Männer wieder einnehmen. Ein Leben ohne Prothesen glich dabei einer Zustimmung zum freiwilligen Ausscheiden aus der Gesellschaft. Hier stellt sich weiter die Frage, ob die „Prothetisierung“ (ebd.) auch einen Weg des Vergessens für die Gesellschaft bedeutete, nämlich ein Vergessen des Krieges selbst und all seiner Grausamkeiten. Nebst der Tatsache, dass die Soldaten als Helden gefeiert wurden, erinnerten sie mit ihren Verletzungen und Beeinträchtigungen ihre Mitmenschen gleichzeitig an all die kriegsbedingten Grausamkeiten. Es kann also angenommen werden, dass es sich beim Versuch der „Wiederherstellung“ der Gesellschaft durch die „Wiederherstellung“ der Männer um einen verzweifelten Versuch des Vergessens und der Rekonstruktion von Normalität handelte. Man versuchte, die körperliche Behinderung und damit die Erinnerung anhand und mithilfe von Prothesen verschwinden zu lassen und wieder Normalität herzustellen. Was dabei jedoch mit dem verwundeten Mann geschah und dass ein „technisches Überstülpen“ auch immer etwas mit dem Menschen an sich macht, wurde wahrscheinlich außer Acht gelassen. An dieser Stelle soll auf Schneider (2005) verwiesen werden, der verdeutlicht, dass eine Verbindung von Mensch und Technik bzw. eine technische Entwicklung nicht immer Fortschritt und Verbesserung der Lebensqualität bedeutet. Natürlich kann die Technik durch Verminderung von Leiden zur einer erleichterten Lebensweise führen, doch der Schritt zum „maschinell entmenschlichten Menschen“ (ebd., 372) ist in bestimmten Kontexten – wie dem dargestellten – laut Schneider nicht weit.

An dieser Stelle und an diesem Beispiel der Prothesenkörper soll die Veränderbarkeit von Repräsentationen und sozialen Konstrukten besonders hervorgehoben werden. Denn infolge der Kriegsversehrten veränderte sich der Blick auf Menschen mit Behinderung maßgeblich.[173] Tervooren spricht dabei sogar von einem „historischen Einschnitt in den Darstellungen und Wahrnehmungen behinderter Körper“ (Tervooren 2005, zitiert nach Dederich 2012, 104), denn die Verletzungen und Amputationen der Soldaten wurden als Verlust wahrgenommen, was das Bild von Menschen mit Behinderung maßgeblich änderte. Es wird hier auch von der „Geburt der Rehabilitation“[174] gesprochen, weil es erstmals um die „Wiederherstellung einer verletzten funktionsfähigen Integrität“ (ebd.) ging. Insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Veränderung der Wahrnehmung von Behinderung deutlich, denn es herrschte ein Überschuss an Arbeitskräften und es entstanden medizinische Einrichtungen, die für die Rehabilitation der kriegsversehrten heimkehrenden Soldaten zuständig waren. Der Blick auf Menschen mit Behinderung als Monstren oder Freaks verbot sich daraufhin beinahe gänzlich, da die Verletzungen der Soldaten „im Dienste des Vaterlandes“ (ebd., 105) erlitten wurden.[175]

Wie schon oben erwähnt, stellte Spivak in ihrem Text fest, dass es unmöglich ist, der/dem Subalternen im Nachhinein eine Stimme zu verleihen.[176] Das zu versuchen, macht also auch am Beispiel der kriegsversehrten Soldaten, der Prothesenkörper wenig Sinn. Was jedoch Sinn macht ist, Menschen mit Behinderung und ihre sozialen Konstruktionen zu erkennen, die Technisierung ihrer Körper und ihr Schweigen als Subalterne wahrzunehmen.

Wo nun Verbindungs- oder Trennlinien zwischen Geschlecht und Behinderung als soziale Konstrukte zu finden sind und wie diese aussehen, soll im folgenden Kapitel dargestellt werden.



[114] Vgl. Dederich 2009, 15

[115] Vgl. ebd., 15f

[116] Vgl. Schildmann 2000c, 47f

[117] Vgl. ebd.

[118] Vgl. Mogge-Grotjahn 2004, 82

[119] Vgl. ebd.

[120] Vgl. Dederich 2009, 15f

[121] Vgl. ebd., 15

[122] Vgl. Schildmann 2000c, 44

[123] Vgl. ebd.

[124] Vgl. Dederich 2012, 57

[125] Vgl. ebd.

[126] Vgl. ebd., 143f

[127] Vgl. Dederich 2012, 143f

[128] Vgl. ebd., 57f

[129] Vgl. ebd., 57

[130] Vgl. Raab 2012, 3f

[131] Vgl. Dederich 2012, 27

[132] Vgl. Dederich 2012, 80f

[133] Vgl. ebd.

[134] Vgl. ebd.

[135] Vgl. Dederich 2012, 128

[136] Vgl. ebd.

[137] Vgl. ebd.

[138] Vgl. Dederich 2012, 129

[139] Vgl. ebd., 129f

[140] Vgl. ebd.

[141] Vgl. ebd., 130

[142] Vgl. ebd., 130f

[143] Vgl. Dederich 2012, 128ff

[144] Vgl. ebd., 144

[145] Vgl. ebd.

[146] Vgl. ebd.

[147] Vgl. Dederich 2012, 144

[148] Vgl. ebd.

[149] Vgl. ebd.

[150] Vgl. Mogge-Grotjahn 2004, 84ff

[151] Vgl. ebd., 85f

[152] Vgl. ebd.

[153] Vgl. ebd., 86

[154] Vgl. Dederich 2012, 145

[155] Vgl. ebd., 150ff

[156] Vgl. Dederich 2012, 152f

[157] Vgl. Mogge-Grotjahn 2004, 86

[158] Vgl. Spivak 2014, 82f

[159] Vgl. ebd., 82

[160] Vgl. ebd., 82ff

[161] Vgl. Dederich 2012, 103

[162] Vgl. ebd., 103f

[163] Vgl. ebd., 104f

[164] Vgl. ebd., 101f

[165] Vgl. ebd., 104

[166] Vgl. ebd., 104f

[167] Vgl. Dederich 2012, 104f

[168] Vgl. ebd., 104

[169] Vgl. Schneider 2005, 373f

[170] Vgl. Dederich 2012, 104f

[171] Vgl. ebd.

[172] Vgl. ebd.

[173] Vgl. Dederich 2012, 104

[174] Vgl. ebd., 104f

[175] Vgl. ebd., 105

[176] Vgl. Spivak 2014, 11

5. Zusammenführung von Behinderung und Geschlecht als soziale Konstrukte - das „Andere“ als etwas Konstruiertes

Im Folgenden sollen die oben gewonnenen Erkenntnisse über die Betrachtung von Behinderung und Geschlecht als soziale Konstrukte in Verbindung gesetzt werden. Laut Forschungsfrage sollen dabei Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten und Unterschiede in der Betrachtung von Geschlecht und Behinderung als soziale Konstrukte herausgearbeitet werden. Begonnen wird dabei mit den Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten.

5.1 Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten

Zentrale Verbindungslinie von Behinderung und Geschlecht ist die Forderung nach Normalität, Gesellschafts- und Leistungsfähigkeit, wobei unbedingt die Frage gestellt werden muss: Wer bestimmt diese Kriterien? In einer patriarchalisch-kapitalistischen Gesellschaft[177] wird Männlichkeit, Stärke und Leistungsfähigkeit auf einer Ebene gefordert, die selbst viele Männer ohne Behinderung nicht erfüllen können. Und an dieser Stelle setzt die soziale Konstruktion von Behinderung und Geschlecht ein: Frauen gelten als schwächer, nicht leistungsfähig genug, bedürftig – ebenso wie Menschen mit Behinderung. Die Forderungen und Vorstellungen der Gesellschaft machen Frauen und Menschen mit Behinderung zu dem, was sie heute sind bzw. werden sie dadurch sozial konstruiert, denn nicht die Persönlichkeit, besondere Leistungen oder Fähigkeiten stehen im Mittelpunkt, sondern schlicht das Geschlecht sowie Behinderung oder Nicht-Behinderung. Die Forderung nach Selbstbestimmung über den eigenen Körper und nach einem autonomen Umgang mit dem eigenen Körper ist somit die Basis der Verbindung zwischen Geschlecht und Behinderung. Sowohl die Gender Studies als auch die Disability Studies stellen sich kritisch gegen eine „Biologie-ist-Schicksal“-Ideologie (Villa 2007, 23). Der Körper bildet dabei die wichtigste Gemeinsamkeit zwischen Geschlecht und Behinderung als soziale Konstruktion: Er gilt in beiden Bereichen als „Dreh- und Angelpunkt“ bzw. als „Scharnier von Struktur und Subjekt“ (ebd., 145) und ist somit die Ausgangslage für die soziale Konstruktion von Geschlecht und Behinderung. Wird der weibliche Körper auf der einen Seite als nicht genügend, nicht zufriedenstellend, minderwertig betrachtet, so geschieht dies mit dem Körper, der eine Behinderung aufweist, ebenso. Auch er wird als minderwertig, nicht genügend, nicht der Norm entsprechend angesehen. Die feministische Disability- Studies-Theoretikerin Rosemarie Garland Thomson versteht den Körper dabei als „Text, der mit kulturellen Deutungsmustern innerhalb gesellschaftlicher Machtverhältnisse aufgeladen und produziert wird“ (Garland Thomson 2004, zitiert nach Raab 2012, 8) und betont weiter, dass der gesunde männliche Körper als Maßstab gilt. Er bildet die Norm und von ihm werden alle weiteren Körper in einem hierarchischen Gefälle abgeleitet.[178] Infolgedessen kommt es laut Garland Thomson und Raab zu einer Analogiebildung zwischen dem behinderten und dem weiblichen Körper, denn beide gelten als schwach, deviant und defizitär.[179] Diese Konstruktion des nicht der androzentrischen Norm entsprechenden Körpers[180] ist besonders gut an den beiden genannten Beispielen erkennbar: Sowohl bei der sozialen Konstruktion der indischen Witwen[181] als auch bei jener der Prothesenkörper[182] bildet der Körper den Mittelpunkt der Diskussion und wird zum Spielball gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Aus Sicht der britischen Gesellschaft bzw. der britischen Männer wird die Frau als das schwache Geschlecht gesehen, das vor der barbarischen Tradition der Männer gerettet werden muss. Und auch die indischen Männer sahen die Frau als minderwertig an, erklärten sie ihr doch den Tod am Scheiterhaufen des verstorbenen Mannes als Belohnung bzw. Erlösung vom weiblichen Körper.[183] Der weibliche Körper wird damit zu etwas Minderwertigem gemacht, zu etwas, das man retten oder loswerden muss – sei es durch die Hand des „weißen“ Mannes oder durch den Tod. Der weibliche Körper wird als nicht der Norm entsprechend dargestellt, was impliziert, dass der männliche Körper alle Kriterien erfüllt bzw. vorweisen kann, um als „normal“ und der Norm entsprechend zu gelten – jedenfalls der unversehrte männliche Körper ohne Behinderung. Denn im Fall der verwundeten Soldaten bildete die „Renaturalisierung“ des männlichen Körpers[184], also der Versuch der Rückgängigmachung der Behinderung, Mittelpunkt der sozialen Konstruktion.[185] Der versehrte, verwundete Körper galt als nicht mehr vollständig, als nicht mehr „normal“. Er war nicht mehr arbeits- bzw. alltagstauglich.[186] Man versuchte, den Körper wieder so herzustellen, dass er funktionieren konnte und wieder der Norm eines gesunden, tauglichen, einsatzfähigen Körpers entsprach. Durch diese Wiederherstellung des Körpers wollte man die „normale“, die hierarchische, patriarchalisch geprägte Geschlechteraufteilung wieder herstellen.[187] Stellt man sich diese Hierarchisierung aus den genannten Beispielen bildlich vor, so verdeutlicht dies den Gedanken, dass innerhalb einer geschlechtlichen Hierarchisierung der Mann ohne Behinderung ganz oben an der Spitze steht. Darunter folgt die Frau ohne Behinderung. Wiederum darauf folgt der Mann mit Behinderung und erst am Ende ist die Frau mit Behinderung zu finden. Eine Frau mit Behinderung wird aufgrund der doppelten Angriffsfläche für Diskriminierungen[188] – das weibliche Geschlecht und die Behinderung – mehrfach unterdrückt und diskriminiert. Durch diese Aufteilung wird somit klar: Es gibt Abweichungen bzw. „Stufen“ innerhalb der Normvorstellungen. Ein Mann mit Behinderung entspricht immer noch mehr der Norm als eine Frau mit Behinderung. Innerhalb der Normenvorstellungen überlappen sich dementsprechend Geschlecht und Behinderung, weil es sich in beiden Fällen, bei dem weiblichen Geschlecht und der Behinderung, um ein Nicht-Entsprechen der Norm handelt. Behinderung und das weibliche Geschlecht werden als körperliche Minderwertigkeiten angesehen und bilden so Fläche für doppelte Diskriminierung.[189] Sowohl anhand der Konstruktion des weiblichen Geschlechts als auch an jener von Behinderung ist dabei ersichtlich, dass es sich um den unterdrückenden Versuch der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung, um die gesellschaftliche Hierarchisierung aus Sicht des nicht-behinderten Mannes und um den Missbrauch von Macht handelt.[190] Behinderung und das weibliche Geschlecht fallen dabei aus der patriarchalisch-kapitalistisch geprägten Norm und somit aus der Ordnung.[191] Frohmader und Meekosha (2012) bezeichnen die Situation einer Frau mit Behinderung sogar als „double handicap“ (Frohmader/Meekosha 2012, 288), also als doppelte Einschränkung bzw. doppelte Behinderung. Sie bezeichnen das weibliche Geschlecht somit sogar als Behinderung, womit eben jene soziale Konstruktion von Geschlecht gemeint ist, die sich diskriminierend auf die Frau auswirkt bzw. diskriminierend ist. Behinderung wird gerne – auch auf politischer Ebene – als geschlechtsneutraler Zustand gesehen.[192] Mädchen mit Behinderungen lernen früh, dass sie nicht schön und begehrenswert sind, dass sie keine „richtigen Frauen“ (Köbsell 2010, 21) sind und ihnen Rollen wie jene der Mutter, Geliebten oder Ehefrau wahrscheinlich verwehrt werden. Der Grund dafür ist, dass ihre Weiblichkeit nicht anerkannt wird, sie werden als geschlechtliche Neutren angesehen.[193] Laut Köbsell ist dies der Grund dafür, dass es für Frauen mit Behinderung leichter ist, eine Abtreibung durchführen zu lassen als Unterstützung beim Austragen eines Kindes zu bekommen.[194] Das Nicht-Anerkennen ihrer Weiblichkeit und ihrer Sexualität ist laut Köbsell auch der Grund dafür, dass Frauen mit Behinderung in höherem Maße von sexueller Gewalt betroffen sind.[195]

An dieser Stelle soll jedoch auch ein weiteres verbindendes Element bemerkt werden, nämlich die Tatsache, dass Normen ein Gefühl von Gemeinsamkeit erzeugen.[196] In diesem Sinne jedoch nicht nur für jene, die den Normen entsprechen, also „dazugehören“, sondern auch für jene, die aus der Norm fallen. Die Strategie des Ausschließens schafft Einheit – auf beiden Seiten, sowohl für die Ausschließenden als auch für die Ausgeschlossenen.

Nochmals rückblickend auf Spivaks Text „Can the Subaltern Speak?“ (2014) kann ebenfalls die Einordnung in die Subalternität als Gemeinsamkeit bzw. Ähnlichkeit von Behinderung und (dem weiblichen) Geschlecht als soziale Konstrukte genannt werden. Beiden Gruppen, Frauen und Menschen mit Behinderung, nehmen einen untergeordneten Rang in der Gesellschaft ein und haben nur beschränkte Entscheidungsbefugnis. Über beide wird entschieden, über beide wird gesprochen, sie werden nicht gehört, auch wenn sie sprechen. Hier ist allerdings lediglich von einer „Ähnlichkeit“ die Rede, denn Frauen haben sich, zumindest in einigen wenigen Bereichen, schon Gehör verschafft. Es gibt sie, die Frauen in Machtpositionen und die Frauen, die als neue, emanzipierte Repräsentantinnen aller Frauen aufstehen, sprechen und gehört werden. Wenn Menschen mit Behinderungen als subaltern bezeichnet werden können, dann gilt dies für Frauen nicht in allen Bereichen. Als eindeutig subaltern bezeichnet werden können jedoch wiederum Frauen und Mädchen mit Behinderung. Sie werden neben der Konstruktion ihres Geschlechts auch noch als behindert kategorisiert, wodurch sie – wie oben schon erwähnt – doppelter Diskriminierung ausgesetzt sind und aufgrund der mehrfachen sozialen Konstruktion als Subalterne verstummen.

Eine weitere die Gemeinsamkeiten von Geschlecht und Behinderung unterstreichende Tatsache ist auch die Übertragbarkeit von diversen Konstruktions- und Dekonstruktions-Theorien von einem Bereich auf den anderen. So kann beispielsweise Butlers Theorie[197] über die soziale Konstruktion von Geschlecht, die auf Foucault zurückgeht und besagt, dass Wirklichkeit erst durch Sprache zur Realität wird, auch auf die soziale Konstruktion von Behinderung übertragen werden. Laut Butler erlangt die gesamte Wirklichkeit erst Bedeutung, indem sie von Menschen hergestellt wird und erst durch das Benennen entsteht Bedeutung bzw. durch Konstruktion entsteht Wirklichkeit.[198] Mit ihrer Dekonstruktions-Theorie[199] kritisiert Butler dabei auch die Annahme, dass unser Körper unveränderlich und nur biologisch konstituiert sei, dass ihm die soziale Bedeutung von Geschlecht nur „übergestülpt“ werden würde.[200] Sie geht vielmehr davon aus, dass uns soziale Verhältnisse in den Körper „eingeschrieben“ werden und wir diese „verkörpern“ und somit immer wieder neu hervorbringen. Diese Annahme schafft wiederum einen Bogen zum doing gender, worunter verstanden wird, dass wir unser Geschlecht nicht nur haben, sondern auch „tun“. Überträgt man diese Theorien auf Behinderung, so bedeutet dies laut Butler, dass ein Mensch mit Behinderung die ihm von außen zugetragene soziale Konstruktion von Behinderung verkörpert bzw. lebt. Dabei stellt sich die Frage, ob, in Bezug auf das doing gender, hier von doing disability gesprochen werden kann. Geht man davon aus, dass ein Mensch mit Behinderung seine Behinderung „tut“ verglichen mit dem „Tun“ von Geschlecht, so macht dieser Begriff des doing disability durchaus Sinn.

Sowohl Geschlecht als auch Behinderung sind gesellschaftliche Strukturkategorien[201] und unterliegen gesellschaftlichen Machtverhältnissen, die ebenso sozial konstruiert sind, wie die beiden Kriterien an sich. Beide sind historisch entstandene soziale Konstrukte, die für die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung missbraucht werden. Beide gelten als nicht der Norm entsprechend und dienen so erst der Normentwicklung, um das System einer patriarchalisch-kapitalistisch geprägten, leistungs- und perfektionsorientierten Gesellschaft aufrechterhalten zu können. Und ebenso beide Kategorien haben mit denselben Themen zu tun, nämlich mit dem Körper, mit Ungleichheit, der Identität und Sexualität.[202] Doch es gibt nicht nur Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten in der Betrachtung von Behinderung und Geschlecht als soziale Konstrukte. Im folgenden Kapitel wird deshalb auf die Unterschiede innerhalb dieses Kontextes eingegangen.

5.2 Unterschiede

Behinderung und Geschlecht können als Formen einer komplexen sozialen Unterdrückung verstanden werden. Sie unterliegen gesellschaftlichen Machtverhältnissen und werden als nicht der androzentrischen Norm entsprechend angesehen.[203] Der Unterschied zwischen Geschlecht und Behinderung bzw. zwischen Frauen und Menschen mit Behinderung ist jedoch die Tatsache (die Brutalität dieser Aussage ist der Autorin dabei durchaus bewusst), dass Frauen als unentbehrlich in der Gesellschaft gelten, Menschen mit Behinderung jedoch nicht.[204] Etwas weniger brutal formuliert und auf Goffman berufend bedeutet dies, dass es sich in beiden Fällen, bei Frauen und bei Menschen mit Behinderung, um benachteiligte Gruppen mit einem Unterschied handelt: Der Unterschied liegt darin, dass Menschen mit Behinderung eine ausgegrenzte benachteiligte Gruppe bilden und Frauen am Rand der nichtausgegrenzten Gruppe von Benachteiligten (wie z.B. Blinde und stark Übergewichtige[205]) stehen.[206] Frauen werden innerhalb der Gesellschaft toleriert, sie bilden zwar einen untergeordneten, dennoch aber einen Teil davon. Menschen mit Behinderung wird die Zugehörigkeit zur Gesellschaft immer noch hauptsächlich abgesprochen bzw. erschwert. Für sie werden soziale Institutionen geschaffen, um sie möglichst gut „verwahren“ zu können. Dies soll als einziger Unterschied zwischen Geschlecht und Behinderung als soziale Konstrukte genannt werden: die Art und Weise der Ausgrenzung. Haben Frauen einen Platz innerhalb bzw. am Rande der normierten Gesellschaft, so müssen Menschen mit Behinderung erst um jenen kämpfen.

An dieser Stelle soll auf Heike Raab verwiesen werden, denn durch sie kann die Tatsache untermauert werden, dass mehr Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten als Unterschiede zwischen Geschlecht und Behinderung als soziale Konstrukte gefunden werden konnten. Raab kritisiert in ihrem Text „Intersektionalität und Behinderung – Perspektiven der Disability Studies“ (2012) die Tatsache, dass innerhalb der Intersektionalitätsdebatte, die sich mit unterschiedlichen Diskriminierungsformen an einer Person beschäftigt und in deren Mittelpunkt die Triade Rasse, Klasse, Geschlecht[207] steht, die Triade Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht zu wenig behandelt wird.[208] Kurz: Die Zusammenhänge von Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht werden in der wissenschaftlichen Rezeption von Intersektionalität vernachlässigt.[209] Doch Raab hält die Erforschung des Verhältnisses von Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht als unerlässlich, denn diese drei fungieren als „maßgebliche Referenzsysteme und Ordnungsprinzipien, die soziokulturelle, hierarchische Differenzen produzieren“ (Raab 2012, 6). Raab bekräftigt damit die Annahme, dass nicht nur Behinderung als soziales Konstrukt der Hierarchisierung und damit der Herstellung und der Erhaltung von „Ordnung“ dient, sondern auch Geschlecht als soziales Konstrukt und Heteronormativität dafür benutzt werden. Weiter betont Raab an dieser Stelle, dass es unerlässlich ist, Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht als fundamentale Analysekategorien anzusehen, die nicht in abgetrennte Forschungsbereiche aufzuteilen sind bzw. sich nicht aufteilen lassen.[210] Eine Fokussierung auf nur eine Kategorie blendet laut Raab alle anderen Diskriminierungsweisen aus[211] und unterbindet Parallelen und Verbindungen, die maßgeblich für die Auseinandersetzung mit Diskriminierung sind. Um gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse in ihrer gesamten Bandbreite erkennen zu können, bedarf es einer Verbindung der genannten Triade bzw. von Geschlecht und Behinderung als soziale Konstrukte. Demzufolge erkennt Raab keine Unterschiede zwischen Behinderung und Geschlecht als soziale Konstrukte – vielmehr sieht sie die beiden Kategorien als verbindend und miteinander verbunden an, denn die eine bedingt und konstituiert die andere und umgekehrt.[212] Mithilfe ihrer Argumentation betont sie die Wichtigkeit eines multiplen Behindertenbegriffs, der die Wechselwirkungen verschiedener Analysekategorien – wie Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht – berücksichtigt.[213] Durch diese Verbindung der Kategorien ist es laut Raab möglich, gegenseitige Hervorbringungsverhältnisse herauszuarbeiten und diese beispielsweise bezüglich Körpernormen zu untersuchen.[214] Raabs Annahmen und Thesen bekräftigen somit auch die dargebrachten Verbindungen zwischen Geschlecht und Behinderung als soziale Konstrukte, rechtfertigen überhaupt die Verbindung beider Analysekriterien als Mittelpunkt dieser Arbeit und untermauern die Tatsache, dass mehr Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten als Unterschiede zwischen Behinderung und Geschlecht als soziale Konstrukte gefunden werden konnten. Laut Raab können Geschlecht und Behinderung nämlich nicht getrennt voneinander betrachtet werden.

Im folgenden Kapitel werden die gewonnenen Erkenntnisse und behandelten Theorien der vorangegangenen Kapitel nochmals zusammengefasst.



[177] Vgl. Raab 2012, 7

[178] Vgl. Raab 2012, 8

[179] Vgl. ebd.

[180] Vgl. ebd.

[181] Vgl. Spivak 2014

[182] Vgl. Schneider 2005 und Dederich 2012

[183] Vgl. Spivak 2014

[184] Vgl. Dederich 2012, 104f

[185] Vgl. ebd.

[186] Vgl. ebd.

[187] Vgl. ebd., 103ff

[188] Vgl. Schildmann 2000a

[189] Vgl. Schildmann 2000a

[190] Vgl. Mogge-Grotjahn 2004

[191] Vgl. Mogge-Grotjahn 2004 und Villa 2001

[192] Vgl. Arnade 2010, 223ff

[193] Vgl. Köbsell 2010, 21

[194] Vgl. ebd.

[195] Vgl. Köbsell 2010, 21f

[196] Vgl. Butler 2002, 157

[197] Vgl. Mogge-Grotjahn 2004, 84ff

[198] Vgl. ebd., 84f

[199] Vgl. ebd.

[200] Vgl. ebd., 86

[201] Vgl. Köbsell 2010, 17

[202] Vgl. Köbsell 2010, 21

[203] Vgl. Raab 2012

[204] Vgl. Goffman 1994, 119f

[205] Vgl. ebd.

[206] Vgl. ebd.

[207] Vgl. Raab 2012, 4

[208] Vgl. ebd.

[209] Vgl. ebd.

[210] Vgl. ebd., 6

[211] Vgl. ebd.

[212] Vgl. Raab 2012, 6

[213] Vgl. ebd., 5

[214] Vgl. ebd., 6

6. Zusammenfassung

In der vorliegenden Bachelorarbeit wurde die Forschungsfrage „Welche Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten und Unterschiede gibt es in der Betrachtung von Geschlecht und Behinderung als soziale Konstrukte?“ behandelt. Dafür wurde zuerst eine Einführung in die Disability Studies gegeben, um den Rahmen, innerhalb dem die Arbeit geschrieben wurde, verständlich und transparent zu machen. Anschließend wurde auf die historische Einbettung bzw. auf geschichtliche Verbindungslinien zwischen den Gender Studies und den Disability Studies eingegangen, um zu zeigen, dass eine Verbindung der beiden Forschungsansätze geschichtlich entstanden und deshalb nachvollziehbar ist. Schon bei dieser Darstellung der Verbindungen und der gemeinsamen politischen Wurzeln[215] wurde klar, dass es sich bei den Gender und den Disability Studies um Forschungsströmungen handelt, die ähnliche bzw. dieselben emanzipationsorientierten Ziele verfolgen. Ebenfalls schon hier wurde deutlich, dass sowohl bei Behinderung als auch bei Geschlecht als soziale Konstrukte der Körper im Mittelpunkt der Diskussion steht.

In weiterer Folge wurde das Geschlecht als soziales Konstrukt betrachtet, wofür mehrere Theorien und Meinungen unterschiedlicher ExpertInnen hinzugezogen wurden. Wie dabei in dem Kapitel 3.1 Geschlecht und Identität, Geschlecht als Rolle ersichtlich wurde, entstehen Ich-Identität und Geschlechtsidentität im Laufe des Sozialisationsprozesses[216], wobei Kinder schon früh lernen, ihre Mitmenschen nach dem Geschlecht einzuordnen. Der Mensch versucht dabei, eine Balance zwischen den eigenen, inneren Vorstellungen und den äußeren Einflüssen und Vorgaben, wie beispielsweise das männliche und das weibliche Geschlecht zu sein haben, herzustellen. Ich- und Geschlechtsidentität sind dabei jedoch schon Konstrukte, die einem individuellen Konstruktionsprozess unterliegen und in sowie durch Kultur entstehen.[217] Hier wird somit schon, durch genauere Betrachtung der Rollenverteilungen von Mann und Frau, die geschlechtliche Hierarchisierung der Gesellschaft ersichtlich, innerhalb der die Frau meist eine untergeordnete Position einnimmt. Die Erklärung von doing gender verdeutlicht dies nochmals und zeigt, dass Geschlecht in Sinne von gender schon per se sozial konstruiert ist. In weiterer Folge und im Kontext der Repräsentation und Konstruktion von Geschlecht sagt Schildmann hierzu, dass sich die soziale Konstruktion von Geschlecht als Resultat gesellschaftlicher Konstituierungsprozesse zeigt und somit immer gesellschaftlichen Prozessen einer jeweiligen Epoche unterliegt.[218] Dabei dient die Kategorie Geschlecht der Hierarchisierung und damit der sozialen Gliederung bzw. Ordnung: Durch die Unterteilung in männlich und weiblich, wobei weiblich meist untergeordnet ist, wird die Gesellschaft „geordnet“ und strukturiert.

Butler geht an dieser Stelle noch ein Stück weiter und betont, dass die gesamte Wirklichkeit Bedeutung erlangt, indem sie von Menschen konstruiert wird.[219] Laut Butler entsteht Realität erst durch Sprache, durch das Benennen.[220] Dies impliziert jedoch auch die Annahme, dass Realität auch „umbenannt“ und somit auch dekonstruiert werden kann, was Butler mit ihrer Dekonstruktions-Theorie untermauert.[221] Dabei betont sie auch, dass wir unsere Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit „verkörpern“, wodurch wiederum ein Bogen zum doing gender hergestellt werden kann. Zusammengefasst bedeutet dies, dass die soziale Konstruktion von Geschlecht aus einer Wechselwirkung zwischen der Gesellschaft und dem Individuum besteht. Die Gesellschaft schreibt von außen vor, wie Männlichkeit und Weiblichkeit zu sein hat, trägt dies an das einzelne Individuum heran, dieses „verkörpert“ diese Vorstellungen mehr oder weniger und stellt einen Vergleich an, um zu sehen, wie nahe die Verkörperung den eigenen Vorstellungen und jenen von außen entspricht. Damit sei betont, dass es demzufolge eine untrennbare Verbindung zwischen Körper und Identität und in weiterer Folge auch zwischen Körper, Identität und Gesellschaft gibt, denn ein „Verkörpern“ ist nur mit einem Gegenüber möglich. Die soziale Konstruktion von Geschlecht besteht somit nicht nur durch die Gesellschaft, sondern auch, indem das Individuum sie verkörpert. Die Menschen bringen die Bedeutung von Geschlecht somit immer wieder neu hervor.[222] Der Grund für die soziale Konstruktion von Geschlecht ist dabei die soziale Ordnung, denn soziale Konstruktion bedeutet für den Menschen soziale Ordnung.[223] Genaugenommen dienen die soziale Konstruktion und die damit einhergehende Normenbildung somit der Kontrolle und der Einordnung.

Als Beispiel für die soziale Konstruktion von Geschlecht wurde an dieser Stelle Bezug genommen auf Spivaks Werk „Can the Subaltern Speak?“ (2014), in dem sie sich mit der „Frage von Unmöglichkeit und Möglichkeit eines Sprechens der Subalternen“ (Spivak 2014, Klappentext) auseinandersetzt. Als Beispiel führt sie dabei die Witwenverbrennung in Indien an, bei der die indischen Frauen einerseits von den frühen kolonialen britischen Männern, andererseits von den indischen Männern sozial konstruiert wurden. Die britischen Männer versuchten, die indischen Frauen vor ihrer eigenen Kultur zu retten und die indische Gesellschaft, die in ihren Augen barbarisch und zurückgeblieben war, zu verbessern. Die indischen Männer selbst legitimierten jedoch die Witwenverbrennung und verstanden sie als Ritus, dem die Frauen freiwillig zustimmten.[224] Die indischen Frauen standen jedoch als subalterne Gruppe dazwischen und wurden nicht gehört. Auf der einen Seite entstand somit die soziale Konstruktion der indischen Frau als Opfer der Gesellschaft, auf der anderen Seite fand sich die Konstruktion der Frau als minderwertiges Individuum, das ohne Ehemann nicht das Recht hat zu leben und das erlöst werden muss vom weiblichen Körper, der als nicht normgerecht galt.

Auch an Spivaks Beispiel der Subalternen sind somit eine gesellschaftliche Hierarchisierung durch Auf- bzw. Abwertung der einzelnen Geschlechter sowie der Missbrauch von Macht erkennbar, die dazu dienen, eine sozial konstruierte Ordnung aufrechtzuerhalten, die wiederum darauf basiert, dass einzelne Mitglieder bzw. Gruppen der Gesellschaft ausgeschlossen bzw. zum Schweigen gebracht werden.

In weiterer Folge wurde Behinderung als soziales Konstrukt betrachtet. Auch hier steht der Körper im Mittelpunkt der sozialen Konstruktion: Er gilt als „fehlerhaft“, nicht normgerecht und ein Mensch mit Behinderung hat schnell mit dem sozialen Konstrukt der „Andersartigkeit“ zu kämpfen und wird als minderwertig betrachtet. Ein Mensch mit Behinderung wird gerne als Opfer gesehen, weswegen es ihm erschwert ist, eine andere Rolle als eben jene des Opfers, des Leidenden einzunehmen.[225] Kurz: Ein Mensch mit Behinderung ist ständig mit sozial konstruierten, gesellschaftlichen Barrieren konfrontiert, die es ihm beinah unmöglich machen, auch noch etwas anderes als „behindert“ zu sein oder „ungehindert“ am alltäglichen gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Er wird ständig mit Normvorstellungen konfrontiert, denen er nicht gerecht werden kann, und dieses „Nicht-Entsprechen“ führt zu einem Ausschluss aus der Gesellschaft.

Wie bei der Konstruktion von Geschlecht, kann auch hier Butlers These angewandt werden, die besagt, dass Realität erst durch Sprache, durch das Benennen Bedeutung erlangt und entsteht.[226] Auch hier gilt, dass umbenannt werden kann, was durch Sprache benannt und somit konstruiert wurde. Was sozial konstruiert wird, das kann auch dekonstruiert werden.[227] Und auch bei der sozialen Konstruktion von Behinderung kann – Bezug nehmend auf Butler – angenommen werden, dass die soziale Konstruktion von außen an Menschen mit Behinderung herangetragen wird und diese die herangetragenen Vorstellungen „verkörpern“.[228] Dederich spricht sogar davon, dass der Körper durch soziale Konstruktion dazu gezwungen wird, die an ihn herangetragenen Vorstellungen, Etiketten, Zwänge und Regulierungen wahr zu machen.[229] Die Schädigung wird somit zugleich erfahren und „verkörpert“.[230]

Auch Spivaks These der Subalternität bzw. ihre Theorie, dass Subalterne nicht sprechen können[231], kann auf Menschen mit Behinderung im vorliegenden Kontext angewandt werden. Im Kapitel 4.3 Behinderung als Stigma – Menschen mit Behinderung als Subalterne konnte am Beispiel der Prothesenkörper, wie bei Spivaks Beispiel der Witwenverbrennung, eine mehrfache soziale Konstruktion einer subalternen Gruppe, hier der versehrten Soldaten, aufgezeigt werden. Vorerst wurden die heimgekehrten Soldaten als Kriegshelden gefeiert, schon bald jedoch wollte man ihre Behinderungen unter Prothesen verstecken, um so die Grausamkeiten des Krieges vergessen und die Männer wieder alltags- und arbeitstauglich zu machen.[232] Am Soldatenkörper kam es so zu einer neuartigen Verbindung von Mensch und Technik, denn die versehrten Körper sollten wieder funktionieren und „Normalität“ sollte wieder hergestellt werden. Die präzise Rekonstruktion der körperlichen Funktionen stand im Mittelpunkt.[233]

Anhand der Herausarbeitung von Geschlecht und Behinderung als soziale Konstrukte konnte in einem weiteren Kapitel schließlich auf die Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten und Unterschiede in der Betrachtung von Geschlecht und Behinderung als soziale Konstrukte eingegangen werden. Lediglich die Art und Weise der Ausgrenzung konnte dabei als Unterschied festgestellt werden, die Gemeinsamkeiten überwiegen deutlich. So unterliegen beide Kategorien, Geschlecht und Behinderung, gesellschaftlichen Machtverhältnissen und sind dadurch sozial konstruiert. Sie dienen einer hierarchischen Gliederung, einer Einordnung des Menschen, um eine soziale Ordnung herzustellen. Beide Kategorien wurden zu dem gemacht, was sie heute sind, weil sie (scheinbar) einen gesellschaftlichen Zweck erfüllen und so das Prinzip von schwarz-und-weiß aufrechterhalten, denn ohne Menschen mit Behinderung gäbe es Menschen ohne Behinderung nicht. Ohne das weibliche Geschlecht gäbe es das männliche nicht – und jeweils umgekehrt. Erst die Norm bestimmt das Normale sowie das Anormale und durch soziale Konstruktion entsteht soziale Ordnung.

Die soziale Konstruktion von Behinderung und Geschlecht unterliegt den aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen und hat sich historisch verändert. Dies impliziert jedoch auch die Tatsache, dass sich soziale Konstruktionen verändern, sie also nicht statisch, sondern veränderbar, nicht festgefahren, sondern dekonstruierbar sind. Basis für diese Erkenntnis ist jedoch das Einsehen, dass Geschlecht und Behinderung biologische Tatsachen und keine persönlichen Eigenschaften sind.

Behinderung wird laut Dederich mit jeder Darstellung von Menschen mit Behinderung konstruiert[234] und dies kann durchaus auch über das Geschlecht gesagt werden. Mit jeder Darstellung von Mann und Frau, von männlich und weiblich, beispielsweise in den Medien und der Werbung werden bestimmte Bilder des jeweiligen Geschlechts konstruiert und diese Bilder entsprechen meist nicht der Wirklichkeit.

In Anbetracht der oben erworbenen Erkenntnisse über Behinderung und Geschlecht als soziale Konstruktionen muss an dieser Stelle nochmals explizit auf Frauen und Mädchen mit Behinderung eingegangen werden. Ihnen muss besondere Aufmerksamkeit entgegengebracht werden, denn – wie schon oben erwähnt – sind sie doppelter Diskriminierung ausgesetzt. Sie erfahren beide Seiten der sozialen Konstruktion: jene von Behinderung und jene von Geschlecht. Darüber hinaus erfahren sie eine soziale Konstruktion, die erst durch die Kombination von Behinderung und dem weiblichen Geschlecht entsteht. Ihr weibliches Geschlecht wird zusätzlich als Behinderung wahrgenommen, wodurch Zwangssterilisationen, medizinische Eingriffe wie die Entnahme der weiblichen Geschlechtsorgane und empfohlene Abtreibungen noch immer keine Seltenheit für sie sind.[235] Frauen und Mädchen mit Behinderung sind deshalb beispielsweise vermehrt von sexueller Gewalt betroffen, sie werden aufgrund ihrer Behinderung nicht als „richtige“ Frauen wahrgenommen. Nicht nur die Behinderung wird somit mit Leid und Qual assoziiert, sondern auch das weibliche Geschlecht. Das weibliche Geschlecht wird ganz klar als Hindernis und Beeinträchtigung gesehen, wodurch die Frau mit Behinderung noch mehr von Diskriminierung, äußeren Gewalteinflüssen und Machtmissbrauch betroffen ist. Ebenso ist es Frauen mit Behinderung erschwert möglich, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen,[236] und vor allem die Lebenssituation junger Mädchen mit Behinderung ist häufig geprägt von Isolation und mangelnden altersgerechten Erfahrungen.[237] Die Behinderung wird dabei als hauptsächliches Merkmal wahrgenommen, das Geschlecht wird meist ignoriert, manchmal sogar abgesprochen: „Behinderung avanciert zum primären Identitätsmerkmal, demgegenüber das Geschlecht (und weitere denkbare Identitätsmerkmale) nur nachrangig Beachtung findet. […]“ (Claudia Franziska Bruner 2000, zitiert nach Middendorf 2010, 208) Frauen und Mädchen mit Behinderung bekommen vermittelt, dass sie gleich in zweifacher Weise nicht der kapitalistisch-patriarchalen gesellschaftlichen Normvorstellung entsprechen, die als Ideal den Mann ohne Behinderung vorsieht. Dabei wird ihnen aber gleichzeitig vermittelt, dass sie nicht bleiben sollen wie sie sind, sondern nach Möglichkeit besser und anders werden müssen.[238]

Die soziale Konstruktion von Geschlecht und Behinderung zwingt dazu, einer vorgeschriebenen Normvorstellung zu entsprechen, die so utopisch unerreichbar ist, dass für Nicht-Entsprechende das einzig logische Resultat daraus Selbstwertminderung und das Gefühl des Ausgeschlossen-Werdens sein muss. Ein weiteres Resultat daraus ist jedoch auch – früher oder später – der Kampf gegen diese Diskriminierung, gegen dieses Gemacht-Werden. Die vorliegende Arbeit soll deshalb ebenso als Erweiterung des Blickwinkels auf Geschlecht und Behinderung angesehen werden. Sie soll dabei helfen, Lebenssituationen und soziale Konstruktionen in den Bereichen Geschlecht und Behinderung zu verdeutlichen, um diese transparent und veränderbar zu machen. Ich möchte an dieser Stelle deshalb nochmals auf Judith Butler verweisen, die auf die Rückbesinnung zum Menschlichen und auf eine Ausweitung der Normen, ein Neuüberdenken sozialer Konstrukte plädiert, um ausgegrenzten Gemeinschaften ein lebensfähiges Leben zu ermöglichen[239] – und mit ihren Worten möchte ich die Arbeit beenden:

„[…] Es mag sein, dass das ‚Richtige‘ und ‚Gute‘ darin besteht, offen gegenüber den Spannungen zu bleiben, unter denen die meisten unserer grundlegenden Kategorien stehen, die Unwissenheit im Kern unseres Wissens und unserer Bedürfnisse zu kennen sowie bei den Wettkämpfen, die wir miteinander ausfechten müssen, ‚Lebenszeichen‘ zu erkennen.“ (Butler 2002, 162)



[215] Vgl. Dederich 2012

[216] Vgl. Mogge-Grotjahn 2004

[217] Vgl. ebd.

[218] Vgl. Schildmann 2000c, 47

[219] Vgl. Mogge-Grotjahn 2004

[220] Vgl. ebd.

[221] Vgl. ebd.

[222] Vgl. Redecker 2011

[223] Vgl. Mogge-Grotjahn 2004

[224] Vgl. Spivak 2014

[225] Vgl. Dederich 2009, Dederich 2012 und Schildmann 2000c

[226] Vgl. Mogge-Grotjahn 2004, 85f

[227] Vgl. ebd., 85f

[228] Vgl. ebd.

[229] Vgl. Dederich 2012, 145

[230] Vgl. ebd., 152f

[231] Vgl. Spivak 2014, 106

[232] Vgl. Dederich 2012, 104f

[233] Vgl. ebd.

[234] Vgl. Dederich 2012, 77f

[235] Vgl. Köbsell 2010

[236] Vgl. Köbsell 2010

[237] Vgl. Middendorf 2010, 208f

[238] Vgl. ebd., 209f

[239] Vgl. Butler 2002, 160ff

Schlusswort – Resümee

Beim Schreiben dieser Arbeit bzw. schon bei der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Thema wurde mir schnell bewusst, dass es sich um ein sehr breit gefächertes Thema handelt, das nach einer vielschichtigen und tiefgehenden Beschäftigung verlangt – nach einer Beschäftigung, die weit mehr als die vorgeschriebene Seitenanzahl hervorgebracht hätte. Und mir wurde ebenso schnell klar, dass ich allein mit einem Teilthema meiner Arbeit, beispielsweise „Behinderung als soziales Konstrukt“ oder „Die soziale Konstruktion von Mädchen und Frauen mit Behinderung“, eine vollständige Arbeit verfassen hätte können. Mir war es jedoch besonders wichtig zu zeigen, dass es Verbindungslinien zwischen Behinderung und Geschlecht als soziale Konstrukte sowie Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten in der Diskriminierung von einzelnen Menschen und sozialen Gruppen gibt. Die Diskriminierung der Frau bzw. ihr Kampf dagegen ist allgegenwärtig. Immer wieder wird darüber im politischen, gesellschaftlichen, kulturellen, sozialen Rahmen diskutiert. Allgegenwärtig ist, dass sich Frauen gegen Unterdrückung und Hierarchisierung wehren. Dabei bleibt der Kampf der Menschen mit Behinderung, die für Barrierefreiheit und Autonomie kämpfen und sich gegen Ausgrenzung und Diskriminierung zur Wehr setzen, oft ungesehen und unbemerkt. Jedenfalls wird Menschen mit Behinderung weit weniger Beachtung geschenkt. Es handelt sich jedoch – bei Frauen bzw. innerhalb des Geschlechterkampfes und bei Menschen mit Behinderung – um das Verlangen nach einem selbstbestimmten Leben ohne Ausgrenzung und Diskriminierung. Ein Vergleich der beiden Kriterien in der vorliegenden Arbeit war deshalb naheliegend. Dabei habe ich mir immer wieder gerne Goffmans Worte in Erinnerung gerufen:

„Wenn wir Frauen […] als eine unter anderen in modernen Gesellschaften benachteiligte Gruppe ansehen – was wir meiner Meinung nach tun sollten –, dann bietet sich der Vergleich mit anderen Gruppen dieser Art von selbst an […].“ (Goffman 1994, 119)

In der Arbeit wird deutlich, dass sich innerhalb der Normenvorstellungen Geschlecht und Behinderung überlappen, weil es sich in beiden Fällen, bei dem weiblichen Geschlecht und der Behinderung, um ein Nicht-Entsprechen der Norm handelt. Eine Änderung der Forschungsfrage dieser Arbeit in „Welche Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten gibt es in der Betrachtung von weiblichem Geschlecht und Behinderung als soziale Konstrukte?“ hätte sich deshalb eventuell angeboten. Denn sowohl anhand der Konstruktion des weiblichen Geschlechts als auch an jener von Behinderung ist ersichtlich, dass es sich um den unterdrückenden Versuch der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung, um die Hierarchisierung aus Sicht des nicht-behinderten Mannes handelt. An dieser Stelle möchte ich gerne Spivak zitieren, die formulierte: „Es ist klar, dass arm, schwarz und weiblich sein heißt: es dreifach abbekommen.“ (Spivak 2014, 74) Ich würde diesem Satz noch gern „behindert“ hinzufügen. Arm, schwarz, weiblich und behindert sein heißt: es vierfach abbekommen.

In den Bereich der sozialen Konstruktion spielen so viele politische, ökonomische, soziale, gesellschaftliche, individuelle, kulturelle etc. Faktoren hinein, dass diese Arbeit nur ein grober Abriss, ein Eintauchen in das Thema sein kann. Leider war es mir deshalb in der vorliegenden Arbeit aufgrund des Umfangs des Themas und der universitären Vorgaben nicht möglich, alle Teilbereiche des Themas darzustellen, die mir wichtig waren. So musste ich beispielsweise leider auf die Ausarbeitung von Behinderung als Geschlecht, Geschlecht als Behinderung an dieser Stelle verzichten. Dabei hätte ich mich beispielsweise mehr damit befasst, dass Weiblichkeit in einer patriarchalen und kapitalistischen Kultur als Behinderung gehandhabt wird und Mädchen und Frauen mit Behinderung in der Hierarchie der Gesellschaft ganz unten stehen. Doch glaube ich, dass die Arbeit es geschafft hat, auf die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung und von Frauen sowie Männern aufmerksam zu machen durch die Darstellung der sozialen Konstruktion von Geschlecht und Behinderung.

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Zusammenfassung der Arbeit in Leichter Sprache

Ich habe über diese Forschungs-Frage geschrieben: Welche Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten und Unterschiede gibt es in der Betrachtung von Geschlecht und Behinderung als soziale Konstrukte?

Das möchte ich erklären:

Die Bilder im Fernsehen zeigen Männer und Frauen oft anders als sie sind.

Das ist mir aufgefallen.

Männer werden im Beruf oft besser behandelt als Frauen.

Sie haben es oft leichter als Frauen.

Und sie verdienen mehr Geld als Frauen.

Auch das ist mir aufgefallen.

Ich wollte wissen, warum das so ist.

Deshalb habe ich dieses Thema gewählt.

Ich habe bemerkt, dass es Männer leichter haben, nur weil sie Männer sind.

Frauen haben es schwerer, nur weil sie Frauen sind.

Das hat aber nichts mit ihrem Geschlecht zu tun.

Man glaubt, dass Männer wichtiger und besser sind als Frauen.

Die Unterscheidung zwischen Mann und Frau wird gemacht.

Sie ist künstlich.

Bei Menschen mit Behinderung ist das auch so.

Auch sie werden von den anderen zu etwas gemacht.

Das schwere Wort dafür ist soziale Konstruktion.

Deshalb habe ich das Gemacht-Werden von Menschen mit Behinderung und von Männern und Frauen verglichen.

Dafür habe ich zuerst das Gemacht-Werden von Männern und Frauen bearbeitet.

Ich habe dafür Gedanken und Annahmen von Menschen in meinen Text geschrieben.

Sie kennen sich mit diesem Thema gut aus.

Das schwere Wort für diese Menschen ist:

Experten und Expertinnen.

Ich habe erkannt, dass Männer den Frauen übergestellt werden.

Der Grund dafür ist:

Damit es eine sogenannte soziale Ordnung gibt.

Das heißt, wir Menschen versuchen die Welt und

die Menschen zu ordnen.

Dann fühlen wir uns sicher.

Für diese Ordnung hat man sogenannte Normen erfunden.

Die Normen sagen uns, wie wir sein sollen.

Es kann aber nicht jeder Mensch so sein, wie diese Normen sagen.

Zum Beispiel sind Frauen und Menschen mit Behinderung nicht so, wie diese Normen sagen.

Diese Menschen werden dann ausgegrenzt.

Ich habe dann ein Beispiel von einer Forscherin beschrieben.

Sie heißt Spivak.

Sie erzählt von indischen Frauen.

Die Frauen verbrennen sich selbst, wenn ihre Ehe-Männer sterben.

Die Frauen werden zu dem gemacht, was sie sind.

Dann habe ich das Gemacht-Werden von Menschen mit Behinderung bearbeitet.

Ich habe wieder Gedanken und Annahmen von Menschen in meinen Text geschrieben.

Sie kennen sich gut aus mit dem Thema.

Auch Menschen mit Behinderung haben es oft schwer.

Sie werden von den anderen Menschen ausgegrenzt.

Sie sind auch nicht so, wie die Normen sagen.

Sie werden ausgegrenzt.

Ich habe noch ein Beispiel beschrieben.

Menschen mit Kriegs-Verletzungen mussten Prothesen tragen.

Damit sie wieder arbeiten konnten.

Ich habe das Gemacht-Werden von Menschen mit

Behinderung und das Gemacht-Werden von Männern und Frauen miteinander verglichen.

Das Gemacht-Werden ist fast gleich.

Frauen werden ausgegrenzt.

Und Menschen mit Behinderung werden ausgegrenzt.

Man glaubt, sie sind anders.

Sie sind nicht so, wie die Normen sagen.

Das soll anders sein.

Niemand soll ausgegrenzt werden.

Man muss den Frauen zuhören.

Und man muss Menschen mit Behinderung zuhören.

Sie sollen sagen, was sie möchten.

Das Gemacht-Werden kann dann vielleicht aufhören.

Quelle

Magdalena Dengg: Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten und Unterschiede in der Betrachtung von Behinderung und Geschlecht als soziale Konstrukte. Bachelorarbeit zur Erlangung des akademischen Grades einer Bachelor of Arts (BA) am Institut für Erziehungswissenschaften eingereicht von Mag.a Magdalena Dengg bei Frau Mag.a Kremsner Gertraud Fakultät für Bildungswissenschaften der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck

bidok - Volltextbibliothek: Erstveröffentlichung im Internet

Stand: 18.05.2016

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