Wie gestalten wir Lehre in Integrationspädagogik im Lehramt wirksam?

Die hochschuldidaktische Perspektive

Themenbereiche: Schule
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: In: Stein, Anne-Dore/Krach, Stefanie/Niediek, Imke (Hrsg.): Integration und Inklusion auf dem Weg ins Gemeinwesen. Möglichkeitsräume und Perspektiven. Klinkhardt (2010), 257-269
Copyright: © Irene Demmer-Dieckmann 2010

Wie gestalten wir Lehre in Integrationspädagogik im Lehramt wirksam?

Die Weltgemeinschaft will Inklusion, Selbstbestimmung und Teilhabe von und für Menschen mit Behinderungen. Dies sind die zentralen Prinzipien der Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen. Bundestag und Bundesrat haben diese Konvention einstimmig angenommen und seit dem 26.03.2009 ist sie in Deutschland in Kraft. Die Behindertenrechtskonvention ist ein Meilenstein in der Behindertenpolitik und fordert einen Paradigmenwechsel im gesellschaftlichen Umgang mit Menschen mit Behinderung auf allen Ebenen (Mobilität, Wohnung, Bildung, Arbeit, Gesundheit, Teilhabe am politischen, kulturellen, öffentlichen Leben): Von der Fürsorge (charity) zu Menschrechten (civil rights).

In der Behindertenrechtskonvention verpflichten sich die Vertragsstaaten im Artikel 24 auf ein "inclusive education system at all levels". Inklusion und Inklusive Bildung ist zum Menschenrecht und damit justiziabel geworden. Das gegliederte deutsche Schulsystem mit seinem ausdifferenzierten Sonderschulsystem steht im Widerspruch zum Geist dieser Konvention. Bund, Länder und Gemeinden sind nun für die Umsetzung zuständig und auch für die Aus-, Fort- und Weiterbildung der Lehrerinnen und Lehrer.

Die Schulgesetze aller Länder müssen entsprechend geändert, zielgleiche und zieldifferente Beschulung realisiert (letzteres gilt für Schülerinnen und Schülern mit den Förderschwerpunkten Lernen und Geistige Entwicklung) und der sogenannte Haushaltsvorbehalt in allen Schulgesetzen gestrichen werden.

In diesem Beitrag wird ein Einblick in den Stand der universitären Lehrerausbildung zur Integration gegeben und die seit 10 Jahren verpflichtenden Integrationsseminare an der Technischen Universität Berlin werden vorgestellt. In meiner Studie, in die über 450 Studierende einbezogen sind, wird der Frage nachgegangen, welche Wirkung diese Integrationsseminare auf die Einstellungen von Lehramtsstudierenden zum Gemeinsamen Unterricht haben.

Weltgemeinschaft will Inklusion - Deutsche Lehrkräfte vorbereitet?

Das Manifest "Inklusive Bildung - Jetzt!", von namhaften Institutionen, Vereinen und prominenten Personen getragen, fordert auf der Basis der Behindertenrechtskonvention zu Recht, dass alle Lehramtsstudiengänge an die Anforderungen inklusiver Bildung angepasst werden müssen. Denn deutsche Lehrerinnen und Lehrer sind in der Regel nicht darauf vorbereitet, integrativ bzw. inklusiv zu unterrichten. Gemeinsamer Unterricht, Integration oder Inklusive Bildung sind ein fast völlig ignoriertes Thema im Pflichtbereich der universitären Lehrerbildung.

Für das Grundschullehramt ist ein Lehrangebot zum Gemeinsamen Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Schülerinnen und Schülern an 24 von 43 deutschen Hochschulen vorhanden, das sind 55 % der ausbildenden Einrichtungen. An keiner deutschen Hochschule gibt es eine Pflichtveranstaltung, an all diesen 24 Hochschulen ist es nur ein Angebot. Oft sind die Lehrveranstaltungen im sonderpädagogischen Bereich angesiedelt und können auch von zukünftigen Grundschullehrerinnen besucht werden (vgl. FRANZKOWIAK in diesem Band). In 45 % der Grundschulstudiengänge gibt es keinerlei Angebot, und dabei ist die Grundschule die integrativste der deutschen Schulformen.

Über die Ausbildung für die Sekundarstufen und Berufsschulen gibt es keine solche Übersicht. Eine Pflichtlehrveranstaltung ist - mit Ausnahme der Technischen Universität Berlin - von keiner anderen Universität bekannt. Auch das Pflichtseminar, das es in Sachsen-Anhalt gab, ist bei der Umstellung auf die modularisierte Struktur (noch ohne Bachelor und Master) nicht übernommen worden. Kurz: Lehrerinnen und Lehrer in Deutschland werden so gut wie nicht auf den Gemeinsamen Unterricht vorbereitet.

Zur Umsetzung der UN-Konvention, zur deutlich quantitativen Steigerung der bundesweiten Integrationsquote von lediglich 16 % (vgl. KMK 2008), benötigen wir dringend qualifizierte und motivierte Lehrkräfte. Die UN-Konvention formuliert in § 24.4 einen deutlichen Auftrag: "Um zur Verwirklichung dieses Rechts [auf inklusive Bildung] beizutragen, treffen die Vertragsstaaten geeignete Maßnahmen zur Einstellung von Lehrkräften, einschließlich solcher mit Behinderungen, die in Gebärdensprache oder Brailleschrift ausgebildet sind, und zur Schulung von Fachkräften sowie Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen auf allen Ebenen des Bildungswesens".

Lehrer-Professionalität ist zentrales Kriterium für die Qualität des Unterrichts. Daher müssen Kompetenzen für inklusive Bildung von Schülerinnen und Schüler mit Unterstützungsbedarf in die Aus-, Fort- und Weiterbildung für alle Lehrämter aufgenommen werden, denn Regelpädagogen sind Hauptakteure in der Unterrichtsgestaltung, in gemeinsamer Verantwortung mit den Sonderpädagogen. Es geht nicht mehr um die Frage ob, sondern wie wir zukünftige Lehrerinnen und Lehrer auf das "inclusive education system" vorbereiten. Die Lehrerbildung muss neu gedacht werden.

Wir brauchen deutlich mehr Kooperation und Vernetzung zwischen Sonder- und Regellehramtsausbildungen, wenn nicht sogar eine gemeinsame Ausbildung, wie z.B. die Kombinationslehrämter, wie sie zuerst in Bielefeld (vgl. HäNSEL 2004) und nun in Bremen eingerichtet wurden. Sonderpädagogik hat eine subsidiäre Funktion und ist Teil der allgemeinen Schulpädagogik. Vor dem Hintergrund der Behindertenrechtskonvention ist zu hinterfragen, ob Sonderpädagogik noch grundständig im Bachelor studiert werden sollte. Auch die Systematik der sonderpädagogischen Förderschwerpunkte und die von der KMK vorgegebenen zwei zu studierenden Fachrichtungen sind zu überdenken.

Inklusive Bildung braucht eine inklusive Lehrerbildung, das gilt im Sekundarbereich insbesondere für Gesamtschulen, Gemeinschaftsschulen (in Schleswig-Holstein, Sachsen und Berlin), andere integrative Sekundarschulen, die derzeit in Berlin und Hamburg eingerichtet werden, und für die Regional- oder Mittelschulen, wie sie in den neuen Bundesländern heißen. Dafür wird eine am Lebensalter der Schülerinnen und Schüler orientierte Stufenlehrer-Ausbildung benötigt, keine nach Schulformen oder Beamtenlaufbahnen getrennte.

Herausforderungen an die Lehrerbildung

Die Phase der freiwilligen Vorbereitung auf den Gemeinsamen Unterricht in der Lehrerausbildung ist vorbei; sie wurde fast nicht genutzt. Vergleichbar mit dem Ende der Freiwilligkeitsphase in der integrativen Beschulung durch die UN-Konvention, wird nun auch in der Lehrerbildung ein Top-Down-Prozess erforderlich. Entsprechend des bereits zitierten § 24.4 müssen nun bundesweit alle für die Lehreraus-, Lehrerfort- und -weiterbildung Verantwortlichen sicherstellen, dass die erforderlichen Kompetenzen für inklusiven Unterricht verankert werden. Die KMK muss neben den Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung von 1994 vor allem die Standards für die Lehrerbildung (2004) entsprechend überarbeiten.

In den Lehrerbildungsgesetzen der Länder sowie Studien- und Prüfungsordnungen müssen integrations-/inklusionsspezifische Kompetenzen aufgenommen werden. Sie sind ebenfalls als Akkreditierungskriterium für die lehramtsbezogenen Bachelor- und Master-Studiengänge zu formulieren.

Inhaltlich ist es sinnvoll, wenn ein Modul "Umgang mit Heterogenität" eingerichtet wird, in dem die Heterogenitätsdimensionen, Migration, Geschlecht, Behinderung, Hochbegabung und die didaktische Gestaltung des Unterrichts erarbeitet werden. Ein solches Modul "Umgang mit Heterogenität im Grundschulalter" gibt es für angehende Grundschullehrerinnen in Potsdam.

Inklusive Bildung lediglich als Querschnittsaufgabe aller Lehrveranstaltungen zu formulieren, ist problematisch: In allen Seminaren irgendwie auch ein bisschen inklusiven Unterricht von Kindern oder Jugendlichen mit Unterstützungsbedarf zu thematisieren, reicht für die zukünftigen Anforderungen qualitativ und quantitativ nicht aus. Probleme bestehen in der Systematik und Tiefe der Inhalte und in der kompetenten Umsetzung. Da integrative Beschulung bisher kaum in der Lehre vorkam, werden in der Breite auch fachliche Kompetenzen der Lehrenden fehlen. Für Lehrende, die demnächst diese Aufgaben wahrnehmen werden, befindet sich eine Bidok-Lernplattform im Aufbau: www.edumoodle.at/bidok.

Wo es kein spezielles Modul "Umgang mit Heterogenität" gibt, sollte ein eigenständiges Seminar für alle Lehramtstudiengänge eingerichtet werden - ein Seminar und keine Vorlesung, denn es muss Zeit für Diskussionen und vor allem Reflexionen der Einstellungen geben.

10 Jahre Berliner Pflichtseminar zum Gemeinsamen Unterricht an der Technischen Universität

Fünf Jahre lang wurde an allen Berliner Universitäten ein eigenständiges Pflichtseminar zum Gemeinsamen Unterricht in allen Lehramtsstudiengängen realisiert, denn seit 1999 werden im Berliner Lehrerbildungsgesetz Kenntnisse zum gemeinsamen Unterricht von Schülerinnen und Schülern mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf gefordert. In den Studien- und Prüfungsordnungen für das Staatsexamen ist geregelt, dass sich niemand ohne diesen Schein zur Prüfung anmelden kann. Nachdem diese bundesweit einmalige Innovation fast zur guten Tradition in der Berliner Lehrerbildung geworden wäre, hat vor fünf Jahren bei der Umstellung auf Bachelor- und Masterabschlüsse lediglich die Technische Universität dieses Seminar beibehalten. Dass es auch im Bachelor-System möglich ist, ein Integrationsseminar mit zwei Leistungspunkten zu verankern, zeigt Tabelle 1. Die Leistungspunkte für eine Vorlesung wurden u.a. auf einen Punkt reduziert. Für die Berliner Lehrerbildung bedeutet es einen klaren Rückschritt hinter bereits erreichte Standards der Lehrerbildung, dass die Humboldt Universität und Freie Universität kein eigenständiges Integrationsseminar im Bachelor und Master mehr anbieten. Auch die Berliner Senatsbehörde steht mit der Behindertenrechtskonvention nun in der Verantwortung, diesen Rückschritt aufzuheben.

Modul I: Grundfragen von Erziehung und Bildung

Leistungspunkte

VL Einführung in die Erziehungswissenschaft

2

SE Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft

2

Modul II: Berufsfelderschließendes Modul

 

VL Pädagogisches Handeln am Lernort Schule

1

PR Praktikum

4

SE Lehren, Lernen, Motivation

2

SE Integrationspädagogik

2

Darüber hinaus müssten verstärkt auch die Belange von Schülerinnen und Schülern mit Unterstützungsbedarf in Seminaren zur Pädagogischen Diagnostik aufgenommen werden, die es z.B. im Berliner Master gibt. Auch die Lernausgangslagen und individuelle Förderung von behinderten und benachteiligten Schülerinnen und Schülern müssen behandelt werden. Im Master-Seminar "Gesprächsführung und Beratung" sind ihre Belange und die ihrer Eltern einzubeziehen. Insbesondere die zielgerichtete Zusammenarbeit mit unterstützenden Diensten wie schulpsychologische, sozialpädagogische oder pädagogisch-psychologische Beratung sowie die Kooperation mit dem Jugendamt sind von Bedeutung. Systematische Vorbereitung auf Teamarbeit, Kompetenztransfer und kooperativen Unterricht sind wichtige Themen und müssten vor allem in die 2. und 3. Phase der Lehrerbildung aufgenommen werden.

Sehr wichtig ist, dass Unterricht mit Schülerinnen und Schülern mit Unterstützungsbedarf auch verpflichtender Inhalt für alle Fachdidaktiken wird. Fachbezogene Lernausgangslagen, fachbezogene Differenzierung und individuelle Förderung sind notwendige Inhalte in allen Fachdidaktiken. Hier macht es Sinn, sie als Querschnittsaufgabe aufzunehmen. Aktuell sind individualisierte Lernwege, kooperatives und gemeinsames Lernen zentrale Themen der allgemeinen Schulpädagogik, die um die Belange von Schülerinnen und Schülern mit Unterstützungsbedarf zu erweitern sind. Dabei ist es nötig, dass die KMK die "Ländergemeinsame inhaltliche Anforderung für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerinnen und Lehrerausbildung" (vom 16.10.2008) entsprechend überarbeitet.

Konzept der Integrationsseminare

Lehrerbildung im Bereich Integrationspädagogik soll fachliche Kenntnisse vermitteln, Einstellungen entwickeln und ggf. modifizieren und - vor allem in der 2. und 3. Phase der Lehrerbildung - Handlungskompetenz entwickeln. Folgende Inhalte werden thematisiert:

  • Erfahrungen und Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderung und dem Gemeinsamen Unterricht,

  • Behindertenbegriff,

  • Geschichte der Sonderbeschulung und des Gemeinsamen Unterrichts,

  • bildungspolitische, internationale und nationale Entwicklungen,

  • aktueller Stand und Entwicklungen in Berlin,

  • Forschungsergebnisse,

  • Erfahrungsberichte von ehemaligen Integrationsschülern mit Behinderung oder Lehrkräften,

  • methodisch-didaktische Gestaltung des Gemeinsamen Unterrichts und

  • integrative Wege im Übergang Schule-Beruf.

Methodisch wird mittels Inputphasen, Arbeits- und Reflexionsphasen in Kleingruppen und Partnerarbeit gearbeitet. Die Materialien werden in einem Reader und auf einer Lernplattform zur Verfügung gestellt. In der zweiten Seminarhälfte arbeiten die Studierenden, häufig schulstufenbezogen, in interessenorientierten, selbstgesteuerten Themengruppen (Behinderung und Migration, Förderplanung, ADHS, Übergang Schule-Beruf, Entwicklung von Unterrichtseinheiten etc.), deren Ergebnisse verschriftlicht und präsentiert werden.

Um neben fachlichen Inhalten die Reflexion von eigenen Erfahrungen einzubeziehen, besteht eine zweite Anforderung in einem reflektierenden Hospitationsbericht über eine integrative Einrichtung oder einem ausführlichen Interview mit einer Person, die Träger einer Behinderung ist, oder in integrativen Settings mit Menschen mit Behinderung arbeitet (Partnerarbeit). Neun von zehn Studierenden geben in der Seminarevaluation an, dass ihnen durch diese Struktur die Grundlagen "sehr gut" bzw. "gut" vermittelt wurden.

Studie zur Wirksamkeit von Integrationsseminaren

Seit acht Semestern wird jeweils zu Beginn und zum Ende eine Befragung in allen Pflichtseminaren durchgeführt. Es handelt sich somit um eine Vollerhebung. Mit einem anonymen, dreiseitigen Fragebogen (Fragen mit vorgegebenen Antwortkategorien sowie offene Fragen) werden insbesondere Einstellungen und Einstellungsveränderungen erhoben: Mit welchen Einstellungen zum Gemeinsamen Unterricht kommen Studierende in das Seminar? Bewirkt die Auseinandersetzung im Seminar eine Veränderung der Haltung und wenn ja in welche Richtung?

In Weiterführung und inhaltlicher Ausweitung der Studie mit zusätzlichen Fragen (vgl. Demmer-Dieckmann 2007) hat sich inzwischen die Anzahl der befragten Studierenden verdoppelt (N = 459). Sie sind jeweils ungefähr zu einem Drittel zukünftige Primar-/Sekundarstufen-I-, Gymnasial- oder Berufsschullehrkräfte. Die Sozialdaten ergeben ein für den Lehrerberuf typisches Bild: Jeweils zwei Drittel sind weiblich und zwischen 21 und 25 Jahre alt. Nicht alle Ergebnisse können hier dargestellt werden.

Fast zwei Drittel der Befragten haben Erfahrungen mit Menschen mit Behinderung (Familie, Nachbarschaft, Bekanntenkreis, Zivildienst, soziales Jahr). Mehr als jeder fünfte Studierende hiervon absolvierte das Orientierungspraktikum in einer Integrationsklasse und jeder Elfte hat selber gemeinsam mit behinderten Mitschülern in einer Integrationsklasse gelernt.

Fast zwei Drittel der zukünftigen Lehrkräfte geben an, sich durch das Seminar zum ersten Mal mit dem Thema beschäftigt zu haben. Angesichts der Tatsache, dass seit über 30 Jahren Gemeinsamer Unterricht bundesweit praktiziert wird und in Berlin seit 19 Jahren im Schulgesetz verankert ist, stellt dies eine erstaunliche, aber auch beängstigend hohe Quote dar. Sie weist deutlich auf den Bedarf einer verpflichtenden Auseinandersetzung hin. Wie sollen zukünftige Lehrkräfte demnächst qualifiziert inklusiv unterrichten, wenn sie nicht darauf vorbereitet werden?

Auf die offen formulierte Frage, "Wenn ich an einen Schüler mit Behinderung/sonderpädagogischem Förderbedarf denke, denke ich an...", nennen 43 % der Studierenden Körperbehinderung, 33 % Geistige Behinderung, 8 % Lernbehinderung und 2 % Blindheit an erster Stelle. Der Behinderungsbegriff wird - erwartungsgemäß - in erster Linie mit Körper- und Geistiger Behinderung in Verbindung gebracht. Der Förderschwerpunkt Lernen, mit 50 % der größte aller Förderschwerpunkte, wird lediglich von 8 % genannt und der Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung gar nicht. Mit diesen beiden Schwerpunkten haben Lehrkräfte im Schulalltag allerdings am meisten zu tun.

Zu Beginn und am Ende des Seminars geben die Studierenden ihre Einstellung zu der These ab: "Ein Schüler mit Behinderung wird am besten in der Sonderschule gefördert". Vor dem Seminar stimmen 2 % völlig und 48 % weitgehend zu; 50 % lehnen diese These ab. Bei der Hälfte wird somit zu Beginn eine segregierende Einstellung offensichtlich. Nach dem Seminar ist eine immense Veränderung zu verzeichnen: Niemand stimmt mehr voll dieser These zu, 12 % stimmen weitgehend zu und 87 % lehnen sie ab. Das Plus von 37 Prozentpunkten in der Kategorie Ablehnung stellt den größten Zuwachs im Vorher-Nachher-Vergleich dieser Erhebung insgesamt dar. Was hat zu dieser großen Veränderung geführt? Eine Studentin schrieb: "Vor dem Seminar wusste ich nicht, dass behinderte und nichtbehinderte Kinder überhaupt gemeinsam unterrichtet werden können. Ich kannte nur Sonderschulen und Werkstätten für Behinderte. Ich dachte, das ist alles gut und richtig so".

Im Seminar thematisieren die Studierenden zu Beginn die Hoffnungen, die mit Sonderschulen in der Regel verbunden werden: Hier arbeiten besonders qualifizierte Lehrkräfte, die spezielle Förderung erfolgt gezielt in kleineren Lerngruppen, Leistungsdruck und Hänseleien entfallen, die Schüler bleiben unter sich und fühlen sich so wohler etc. Anhand von empirischen Studien werden Anspruch und Wirklichkeit am Beispiel der Schule mit dem Förderschwerpunkt Lernen vorgestellt und mit den Leistungsergebnissen in Integrationsklassen verglichen. Die von den Studierenden vermutete Wirkung einer Schonraumpädagogik erweist sich vor diesen Daten einer reduktionistischen Didaktik und sozialen Selektion als institutionelle "Schonraumfalle". Die für viele neue Erkenntnis veränderte die Einstellung deutlich. Die ernüchternde Einsicht formulierte eine Studentin wie folgt: "Ich bin schockiert, dass die Ergebnisse für die Lernbehindertenschule so schlecht sind und dass das fast keiner weiß, ich auch nicht, und dass fast nichts passiert, um das zu ändern".

Die Veränderungen auf die Frage, ob die Studierenden ihr nicht behindertes Kind in eine Integrationsklasse geben würde, ist der Abbildung 1 zu entnehmen. Die Angaben bei der Frage nach einem behinderten Kind fallen ähnlich aus.

Den schriftlichen Begründungen der Studierenden ist zu entnehmen, dass beim nichtbehinderten Kind vor allem Leistungsängste dagegen sprechen, vor allem unter Akademikereltern ein weit verbreitetes Vorurteil. Beim behinderten Kind besteht die Angst, dass es gehänselt werden oder darunter leiden könnte, den Leistungsansprüchen nicht zu genügen. Doch die Auseinandersetzung mit den Forschungsergebnissen, die genau hierzu Erkenntnisse liefern, hat zu der Veränderung beigetragen.

Abb. 1: Würden Sie Ihr nichtbehindertes Kind in eine Integrationsklasse geben? (N = 459)

Am Ende des Seminars stimmen neun von zehn Studierenden der Aussage zu, dass Unterricht prinzipiell so gestaltet werden kann, dass er allen Schülerinnen und Schülern gerecht wird, auch solchen mit Behinderung oder mit Hochbegabung. Nur 1 % der Befragten befürchtet am Ende, dass lern- und geistigbehinderte Kinder in der Regel das Leistungsniveau der nicht behinderten Schülerinnen und Schüler senken würden.

Vor dem Seminar kann es sich die Hälfte vorstellen, in einer Integrationsklasse zu arbeiten, während es sich 9 % nicht vorstellen können; 41 % wählen die Kategorie "Kommt darauf an". Nach dem Seminar muss Position bezogen werden: Die Kategorie "Kommt darauf an" wird ihnen bewusst nicht mehr angeboten. 83 % können es sich dann vorstellen, in Integrationsklassen zu unterrichten, ein mit 33 Prozentpunkten sehr hoher Zuwachs. Auch wenn die Werte somit nichtdirekt vergleichbar sind, hat die Auseinandersetzung eine deutliche Veränderung bewirkt.

Die Ergebnisse zur Frage "Hat sich Ihre Einstellung zum Gemeinsamen Unterricht durch das Seminar verändert?" sind der Abbildung 2 zu entnehmen. Am Ende des Seminars stehen somit 96 % dem Gemeinsamen Unterricht positiv gegenüber.

Abb. 2: Hat sich Ihre Einstellung zum Gemeinsamen Unterricht durch das Seminar verändert? (N=459)

Viele Studierenden schreiben, dass sie sich durch ein Seminar - verständlicher Weise - noch nicht kompetent genug fühlen und wollen sich weiter mit dem Thema beschäftigen. Im Rahmen der Modulprüfungen im Bachelorstudiengang wählen ca. zwei Drittel aller Studierenden Integrationspädagogik als Prüfungsthema.

Eine verpflichtende Teilnahme an einem Integrationsseminar bewerten 82 % nach dem Seminar mit "gut". Zudem zeigen die zusätzlichen Seminarevaluationen insgesamt eine sehr positive Bewertung.

Es überrascht nicht, dass diejenigen Studierenden, die bereits Erfahrungen mit behinderten Menschen gesammelt hatten, in allen Bereichen positivere Einschätzungen angeben. Darüber hinaus können keine signifikanten Unterschiede zwischen den verschiedenen Lehrämtern oder weiblichen und männlichen Studierenden festgestellt werden.

Resümee der Studie

Die Ergebnisse der Studie belegen eine deutliche Zunahme von positiven Einstellungen zur Inklusion und dass sich die bildungspolitische Entscheidung für eine Pflichtveranstaltung als wirkungsvoll erweist. Die Veränderungen durch nur ein Seminar sind erstaunlich hoch.

Eingewendet werden könnte, dass - trotz Anonymität der Befragung - diese hohen Werte durch soziale Erwünschtheit entstanden sein könnten, d.h. durch den Wunsch, sich "politisch korrekt" zu verhalten beziehungsweise sich nicht als behindertenfeindlich outen zu wollen. Allerdings würde dies beide Erhebungszeitpunkte betreffen, so dass sich die großen Veränderungen hiermit nicht erklären lassen. Unterstellt, dass einige Studierenden in der anonymen Erhebung ihre Antworten vor allem nach dem Seminar im Sinne von sozialer Erwünscht und politischer Korrektheit gegeben haben könnten, dann haben sie zumindest gelernt, was im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention politisch erwünscht ist.

Über die Stabilität der Einstellungsveränderungen - insbesondere wenn die Studierenden in die Schulpraxis gehen - kann diese Erhebung keine Aussagen machen. Die bisher relativ wenigen Studien zur Wirksamkeit der Lehrerausbildung zeigen allerdings, dass sich die Einstellungen während des Studiums in Richtung liberale bis progressive pädagogische Haltungen wandeln. Nach Beginn des Berufslebens verlieren sich diese jedoch bei den allermeisten rasch wieder (vgl. TERHARDT 2006, 45). Daher sind weitere und insbesondere Langzeitstudien wünschenswert.

Hochschulen müssen inklusiver werden

Nicht nur angehende Lehrerinnen und Lehrer müssen auf inklusive Bildung angemessen vorbereitet werden, auch die Hochschulen müssen inklusiver werden. Der bereits zitierte § 24.4 der Behindertenrechtskonvention fordert die Einstellung von Lehrkräften, einschließlich solcher mit Behinderungen - d.h. Menschen mit Behinderung müssten auch verstärkt eine Lehrerausbildung machen können; dafür sind die Rahmenbedingungen zu schaffen. Der § 24.5 regelt den gleichberechtigten Zugang zur allgemeinen Hochschulbildung. Laut KMK (2008) machen nur 0,2 % aller Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf Abitur. Nur 2 % aller Studierenden haben eine Behinderung, ein Zehntel chronische Erkrankungen (vgl. BUNDESMINISTERIUM FüR BILDUNG UND FORSCHUNG 2001, 406). In lehramtsbezogenen Studiengängen ist die Quote deutlich niedriger, welches auch mit gesundheitlichen Voraussetzungen für den Beamtenstatus der Lehrkräfte zusammenhängt. Das bedeutet: Hochschulen müssen inklusiver werden. Die Hochschulrektorenkonferenz hat im April 2009 in Aachen einstimmig einen Beschluss gefasst, um mehr Chancengerechtigkeit für Menschen mit Behinderungen zu ermöglichen. Mit der Empfehlung "Eine Hochschule für Alle" wollen Hochschulen sich stärker auf Belange von Studierenden mit Behinderungen einstellen, barrierefreie Lehrgebäude und Informationszentren gestalten und die Studienstrukturen flexibilisieren, um individuelle Beeinträchtigungen auszugleichen. Der Kriterienkatalog zur Akkreditierung von Studiengängen enthält erstmals besondere Kriterien zur Berücksichtigung der Belange von Studierenden mit Behinderung.

Vereinzelt sind Lehrende mit einer Behinderung in der Lehrerbildung tätig. Für den Forschungsbereich gilt in der Regel noch, dass über Menschen mit Behinderung geforscht wird und nicht mit ihnen. Partizipative Forschungs- und Lehrerfahrungen mit Menschen mit Behinderung werden in Österreich von Flieger, Buchner und König gemacht (vgl. KOENIG et.al in diesem Band).

Europas erster Lehrer mit Down-Syndrom

Pablo Pineda ist Europas erster Lehrer mit Down-Syndrom. Nach dem Besuch der Regelschule, wo er zweimal sitzen blieb, legte er das Abitur und ein Lehramtsstudium in Malaga ab.

Pablo Pineda: "Ich weiß, wenn ich in Zukunft wirklich als Lehrer arbeite, ist das brutal für die Gesellschaft. Viele Familien haben Angst vor Menschen mit Down-Syndrom - etwa als Lehrer oder auch als Liebhaber ihrer Kinder" (zitiert nach Schulze 2009).

Pablo Pineda: "Es geht darum, gegen vorgefertigte Urteile anzugehen, um der Gesellschaft zu zeigen, dass auch mit Down-Syndrom viele Sachen möglich sind... Jetzt ist meine Zeit gekommen, zu unterrichten" (zitiert nach Wandler 2009).

Wann wird es in Deutschland einen Abiturienten, Studierenden oder Lehrer mit Down-Syndrom geben?

Auch wir Fachleute müssen unser oft noch stereotypes Bild von Menschen mit Behinderung verändern. Eine solche Biografie haben viele für unmöglich gehalten. Sie bedeutet aber nicht, dass mit optimaler Förderung und Therapie alle Menschen mit Down-Syndrom zu Pablo Pinedas werden. Aber mit entsprechender Förderung, verstärkter Selbstbestimmung und Teilhabe können viele Menschen mit Behinderung sehr viel mehr erreichen und ihre Potentiale an Selbstbestimmung und -verwirklichung besser ausschöpfen. Dazu wird die Behindertenrechtskonvention maßgeblich beitragen. Wir benötigen in den Schulen auch Barrierefreiheit in den Köpfen und Herzen (Abbau von Vorurteilen) aller Lehrkräfte und pädagogischer Mitarbeiterinnen. Inklusion ist nicht nur eine Verpflichtung des Staates, sondern auch für jeden von uns.

Als Orte der kulturellen, sportlichen, sozialen und demokratischen Begegnungen haben Schulen auch eine Schlüsselfunktion für kommunale Bildungslandschaften (vgl. Hocke in diesem Band) und damit für das Gemeinwesen. In ländlichen Regionen ist diese Funktion noch wichtiger. Gemeinsam leben kann man nur gemeinsam lernen. Die Inklusion im Schulalltag und die Menschen, die in Schulen arbeiten, spielen eine wichtige Rolle auf dem Weg der Inklusion in alle Bereiche des Gemeinwesens. Immer mehr Schulen öffnen sich für eine Gemeinwesenorientierung und engagieren sich sozial und kulturell. Unterstützung wohnortnaher Integration ist vor, während und nach der Schulzeit auch eine Pflichtaufgabe der Kommunen. Inklusive Kommunalentwicklung ist daher ebenso wichtig und mit inklusiven Schulen zu verzahnen, da Kommunen und Kreise Schulträger sind.

30 Jahre integrative Beschulung in Deutschland haben in der Lehrerbildung diesbezüglich wenig verändert. Nun muss die UN-Konvention auch in der Lehrerbildung "Meilensteine" in Bewegung setzen. Inklusive Bildung muss angemessenes Thema in der Lehrerbildung werden. Die Kultus- und Schulbehörden aller Bundesländer stehen jetzt in der Verantwortung, tragfähige Konzepte für aller drei Phasen der Lehrerbildung zu etablieren, damit die UN-Konvention durch qualifizierte Lehrkräfte auch wirksam und qualitätsvoll umgesetzt werden kann. Hierzu wird auch die in der Konvention festgeschriebene Berichtspflicht (§§ 35-39) beitragen und das von Deutschland ratifizierte Fakultativprotokoll, welches das Recht des Einzelnen sichert, sich bei Verletzungen des Übereinkommens an den zuständigen Ausschuss zu wenden. Das Deutsche Institut für Menschenrechte in Berlin übernimmt die Monitoringfunktion und damit eine wichtige Rolle im Umsetzungsprozess der Inklusion.

Literatur

Bidok-Lernplattform: Im Internet unter: www.edumoodle.at/bidok [07.07.2009]

Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.): Die wirtschaftliche und soziale Lange der Studierenden in der Bundesrepublik Deutschland. 2001. Im Internet unter: http://www.bildungsministerium.de/pub/wslsd_2000.pdf [07.07.2009]

Demmer-Dieckmann, I.: Aus Zwang wurde Interesse. Eine Studie zur Wirksamkeit von Seminaren zum Gemeinsamen Unterricht in Berlin. In: Demmer-Dieckmann, I./Textor, A. (Hrsg.): Integrationsforschung und Bildungspolitik im Dialog. Bad Heilbrunn 2007, 153-162.

Hänsel, D.: Integriertes sonderpädagogisches Bachelor- und Masterstudium an der Universität Bielefeld. Strukturverbesserung statt Qualitätsverbesserung? In: Carle, U./Unckel, A. (Hrsg): Entwicklungszeiten. Forschungsperspektiven für die Grundschule. Bremen 2004, 81-90

Hochschulrektorenkonferenz: "Eine Hochschule für Alle". Zum Studium mit Behinderung/chronischer Krankheit. 2009. Im Internet unter: http://www.hrk.de/109_4945.php?datum=6.+Mitgliederversammlung+am+21.+April+2009 [07.07.2009]

Kultusministerkonferenz (Kmk): Sonderpädagogische Förderung in Schulen 1997 bis 2006. Statistische Veröffentlichungen der KMK, Dokumentation Nr. 184. Bonn 2008

Manifest "Inklusive Bildung - Jetzt!". Im Internet unter: http://www.gemeinsamleben-gemeinsamlernen.de/Manifest.pdf [07.07.2009]

Schulze, R.: Spanien: Europas erster Lehrer mit Down-Syndrom. Im Internet unter: http://diepresse.com/home/panorama/welt/470431/index.do [07.07.2009]

Terhardt, E.: Was wissen wir über gute Lehrer? In: Pädagogik (58) 2006, Heft 5, 42-47

Wandler, R.: Erster Lehrer mit Downsyndrom. "Meine Zeit ist gekommen". Im Internet unter: http://www.taz.de/1/leben/koepfe/artikel/1/%5Cmeine-zeit-ist-gekommen%5C/[07.07.2009]

Quelle:

Irene Demmer-Dieckmann: Wie gestalten wir Lehre in Integrationspädagogik im Lehramt wirksam?: Die hochschuldidaktische Perspektive

In: Stein, Anne-Dore/Krach, Stefanie/Niediek, Imke (Hrsg.): Integration und Inklusion auf dem Weg ins Gemeinwesen. Möglichkeitsräume und Perspektiven. Klinkhardt (2010), 257-269

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 18.06.2013

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