Schwere Behinderungen in der Schule

Unsere Fragen an die Erfahrung

Themenbereiche: Schule
Textsorte: Buch
Releaseinfo: Erschienen als: Nicola Cuomo: Schwere Behinderungen in der Schule. Klinkhardt-Verlag, 1989. Aus dem Italienischen übertragen und überarbeitet von Jutta Schöler
Copyright: © Jutta Schöler 1989

Inhaltsverzeichnis

Vorwort für die deutschsprachige Ausgabe von Jutta Schöler

In vielen Diskussionen um die Nichtaussonderung von Kindern mit Behinderungen wird sehr schnell die Frage nach den Grenzen der Integration gestellt. Bei zahlreichen Exkursionen nach Italien fragten die Teilnehmerinnen immer wieder nach, ob es nicht doch Kinder gäbe, die »nicht integrierbar« seien. In den deutschsprachigen Ländern besteht die Gefahr, daß Kinder mit schweren Behinderungen von Anfang an ausgeschlossen werden, weil es keine Kenntnisse und Erfahrungen über gemeinsame Lernprozesse mit ihnen und den nichtbehinderten Kindern gibt.

  • Wo liegen die Grenzen der Integration?

  • Für welche Kinder ist ein gemeinsames Spielen und Lernen nicht möglich?

Besorgte Eltern befürchten für ihre schwer behinderten Kinder die größer werdende Isolation, wenn die Kinder mit leichten Behinderungen in Regelschulen integriert werden.

Pädagoginnen und Pädagogen an allen Schulen erleben täglich die immer schwieriger werdende Arbeitsplatzsituation. Können sie sich dann auch noch den schwer behinderten Kindern zuwenden?

Befürwortern wie Gegnern von schulischen Integrationsbestrebungen fehlen die anschaulichen Beispiele von erfolgreichen Entwicklungen.

Es ist in der Tat schwer vorstellbar, wie das gemeinsame Leben in einer Schulklasse für eine vielfältige Gruppe geplant und täglich gestaltet werden kann, wenn ein schwer behindertes Kind in seiner Individualität geachtet und gefördert und zugleich die Lernentwicklung und die Entfaltungsmöglichkeiten aller Kinder nicht eingeschränkt werden sollen.

Die Geschichten der hier vorgestellten vier Kinder sind ein anschauliches und lebendiges Zeugnis der Erfahrungen, die die Erwachsenen mit Renzo, Daniela, Ines und Sergio und ihren jeweiligen Kindergruppen gemacht haben. Wenn wir uns diese Erfahrungen zu eigen machen, wird zweierlei deutlich:

  • Die Lehrerinnen und Lehrer, die an einem solchen Integrationsprozeß beteiligt sind, benötigen eine regelmäßige und äußerst qualifizierte Beratung. Notwendig ist eine Fortbildung als ständiger, die Praxis begleitender Prozeß.

  • Mit den Problemen, die im Zusammenhang mit der Integration der schwer behinderten Kinder ins Bewußtsein gelangen, werden zugleich die scheinbaren Selbstverständlichkeiten von Schule in Frage gestellt.

Viele Menschen haben dazu beigetragen, daß es dieses Buch nun in deutscher Sprache gibt. Ihnen allen möchte ich an dieser Stelle herzlich danken: Der Kollege Walther Dreher, Professor für Geistigbehindertenpädagogik an der Universität Köln, arbeitet seit mehreren Jahren mit Nicola Cuomo zusammen. Zahlreiche Studentinnen und Studenten der Universität Köln haben in den vergangenen Jahren Praktika in Bologna absolviert. Eine dieser Studentinnen, Birgit Dietel, schrieb ihre Staatsexamensarbeit über die »Integrative Didaktik«. Sie übersetzte als erste das Buch von Nicola Cuomo.

Franco Calchera, ein Italiener, der seit vielen Jahren in Deutschland lebt, überarbeitete diesen Text.

Patricia Monti-Straub, eine italienische Grundschullehrerin, die derzeit in Berlin wohnt, diskutierte mit mir viele Details.

Gemeinsam mit einer Gruppe von Studentinnen und Studenten eines erziehungs-wissenschaftlichen Seminars der Technischen Universität Berlin erarbeitete ich die deutsche Textfassung.

Dem Kollegen Ferdinand Klein, Professor für Geistigbehindertenpädagogik an der Universität Mainz, danke ich sehr herzlich für seine strenge und zugleich solidarische Kritik.

Die Passagen, die nur für den unmittelbaren Anwendungsbezug in Italien nützlich wären, und ausführliche Beschreibungen der Erhebungsmethoden sind für die deutschsprachige Ausgabe weggelassen worden. Leserinnen und Leser, die ähnliche Untersuchungen durchführen wollen, seien auf die im Literaturverzeichnis aufgeführte italienische, amerikanische und französische Literatur verwiesen.

Der Originaltext wurde in vielen kleinen Details ergänzt, damit es den Leserinnen, die das italienische Schulsystem nicht kennen, ermöglicht wird, sich eine konkrete Vorstellung über den Alltag in italienischen Kindergärten und Schulen zu machen.

Wer sich über die Rahmenbedingungen schulischer Integration in Italien genauer informieren möchte, sei auf das von mir herausgegebene Buch: »italienische verhältnisse« verwiesen (siehe Literaturverzeichnis). Die gesetzlichen Regelungen, die den pädagogischen Prozeß erst ermöglichen, sind in Auszügen in den Anhang dieses Buches aufgenommen worden.

Das Buch hat im italienischen Original den Titel:

Handicaps 'gravi' a scuola

Zwei verschiedene Übersetzungen wären möglich:

'Schwer' Behinderte in der Schule

oder

'Schwere' Behinderungen in der Schule

Der von uns gewählte Titel

'Schwere Behinderungen' in der Schule

soll erkennbar werden lassen, daß es nicht allein die einzelnen Kinder sind, die mit ihren zweifellos vorhandenen großen Entwicklungsschwierigkeiten die wesentlichen Behinderungen in die Schule tragen.

Es sind oft ganz andere 'Störungen', die die Entwicklung von Kindern - auch ohne Behinderungen - in der Schule erschweren.

Das Nachdenken über Entwicklungsmöglichkeiten für schwer behinderte Kinder in der Schule kann auch zu einem Nachdenken über die schweren Behinderungen führen, die alle Kinder in der Schule erleben.

Mit der deutschsprachigen Herausgabe des Buches 'Schwere Behinderungen' in der Schule verbinde ich den Wunsch, daß viele Mütter und Väter, Lehrerinnen und Lehrer, Medizinerinnen und Therapeutlnnen ähnliche Entwicklungen für die ihnen anvertrauten Kinder durchsetzen können. Viel Mut, Kraft, Ausdauer und innere Sicherheit sind notwendig, um gemeinsam mit den Kindern den Weg in die Normalität zu betreten.

Die Kenntnis über die Entwicklungen von Renzo, Daniela, Ines und Sergio trug mit dazu bei, in Berlin die Integration einzelner Kinder zu ermöglichen. Agnes, Florian, Cordula, Hakan, Silke und viele andere besuchen nicht mehr die Sonderschule, obwohl sie als schwer behindert bezeichnet wurden.

Jenny - ein Mädchen mit Down-Syndrom - durfte in Berlin nach sechsjähriger gemeinsamer Grundschulzeit nicht gemeinsam mit ihren Freunden und Freundinnen zur Gesamtschule gehen, weil die Zuständigen in der Schulverwaltung es verboten haben. (Eine Dokumentation hierzu wurde von den Eltern herausgegeben. Siehe Literaturverzeichnis: Jenny darf nicht in die Oberschule.)

In Italien werden Kinder mit Down Syndrom inzwischen nicht mehr als schwer behindert bezeichnet, weil es ausreichende Erfahrungen gibt, daß gerade diese Kinder durch die richtigen pädagogischen Interventionen zu Fähigkeiten gelangen, die ihnen in einem großen Teil der sonderpädagogischen Fachliteratur vor wenigen Jahren noch abgesprochen wurden.

Kinder mit Down Syndrom lernen durch Vortun und Mittun, daß sie auch etwas tun können. Diese Erfahrung führt zum Selbst-Tun-Wollen.

Gemeinsame Entwicklungen aller Kinder müssen ermöglicht werden. Die im folgenden dargestellten Beispiele sollen dazu ermutigen!

Berlin, im Mai 1988

Zum Geleit von Walther Dreher und Ferdinand Klein

Jutta Schöler, Professorin für Schulpädagogik an der Technischen Universität (Tu) Berlin und Mitbegründerin der Tu-Arbeitsstelle »Integrative Förderung schulschwacher/behinderter Kinder und Jugendlicher« ist eine der HochschullehrerInnen der sogenannten Regelpädagogik, die sich seit vielen Jahren für die gesellschaftliche und schulische Integration behinderter Menschen einsetzt. Die Integrationsforscherin pflegt intensiven Kontakt mit italienischen Eltern behinderter Kinder, mit LehrerInnen und Hochschullehrerinnen im integrativen Praxis- und Forschungsfeld. Das von ihr 1987 herausgegebene Buch »italienische verhältnisse« gibt einen eindrucksvollen Einblick in die Struktur, Bedingungen und Arbeitsweise der integrativen Schulpraxis vor dem Hintergrund gesetzlicher und administrativer Vorgaben. Nun hat Jutta Schöler das hier vorliegende Werk von Nicola Cuomo, einem Kollegen der Universität Bologna, bearbeitet. Es fundiert und strukturiert das erste Buch »italienische verhältnisse«.

Das integrative Erfahrungsfeld ist hier das Analyse- und Reflexionsfeld. Dabei bilden vier spannend und anschaulich geschriebene Monografien die Grundlage einer wirklichkeitsnahen Forschung, an der Praxis und Wissenschaft gleichermaßen beteiligt sind. Mißerfolge werden beim Namen genannt und motivieren für ein Erweitern und Vertiefen des integrativen Bewußtseins, das für die Probleme der Erziehung aller Kinder bedeutsam ist.

Beim forschenden Bemühen werden z.B. die Organisation des Raumes oder die Position der Bänke ebenso beachtet wie die scheinbar nebensächlichen Tätigkeiten und Verhaltensweisen der Kinder. Diese werden sorgfältig beobachtet, beschrieben, analysiert und für die sich stellende pädagogische Aufgabe bewußt gemacht. Hier wird Praxis im Spiegel theoretischer Gehalte - auch in enger Kooperation mit der Familie des behinderten Kindes - gemeinsam analysiert und im Hinblick auf die Gestaltung der integrativen Situation und der sich entwikkelnden Persönlichkeit des Kindes reflektiert. Die Achtung des Kindes ist hier pädagogische Realität. So können beispielsweise psychoanalytische Erkenntnisse im Anschluß an Bruno BETTELHEIM in der Situation der Analyse und in der Situation des Handelns ihre Wirkung zum Wohle der Kinder entfalten. Das Erkannte geht in die weitere Planung und Organisation des Unterrichts ein. Ein lebendiger Prozeß entsteht. Hier entwickelt sich vor unseren Augen eine offene integrative Erziehungsdidaktik, die wir nachvollziehen können.

So erfährt das schwer behinderte Kind zum Beispiel die Kategorien Zeit, Raum und Kausalität spielerisch-handelnd auf elementaren Stufen. Dabei werden Symbole und Zeichen bedeutsam. Handlungsstrukturen bilden sich durch spontanes und emotional fundiertes Tätigsein aus. Dabei machen ErzieherInnen und ForscherInnen grundlegend neue Erfahrungen. Das Kind, das unter Führung und Leitung der ErzieherInnen ausreichend Raum zum selbständigen Lernen bekommt, fängt an, gerne mit anderen Kindern zu spielen, zu üben und seine Erfahrungen zu machen. So können wir miterleben, wie schwer behinderte Kinder durch Entfaltung eigener Initiativen aus der Isolation heraustreten und sich nach ihrer Perspektive entwickeln.

Bei diesen Prozessen des Erkennens und Handelns spielt die Beziehungssituation - auch die häusliche - eine bedeutsame Rolle. So lesen wir: »Im Bedürfnis nach Lernen seitens des Erziehers liegt die Entstehung des Bedürfnisses nach Erlernen von Neuem seitens des Kindes. Wenn es eine Beziehung zwischen dem Wunsch des Erwachsenen und dem des Kindes gibt und wenn diese Wünsche sich treffen, wird des einen Wunsch der des anderen: der Wunsch zu lernen und etwas zu lehren.« Wir spüren : Hier ist der Handlungsbegriff sozial und emotional fundiert. Die Kinder - die behinderten und die nichtbehinderten - zeigen nicht nur ein elementares Vergnügen am Handeln, sie entfalten auch den Wunsch zu handeln. So bildet sich das Denken des einzelnen Kindes im Handeln selbst, und seine Persönlichkeit entwickelt sich.

Dem interessierten, nach neuen Wegen suchenden Leser mögen solche Ein-schätzungen integrativer Erziehung vielleicht idealisierend oder utopisch erscheinen. Vielleicht sind für ihn nur systematisierte Anweisungen überzeugend und zu akzeptieren, anhand derer eine integrative Praxis direkt bewältigt werden kann. Vielleicht sucht er ausschließlich nach Hinweisen, an denen sich ablesen läßt, was denn unter schweren (geistigen) Behinderungen zu verstehen sei und ob die schwer behinderten Kinder, die er aus seiner eigenen Lebenssituation oder pädagogischen Praxis kennt, nicht doch viel schwerer behindert seien als die hier beschriebenen. Sicherlich wird er diesbezüglich eine Fülle von Vergleichsmöglichkeiten und Antworten finden. Es hieße jedoch am Wesentlichen vorbeisehen, wenn nur aus solchem Blickwinkel die an uns alle gerichtete Fragestellung beantwortet würde. Wer genau hinschaut, wird bemerken, daß Cuomo auf der Basis intensiver Lehr- und Forschungspraxis und mittels einer Vielfalt von Ideen, Handlungs- und Situationsvariationen begründet, daß Integration eine kulturelle Aufgabe ist, die nur erfüllt werden kann durch permanentes Umdenken und ungewohnte Veränderungen. Einer solchen Wandlungsnotwendigkeit setzen wir Widerstände entgegen - und bewirken damit selbst die »schweren Behinderungen in der Schule« und in der Gesellschaft.

Es gilt für Pädagogen, immer auf der Suche zu bleiben, in einer Haltung der Offenheit, die nicht gleichzusetzen ist mit Willkürlichkeit und Richtungslosigkeit. Sie wird getragen von Grundentscheidungen, die Orientierung geben. Zwei seien herausgestellt: Die Anerkennung der »Originalität« eines jeden Menschen und die »Verschiedenheit der Intelligenzen«. Beide »Prinzipien« gelten für alle Menschen und oder gerade da, wo es nicht um Behinderte geht. Diese »Originalitäten« und »Verschiedenheiten« im positiven Sinne zu entdecken, fällt dann schwer, wenn stets nur die Defizite im Blickfeld liegen und Mißerfolge dem behinderten Menschen angelastet werden. In den vier Monografien wird das Bemühen illustriert, sich am Können eines behinderten Schülers zu orientieren, gerade auch außerhalb der engen schulischen Lebenssituation. Es sind nicht nur die Lehrer, sondern alle Beteiligten, welche die Situationen des Könnens im Kontext integrativer Zielsetzung entdecken, die, noch einmal anders ausgedrückt, die Unterschiedlichkeiten bewußt anerkennt und diese zur Quelle neuen Fragens und einer zu verändernden (schulischen) Wirklichkeit werden läßt.

Dieses Werk zeigt uns, wie die Wissenschaft näher an das Leben herankommt, wie basales Lernen und Lehren ermöglicht werden. Neue Perspektiven eröffnen sich für das Denken und Handeln des Praktikers und Wissenschaftlers. Beide lernen forschend mit- und voneinander. Durch diese gemeinsame kritische Reflexion als Prozeß werden die situativen Bedingungen der Erziehung und des Unterrichts verbessert, weil sie verändert werden - ohne Reduktion. Die ermutigenden Beispiele werden so für uns Lehrstücke. Das Engagement aller Beteiligten beeindruckt. Ein integratives Schul-Erziehungsmodell liegt in seiner ganzen Breite und möglichen Tiefe vor. Es sucht und findet das Gemeinsame und Verbindende und überwindet so Trennung und Aussonderung. Diese Praxisstudie gibt der Integrationsidee entscheidende Impulse.

Es ist zu wünschen, daß die Erforschung und Weiterentwicklung der Integrationsarbeit in der Bundesrepublik Deutschland diese Impulse aufnimmt und weitergibt: Kinder mit schwerer (geistiger) Behinderung sind schulisch integrierbar!

Einführung von Aureliana Alberici[1]

Eine politische und pädagogische Strategie zur Integration behinderter Kinder in die Grundschule Bolognas

Vier Monografien, vier Geschichten von Menschen, einzeln und in der Gruppe, vier Prüfsteine pädagogischen Handelns. Renzo, Daniela, Ines und Sergio sind Kinder aus Fleisch und Blut, mittel bzw. schwer behindert (mongoloid, hirngeschädigt, autistisch). Für sie suchten wir nach einem Weg, um in der Erziehung die schulische, soziale und kulturelle Integration zu ermöglichen.

Obwohl es im Hinblick auf das Alter der Kinder, der Typologie der Behinderung und der Ebene der Eingliederung (Kindergarten und Grundschule) verschiedene Geschichten sind, belegen die vier Monografien dennoch eine Theorie der didaktischen Arbeit und eine gemeinsame Methodologie.

Diese Theorie zielt auf die Überprüfung eines Erziehungsweges zur Integration schwer behinderter Kinder, der beweisen soll, daß die Anwesenheit dieser Kinder nicht zur Senkung oder zum Abbau der vom Lehrer für das Schuljahr gesetzten Ziele führt. Außerdem bietet sie die Möglichkeit zu überprüfen, ob die An-wesenheit des hier im Mittelpunkt stehenden behinderten Kindes als weitere Vervollkommnung und Qualifizierung der Bildungsziele der gesamten Klassengruppe betrachtet werden kann, ob also die Integration mit Hilfe einer Erziehungstheorie gelingt.

Diese Voraussetzung beinhaltet die Erkenntnis, daß eine positive kulturelle und soziale Integration des behinderten Kindes die gesamte schulische Welt betrifft, daß sie eine radikale Änderung von Einstellungen, der Sprache, von subjektiven und objektiven Räumen, der Didaktiken einschließt und daß sie die Rahmenbedingungen für eine notwendige Reform des gesamten Schulsystems vom Kindergarten bis zur Mittelschule setzt. Dies bedeutet, die bekannten Probleme in vollem Bewußtsein mit dem Willen in Angriff zu nehmen, ein per Gesetz aufgestelltes formales Recht in eine substantielle Gelegenheit umzusetzen, die schulische Erfahrung zu verbessern und zu qualifizieren, indem man bei der Fortbildung und der Erhöhung der beruflichen Qualifikation der Lehrer und anderer Mitarbeiter in der Schule beginnt.

Die Erziehungsprojekte, die die vier Monografien durchziehen, sind - wie Nicola Cuomo an vielen Stellen der Arbeit betont - das Ergebnis einer längeren Auseinandersetzung der Lehrer, die Merkmale und Typologien der eingegliederten behinderten Kinder zu verstehen, schulische Lernziele aufzustellen, alle bekannten Daten zur Verwirklichung dieser Eingliederung zu sammeln und zu organisieren und schließlich die Organisation, die Lernziele, die Probleme des Raums und die Lehrerrolle noch einmal zu reflektieren. Das Bedeutsame bei den Erfahrungen waren die mittel- und langfristigen Projekte, das ständige Überprüfen der Erziehungsstrategien, eine organische Beziehung zwischen den theoretisch aufgestellten Punkten und den praktischen Erfahrungen, die Kollegialität und Zusammenarbeit der Lehrer.

Dies wurde in den Kindergärten wie auch in der Grundschule mit der Durchführung eines besonderen Fortbildungsprojekts für das Schulpersonal möglich. Die Fortbildung wird hier begriffen als Forschung, die befähigt, an einem Erziehungsprojekt in seinem Entstehen mitzuwirken.

Dadurch wird es den Lehrern möglich, einerseits neue Informationen und wissenschaftlich begründete Erkenntnisse zu erwerben. Andererseits können sie, indem sie von der Analyse dieser Informationen ausgehen, die situativen Bedingungen eines spezifischen Praxisfeldes planen, um sie dann in Form aufgestellter Arbeitshypothesen zu überprüfen. Eine so angelegte Fortbildung erfordert eine wesentliche Änderung der traditionellen Kursmodelle.

Ein Schuljahr lang - oder auch mehrere Jahre - arbeiten Lehrer und die anderen Mitarbeiter zusammen. Sie bilden relativ stabile Arbeitsgruppen und halten ständigen Kontakt zu den Erziehungsexperten sowie zu den Mitarbeitern des soziosanitären Dienstes, die in der Schule arbeiten oder zumindest einen direkten Bezug zu dem betreffenden Kind haben.

Die optimalen Bedingungen für die hier behandelten Fallbeispiele wurden über die Organisation von ein- und mehrjährigen Fortbildungskursen (1979/80) auf Kindergartenund Grundschulebene geschaffen[2]. Sie wurden im Rahmen einer Kampagne zur Qualifizierung des Schulpersonals durch das Schulamt der Stadt Bologna angeregt und in Zusammenarbeit mit der Universität Bologna, insbesondere mit dem Erziehungswissenschaftlichen Institut, durchgeführt. Diese Aktivitäten bewähren sich nun schon seit einigen Jahren. Der Weg, dem wir in diesen Jahren folgten, ist ziemlich lang und sicherlich komplex. Aber einige Etappen scheinen mir auf institutioneller wie auf pädagogisch-didaktischer Ebene bedeutsam.

Schon in den siebziger Jahren begannen die ersten Eingliederungsversuche von behinderten Kindern. Damals gab es keinen landesweiten gesetzlichen Rahmen. Es gab aber viele Sonderschulen und in der Grundschule viele Sonderklassen.

In Bologna begann der lange und schwierige Weg, der erst viele Jahre danach in den Gesetzen Anerkennung fand - ein Weg mit dem Ziel, auch behinderten Kindern das bürgerliche und menschliche Recht auf eine Eingliederung in eine Schule zu gewähren, die das Wachsen, die Entwicklung und die für diese Kinder mögliche Selbständigkeit begünstigt. Das erste Experimentierfeld war der Kindergarten. Dort konnte die Umsetzung des politischen Willens zur Verwirklichung dieses Zieles sozialer Gerechtigkeit und wirklicher Achtung vor der Kindheit in pädagogischer Realität direkt von der Gemeinde durchgeführt werden, die in Bologna die Kindergärten verwaltet.

Schon im März 1973 versandte das Schulamt an alle Erzieher ein Orientierungs-schreiben zur Eingliederung behinderter Kinder. Darin wurden einige Leitlinien aufgeführt, die die Eingliederung insofern begünstigen sollten, als die planlose Vorgehensweise überwunden und an deren Stelle ein systematisches Vorgehen treten sollte. Im Oktober 1973 entwarfen die Schulkommissionen aller Stadtviertel zusammen mit der Arbeitsgruppe zur pädagogischen Koordination, die seit 1972 bestand, für das Schuljahr 1973/74 Richtlinien und überprüften, inwieweit es wichtig und nötig war, bei den Erziehern Arbeitsgruppen zum Thema Behinderung anzuregen.

In den Monaten Mai und Juni des Jahres 1974 wurden Kriterien zu einer öffentlichen Überprüfung der Erfahrungen mit der Erziehung in den Kindergärten entwickelt, insbesondere bezüglich der laufenden Projekte in den Einrichtungen, in denen behinderte Kinder eingegliedert waren. Aus diesen Treffen zwischen Erziehern, Eltern, Mitarbeitern aus den Stadtvierteln und Experten entstanden einige Anregungen, die mir als Beweis für eine schon erwachte Aufmerksamkeit auf die Probleme der Qualifizierung der schulischen und erzieherischen Arbeit erscheinen:

Folgende Punkte tauchten in aller Deutlichkeit auf:

  1. die Notwendigkeit, eine Behinderung bei Kindern frühzeitig zu erkennen;

  2. geeignetere Organisationsformen bezüglich der Strukturen und verfügbaren Räume herauszufinden;

  3. die Notwendigkeit einer beständigen Zusammenarbeit zwischen den Erziehern und den medizinisch-psychologisch-sozialen Arbeitsgruppen der Stadt-viertel;

  4. der Gebrauch neuer Arbeitsmethoden wie beispielsweise die Monografie und die Notwendigkeit einer besonderen Beschäftigung mit der Fortbildung des Personals;

  5. Möglichkeiten zu einem flexiblen Einsatz des fortgebildeten Personals.

Mit dem Fortschreiten der Erfahrungen in diesem Bereich richtete sich die Aufmerksamkeit und Initiative weiter auf die Pflichtschule, insbesondere die Grundschule. Schon Ende 1976 entstanden auf Initiative des öffentlichen Schulamtes hin Studiengruppen, um den »16. Bologneser pädagogischen Februar« zu veranstalten, der der »Integration behinderter Kinder in der Grundschule« gewidmet war.

Dies war ein bedeutsames Treffen, an dem auf verschiedenen Ebenen der Initiative Hunderte von Personen teilnahmen: Lehrer, technisches Personal, Eltern, Vertreter der Stadtviertel, Forscher, Wissenschaftler und Mitarbeiter der soziosanitären Dienste.

Die Arbeitsgruppen, die aus Dozenten und Studenten der Universität der betroffenen Fakultäten (Pädagogik, Medizin, Psychologie), den Mitarbeitern der sozio-sanitären Dienste, den Lehrern der Pflichtschule und den Erziehern der Vorschule bestanden, beschäftigten sich mit folgenden Themen:

  1. der Rehabilitationsprozeß und seine Beziehung zur didaktischen Lehrplangestaltung;

  2. die Probleme des Lernens und die didaktischen Mittel;

  3. der Gebrauch und die Planung von Erziehungsräumen;

  4. die Nutzung offener Klassen und die Rolle des Stützlehrers;

  5. die rechtlich-institutionellen Probleme.

Die Tätigkeiten für den pädagogischen Februar entwickelten sich in einem Zeitraum von zehn Monaten und trugen dazu bei, die von den Gruppen geschaffenen Arbeiten, die Beiträge der Wissenschaftler und die im »pädagogischen Februar« vorgestellten nationalen und internationalen Erfahrungen mit der Lehrplangestaltung und der Organisation der schulischen Arbeit des folgenden Jahres zu verbinden.

Die Initiative zielte auf die Verbreitung der Kenntnisse, Erfahrungen und Untersuchungen zur Integration behinderter Kinder. Sie sollte den Prozeß einer Neuzusammensetzung von sehr spezialisiertem und oft unverbunden nebeneinanderstehendem Fachwissen begünstigen sowie das Praxisfeld gerade um solches Fachwissen bereichern, das oft infolge einer traditionell erkenntnistheoretischen und historischen Trennung aus dem konkreten erzieherischen Handeln verbannt blieb, und die Schwierigkeiten und Hindernisse bei der Realisation der schulischen Integration herausfinden.

Die Diskussion und Vertiefung der bekannten pädagogischen Problematik bezüglich der schulischen Integration führte in jenen Jahren in Bologna zu einer Reihe von institutionellen und organisatorischen Bestimmungen für Kindergarten und Grundschule bezüglich einer Ganztagsschule, die auf die pädagogischen und sozialen Ziele mehr achteten und ihnen besser entsprachen als vorher.

Heute liegt die rechtliche Grundlage der Integration behinderter Kinder im Kindergarten im »Reglement der öffentlichen Kindergärten von Bologna« vor, das im Februar 1980 vom Stadtrat verabschiedet wurde. Es enthält auch Normen für die sozialen und kollegialen Verwaltungsorgane, die schon im Juli 1978 angenommen wurden. Das neue Reglement gewährt das volle Recht für das behinderte Kind, den Kindergarten zu besuchen, und legt genaue Richtlinien zu dessen Verwirklichung fest; einerseits, was die Art und Weise der Aufnahme angeht, und andererseits, was die Arbeitsorganisation der Erzieher betrifft.

Artikel 10 sieht die Zuweisung eines jeden behinderten Kindes zu einer Gruppe vor. Damit wird die Einrichtung besonderer Abteilungen unmöglich gemacht. Wo behinderte Kinder anwesend sind, wird der Stellenplan der Erzieher insgesamt verändert, um die »Durchführung aller notwendigen Aktivitäten für die volle Integration zu gewährleisten«.

Derselbe Artikel besagt außerdem: »... um die notwendige Kontinuität einer qualifizierten erzieherischen Intervention zugunsten der behinderten Kinder sicherzustellen, muß man darüber hinaus vermeiden, die Rolle des Stützpädagogen im voraus so festzulegen, daß sie mit besonderen und isolierten Tätigkeiten bezüglich der behinderten Kinder betraut wird.

Aufgrund einer in der Lehrergruppe beschlossenen erzieherischen und didaktischen Planung werden in einer Schule alle erzieherischen Funktionen von Lehrern mit gleichen Rechten und Pflichten ausgeführt.

Zur besseren Verwirklichung der Lehrplanziele soll nach besonderen beruflichen Möglichkeiten und Kompetenzen einzelner Pädagogen gesucht und diese gegebenenfalls durch besondere Fortbildungsmaßnahmen verbessert werden.

Die Planung erzieherischer und rehabilitativer Maßnahmen basiert auf folgen-den Voraussetzungen:

  • enge Zusammenarbeit zwischen Pädagogen, Familien und den Mitarbeitern des sozio-sanitären Dienstes;

  • Koordinierung der besonderen rehabilitativen Interventionen seitens der Gesundheitsexperten mit der Gesamtheit der erzieherischen Aktivitäten;

  • Festsetzung besonderer Erziehungsziele für das behinderte Kind und deren Überprüfung in der Gruppe;

  • Integration dieser speziellen Ziele mit denen der anderen Kinder.«

Die permanente Fortbildung der Lehrer und die Möglichkeit, die Unterrichts-planung, das Erproben und das Überprüfen der Ergebnisse mit einer kontinuierlichen beruflichen Qualifizierung zu verbinden, war ein vorrangiges Erfahrungsfeld auch im Hinblick auf die schulische Integration der behinderten Kinder.

Man muß aber sogleich betonen, daß das den Erfahrungen dieses Bandes zugrundeliegende Modell der »formazionericerca« das Ergebnis einer langen Reihe von Fortbildungsmodellen ist. Es wurde in den 70er Jahren im Kindergarten begonnen und dann auch für die Grundschule mit dem Ziel wieder aufgegriffen, die Logik einer weit verbreiteten, aber sehr unproduktiven Fortbildung zu überwinden.

Die alten »Häppchen«-Kurse wurden aufgegeben, die, nur auf einige Tage zentriert, fast immer von der konkreten Erziehungstätigkeit oder der Reflexion dar-über getrennt waren und die eine Funktion innerhalb eines Modells hatten, das den Lehrer in seiner Klasse, seinem Wissen und seiner individuellen Pseudofreiheit als isoliert betrachtet.

Die zunehmende Veränderung der Kindergärten und der Ganztagsschulen, die Umwandlung der »Sonder«-Maßnahmen für behinderte Kinder in das Recht zur Integration in die Regelschule ließen die Rolle und die zentrale Funktion einer neuen Professionalität des Lehrers offenkundig werden. Sie mußte auf breitere kulturelle, wissenschaftliche und technische Kenntnisse sowie auf mehr Experten, auf spezialisiertere Kompetenzen, auf gemeinsame Unterrichtsplanung und auf gesellschaftliche Überprüfung der Ergebnisse und gegenwärtigen Schwierigkeiten im Erziehungsprozeß gestützt werden.

Um eine solch gewichtige Anstrengung zur Erneuerung und zur Qualifizierung der Professionalität des Lehrers und Erziehers im Kindergarten und in der Grundschule als Ganztagsschule zu unternehmen, stellte die Kommunalverwaltung seit Ende der 70er Jahre eine feste Beziehung zum Erziehungswissenschaftlichen Institut der Universität Bologna her. Sie richtete die Arbeitsgruppen zur pädagogischen Koordinierung ein, in denen Universitätsdozenten und Pädagogen neben den kommunalen Lehrern arbeiteten, um eine direkte Beziehung zwischen der Forschung, der Fortbildung und der erzieherischen Praxis zu gewährleisten.

Die Arbeit, die wir in diesem Band vorstellen, entstand im Rahmen dieser Bemühungen. Sie wurde durch die Anstrengung und den vereinten Willen verschiedener Personen und Institutionen möglich, d.h. durch die Lehrer und Erzieher, die Schulleiter, die Experten der sozio-sanitären Dienste, die Verwaltung der Stadtviertel, die Kommunalverwaltung, die Universität.

Diese Integration der Kompetenzen vollzog sich nicht immer leicht; diese ist sicherlich eines der vordringlich zu verfolgenden Ziele, wenn man sich bewußt ist, daß darin eine unentbehrliche Bedingung für den Erfolg der schulischen Integration der behinderten Kinder liegt.

Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, nach immer exakteren und punktuelleren Kenntnissen über die komplexen Probleme im Umfeld des Integrationsprojekts zu suchen, die Beziehung zwischen der wissenschaftlichen Forschung und der erzieherischen Praxis konstant zu halten sowie eine ständige Möglichkeit zur Reflexion und kritischen Rezeption verwirklichter Erfahrungen zu fördern und weiterzuentwickeln.

Die vier Monografien stellen vier einmalige Geschichten vor, denn die besondere Erziehungssituation ist immer anders und nicht auf Modelle reduzierbar. Es ist hingegen ein theoretisch-praktisches Suchen nach Kenntnissen, das geduldige Entwerfen eines Mosaiks, wie es die Forschung in der Praxis immer ist. Sie soll dazu beitragen, die eigene Wahl und die Ziele zu überprüfen und zu lernen, sei es für die Arbeit in der Schule oder für die politische Strategie verschiedener Institutionen, sich einen sicheren und produktiveren Orientierungsrahmen zu setzen.

Auf diese Weise können uns Renzo, Daniela, Ines und Sergio in der Forschung und in der täglichen Arbeit helfen.



[1] Aureliana Alberici war von 1975 bis 1983 Schulrätin in Bologna. Seit 1987 ist sie Abgeordnete des italienischen Parlaments und als Senatorin Mitglied in der Kommision für Unterricht und Kultur.

[2] 'Die Fortbildungskurse sind näher erläutert auf den Seiten 26f.

Einleitung Nicola Cuomo

a) allgemeine Gesichtspunkte

Häufig lähmt die Angst vor dem, was passieren kann, jegliches pädagogisches Handeln. Man verbleibt in der theoretischen Diskussion und begnügt sich dann damit, Lösungen anzubieten, ohne etwas wirklich geschehen zu lassen. Das die Integration der sogenannten schwer behinderten Menschen darstellende Problem wird in wesentlichen Teilen ideologisch abgehandelt. Dieses Problem kann aber auch die Überprüfung der Voraussetzungen nach sich ziehen. Die Gefahr der ideologischen Auseinandersetzung wird noch dadurch verstärkt, daß es an Projekten fehlt. Dies bestätigt die mehr oder weniger deutlich zugegebene Furcht, keine positiven Erfahrungen zu machen. Das gilt insbesondere dann, wenn Art und Schwere der Behinderung Annäherungsversuche mit Hilfe der traditionelleren und bekannteren didaktischen Methoden nicht zulassen. Die traditionellen schulischen Methoden gruppieren sich im wesentlichen um die Schlüsselfunktionen des Schreibens und Lesens.

In der vorliegenden Arbeit soll die bisherige didaktische Praxis mit schwer be-hinderten Kindern überwunden werden. Wir gehen davon aus, die Erfahrung zu befragen. Auf diese Weise gewinnen wir ein konkretes Analyse- und Reflexionsfeld.

Die mit der schulischen Integration behinderter Kinder verknüpfte Problematik soll nicht geleugnet werden, besonders dann nicht, wenn die Behinderung so schwer ist wie in den Fallbeispielen dieser Arbeit.

Eine Auseinandersetzung mit dieser Problematik kann jedoch eine Möglichkeit sein, auch den Schulalltag insgesamt zu überdenken und erneut zur Diskussion zu stellen, sofern die pädagogischen Kräfte eine wissenschaftlich begründete Handlungsorganisation und den Erwerb pädagogischer Fähigkeiten anstreben.

Es kann ein Wandel - eine Veränderung der Schule von hoher Qualität - erreicht werden, wenn erziehungswissenschaftliche Quellen genutzt werden. Die Problematik der Integration könnte dem tiefen Bedürfnis der Schule nach Wan-del Ausdruck verleihen.

Die »Geschichten«, die in diesem Band analysiert wurden, sind in Form von • Fallstudien (Monografien) angelegt.

Sie sind der herkömmlichen Anamnese vorzuziehen, weil sie nicht für sich und aus dem Zusammenhang herausgelöst betrachtet werden.

Mit dieser Arbeitsmethode werden auch jene Vorgänge berücksichtigt, die sich innerhalb einer Gruppe mit ihren dynamischen Prozessen ereignen.

In einer Gruppe kann schon ein minimales oder nebensächliches Ereignis eine Veränderung auslösen und den ganzen Zusammenhang beeinflussen. Die Wahl der Monografie als Arbeitsmethode hat auch Einfluß auf den Fortbildungskurs selbst, indem sie den Zusammenkünften einen Forschungscharakter gibt.

b) Erforschung der Integrationspraxis als gemeinsamer Prozeß

In vierzehntägigen Zeitabständen reflektierten wir die Hypothesen, Arbeitsprogramme, Unterrichtssequenzen, didaktisch-pädagogischen Strategien und Situationen in den Klassen im Hinblick auf das eigene pädagogische Handeln. Eine permanente Auseinandersetzung bewahrte vor der Gefahr, sich in die Abstraktion von Erziehungsinhalten zu vertiefen oder sie als Ziele und nicht als Erziehungsinstrumente zu betrachten.

Wenn der Situationszusammenhang hergestellt war, daß auch ein Kind mit einer Behinderung in der Klasse war, dann ergab sich die Möglichkeit, die schulischen Institutionen zu durchleuchten und noch einmal die Organisation des Raumes, der Zeit, der Rollen zur Diskussion zu stellen.

  • Wir entdeckten, daß der Abstellraum, die Toilette, die Küche, die Zeit des Mittagessens und der Erholungspausen, die Stützlehrer[3] oder das nicht lehrende Personal gewöhnlich aus der pädagogischen Planung ausgeschlossen waren.

  • Wir entdeckten, daß die Organisation des Raumes, die Position der Bänke, die Worte, der Klang der Stimmen, die Zeiteinteilung, die Gegenstände, die Personen und ihre Position im Raum über die herkömmliche Bedeutung hinaus eine Beziehung begünstigen oder behindern konnten.

  • Wir entdeckten, daß die verschiedenen Momente des Alltags die Organisation der Klasse und der Gegenstände, die Beziehung und das erzieherische Handeln tragen und stützen konnten.

  • Wir entdeckten, daß die Erkenntnisweisen, die oft als die einzig möglichen galten, um an Wissen und Kenntnisse zu gelangen, über die herkömmlichen Wege hinausgehen können. Auch das Sehen von Bildern, Erinnerungen an Situationen, Düfte, Klänge und Ängste und das Wahrnehmen von Düften können eine Geschichte ins Gedächtnis rufen, ein aus Bildern, Worten und Klängen bestehendes Erlebnis.

  • Wir entdeckten, daß die Wege des Erkennens nicht nur stufenweise aufgebaute und einfache Abläufe sind, die aus einer Addition von sensorischen Wahrnehmungen und Ereignissen hervorgehen, sondern komplexe und gegliederte Abläufe. Sie stellen ein Erleben dar, das durch Phantasien, sinnliche Wahrnehmungen und Emotionen charakterisiert ist und das ein ziemlich ausgedehntes Analysefeld darstellt. Hier können wir die Gelegenheiten, die Strategien und die Methoden für die Gestaltung pädagogischen Handelns finden.

Die Fähigkeit, dieses unsichtbare Universum zu beobachten, zu entdecken und dann in die Reflexionen und Arbeitshypothesen einzubeziehen, wurde bei den Treffen mit den Pädagogen zunehmend erweitert.

Über das Beobachten-Können hinaus erforderte aber die Länge der »Antwortzeiten« bei den als schwer behindert bezeichneten Kindern auch ein Warten-Können auf »Antworten«. Während die 'gewohnte tägliche Praxis Antworten im Verlauf von zwei oder drei Tagen liefert, dauert es bei der Arbeit mit schwer behinderten Kindern oft Wochen oder Monate, bis eine Antwort gefunden werden kann. Man darf sich von Ängsten und Schuldgefühlen, »nichts getan« oder das Eingreifen »verfehlt zu haben«, nicht einnehmen und beherrschen lassen, oder sich gar in das Alibi »es ist unmöglich« zurückziehen und so die Erfahrung zurückweisen.

Ein solches Alibi wurde von dem Bewußtsein um die Problematik und vom Willen, diese zu lösen, entkräftet. Es zeigte sich, daß es neben dem Zurückweisen von Erfahrung auf die allereinfachste Weise noch andere Alternativen gab. Um die Unterrichtssequenzen zu organisieren und die Arbeitshypothesen aufzustellen, war es wesentlich, die Verhaltensweisen, die Beziehung und ihre Organisation zwischen Eltern und dem behinderten Kind im außerschulischen Bereich zu analysieren.

Das tägliche Erziehungshandeln der Eltern entsteht oft spontan. Die Eltern entwickeln Techniken, die wir als »roh« bezeichnen, da sie die Möglichkeit der Bearbeitung durch eine systematische Auseinandersetzung nicht finden. Vielmehr sind die Eltern auf wirksame empirische Hilfsmittel beschränkt, die nur der Lösung aktueller Probleme dienen, die ein Kind mit einer Behinderung Tag für Tag mit sich bringt.

Die Analyse solcher praktischen Hilfswege erlaubte es, sie zu überdenken und diese so von einer »rohen« Erfahrung zu einer »ausgearbeiteten« zu entwickeln. Diese Vorgehensweise sollte zu einer bedeutsamen Voraussetzung für eine Tätigkeit im Hinblick auf die Entwicklung von Strategien und Projekten werden.

Die in der vorliegenden Arbeit analysierten Monografien wollen die bedeutsamen Augenblicke der »Konstruktion« eines pädagogischen Handlungsablaufes, eine Route im Prozeß des Formulierens und der strukturellen Organisation aufzeigen.

Wir sehen die Periode des In-Gang-Bringens eines Entwicklungsprozesses durch pädagogisches Eingreifen als die kritischste, weil die oben erwähnten Ängste den Willen und den Wunsch nach pädagogischem Handeln lähmen. Pädagogische Eingriffe sollten unter permanenter Überprüfung wissenschaftlich organisiert werden.

Gerade zu Beginn, wenn Erziehungstheorien angenommen und ausgearbeitet werden, erweist es sich als notwendig, der Gruppe jene pädagogischen Kompetenzen zu vermitteln, die ein Verbergen hinter Mißtrauen und Gelähmtsein während des Projekts verhindern, ein Mißtrauen und Gelähmtsein, welches wahrscheinlich durch die anfänglichen Mißerfolge und langen Wartezeiten leicht entstehen kann.

Mit der Zeit entstand in der Praxis das Bewußtsein, daß Mißerfolge möglich waren; sie motivierten zum Suchen nach durchführbaren Erziehungstheorien. Das Suchen gründete sich auf notwendige erkenntnistheoretische Annahmen im Bereich von Bewußtsein, Sensibilität, Methoden und auf Erziehungstheorien, die auf einer ausreichend durchdachten theoretischen Ebene koordiniert und begründet sind.

c) Hinweise zu den Monografien

Die vorliegende Arbeit ist so angelegt, daß sie den Weg des pädagogischen Handelns im Alltag beschreibt, indem die bedeutsamen Momente des Projekts hervorgehoben werden. Dabei werden jene Momente, die man als Mißerfolg bezeichnen kann, nicht ausgelassen. Es wird vielmehr versucht, gerade diejenigen Gedanken, Reflexionen und Arbeitspläne herauszustellen, die zur Überwindung der problematischen Punkte führten.

Zum Fallbeispiel von Sergio - einem als »autistisch« bezeichneten Jungen - werden als Exkurs verschiedene Theorien ausgeführt, die die Diskussion zum »Autismus« bestimmen und ein Ausdruck für die heute noch offene und problematische Ursachenforschung sind.[4]

Außerdem haben wir die Monografie von Renzo, einem Kind mit Down Syndrom, aufgenommen, auch wenn es sich hier nicht um eine schwere Behinderung handelt.

Gerade bei diesen Kindern zeigten die Erfahrungen, daß pädagogische Interventionen und frühzeitige Fördermaßnahmen zu erfolgreicher schulischer Integration führen, die den Vorurteilen in den sonderpädagogischen Veröffentlichungen einiger Autoren entgegenstehen. Diese sprachen noch in den 70er Jahren von ihnen als Nicht-Existenzen und gaben damit zu verstehen, daß es nicht schlecht wäre, diese Kinder einfach sterben zu lassen. Erst in den letzten Jahren wurden die Kinder mit Down-Syndrom als erzieh- und sozialisierbar betrachtet. Dieses Syndrom war lange mit Vorurteilen belastet, die solchen Kindern die Fähigkeit absprachen, sogar auf einem elementaren Niveau lesen und schreiben zu lernen und ebenso einen Zahlbegriff zu entwickeln.

Die Monografien wollen nicht Rezepte sein. Sie wollen vielmehr durchführbare Anregungen in ihrem zeitlichen Entstehen vermitteln, und dies ohne den Anspruch, sich an ein einziges und bestimmtes theoretisches Modell anpassen zu müssen.

Der Arbeitsstil ist in der Praxis durch ein ständiges Sich-zurDiskussion-Stellen innerhalb dieses »Experimentierens-Überprüfens« gekennzeichnet. Hier werden die einen Möglichkeiten nicht zugunsten von anderen ausgeschlossen, und alle problematischen Ebenen werden akzeptiert, vorausgesetzt sie sind genau durchdacht und organisiert. Strenge wird nicht mit Rigidität und Dogmatismus verwechselt.

Die im folgenden dargestellten Monografien sind das Ergebnis von Kursen der »formazione-ricerca« (Fortbildungs-Forschung), die von Nicola Cuomo (Erziehungswissenschaftliches Institut der Universität Bologna, Lehrstuhl für Sonder-pädagogik) geleitet und von der Sektion des öffentlichen Schulamts der Stadt Bologna subventioniert wurden.



[3] Für behinderte Kinder stehen zusätzlich Stützlehrer zur Verfügung. Diese haben zu-meist eine Zusatzausbildung. Entsprechend der Art und der Schwere der Behinderung arbeiten sie mindestens sechs Stunden pro Woche bis zur vollen Stundenzahl - je nach Absprache mit den Lehrern der Klasse: einzeln mit dem behinderten Kind oder mit einer kleinen Gruppe im Klassenraum, außerhalb davon oder gleichberechtigt im Zweipädagogensystem.

[4] Dieser Exkurs ist für die deutsche Bearbeitung verkürzend zusammengefaßt worden.

1. Die Geschichte von Renzo

a) Ein Problem, das zu lösen ist

Renzo ist 9 Jahre alt und besucht die 3. Klasse einer Grundschule. Er ist ein Kind mit »Down-Syndrom« (Trisomie 21). Diese Kinder haben »im allgemeinen als unliebsam betrachtete körperliche Zeichen, auf die sehr oft hingewiesen wird : plumpe Figur, Fehlen der Koordination, orientalische Augen, herausragende Zunge, unartikulierte Sprechweise. Dies alles trägt dazu bei, das traditionelle Bild des Mongolismus aufzubauen, nach dem die Betroffenen eine Rasse für sich bilden oder 'unvollkommene Kinder' sind. Noch in den 70er Jahren sprachen einige Autoren in sonderpädagogischen Veröffentlichungen von ihnen als Nicht-Seiende und gaben zu verstehen, daß es kein Unglück wäre, diese Kinder sterben zu lassen, nur aus dem einfachen Grund, weil sie von dem DownSyndrom befallen seien. Erst in den letzten Jahren wurden die Kinder mit Down-Syndrom für bildungsfähig und sozialisierbar gehalten. Dieses 'Syndrom' ließ Vorurteile entstehen : Man hielt die Kinder für unfähig, lesen und schreiben zu lernen und einen Zahlbegriff zu entwickeln«. (CANEVARO 1979)

Renzo bereitete den Lehrerinnen eine Reihe von Problemen, sowohl in bezug auf die Didaktik und das Lernen als auch auf sein Verhalten und seine Sozialisation. Im Hinblick auf die Didaktik und das Lernen stellten die Lehrerinnen folgende Probleme fest: Renzo ist sehr unaufmerksam und zeigt geringe Merkfähigkeit. »Das, was man ihm beibringt, merkt er sich nicht.« Er hat manuelle Schwierigkeiten. »Seine Handmotorik ist nicht gut entwickelt. Gegenstände entgleiten ihm aus den Händen. Es gelingt ihm nicht, einen Füller oder einen Stift zu halten.«

Abgesehen von seinen begrenzten Lernfähigkeiten machten sich die Lehrerinnen am meisten über sein »gewalttätiges« Verhalten Gedanken, das den normalen Ablauf des Unterrichts störte. Renzo »brachte« sich durch Schreien, Spucken und mit Schimpfwörtern in die Aktivitäten der Klasse ein. »Wir versuchen, ihn auf jede erdenkliche Weise einzubeziehen, aber er schreit, stößt Schimpfwörter aus, spuckt die Mitschüler an und macht einen normalen Ablauf der schulischen Tätigkeiten unmöglich. Er stört so sehr, daß die anderen zu nichts kommen. Wir verlieren durch ihn ganze Tage.«

Als Voraussetzung, die wir im Fortbildungskurs aufstellten, wurde festgelegt, daß Renzo nicht der Anlaß werden sollte, von den Zielen abzuweichen, die sich die Lehrergruppe für das Schuljahr gesetzt hatte.

Die Fortbildungskurse fanden in Form der »formazione-ricerca« statt.

Als formazione-ricerca definieren wir die Organisation von »Fortbildungskursen«, die so geplant und angelegt sind, daß einerseits Informationen vermittelt werden und sich andererseits eine Möglichkeit ergibt, die Arbeitshypothesen zu überprüfen, die man im Verlauf der Analyse der Informationen aufstellt.

Nach unseren Erfahrungen kann ein »Fortbildungskurs« nicht auf eine kurze Zeit konzentriert werden (20 Stunden innerhalb von 4 oder 5 Tagen), da eine solche Organisation den Lehrern eine Überprüfung der Informationen, Arbeitshypothesen und Projekte in der Praxis nicht erlaubt.

Der Kurs, auf den wir uns bei Renzo beziehen, wurde so organisiert, daß wir uns ungefähr alle 20 Tage für 2 Stunden trafen.

Es wurde ein Raster zur Kontrolle der Fortschritte von Renzo und den Kindern seiner Jahrgangsgruppe entworfen. Das Raster bestand aus 4 Spalten, in denen Informationen zu den folgenden Bereichen gesammelt wurden :

  1. Bereich Medizinische Anamnesen und Angaben zur Entwicklung von Renzo (Anekdoten, Episoden und besondere Umstände im Verlauf der Jahre; Quellen : Ärzte, Eltern, Verwandte, Bekannte, Lehrer).

  2. Bereich Probleme des Kindes aus der Sicht der Lehrerin In dieser Spalte führte die Gruppe der Lehrerinnen die Probleme auf, die Renzo für die Klasse aufwarf oder hätte aufwerfen können. In Betracht kamen folgende Bereiche: die Didaktik, das Lernen, die Sozialisation, die Autonomie, die Organisation der Klasse und der Lehrerinnengruppe, die Beziehung zu den anderen Klassen - höhere und niedrigere Klassen, Parallelklassen. Darüber hinaus sollten die Probleme, die in der Klassengruppe bei der Auseinandersetzung mit Renzo entstehen konnten, einbezogen werden, z.B. getrennter Unterricht, der innerhalb oder außerhalb der Klasse stattfand, Isolierungstendenzen oder, ob bei Renzo dadurch »Unbehagen« aufgebaut wird, daß er »etwas anderes« tut, oder ob er es als negativ erlebt, wenn die Klassengruppe seine »Andersartigkeit« bemerkt.

  3. Bereich: Klassenziele Es wurden die Inhalte, die Programme, die Kenntnisse und Zielsetzungen eingetragen, die die Klassengruppe unabhängig von Renzo erreichen sollte. Wir wollten überprüfen, ob die Eingliederung das Vorhaben der Lehrer behindern würde. Die Theorie der integrativen Didaktik sieht die Anwesenheit von Renzo als Chance, neue didaktische Möglichkeiten zu entdecken, und vermutet in diesem Zusammenhang Erleichterungen beim Erreichen von Lernzielen.

  4. Bereich: Arbeitspläne, Strategien, Methode Die Integration von Renzo in die Klassengruppe im Verlaufe des Schuljahres sollte zu Erziehungsstrategien führen, die sich zunächst auf die Überwindung der Anfangsprobleme bezogen und dann jene Probleme betrafen, die nach und nach während des zu organisierenden pädagogischen Weges auftauchen. Wir sammelten die Arbeitspläne, die Renzo (als aktive Person) in die Lernprozesse integrierten und gleichzeitig zu den von den Lehrerinnen festgesetzten Zielen führen sollten. Anschließend sollten sie überprüft werden und während der Fort¬bildungstreffen zur Reflexion in der Lehrergruppe dienen, um damit Strukturen und methodische Kriterien herauszustellen.

Die Eingliederung durfte nicht auf Kosten der Klassengruppe gehen. Vielmehr mußte in den Erziehungsstrategien und den Arbeitsplänen, die im Verlauf der Fortbildungstreffen entworfen und aufgestellt werden sollten, garantiert sein, daß die Anwesenheit von Renzo eine weitere Gelegenheit zu pädagogischer Reflexion war.

b) Die Organisation der Klassengruppe

Die Klasse, die Renzo besuchte, führte eine Reihe von Aktivitäten parallel zu einer anderen 3. Klasse der Grundschule durch. Die beiden 3. Klassen hatten auf dem Gebiet der Geschichte, Geographie und Naturwissenschaften fächerübergreifend ein »paralleles« Programm. Darüber hinaus wurden mit einer 4. Klasse noch andere »integrierte« Aktivitäten geplant, die sich in gemischten Gruppen in regelmäßigen Zeitabständen entfalteten. Sie bestanden aus Aktivitäten wie: Sport, Handarbeit, Kochen, Töpfern, Musikerziehung, Malen, Collage und Theaterspielen.

Diese Organisationsform der drei Klassen war ein Experimentierfeld, das für die zu entwickelnde integrative Didaktik eine ständige Überprüfung der Theorien und Methoden unter folgenden drei Aspekten ermöglichte:

Die Klasse von Renzo bot die Möglichkeit, die Probleme zu untersuchen, die mit der Anwesenheit eines behinderten Kindes verbunden sind;

die Parallelklasse ermöglichte den Vergleich, da dort die Problematik der Behinderung nicht vorhanden war;

die 4. Klasse gab die Möglichkeit, das Projekt in die Zukunft zu projizieren, d.h. das herauszufinden, was zukünftig auf der Ebene didaktischer Erziehungsmaßnahmen möglich sein würde.

Die Aktivitäten der Parallelklassen wurden von der Lehrerinnengruppe gemeinsam geplant. Ein gemeinsamer Bezugspunkt bestand in einem »großen Heft«, das zur Dokumentation und Organisation der Erfahrungen diente: Es hatte sozusagen für die Klassengruppe eine Gedächtnisfunktion und bot Vergleichsmöglichkeiten.

Was die integrierten Tätigkeiten der drei Klassen (die beiden 3. Klassen und die 4. Klasse) betraf, bildete man sechs (gemischte) Arbeitsgruppen, die sechs unterschiedliche Aktivitäten durchführten.[5]

Jede Gruppe verfolgte ihr Projekt an einem Tag in der Woche, dreimal hintereinander. Danach fand ein Treffen zwischen den drei Klassen statt, bei dem die Arbeitsgruppen untereinander Informationen über die durchgeführten Aktivitäten austauschten. Danach wurde gewechselt, d.h., jede Arbeitsgruppe übertrug je einer anderen die Aufgabe, ihre begonnene Arbeit fortzusetzen. Die Verpflichtung zum Austausch von Informationen und zur Weitergabe der eigenen Aktivität garantierte, daß die Erfahrungen einer Gruppe auch die Erfahrungen einer anderen Gruppe wurden. Diese Möglichkeit zur Information und zum Austausch der Aktivitäten erzeugte eine Situation des Voneinander-Lernens, das die Kinder selbstverantwortlich in die Hand nahmen.

Über Dokumentationen, Plakate und Zeichnungen wurde erreicht, daß die Mitschüler die eigene Aktivität verstanden. Es wurden Gruppen gebildet, die die begonnene Arbeit fortsetzen sollten. Das bedeutete auch, nach Möglichkeiten für Erleichterungen des Informationsaustausches zu suchen.

Bevor die Kinder die eigene Arbeit zur Fortsetzung an andere weitergaben, überzeugten sie sich, daß die Mitschüler sie begriffen und die Kompetenz hatten, sie »voranzutreiben«.

Die hergestellten Dinge hatten für die Schüler eine große affektive Bedeutung, die zu den anderen Gruppen eine intensive Beziehung ermöglichte. Man vertraute die eigene Arbeit den anderen an, sobald alle sicher waren, daß sie gut fortgeführt werden könnte. Während der Übergabe bemühte sich jeder, die Arbeit dem anderen so zu vermitteln, daß er sie leicht verstehen konnte. Die Kontrolle ging sogar noch über die Zeit der eigenen Arbeit an dem Projekt hinaus: Wenn die Kinder sich auf dem Flur oder auf der Straße trafen, tauschten sie untereinander Informationen über das Projekt aus und berieten sich gegenseitig.

Alle Gruppen sollten in allen sechs geplanten Aktivitäten Erfahrungen sammeln. Durch die Organisation der Arbeit, die eine ständige Überprüfung und einen Austausch von Informationen garantierte, wurden im voraus auch die Gruppen informiert, die an keinem konkreten Thema arbeiteten. So hatten indirekt auch sie Kenntnisse und Kompetenzen im Hinblick auf die Tätigkeiten der anderen. Es erleichterte die zukünftigen Arbeitsschritte sehr, da niemals uninformiert begonnen wurde: Die nachfolgende Gruppe hatte schon ein Minimum an Kompetenzen und Informationen während der Treffen erworben, auch wenn sie sich zum ersten Mal mit dieser Aktivität beschäftigte.

Diese Organisationsform der Klasse diente der Suche nach Möglichkeiten, die Kommunikation zu vereinfachen und den unterschiedlichen Kompetenzen - die sich von Mal zu Mal neu bildeten - innerhalb der Gruppe besser anzupassen. Diese Suche wurde von den Kindern selbst unternommen, indem sie unterschiedliche Kommunikationsformen und Vermittlungsformen ausprobierten.

Die Vielfalt der Arbeitssituationen prägte den Rahmen des Unterrichts und ermöglichte die Integration von Renzo. Dabei war von besonderer Bedeutung, daß die Arbeit nie am »Nullpunkt« begann, sondern die Klasse vorher feststellte, welche auch noch so geringen Fähigkeiten oder Fertigkeiten bereits vorhanden waren, auf die die neue Arbeit gestützt und damit aufgebaut und weiterentwickelt werden konnte.

Die Fähigkeiten von Renzo, die in anderen Situationen isoliert bleiben würden (z.B. einen Wasserhahn auf- und zudrehen), wurden eben in solchen Situationen entdeckt. Wir fanden darüber hinaus weitere Möglichkeiten, sie einzubringen und sie in die Arbeit zu integrieren (daraus konnte das Wissen entstehen, wie man einen Verschluß aufdreht usw.).

Mit den Aktivitäten, die entfaltet wurden und die in Zukunft entfaltet werden sollten (Wechsel der Aktivitäten zwischen den Gruppen) beobachteten sich die Kinder in der Klassengruppe gegenseitig. Dies ermöglichte es ihnen, durch Gesten Fähigkeiten und Kompetenzen »wiederzugewinnen« und sie auf andere Situationen zu übertragen. Die Geste, die Handgeschicklichkeit und das Tun wurden Gegenstände der Reflexion und führten zu gemeinsamen begrifflichen und theoretischen Überlegungen.

Durch die Arbeitsorganisation war sowohl ein Austausch von Erfahrungen als auch ein vertieftes Nachdenken darüber vorgesehen. Dieser Austausch theoretisch-praktischer Erfahrungen gab Renzo und auch den anderen Kindern die Möglichkeit, das jeweilige Handeln vorauszudenken.

In der gemeinsamen Arbeit fand Renzo durch die Möglichkeit zu ständigem Nachahmen eine Hilfe, seine Schwierigkeiten im Bereich der Sprache und in den manuellen Fähigkeiten anzugehen (z.B. in der Feinmotorik, beim Ergreifen im Pinzettengriff mit Daumen-Zeigefinger).

Renzo hörte nicht nur einen anderen sprechen, sondern dieser andere erklärte ihm, was er tun sollte, indem er es ihm vormachte, ihm über Sprache und Gesten half und ihm oft die Hand führte. Die Erklärungen stützten sich nicht auf eine »Leere« oder auf ein »erstes Mal«, sondern standen mit Situationen in Verbindung, die Renzo direkt oder indirekt bereits in ähnlicher Weise erlebt hatte. Sie gründeten sich auf die verinnerlichten Handlungsmöglichkeiten.

Manuell-praktische Fähigkeiten und der Wissensstand, die Praxis und die sich täglich wiederholende theoretische Reflexion gewannen eine wesentliche Bedeutung für die kognitive Entwicklung. Ein Projekt zu planen und es praktisch über eine Analyse der Mittel und Wege zu realisieren wurde zur Fähigkeit entwickelt.

Die Realisierung des Projekts erforderte einen logischen Aufbau des Handlungs-vorgangs. Die Struktur des erzieherischen Interventionsweges gab den Rahmen für das Denken und Tun und für die Gesten in der gemeinsamen Arbeit mit der Klassengruppe vor und vermittelte korrekte Orientierungen.

Der Umstand, daß das Lernen und die Fertigkeiten auf die Grundlage von Bekanntem gestellt wurden, führte dazu, daß wir über Fähigkeiten und Fertigkeiten nachdachten, die die Kinder unabhängig von dem besitzen, was in der Schule oft als »Wissen« gilt.

Viele Fähigkeiten, Fertigkeiten und begriffliches Denken des behinderten Kindes werden oft nicht erkannt. Die Daten über das Kind bestehen oft im Auflisten von dem, was das behinderte Kind nicht kann.

Die einfacheren Tätigkeiten, wie eine Türe zu öffnen, ein Ding zu werfen und es wieder aufzuheben, werden nie als Aktivität betrachtet, und nicht einmal komplexere, wie ein Tonband- oder Fernsehgerät benutzen zu können. Diese Körperbewegungen und Fähigkeiten unterliegen der Kategorie des Belanglosen und werden vollständig vernachlässigt. Wenn sie aber aufgeführt werden, dann als Problem oder in Form der Anekdote.

Man entdeckt, daß Menschen, die für unfähig »gehalten« werden, die einfachsten Bewegungen zu lernen, sehr gut Billard spielen können. Menschen, die für »gedächtnisschwach« gehalten werden, erinnern sich an die Vor- und Zunamen der Spieler der Fußballmannschaft, an Daten, Ort und Siege, an die Zahl der Tore dieser und jener Mannschaft oder dieses und jenes Spielers. Derjenige, dessen Kapazitäten für die Arbeit kaum verwendbar gelten, baute zuhause aus Abfallmaterial (Büchsen, Plastikflaschen, Staniolpapier etc.) eine ausgetüftelte Marionette.

Die Existenz einer »vorausgehenden Fähigkeit« wird in der Schule sehr oft ignoriert. Dies enthüllt eines der fundamentalen Vorurteile unserer Schule, das sowohl in traditionellen wie in innovativen Positionen vorhanden ist: Die Überzeugung nämlich, daß Begriffe von der Erfahrung und dem gesamten Verhalten eines jeden von uns getrennt oder trennbar sind.

c) Die Information, der Kontext und die affektive Beziehung

Die Weitergabe von Kenntnissen in organisierter Form oder auch in der Klassengruppe bei informellen Gelegenheiten vollzog sich auf verschiedene Weise. Sie wurde - je nachdem, wie man eine Mitteilung besser aufnehmen und verstehen konnte - mit verschiedenen Mitteln realisiert.

Die Situation schuf im Hinblick auf die unterschiedliche Zusammensetzung -sechs Arbeitsgruppen - verschiedene Vermittlungsarten von Kenntnissen. Eine Mitteilung konnte mündlich oder schriftlich aufbereitet werden oder - wenn man den Gegenstand zeigte - auch veranschaulicht werden.

Wir boten darüber hinaus die Erfahrung im Sinne von »heute mein, in Zukunft dein« an und schufen dadurch eine Situation, in der das »Unterrichten« kein mechanisches Übertragen von Fähigkeiten war, sondern ein Weitergeben von etwas Wichtigem, das nur dann gegeben werden sollte, wenn es verlangt wurde.

Der Unterrichtsgegenstand wurde eine Gelegenheit, über Sprache und Stimmgebung, Blicke, Berühren und Sich-Berühren-Lassen Mitteilungen auszutauschen. Er war eine Gelegenheit, »über eine konkrete Geste die ganze affektive Kommunikation aufzubauen, d.h. das gesamte Verlangen nach der Kommunikation mit den anderen, das gesamte Vergnügen des anderen... Das vom anderen gewünschte Objekt sein zu wollen, ist eine Situation, die wir konstant in allen spontanen Situationen wiederfinden.

Es sind die Erwartung, die Hoffnung und die Forderung nach einer Einladung zum Austausch. Dies gilt auch, wenn man mit den Blicken, den Gesten, der Mimik, mit der Unbeweglichkeit sucht, wenn man wartet, daß der andere zu mir kommt . . . Es ist eine Situation, die auf einer sehr symbolischen Ebene erlebt wird, in der Frage und im Geschenk des Objekts, in der Auswahl des Partners, im spontanen Entstehen von Gruppen, in denen es mehr darum geht, ausgewählt zu werden als auszuwählen« (LAPIERRE 1977).

Das Vermitteln von Kompetenzen in einer affektiven Beziehung garantierte, daß die Verhaltensweisen, die Worte und Erklärungen sich entwickelten und ausdrückten. Es entstand eine integrierte Situation, die das Vorhandensein von Kompetenzen auf unterschiedlichen Ebenen ermöglichte. Diese erwiesen sich für die zu erreichenden Klassenziele funktional.

Der Mitschüler, der manuell geschickter war und nicht »so gut« im sprachlichen Bereich, unterrichtete, indem er etwas vormachte. Im Erklären seines Tuns suchte er dennoch die Sprache. Denn Sprache ist nicht das einzige Instrument zur Vermittlung von Informationen. Der Weg des Tuns half bei der Suche nach richtigen Worten, organisierte das Gespräch. Derjenige, der die Sprache, die Schrift beherrschte, dokumentierte und schrieb die Plakate. Derjenige, der malen konnte, nahm an der Organisation der Mitteilung mit seiner Fähigkeit teil. Jeder gab etwas von seiner eigenen Fähigkeit, seiner eigenen Kompetenz durch Unterricht an den anderen weiter.

Renzo suchte und fand in dieser Hinsicht den Raum für seine eigene aktive Anwesenheit.

Gleichzeitig konnten durch die Arbeit mit den drei Klassen die Kompetenzen einer jeden Lehrerin genutzt werden.

d) Renzo und die Schule - unangemessene Erziehungsstrategien

Renzo hatte schon im Einzelunterricht mit der Stützlehrerin an einem Alphabetisierungsprogramm teilgenommen. Die Ergebnisse waren jedoch sehr gering und unbefriedigend. Man hatte ihm beigebracht, die Buchstaben des Alphabets und einige Wörter zu erkennen. Er konnte an einer vorbereiteten punktierten Linie entlang schreiben.

Meistens führte man didaktische Aktivitäten durch, in denen Renzo sich in isolierten Situationen befand.

Die Stützlehrerin berichtete:

»Renzo ist im Lesenlernen, Schreiben und Rechnenlernen langsam. Es muß jemand hinter ihm stehen und versuchen, es ihm beizubringen, indem er es so oft wie möglich wiederholt.«

Der erzieherischen Intervention lag die Strategie des Lernens durch Wiederholen zugrunde. Daneben empfand die Stützlehrerin für Renzo ein (gutgemeintes) Gefühl von Eigentum-Verantwortlichkeit: »mein Kind«. Dies erschwerte ein gemeinsames Projekt mit der Gruppe der Lehrkräfte. Für Renzo gab es ein Sonderprogramm.

Renzos Erziehung gestaltete sich als äußerst schwierig. Wie wir erwähnt haben, konnten wir nur wenige Minuten lang seine Aufmerksamkeit erregen : Er ließ sich ablenken, ging zu den Mitschülern, zu anderen Dingen oder Spielen, rannte weg, heulte, er ahmte Tierlaute nach, spuckte, fluchte und störte die Klassengruppe.

Solche Verhaltensweisen wurden als Merkmale der Behinderung interpretiert. »Er hat wenig intellektuelle Fähigkeiten. Sein Wesen ist aggressiv. Er ist nervös und ermüdet leicht.«

Dabei wurden unter den Erklärungen diejenigen mehr akzeptiert, die sich auf die geistige Behinderung und auf das relativ schnelle Ermüden beim Lernen, auch bei sehr einfachen Übungen, bezogen. Renzo besuchte die Schule nur die Hälfte der Zeit: »Es ermüdet ihn zu sehr. Er kann das nicht. Wir wollen nicht, daß er sich überanstrengt...«

Wenn Renzo in der Klasse war, mußte man diese Zeit als Pause betrachten, es »gelang nicht, etwas Sinnvolles zu tun.«

e) Wir wollen uns Regeln geben - vom Stören zum Lernen

Die störenden Verhaltensweisen von Renzo stellten für die Klasse das Hauptproblem dar. Sie wurden der Gegenstand von Analyse und Reflexion. Wir merkten, daß das Eingreifen, um einer solchen Störung zu begegnen, entweder darin bestand, Renzo aus der Klasse zu nehmen oder ihm ständig zu wiederholen : »Das darfst du nicht tun, das darfst du nicht tun, das darfst du nicht tun...«

Die Alternative zu »Das darfst du nicht tun« war Lesen, Schreiben und Rechnen - alles was Renzo nicht tun wollte. Es war sogar einer der Gründe, die das störende Verhalten des Kindes provozierten.

Wir befanden uns in einem »Teufelskreis«, der »aufgebrochen« werden mußte. »Das darfst du nicht tun« sollte durch »das kannst du tun« ersetzt werden. Aber Renzo wollte das tun, was die Klassengruppe störte. Wir beschlossen, es damit zu versuchen, die Verhaltensweisen von Renzo zu tolerieren. Wir grenzten sie durch Regeln ein. Diese sollten Renzo das erlauben, was er tun wollte, und es gleichzeitig der Klassengruppe ermöglichen, ihn eine Zeitlang zu tolerieren.

Wir dachten darüber nach, wie wir das störende Verhalten so begrenzen und kontrollieren konnten, daß sich Renzo dessen bewußt wurde. Renzo durfte »stören«, aber in begrenztem Umfang. Er durfte heulen, die Tiere nachahmen, Schimpfwörter ausstoßen, spucken..., aber dies nur fünfmal am Tag pro störende Verhaltensweise.

Die Lehrerinnen gaben Renzo für jede der störenden Verhaltensweisen Kontrollinstrumente: für die Schreie fünf Knöpfe, für das Nachahmen von Tierlauten fünf Ringe, für die »Schimpfwörter« eine Karte, die man fünfmal lochen konnte (in der Art einer Monatskarte für die Straßenbahn)...

Die Mittel zum Erlernen der Regeln sollten Formen und Farben haben, die die Aufmerksamkeit von Renzo auf sich zogen. Sie mußten als Objekte von »Wert«, als »besondere« Objekte, eingeführt werden (man wählte schillernde Perlmuttknöpfe, Ringe von glänzendem Metall, farbige Lochkarten).

Außerdem sollte das Geben und Zurücknehmen der Objekte in Form einer Zeremonie, eines Rituals erfolgen, damit dieser Moment als sehr wichtig hervorstach. Wenn Renzo die Regeln berücksichtigte, mußte dies die Klassengruppe mit lobenden Verhaltensweisen betonen.

Als Renzo in der Schule eintraf, gaben ihm die Lehrerinnen die Ringe, die Knöpfe und die Lochkarte. Wenn er alles verbraucht hatte (bei jeder störenden Verhaltensweise nahm man ihm - je nachdem, wie er gestört hatte - einen Ring oder einen Knopf ab, oder man machte ihm ein Loch in die Karte), wurde ein weiteres störendes Verhalten an diesem Tag nicht mehr toleriert. Er mußte aus der Klasse gehen, durfte mit seinen Freunden nicht Ballspielen.

Die Lehrerinnen mußten sich allerdings dabei so verhalten, daß Renzo nicht verboten wurde, mit seinen Freunden zu spielen, denn es lag nicht in unserer Absicht zu strafen. Wir wollten eine Situation herstellen, die auf lange Sicht die Möglichkeit für das Einhalten der Regeln der Klassengruppe schuf.

Renzo verblüffte unsere Erwartungen. Schon bald hielt er sich an die Regeln, die wir ihm gegeben hatten. Die Lehrerinnen sagten, daß sie nicht wußten, ob das Motiv dafür im Befolgen der Regeln lag oder ob ihm die Knöpfe, die Ringe und die Lochkarten so sehr gefielen, daß er sich nicht davon trennen wollte.

Renzo begann »zu sparen«, versuchte nichts »auszugeben«, sich die Knöpfe, die Ringe und die Lochkarten nicht abnehmen zu lassen. Wenn ihm ein Heulen, eine Imitation, ein Schimpfwort »herausrutschten«, war er verdutzt. Er schien zu sagen: »Ich war zerstreut. Es ist mir herausgerutscht. Ich hoffe, man hat es nicht bemerkt, sonst nimmt man mir einen Knopf.« Oft tat die Lehrerin so, als ob sie es nicht gehört hätte (um nicht die Kontrolle in eine Strafe zu verwandeln).

Wie die Lehrerinnen beobachteten, imitierte Renzo mit leiser Stimme. Damit er sich nicht die Knöpfe abnehmen lassen mußte, spuckte und heulte er auf der Toilette, wo keiner ihn sah. -

f) Das Lernen beginnt

Dadurch, daß Renzos störendes Verhalten toleriert und ihm Regeln gesetzt wurden, veränderte sich die Aufmerksamkeit der Klassengruppe und der Lehrerinnen. Im Mittelpunkt standen nicht mehr nur das Rülpsen, das Spucken, die Schimpfwörter..., sondern man dachte über Aktivitäten nach, die aus den Mitteln zur Kontrolle der Störungen entstehen konnten.

Knöpfe, Ringe, Lochkarten waren in Fünfergruppen ausgewählt worden. So konnte Renzo mit den Fingern einer Hand überprüfen, wie viele Dinge ihm blieben. Das Überprüfen, wie viele man ihm gegeben hatte und wie viele ihm geblieben waren, ergab eine Gelegenheit zum Rechnen.

»Du hattest 5 Knöpfe, dir wurden 3 weggenommen, dir bleiben 2 Knöpfe (5 - 3 = 2); du hattest 5 Ringe, dir wurden 2 weggenommen, dir bleiben noch 3 Ringe (5 - 2 = 3); du hattest 1 ungelochte Karte, du konntest 5 Schimpfwörter sagen, jetzt kannst du nur noch 3 sagen... du hast mehr Knöpfe als Ringe, du hast genausoviel Ringe wie Knöpfe...«

Das Aufbewahren der Dinge, die ihm jeden Morgen in einem Ritual gegeben wurden, ohne sie untereinander zu vertauschen, bedeutete für Renzo, daß er verschiedene Stellen suchen und finden mußte, um die Dinge sortiert zu halten: -die linke Tasche für die Knöpfe, die rechte für die Ringe, die kleine Jackentasche für die Karten.

Auch die Suche nach gleichen Kategorien und nach Formen, gleiche Dinge zusammenzulegen, ohne sie zu verwechseln, wurde für die Lehrerinnen eine Möglichkeit, nach neuen Aktivitäten zu suchen.

Renzo sollte nicht nur zählen und rechnen, sondern auch die verschiedenen Dinge an verschiedenen Orten nach Kategorien und Formen zusammenstellen. Die Aufgabe, die Knöpfe aus der rechten Tasche zu nehmen, die Karte aus der Jackentasche vorn oben, die Ringe aus der Hosentasche hinten, erforderte Merkfähigkeit und war für Renzo eine Gelegenheit zu weiteren Entdeckungen. Sein eigener Körper konnte der Bezugspunkt für die funktionale Organisation von rechts, links, oben oder unten sein. Der eigene Körper hatte Dimensionen, und man konnte diese Dimensionen dazu benutzen, sich auf andere und auf Dinge zu beziehen: höher als, tiefer als, rechts von, links von, vor, hinter, unter, über usw. ...

Außerdem wurde durch die Aufgabe, ziemlich kleine Dinge in die Tasche zu stecken, sie herauszuholen, sie wieder hineinzustecken, seine Handgeschicklichkeit ständig weiterentwickelt. Dies geschah nicht in isolierten Übungen, sondern in der wirklichen Tätigkeit innerhalb einer didaktisch-pädagogisch angelegten und komplexen Organisation, in der jedes Element zur organisatorischen Struktur eines anderen unterstützend beitrug.

g) Die Zeit und die verschiedenen Räume des Tuns

Die Organisation der Klasse und die Aufgaben eines jeden Gruppenmitgliedes, der Wechsel der Aktivitäten, die Verabredungen mit Renzo in bezug auf die Überprüfung der Knöpfe, der Ringe und der Karten ließen die Notwendigkeit entstehen, die Zeit zu »kennzeichnen«.

Wir wollten eine Uhr aus Karton basteln, bei der im Unterschied zur wirklichen Uhr anstelle der Zahlen die Aktivitäten symbolisch dargestellt waren. Wir begannen mit der Verabredung, die Renzo mit seinem Freund um 10 Uhr hatte, und an die Stelle der Zahl 10 klebten wir ein Foto dieses Treffens; wenn es wirklich 10 Uhr war (die Zeiger wurden nach jeder Stunde auf die wirkliche Zeit gestellt), durfte Renzo mit seinem Freund spielen.

In dem Arbeitsplan über die Zeit ging es darum, herauszufinden, wann man den Aktivitäten nachgehen sollte, wann sie zu beenden waren und wieviel Zeit für jede Aktivität nötig war. Das Zifferblatt der Uhr führte zur Unterrichtsplanung, und dies führte gleichzeitig zum Erfinden von didaktischen Mitteln.

Mit dem Beginn zum Zeitpunkt 10 Uhr als Bezugspunkt orientierte man sich an einem Moment: »vor dieser Sache habe ich dies getan«, »nach dieser Sache werde ich jenes tun«. Vor, während, nach der »Verabredung«, das waren Möglichkeiten zu einem Bezugspunkt für das Gedächtnis und bedeuteten, sich in Beziehung zu ... orientieren zu können.

Die auf dem Papier (Uhr) so dargestellte Zeit und die Tatsache, daß sie sich ständig in Bewegung befand (die Bewegung der Zeiger in Beziehung zu den dargestellten Aktivitäten), waren im Raum sichtbar und waren ein konkreter Bezugspunkt, der mit dem realen Ablauf der Aktivitäten zusammenhing.

Die verschiedenen Aktivitätsmomente im Laufe des Tages mit einem auf einen Raum begrenzten Zeichen (die Stunden des Zifferblattes), und über ihre unterschiedliche Kennzeichnung ließen klare Unterschiede zwischen der einen und anderen Aktivität sowie zwischen dem Zuerst (»Wir haben mit Stiften gearbeitet«) und dem Danach (»Wir sind in den Garten gegangen«) entstehen.

Jedes Bild auf dem Zifferblatt, das sich auf eine bestimmte Aktivität bezog, führte symbolhaft das reale Vergehen der Zeit vor Augen.

Die Zeit auf diese andere Weise zu charakterisieren, stellte uns grundsätzlich vor einige Probleme:

  • Wir mußten die bedeutsamen Momente des Tages herausfinden;

  • wir mußten sie so kennzeichnen, daß sie nicht mit anderen verwechselt wurden;

  • wir mußten den Übergang von einem Moment zum anderen, von einem Ereignis zum anderen verdeutlichen;

  • wir mußten die Ereignisse und Vorkommnisse des Tages so eingliedern, daß sie zu einer Maßeinheit werden konnten;

  • wir durften ein bestimmtes Ereignis nicht isoliert analysieren, sondern in Beziehung und in der Abfolge zu den anderen Ereignissen und Vorkommnissen;

  • wir mußten die Aktivität, die einen Zeitabschnitt und ein Tun als »Maßeinheit« kennzeichneten, in ein Symbol übersetzen;

  • wir mußten ständig zukünftige Elemente suchen, die für die Übertragung einer Aufeinanderfolge von Zeitabschnitten, zur bedeutsamen Vereinbarung von Ereignissen, zur Symbolisierung, zur Konvention und zur Uhr nötig waren.

Nach und nach wurde die Uhr zum Instrument, das die Ankunft in der Klasse, die »Raum-Zeit« der Aktivitäten wie Geschichte, Geographie, Naturwissenschaften kennzeichnete. Für jeden Tag konstruierten wir verschiedene Zifferblätter. Einige konnten unverändert bleiben, einige mußten sich ändern, je nach Unterrichtsplan.

h) Die integrierten Tätigkeiten - ein Raum für mehr Lerninhalte

Beim Herstellen von Collagen, beim Malen und Kochen organisierten wir die Klasse als »Werkstatt«. Wir orientierten uns an dem Beispiel, wie die Materialien in einer Werkstatt vom Handwerker in »Ordnung« gehalten werden, und benutzten eine »Bank« als Raum für Werkzeuge und Arbeitsgeräte. Malstifte, Bleistifte, Filzschreiber, Gefäße mit Leim, mit Farbe, Scheren oder Nähzeug wurden dahingehend zum Objekt der Reflexion, inwieweit man die »Bank« für die Geräte so organisieren konnte, daß sie für die zu entwickelnden Aktivitäten funktional wurde. Wir diskutierten über die Schwierigkeiten (und die Zeit, die man verlor), wenn man in einer »Unordnung« Filzschreiber und Stifte einer bestimmten Größe oder Pastellfarben in einer bestimmten Farbe wiederfinden sollte. Von der Unordnung ausgehend planten wir eine Organisation der Dinge und Räume. Der Übergang von der »Unordnung« zur »Ordnung« war ein sehr wichtiger Weg. Die Diskussion über die verschiedenen Möglichkeiten, die Dinge in bezug auf den Raum und in bezug auf ihre Funktion zu organisieren, ermöglichte es der Klasse und Renzo, die subjektiven Beziehungen zur Welt der Dinge mitzuteilen und diese festzulegen. (Das Ordnen und die Organisation der Dinge werden meist nicht als Inhalt von Erziehung betrachtet.) Entweder wurden die Dinge schon im voraus - beim Kauf - in besondere Behälter geordnet oder sie werden von den Lehrern geordnet und organisiert. Die Lehrer wollen die Kinder bisweilen sehr schnell und sofort in eine objektive und rationale Beziehung zu den Dingen bringen, da sie immer Angst haben, Zeit zu verlieren.

Oft braucht man Zeit, aber in der Schule kann man nicht warten. Man will das Lernen vorantreiben, während die bedeutendere Phase das Entdecken und Erleben ist.

Durch die Beschäftigung mit der »Bank der Werkzeuge« stand ein »langer (Zeit-)Raum« zur Verfügung, um zu den Objekten eine affektive Beziehung aufzubauen und um allmählich logische Funktionen und die Vielfalt der Gebrauchsmöglichkeiten gemeinsam zu entdecken.

Renzo sollte vor allem die »Bank« verwalten und sie benutzen, denn auf Wunsch der anderen sollte er die Materialien und Objekte verteilen. In einem gewissen Sinn gehörten die Dinge affektiv ihm, unterstanden seiner Verantwortlichkeit. Die »Bank« wurde von ihm sauber und in Ordnung gehalten, sie war das konkrete Zeugnis für seine aktive Anwesenheit, sie zeigte seine Fähigkeiten und die Wichtigkeit seiner Anwesenheit.

Verantwortlichsein für »die Bank« entsprach seinem Wunsch, etwas tun zu können und es zu zeigen. Renzo wurde von den Kindern seiner Klasse unterrichtet, und Renzo lernte, eine Ordnung zu entdecken. Von einer affektiven Beziehung aus gingen wir zu Entdeckungen logisch-mathematischen Charakters über.

Es gab viele Entdeckungen: Lange Stifte in einem Behälter mit kleiner Grundfläche fielen leicht herunter, wenn man sie nehmen wollte. Man brauchte daher einen Behälter mit größerer Grundfläche (Begriff des Gleichgewichts). Man konnte Stifte leichter finden, wenn man - nach Kriterien von Farbe, Größe, Form (Mengenlehre) - alle ungefähr gleich großen roten Stifte, alle grünen usw. zusammenlegte. Man verlor weniger Zeit, den gewünschten Stift zu finden, wenn man eine Platte konstruierte, auf der die Stifte der Größe nach geordnet waren (Reihung). Außerdem wurde die Symmetrie durch die Lücke »gebrochen«, wenn ein Stift fehlte. Das erinnerte Renzo daran, daß der entsprechende Stift gesucht und an seinen Platz zurückgelegt werden mußte.

Für die Lehrerinnen war die Hinzunahme von Hilfsmitteln, wie z.B. Gefäße oder Lochplatten zur symmetrischen oder reihenweisen Anordnung, eine sehr wichtige Entdeckung, da Renzo sein Gedächtnis in Abhängigkeit zur räumlichen Organisation der Dinge aufgebaut hatte und noch aufbaute.

Renzo sollte während der integrierten Tätigkeiten die »Arbeitswerkzeuge«, das Material an die Gruppen verteilen, wenn ihn die Mitschüler danach fragten, und er mußte aufmerksam dabeistehen, um sie wieder an ihren Platz zurückzustellen, wenn man sie nicht mehr brauchte.

Außerdem beschloß die Gruppe eine Regel: Wenn Renzo etwas falsch machte und das erwünschte Material nicht stellte, hörte die Arbeit auf. Wir erklärten Renzo den Fehler, indem wir nach der geeignetsten Weise suchten. Die Arbeit konnte nicht von neuem beginnen, bis die Antwort nicht der Frage entsprach. Der Irrtum wurde von einem Zeremoniell, einem Ritus begleitet, der Renzo die Bedeutung des Sichkorrigierens klarmachen sollte. Die Arbeitsgruppe stand auf und verschränkte die Arme. Es sollte ihm verdeutlicht werden, daß man ohne seine richtige Antwort nicht gemeinsam weiterarbeiten konnte.

Spielerisch wurden Kompetenzen und Lernvorgänge entfaltet: Die Organisation der Räume und der Funktionen, logische und mathematische Entdeckungen, die Suche nach Ausdrucksmöglichkeiten und Regeln, die Möglichkeit für Renzo, seine psychomotorischen Fähigkeiten zu aktivieren.

Durch die Aufgabe des Zureichens der Werkzeuge wurde das Bedürfnis geweckt, die Arbeit der anderen zu beobachten. Das bedeutete für Renzo, einerseits die Funktion der Werkzeuge und andererseits die Resultate zu entdecken, die mit ihrer Hilfe zustandekamen.

Durch das Beobachten und nachahmende Verstehen entwickelte Renzo den Wunsch, das Kleben, Schneiden und Ausmalen zu versuchen. Die Kinder organisierten die Aktivitäten in Funktion zu dem, was er allmählich lernte: Wenn er die Figuren für die Collage nicht ausschneiden konnte, ließen sie ihn den Leim auftragen; wenn er nicht genau malen konnte, ließen sie ihn die Grundflächen der Zeichnungen ausmalen. Allmählich wurde Renzo in die Aktivitäten einbezogen und ging dabei von einer Fähigkeit zur anderen über, indem er seine Kompetenzen und damit seine Möglichkeiten der Integration in die Gruppe immer mehr ausdehnte - jedoch nicht unter Zeitdruck, sondern in Ruhe, aber doch in einer Zeit, die mit Aktivitäten ausgefüllt war, die seinen Möglichkeiten entsprachen.

Jede erworbene Fähigkeit im Praktischen oder Sprachlichen war für das »Tun« ein Potential, das durch die Klassengruppe, durch die Lehrerinnen und durch Renzo entdeckt wurde, um auf andere Aktivitäten übertragen zu werden.

Die Fähigkeit eines jeden blieb nicht statisch und auf sich selbst begrenzt. Jeder sah den anderen, kooperierte mit dem anderen und lernte vom anderen, indem er ihm etwas beibrachte.

i) Aspekte der integrativen Didaktik

Renzo war dazu übergegangen, vom »Werkzeug-Reichen« direkt an den Projekten und den erstellten Arbeitsplänen teilzunehmen. Er war fähig, eine Aufgabe im Rahmen der Aktivitäten der Klasse zu finden.

Die anfänglichen Probleme: keinerlei Aktivität in seiner Gegenwart verfolgen zu können, sein Schreien oder sein Spucken waren allmählich in Vergessenheit geraten. Nun bestand das Problem nicht mehr darin, ob sich Renzo in der Klasse oder außerhalb der Klasse aufhalten sollte, damit er den Unterricht nicht störte, sondern es ging darum, seine Forderungen nach Teilnahme an der Arbeit der anderen zu entsprechen.

Renzos Klasse schrieb parallel zu einer anderen 3. Klasse die Ergebnisse aus dem naturwissenschaftlichen, geographischen und Geschichtsunterricht in große Hefte. Auf den Seiten dieser Hefte sammelte man durch Einkleben, Abschreiben, Zeichnen im Rahmen der behandelten Themen u.a. Fotos aus Zeitungen, Zeichnungen oder Skizzen.

Das große Heft gab Renzo die Möglichkeit, mit den Mitschülern am Sammeln, Ordnen und Systematisieren der Ergebnisse teilzunehmen. Es wurden Bilder und Artikel aus Zeitschriften ausgewählt, die Renzo dann ausschnitt. Zusammen wurde entschieden, wie und wo die Bilder, die Beschriftungen und ausgeschnittenen Artikel anzubringen waren, und Renzo klebte sie auf. Zusammen suchte man die Zeichnungen aus, die Ereignisse, Szenen und Tiere darstellten, und Renzo zeichnete sie und malte sie aus.

Außerdem schenkte die Klasse besonderes Augenmerk den Überschriften und kurzen Erläuterungen. Da Renzo beim Lesen und Schreiben Schwierigkeiten hatte, begab man sich auf die Suche nach kurzen und bedeutsamen Sätzen, um ihm so die Möglichkeit zu geben, mit geringer Anstrengung sinnverstehend zu lesen und die kleinen Wörter in kurzer Zeit abzuschreiben oder aufzukleben.

Es kann widersprüchlich erscheinen, Lesen und Schreiben unterrichten zu wollen, indem man es auf Weniges reduziert. (Wir befinden uns im deutlichen Gegensatz zu jenen didaktischen Orientierungen, die Lernmöglichkeiten im Wiederholen und in einem zeitlich ausgedehnten Üben sehen.) Aber dieser Widerspruch besteht nicht. Denn darauf zu bestehen, von jemandem eine Fähigkeit zu fordern, die er nicht besitzt, kann die totale Verweigerung von dem, was man verlangt, zur Folge haben.

Wir wollten mit Renzo nicht das Schreiben und Lesen einüben. Aber wir wollten, daß Renzo die symbolischen Bedeutungen verstehen sollte, daß er die Mittel verstand, über die man Mitteilungen überträgt.

Das Einüben des Lesens und Schreibens führt dazu, daß man sich bei der Schrift und bei dem Zeichen, jedoch nicht bei den Bedeutungen aufhält. Und je mehr man das Lesen und Schreiben drillt, um so mehr läuft man Gefahr, zu vergessen oder nicht daran zu denken, daß man eine Mitteilung organisiert.

Die kurzen und bedeutsamen Sätze gaben Renzo die Möglichkeit, nicht auf dem Gebiet, auf dem er Schwierigkeiten hatte, verharren zu müssen. Vielmehr konnte er in die Bedeutungen und Konzepte eintreten. Es wurde vermieden, bei den Schwierigkeiten, die zum Verlust der Bedeutungen und Begriffe führen konnten, stehenzubleiben. Die Lehrerinnen ließen Renzo entdecken, daß Zeichen für die Begriffe oder Ideen dem Gedächtnis und beim Gespräch eine Art Hilfe sind.

Außerdem wurde der kurze, bedeutsame Satz auf dem großen Blatt noch durch andere Symbole unterstützt, aus denen eine einheitliche Mitteilung wurde. Die Fotos, die aus den Zeitungen ausgeschnitten worden waren, die Zeichnungen, die Farben, die Erinnerung daran, das Blatt zusammen mit der Gruppe erstellt zu haben, sowie die Erinnerung daran, daß die gleiche Gruppe hier anwesend war, war ein bedeutsamer Zusammenhang. Renzo fand eine Vielzahl von Elementen vor, um seine Erinnerung zu strukturieren, um ein »Gedächtnis zum Erzählen einer Geschichte« zu organisieren.

Das Lesen und Schreiben sowie die rigide Forderung, nur eine Mitteilung über das Wort als solche gelten zu lassen, führten zu Situationen von Eingliederungsversuchen, die ihr Ziel verfehlten. Wenn man aus einer Modellvorstellung heraus die schulischen Ziele auf den Didaktismus, auf ein Abfragen, auf das schiere Wiederholen von dem, was man gelehrt hat, gründet, dann ist man in einer Schule der Passivität und der Statik. Seitens des Lehrers gilt dieses Vorgehen dann als Überprüfung der rein kognitiven Fähigkeiten des Schülers. Die Anwesenheit eines behinderten Kindes stört dann die im voraus aufgebauten Rhythmen und Programme.

Das Kind mit einer Behinderung bietet dagegen eine Gelegenheit, ein pädagogisches Modell zu entwickeln, das für die kreative und intellektuelle Entwicklung der Klasse funktional ist.

Aus dem Schema herauszutreten und die Regeln des Unterrichtsplans zu übertreten, wird fast nur dem behinderten Kind gestattet, da es sehr leicht ist, die »Schuld« für das »Nichtlernen« im Biologischen und Psychologischen zu sehen. Wenn man von der Annehmlichkeit des Ausschließens zur Analyse, zur Suche und zur flexiblen Unterrichtsplanung übergeht, entdeckt man, daß das bisherige System auch für die, die nicht mit einer Behinderung behaftet sind, einschränkend ist.

Das Schreiben und Lesen war für viele geistig behinderte Kinder eine Art Reisepaß. Die Prüfungen für den Übergang zu den verschiedenen Sektoren der Pflichtschule betrafen nur die Überprüfung dieses Gebiets und bezogen sich auf die Tatsache, daß dann beim Rest der Klasse ein normaler Fortschritt im Lernen nach einem festen Lehrplan möglich war.

Das Lesen und Schreiben nahm fast den Tag dieser Kinder in Anspruch. Man ersetzte damit die alltägliche Erfahrung. Um des Lesens und Schreibens willen -d.h. um des für groß gehaltenen Zieles willen - verhinderte man die kleineren Ziele: sich zurechtfinden können, allein essen zu können, sich an- und ausziehen zu können, ein Geschäft vom anderen und eine Straße von der anderen unterscheiden zu können, sich Freunde wünschen, hinausgehen wollen und sich umsehen.

Die Selbständigkeit und der Alltag wurden zugunsten des Kopierenkönnens verworfen, als ob die Alltäglichkeit nicht voll von Gelegenheiten zum Erwerb von Kenntnissen, zur Kommunikation und damit auch für das Lesen- und Schreibenlernen wäre. Nach der Pflichtschule standen wir Jugendlichen gegenüber, die nur lesen und schreiben konnten, worauf sie aber keinen Wert legten.

Im wesentlichen handelt es sich darum, von einer wahren Beziehung auszugehen. Die Inhalte sind dann vorhanden, wenn sie aus einer wahren Beziehung des Erwachsenen zum Kind hervorgehen, eine Beziehung, in der der Erwachsene seine Macht zurückhält, um dem Kind die Macht zu überlassen, indem er sich zurückhält und es zuläßt, daß sich auch die Kinder in den Mittelpunkt der Situation stellen können.

Von dieser als wahr bezeichneten Beziehung gehen in gewisser Weise alle Situationen des Entdeckens und des Lernens aus. - Die wahre Situation, die auch als Situation der erzieherischen Ehrlichkeit (Redlichkeit) definiert werden kann, entsteht aus dem ständigen Verlangen des Erziehers selbst nach Lernen und ist genau das Gegenteil von Wiederholen.

Im Bedürfnis nach Lernen seitens des Erziehers liegt die Entstehung des Bedürfnisses nach Erlernen von Neuem seitens des Kindes. Wenn es eine Beziehung zwischen dem Wunsch des Erwachsenen und dem des Kindes gibt und wenn diese Wünsche sich treffen, wird des einen Wunsch der des anderen: der Wunsch zu lernen und etwas zu lehren.

k) Die Lernkontrollen[6]

Renzos Lernkontrollen waren eine Zeremonie und bezogen die ganze Klasse affektiv mit ein; seine Erfolge waren auch die Erfolge der Zusammenarbeit, und jeder fand seine eigenen Erfolge in den Erfolgen von Renzo.

Wir verfolgten mit großer Aufmerksamkeit, wie sehr Renzo von den anderen Kindern ernst genommen wurde. Wir fragten ihn nach dem großen Heft, um es zu überprüfen. Er suchte es unter den anderen und legte es auf den Tisch. »Renzo, suche die Seite, wo wir etwas über die ersten Menschen gesammelt haben !« Renzo fand die Seite. »Was ist hier oben groß geschrieben ?« Renzo, den man schon mit der Aufforderung nach der »Suche der Seite« daran erinnert hatte, was dort als Titel stehen könnte, las den Titelsatz »die ersten Menschen« ganz leicht. »Sag' mir, wo sie wohnen !« Renzo zeigte auf das Bild mit der Höhle.

Die Lehrerin: »Gut, in der Höhle.«

»Lies, was darunter geschrieben steht!«

»Höhle.«

»Sag' mir, wo sind die Waffen !«

»Such' mir die Seite mit den Kindern der Indios...«

»Wie viele Kinder sind da ?«

»Drei.«

»Wie heißt die Wohnung?«

Renzo zeigte es und sagte den Namen, der unter dem Bild geschrieben stand: »Hütte«.

»Was essen sie?«

Renzo antwortete, indem er sich ein wenig durch die aufgeklebten Bilder und ein wenig durch die geschriebenen Beschriftungen helfen ließ.

Das Blatt des großen Heftes, das er selbst (durch Ausschneiden und Aufkleben) zusammen mit der Gruppe hergestellt hatte, war in seiner Komplexität eine Hilfe für das Gedächtnis und die Begriffswelt. Die Einheit »bedeutungsvolles Blatt« ermöglichte es in seiner komplexen Strukturierung, daß jede Spur andere Spuren nach sich zog, so daß allmählich die Bedeutungen der Situationen, der Symbole, der Objekte und des Zusammenhangs nahegelegt wurden.

Das Lernen gründete sich auf die affektive Beziehung, in der das große Heft das Arbeitsergebnis von Renzo mit der Gruppe seiner Mitschüler war. Es basierte auf einer komplexen Artikulation der Mitteilung.

Wieviel die affektive Beziehung im Lernen von Renzo zählte, zeigt eine Anekdote, die von den Lehrerinnen erzählt wurde: »Eines Tages kam Renzos Mutter in die Klasse. Als er sie sah, lief er auf sie zu und umarmte sie. Dann zeigte er ihr seine Arbeiten: das große Heft. Er wollte der Mutter das zeigen, was er konnte, und unter dieser Bedingung las Renzo schnell, während er sonst zwar auch las, aber langsam und indem er die Silben überbetonte.«

Diese Kontrollen wurden mit den Mitschülern fortgesetzt. Sie benutzten die gleichen Seiten des großen Heftes, nur mit genaueren und mehr ins Detail gehenden Inhalten. Renzo war auch dann aufmerksam, wenn er nicht direkt einbezogen war, und verfolgte die Lernkontrolle seiner Mitschüler, die die Aufgabe hatten, während des Sprechens auf das zu zeigen, auf das sie sich bezogen. Dies erlaubte Renzo, die globale Struktur der Lernkontrolle zu verfolgen, und er hatte die Möglichkeit, neue Elemente zu lernen.

l) Ein gemeinsamer Spaziergang und eine wichtige Entdeckung

Renzo wurde fast immer von der Großmutter zur Schule gebracht, da die Mutter arbeiten gehen mußte, bevor die Schule geöffnet wurde. Eines Tages begleitete ihn die Mutter und tat so, als ob sie sich an den Weg nicht mehr erinnern würde. »Ich kann mich nicht an den Weg erinnern, wie mache ich es, dich zu begleiten?« Zur Verwunderung der Mutter und der Lehrerinnen führte Renzo seine Mutter den ganzen Weg zur Schule.

Wir reflektierten über diese Entdeckung und beschlossen, Renzo direkt zu fragen, an welchen Punkten er sich orientierte. Die Lehrerin ging mit Renzo noch einmal die Strecke ab, und er zeigte ihr die Punkte, die ihm zur Orientierung dienten.

Er bezog sich auf den kleinen Laden, wo ihm die Großmutter eine Süßigkeit kaufte, auf den Zeitungsverkäufer, den er kannte und im Vorbeigehen grüßte, auf die Bäume an der Straße u.a.m. Man wollte mit Renzo einen Plan der Strecke erstellen, indem er die Orientierungspunkte mit einer Sofortbildkamera fotografieren sollte, um sofort ein Ergebnis zu haben. Dann wurden die Fotos auf den Plan geklebt.

Dieses war so organisiert worden, um über die Fotos die Elemente zu zeigen, an denen sich Renzo orientierte. Sie wurden zum Gegenstand der Reflexion in der Klassengruppe. Wir stellten noch andere Pläne her: von der Schule zum Markt, um ins Zentrum zu fahren. In jedem Plan bezogen wir uns auf Orte (die fotografiert wurden und auf die Zeichnungen geklebt wurden) und auf Elemente (Schilder, Geschäfte, Mietshäuser in einer bestimmten Farbe, mit einer besonderen Form...), die für die Orientierung und für die Erinnerung an eine Strecke und an den »Weg« wichtig waren.

Wir fanden heraus, daß wir uns auf fixe und hervorstechende Elemente beziehen mußten sowie auf Schlüsselpunkte, wie Kreuzungen und Plätze. Renzo entdeckte beim Nachdenken über den Plan, wie er sich orientieren und wie er eine solche Kompetenz in fremden Situationen wieder verwenden kann.



[5] Es standen insgesamt sechs Lehrerinnen zur Verfügung. Zwei Klassen wurden als Ganztagsklassen geführt, was in italienischen Grundschulen für einzelne Klassen auf Antrag der Eltern möglich ist und dann zur doppelten Lehrerstundenzuteilung pro Klasse führt. Hinzu kam die Stützlehrerin für Renzo.

[6] Klassenarbeiten und Ziffernzensuren gibt es in der italienischen Pflichtschule seit 1977 nicht mehr. Statt dessen werden regelmäßige Lernkontrollen durchgeführt, durch die bei allen Kindern der jeweils individuelle Lernfortschritt festgestellt wird. Die Lehrer-Innen beschreiben in den Lernentwicklungsberichten für die Familie zweimal pro Jahr die beobachteten Fortschritte und Schwierigkeiten.

2. Die Geschichte von Daniela

a) Wir beobachten Daniela

Wir machten die hier dargestellten Erfahrungen mit Daniela, als sie 9 Jahre alt war. Sie war im Alter von 7 Jahren in den Kindergarten aufgenommen worden. Die Diagnose: »Schwachsinn schweren Grades und Muskelhypertonie als Folge einer vermutlich vorgeburtlich erworbenen Hirnschädigung, Mikrozephalie und Minderung der Gehirnmasse«. Später änderte der Neuropsychiater die Diagnose in »mittelschwer« um. Dazu hatten die Veränderungen von Danielas Verhalten infolge der pädagogischen Maßnahmen und ihre Fähigkeit, zu lernen und das Gelernte in verschiedenen Situationen anzuwenden geführt. Nach der ursprünglichen Diagnose bestand keine Aussicht, daß eine Veränderung möglich wäre. »Schwer« enthält oft eine Prognose von Unveränderlichkeit und bedeutet häufig die Verweigerung möglicher Rehabilitationsmaßnahmen.

Danielas Veränderung relativierte einen solch rigiden Begriff, und die Diagnose - die sich auf rein pathologische Aspekte gründete - mußte einer günstigeren Prognose weichen.

Mit Danielas Aufnahme in den normalen Kindergarten wurde eine Stützlehrerin hinzugezogen. Daniela besuchte den Kindergarten nur morgens während der ersten 3 Stunden. Dann holte sie die Mutter zum Mittagessen nach Hause, da das Kind nur flüssige Nahrung zu sich nahm. 2 bis 3 Stunden in der Woche wurde Daniela jeweils von einer Logopädin und einer Krankengymnastin betreut sowie von Zeit zu Zeit von einem Neuropsychiater des zuständigen sozio-sanitären Dienstes. Außerdem brachten sie die Eltern alle 6 Monate nach Mailand zur Überprüfung des krankengymnastischen Programmes. Danielas Erzieherinnen besuchten einen Fortbildungskurs über pädagogische Strategien und Erziehungstechniken.

Die Unterrichtsplanung, das Aufstellen von Zielen und Arbeitsplänen, die Über-prüfung der Ziele und die Problematik der Integration behinderter Kinder waren die Reflexionsbereiche, die in 14tägigen Treffen in der Fortbildungsgruppe analysiert wurden.[7]

Bei den ersten Treffen hielten wir auf einem Raster immer die Erziehungsbereiche fest, die die größten Zweifel und Probleme darstellten. Ich vermutete, daß Daniela wegen der Schwere der Behinderung das zentrale Gesprächsthema werden würde. Doch das Gegenteil war der Fall.

Auf mein Fragen, warum Daniela nicht zu den Problemen zählte, kam heraus, daß sie im wesentlichen aufgrund der Diagnose »schwere Behinderung« ausgeschlossen wurde, die eben die Möglichkeit von Erziehungsentwürfen nicht mehr zuließ. »Man kann nichts tun. Sie zeigt ein unaufhörliches, undifferenziertes, bedeutungsloses Heulen. Wir versuchten, ihr verschiedene Speisen zu geben, von scharfen bis gesalzenen, von bitteren bis süßen. Aber sie schluckt alles unter-schiedslos. Außerdem hat sie keine Kontrolle über die Ausscheidungen.«

Was Daniela betrifft, versuchten wir nun, die Reflexionen auf kleinste zu erreichende Verhaltensweisen zu lenken.

Das Kind lächelt und erkennt nur die Mutter, lächelt sie an, wenn diese kommt, um sie abzuholen. Die anderen - die Altersgefährten - umgeht sie, als wären sie Hindernisse oder Möbelstücke. Außerdem verschließt sie sich oft. Es scheint, als ob sie sich von der Wirklichkeit entfernt. Um sie zurückzuholen, muß man schreien und sie wachrütteln. Sie kann aus einem Glas trinken, und sie führt es selbständig zum Mund. Sie interessiert sich für folgende Dinge: eine Zigaretten-schachtel, einen Schnuller, Papierblätter, Papierteller und ein Mickymausheft. Damit spielt sie auf ihre Weise. Sie kann einigermaßen das Gleichgewicht halten, aber wenn sie nach vorne fällt, stützt sie sich nicht mit den Händen ab.

Sie erkennt Gefahren. Wenn sie auf einem Stuhl sitzt und hinab will oder wenn sie sich in einer instabilen Lage befindet, heult sie, um ihre Angst auszudrücken. Sie geht fast immer nur auf allen vieren in einer Ecke des Gruppenraumes, dem einzigen Ort, den sie zu erkennen scheint.

Sie spricht nicht. Ihre Lautäußerungen sind unverständlich, und nur, wenn die Mutter kommt, drücken sie eine gewisse Freude aus, ansonsten bestehen ihre Äußerungen aus einem immer gleichen fortgesetzten Heulen. Wir machen einige Übungen mit der Glocke, und sie wendet sich dem Klang zu. Wir machen Übungen mit der Taschenlampe: und sie richtet sich zum Licht. Je mehr wir über Daniela sprachen, desto mehr kristallisierte sich das heraus, was sie konnte und was sie nicht konnte. Obwohl Daniela als schwer behindert galt, erkannte sie die Mutter, lächelte sie an und unterschied Objekte von anderen, auch wenn es ihr schwer fiel, sie zu handhaben. Wenn diese Fähigkeiten auch sehr klein und mit den Fähigkeiten eines Kindes in ihrem Alter nicht vergleichbar waren, sollten sie dennoch aufmerksam beobachtet werden, um dann den Versuch zu unternehmen, ihre Kräfte und Fähigkeiten weiter zu entwickeln. Der Vorschlag einer systematischen Beobachtung als Voraussetzung für eine Arbeitshypothese paßte in die allgemeine Diskussion des Fortbildungskurses. Wir wollten dann, von Daniela ausgehend, Arbeitsinstrumente entwerfen und experimentieren können. Die Aufgabe, über geeignete Arbeitsmittel für die gesamte Kindergruppe zu diskutieren, beruhigte die Erzieherinnen sehr, da sie bezüglich Daniela den Standpunkt hatten: »Man kann nichts tun.« Auf jede erdenkliche Weise gingen wir daran, Themenbereiche und für deren Gestaltung wichtige Arbeitsmittel zu analysieren.

Wir beschlossen, die Beobachtungen nach den folgenden Gesichtspunkten zu analysieren:

  1. Dinge und Personen, die Daniela »mochte« und »nicht mochte«

  2. Verhaltensweisen und Umstände

  3. Funktionales Wissen und Orientierung

  4. Sprachliche Äußerungen

  5. Sinneswahrnehmungen

Beobachtungen im Monat Oktober

a) Dinge und Personen,

die Daniela gefallen

die ihr nicht gefallen

  • ihr Trinkglas

Atemmaske

  • Papierblätter

 
  • Papierteller

 
  • Schnuller

 
  • Zigarettenschachtel (leer)

 
  • Mickymausheft

 
  • Möbelstücke aus Karton

 
  • die Mutter

 

b) Verhaltensweisen und Umstände

  • sie meidet ihre Gefährten wie unbelebte Objekte

  • Ton-Kontakt wird nur mit der Mutter akzeptiert

  • häufige Flucht aus der Realität (Stereotypien)

c) funktionales Wissen und Orientierung

  • sie kann in koordinierter Weise trinken (unterscheidet ein volles von einem leeren Trinkglas)

  • sie äußert den Wunsch, sich auf die Füße zu stellen (sie kennt auf und unter)

  • sie richtet den Blick auf die Mutter

  • sie erkennt nur einen einzigen Teil des Gruppenraums, wo sie unterrichtet wird

  • sie erkennt gefährliche Situationen

  • sie kann greifen, aber nicht mit dem Pinzettengriff (DaumenZeigefinger)

  • sie wählt aus anderen Zeitungen das Mickymausheft aus

d) Sprachliche Äußerungen

  • nicht unterscheidbare Lautäußerungen, nur wenn sie die Mutter sieht, erkennt man eine bestimmte Art von Heulen.

e) Sinneswahrnehmungen

  • sie zeigt keine Reaktion auf scharfe Speisen

  • gutes Gehör und gutes Sehvermögen: Sie folgt mit Blicken dem Ton der Glocke und dem Licht der Taschenlampe

Wir organisieren die Beobachtung

Danielas Verhaltensweisen, Bewegungen und Lautäußerungen schienen keine Bedeutung zu haben. Wenn man ihnen eine zu geben versuchte, fand dies im nachhinein aus der Erinnerung, aus einer zufälligen Assoziation in Form von Anekdoten statt, wobei man Gefahr lief, Danielas Botschaften entweder zu vergessen oder zu verfälschen, da die Bedeutung nur aus dem Gedächtnis rekonstruiert wurde.

Außerdem führten ihre schlichten Fähigkeiten dazu, daß diese unbeobachtet vor-übergingen. Damit wurden sie nicht für Erziehungsprojekte in Betracht gezogen. Viele Fähigkeiten des behinderten Menschen, viele seiner Fertigkeiten und sein begriffliches Denkvermögen bleiben unbemerkt, und die Daten, die ihn uns vorstellen, beschränken sich oft auf das Aufzählen von dem, was er nicht kann.

Es bestand die Gefahr, daß Danielas Möglichkeiten zur Aufnahme von Beziehungen abgeschnitten wurden. Ihr Tätigsein mußte zum Ausgangspunkt einer Beziehung gemacht werden, auch wenn diese zunächst auf eine affektive Ebene begrenzt war. Das Lächeln (Daniela trat nur zur Mutter mit einem Lächeln in Kommunikation) und das Heulen (in gefahrvollen Situationen) waren nonverbale Verhaltensweisen, die von den Mitarbeitern als Mitteilung erkannt wurden. Mit dem Lächeln und Weinen kommunizierte Daniela in bestimmten Situationen, und auch wenn diese als extrem arme Zeichen erscheinen konnten, sie nahmen immer neue Bedeutungen an. Wenn die Mutter kam und sie nahm, um sie nach Hause zu holen, konnte das Lächeln bedeuten: »Die Mutter ist zurückgekehrt, jetzt gehe ich nach Hause.« Wenn man ihr zu trinken gab, konnte es bedeuten: »Ich trinke Wasser und fühle mich dann besser.« Das Weinen konnte bedeuten: »Ich falle gleich, wenn ich weine, kommt jemand und nimmt mich«.

Die Sätze, die wir als Danielas Gedanken angenommen hatten, konnten die »Übersetzung« eines Gefühls, eines Seelenzustandes, einer Situation des Wohl-befindens sein. Das Affektive wurde bisher noch nicht im Hinblick auf seine vielfachen Möglichkeiten zum Beziehungs- und Bedeutungsaufbau untersucht und in verschiedenen Situationen analysiert. Es wurden keine Situationen geschaffen, in denen sich das Affektive entfalten konnte. Sehr wahrscheinlich hat man diesen Bereich des Erlebens zugunsten von krankengymnastischen Übungen ausgeschlossen.

b) Wir beobachten die Zeit, den Raum, die Kommunikation und die Körperhaltung

Es erwies sich als notwendig, Daniela in Situationen zu beobachten, indem man einige analysierende Elemente berücksichtigte. Aus Analysegründen richteten wir das Augenmerk auf einige Punkte mit vermutlicher Schlüsselfunktion, die in einer reflektierenden Auseinandersetzung mit der Erzieherinnengruppe wieder in das Bezugssystem des Zusammenhangs eingefügt wurden.[8]

Die Stellung von Daniela im Raum zu einem bestimmten Zeitpunkt und die Beziehung zu anderen Personen und Objekten wurden auf ein Beobachtungsraster aufgezeichnet. Ebenso verfuhren wir mit den Bedeutungen, die die Räume, die Zeit und die Objekte bekamen. Dies alles zusammen sollte zu einer Möglichkeit der Reflexion und Entdeckung von bedeutsamen Ereignissen in Beziehungssituationen werden. Wir legten einen Beobachtungszeitraum von 3 Stunden fest.

Bei den Beobachtungen fiel auf, daß die Erzieherinnen sich selten Daniela zuwandten. Sie versuchten nicht, Augenkontakt zu Daniela herzustellen. Sie bewegten sich meistens um Daniela herum, oder sie standen hinter bzw. neben ihr.

Daniela anzusprechen, ohne ihr dabei ins Gesicht zu blicken, führte zu keiner klaren kommunikativen Beziehung, die Daniela zu verstehen gab, daß die Mitteilungen für sie bestimmt waren und man eine Antwort wünschte. Die nonverbale Kommunikation, die die Wortmitteilung begleitete, trug dann nicht zu deren Klärung bei, da sie nicht in den Vordergrund gestellt wurde. Da die Beziehungsaufnahme außerdem nicht fest und frontal, sondern in der Bewegung und auf Distanz um Daniela herum geschah, nahm die Möglichkeit ab, daß eine auch die affektive Dimension berücksichtigende Beziehung anwachsen und sich entwickeln könnte. Mögliche, wenn auch nur sehr kleine und versteckte Initiativen Danielas wurden wahrscheinlich hierbei vernachlässigt und übersehen, da sich »der Andere« ständig auf der Flucht befand.

c) Der Kontakt

Daniela hatte nur Kontakt zur Mutter. Den Kontakt zu den anderen wies sie zurück. Dies war für die Anbahnung und Entwicklung einer affektiven Beziehung mit den Erzieherinnen hinderlich. Die affektive Dimension des Berührens und des Kontaktes aus dem erzieherischen Handeln heraus konnte für die Entfaltung der Kräfte kaum genutzt werden. Da es keine anderen kommunikativen und beziehungsfördernden Maßnahmen gab, führte dies dazu, daß Daniela während der Kindergartenstunden fast vollkommen isoliert blieb.

»Der Andere« existiert nicht für Danielas Beziehungen. Sie erwartete vom »Anderen« keine Antworten; »der Andere« war zwar anwesend, aber so, wie es die Gegenstände um sie herum waren. Andererseits erlebte sehr wahrscheinlich nur die Mutter Daniela als andere Person, auch wenn sie behauptete : »Daniela bemerkt überhaupt nichts«, wandte sie sich Daniela doch direkt zu und fragte sie, indem sie sie häufig berührte: »Wie geht es dir, was hast du heute gemacht?« Oder sie sprach zu ihr, während sie sie auszog, und ging auf Zehenspitzen fort, damit sie es nicht hörte.

Die zwischen Daniela und der Mutter bestehende affektive Beziehung und die kommunikative Dimension, in der beide im wesentlichen über den Körperkontakt zueinander in Beziehung traten, hatte sich aus der jahrelangen mütterlichen Pflege und Sorge um Daniela ergeben.

Die Mutter war für Daniela der einzige Mensch, an dem sie den anderen erlebte, bei dem sie ihre affektive Geborgenheit und auch die Zeichen fand, um sie zu verstehen. Nur dann, wenn Daniela bei der Mutter war, erkannte sie den anderen und trat mit ihm in eine Beziehung.

Die Mutter war für Daniela jener zentrale Bezugspunkt, auf den hin sie ihre Erinnerung ausrichten und ihr Gedächtnis organisieren konnte: Sie verließen sich, sie trafen sich wieder, sie waren zusammen. Dieses Zusammensein war durch lange Gespräche aus Umarmungen, Lächeln, Liebkosungen, Berührungen und Worten gekennzeichnet.

Die Beobachtung von Danielas Beziehung zur Mutter wurde für die Organisation unserer pädagogischen Maßnahmen zu einem wichtigen Bezugspunkt. Dies war der Weg, dem wir folgen mußten, wenn wir Danielas Möglichkeiten zur Kommunikation und Beziehung weiter entfalten wollten. Gerade in diesen Situationen des affektiven und verbalen Austauschs zwischen Mutter und Kind entwickeln sich Körperkontakte, Lächeln und Weinen, Ermutigungen und Verbote, Übungen, Beispiele und Verhaltensmuster.

Es ist die Mutter, die sich um das Bett und das Zimmer kümmert. Die Umwelt besteht für das Kind aus einem Verlängern und Öffnen der Mutter über ihren Körper hinaus. Und das Kind beginnt, sich sicher in dieser Umwelt zu bewegen, bevor es die Mutter zu verlassen wagt, wie bei einer zweiten Geburt. Die Mutter hilft dem Kind die Umwelt zu erkennen - den Körper des Hauses -, damit es dort so sicher wohnen kann wie zuvor in ihrem Bauch. Die Fortschritte in der Beziehung zwischen Mutter und Kind verfestigen sich damit in einer Reihe von Verhaltensweisen, die den Körper eines jeden Partners beherrschen und frei machen. Während sich der Fötus noch direkt von der Mutter »ernährt«, von dem, was sie während der Schwangerschaft ißt, »ernährt« sich der Säugling schon von der Mutter von außen, indem er sozusagen an der Brust hängt, statt an der Nabelschnur. Aber es ist allgemein bekannt, daß das Kind, wenn es einige Monate oder Jahre alt ist, das ißt, was die Mutter auf dem Herd kocht, und dann mit anderen Personen am Tisch ißt, die alle mehr oder weniger enge Beziehungen zur Mutter haben.

Das Kind, das erst im Bauch getragen wird, wird später in den Armen, im Kinderwagen, im Bett, im Auto oder auf dem Boot getragen; es wird immer mehr von 'Dingen' getragen, die jedesmal eine etwas freiere und entferntere Beziehung zum Körper der Mutter haben.

Damit diese sich allmählich entwickelnde Trennung zwischen Mutter und Kind leichter bewältigt werden kann, ist es nötig, daß die beiden sich daran langsam gewöhnen, ohne daß die Angst entsteht, sich gegenseitig zu verlieren, zu sterben, oder der eine oder andere könnte auf einmal verschwinden.

Die Mutter gewöhnt das Kind daher allmählich daran, seine Beziehungen zu verlegen und umzustellen : von den Beziehungen, die vor allem auf dem Körper-zu-Körper-Erlebnis gründen, hin zum Gebrauch von Substituten des Körpers. An die Stelle der Hand tritt der Löffel, an die Stelle der Brust der Teller, an die Stelle des Arms, der das Kind hält, die Hand, die es führt, an die Stelle des Bauches tritt das Bett, und an die Stelle der Mutter im Bett tritt ein Halstuch, ein kleiner Bär oder ein Wollstrumpf.

d) Strategien für pädagogische Maßnahmen

Danielas Anwesenheit im Kindergarten gründete sich auf die Meinung: »Es ist nichts zu tun, sie heult ständig, undifferenziert und ohne Bedeutung«. Der Tag (anfänglich 3 Stunden lang) war von einigen Übungen geregelt, deren Ziele in einer funktionalen Rehabilitation lagen.

Die Rehabilitationsmaßnahmen der Fachkräfte (Krankengymnastin -Sprachtherapeutin) waren so organisiert, daß sie wöchentlich 2 - 3 Stunden durchgeführt wurden; einige Übungen hatten die Mitarbeiterinnen gelernt und führten sie täglich durch. Diese Maßnahmen waren streng technisch und starr auf Annahmen und Ziele biophysischen und funktionalen Charakters begründet. Man führte sie am Körper von Daniela in Form von Massagen und Beugeübungen verschiedener Glieder durch, indem man sich nur auf die Übung und auf das bewegte Glied bezog.

Daniela lehnte die Übungen ab, sie heulte während der Rehabilitationsmaßnahmen. Es spielte sich bei ihr eine Art Kampf zwischen »es machen müssen« und »es nicht zulassen wollen« ab. Man setzte die funktionale Rehabilitation weiter fort, auch wenn die Weigerung von Daniela offensichtlich war - vielleicht nach dem Motto: je bitterer die Medizin um so besser.

Man verband Danielas Ablehnung der funktionalen Rehabilitationsübungen mit einer allgemeineren Ablehnung, die sie in der körperlichen Beziehung beim Sich-Berühren-Lassen und Sich-Liebkosen-Lassen zeigte. Solche Kontakte waren nur der Mutter erlaubt.

Die Erfahrungen von Daniela ergaben einen Erlebniszusammenhang aus den häufigen und frühzeitigen Episoden mit der funktionalen Rehabilitation, bei der man sich nur mit dem Arm, der Hand, dem Hals, dem Bein oder der muskulären Entwicklung befaßte, als ob sie von Daniela getrennt wären. Danielas Ablehnung des »Anderen« konnte damit klar als ein Bezeugen der eigenen psychischen Existenz durch einen Willensakt erklärt werden.

Die Erzieherinnen betonten, daß die Übungen, die mit Daniela durchgeführt wurden, die psychologischen, affektiven und intentionalen Fähigkeiten nicht berücksichtigten. »Man kreuzte ihr die Arme, die Beine, man ließ sie springen, steigen, man gab ihr Plätzchen zu essen, man blies ihr in den Mund, man legte ihr die Atemmaske an. Aber sie selbst berücksichtigte man nicht.«

Die Atemmaske ist eine kleine Plastiktüte für das Gesicht. Man stülpt sie über Nase und Mund, so daß die Atmung innerhalb der Tüte stattfindet. Dabei erhöht sich in der Tüte die Konzentration von Kohlendioxid, und die Atmung wird durch einen Reflex tiefer. Diese Therapie benutzt die Gruppe um DOMAN und DELACATO, die über Affekte bei Patienten mit Kinderlähmung und Hirnverletzungen forscht, um den kritischen Zustand im Brustbereich zu überwinden.

Die Anwendung der Atemmaske kann - nach DOMAN - von mindestens 5/10 Sekunden bis maximal 3 Minuten pro Stunde variieren.[9]

Oftmals versteift sich die funktionale Rehabilitation auf Positionen, die sich nur auf statistische Normen beziehen. Diese werden zum einzigen Kontrollinstrument, um die psychomotorische Entwicklung des Kindes zu überprüfen, indem man Übungen so organisiert, daß die fehlenden Stufen im Entwicklungsverlauf noch einmal durchlaufen werden.

Diese Maßnahmen gehen von Tests aus, die das Kind an einem bestimmten Punkt in der normalen Entwicklungsskala einordnen. Sie orientieren sich dann an einer Serie von Übungen, die darauf zielen, die Leerstellen in den Tabellen auszufüllen. Die Entwicklung des Kindes wird in die aus statistischen Größen entstandene Richtung normiert. Einer solchen klinisch-funktionalen Orientierung zu folgen, kann schließlich dazu führen, daß die anderen Bedingungen, die zu den motorischen Mängeln beitragen, ignoriert werden. Man läuft dann Gefahr, einen einzelnen Körperteil oder den ganzen Körper zur Bewegung befähigen zu wollen, der nicht weiß, warum er sich bewegen soll, oder der nicht das Bedürfnis hat, sich zu bewegen. Der Körper ist nicht notwendigerweise ein Bewegungspotential; er ist vielmehr die wesentliche Grundlage unseres psychischen, perzeptiv-sensorischen und beziehungsvollen Lebens. Mit dem Körper sendet und nimmt der Mensch Mitteilungen auf, lernt er Emotionen kennen und erleben.

Eine solche Reduktion ist auch in dem anderen Bereich der funktionalen Re-habilitation möglich. Das Tun der Logopädin wird ohne jede bedeutsamen Ergebnisse bleiben, wenn sie sich in der Sprachtherapie nur auf das Sprechen kon-zentriert, indem sie mechanisch einzelne Worte einübt, die dann das Kind mehr oder weniger gut artikulieren kann. Sie ignoriert die Sprache als komplexe biophysische Dynamik und als Träger von Bedeutungen, Wünschen, Emotionen, Erinnerungen oder psychischen Zuständen.

Bei einem Treffen mit den Erzieherinnen, den Logopädinnen, den Krankengymnastinnen und der Mutter besprachen wir das Problem, daß Daniela eine körperliche Beziehung ablehnte und die Erzieherinnen und Altersgefährten nicht als Personen wahrzunehmen verlangte. Es fiel uns auf, daß solches Verhalten in krassem Gegensatz zum affektiven Eifer in der körperlichen Beziehung zur Mutter (Umarmungen, Berührungen, Küsse) und in der Kommunikation mit ihr (Lächeln, Änderung der Stimmlage, Blickkontaktsuche) stand.

Dies führte dazu, daß wir die Organisation der Maßnahmen noch einmal überdachten und als Notwendigkeiten festlegten,

  1. das mütterliche Verhalten als Voraussetzung für die Organisation eines Arbeitsplans anzusehen,

  2. das Beobachtungsfeld um Danielas häuslichen Lebensraum zu erweitern, der vorher noch nie in Betracht gezogen worden war. Wir wollten herausfinden, wie eine für sie affektiv bedeutsame Umwelt ihr Verhalten und ihre Handlungskompetenz beeinflussen konnte,

  3. die Übungen mit dem Einverständnis aller Betreuungspersonen neu zu organisieren und zu Tätigkeiten umzuformen, die in Daniela den Wunsch wecken sollten, etwas zu tun.

e) Zuhause

Der Punkt b) wurde der Analysebereich, die Punkte a) und c) dienten der Organisation. Zu diesem Zweck benutzte man auch zu Hause dieselben Methoden der Beobachtung und Aufzeichnungssysteme für die Analyse wie bereits zuvor im Kindergarten.

Daniela war zu Hause »aktiver«, sie bewegte sich sicher und weitaus mehr als in der Schule. Es war interessant zu beobachten, daß ihre Bewegungen und Orts-veränderungen von einer Absicht ausgingen und Ziele verfolgten.

Daniela kannte ihren Stuhl. Sie klammerte sich an einer Lehne fest und stellte sich auf, um eine Schublade zu erreichen, in der sich Spiele befanden. (Sie bevorzugte Zeitschriften, die sie nahm und nach der Rückkehr zu ihrem Stuhl durchblätterte, sie betrachtete und dabei Laute artikulierte.) Sie folgte der Mutter bei deren Hausarbeit und antwortete auf ihre Weise auf deren Aufforderungen. Daraus ging hervor, daß es eine Organisation der Räume, des Stuhls, der Schubladen und der Objekte funktional zu ihrem Dasein gab. Daniela hatte ihre eigenen Räume, von denen sie wußte, daß sie diese erreichen und absichtsvoll benutzen konnte. Diese Räume hatte sie erlebt, sie waren nicht aufgezwungen. Diese Räume waren für sie organisiert worden, und diese Organisation war ihre eigene geworden. Diese Räume erinnerten sie an einen Plan, der ihren Ortsveränderungen eine Richtung gab, sie erinnerten sie an Objekte und deren Gebrauch und vermittelten ihr Kompetenzen: Sie klammerte sich fest, um aufzustehen, sie öffnete die Schublade, sie suchte sich den Gegenstand aus, den sie wollte, sie schloß die Schublade, sie gebrauchte den Gegenstand, sie bewegte sich im Haus, um der Mutter zu folgen...

Ihr Stuhl, ihre Schublade, ihre Sachen waren ein Teil ihres Erlebens. Die Dinge hatten nicht für sich selbst eine Existenz und Funktion, sondern waren von ihr affektiv besetzt. Sie erinnerten sie an Augenblicke von sehr gewichtiger affektiver Bedeutung, sie gehörten ihr, sie berührte sie und steckte sie in den Mund. Sobald die Dinge in ihrem Gesichtsfeld erschienen, trat sie zu ihnen mit ihrem Körperschema in eine Beziehung. Sie waren eine Gelegenheit des Austauschs und der Kommunikation mit der Mutter: »Hast du dein Heftchen genommen? Gefällt es dir? Hör auf, es zu zerreißen, du machst das ganze Haus mit Papierfetzen voll.« Sie waren die Gelegenheit, um Wege zu entdecken und kognitive Strukturen zu schaffen, zu erinnern und zu organisieren.

In dem Moment, in dem das Kind in einen dialektischen motorischen Ausdruck mit dem Objekt tritt, wird es zum Handelnden. Das sehr elementare Vergnügen am Handeln wird von dem Wunsch zu handeln überformt, und es entsteht nach und nach die Intention, der Handlungsplan. Dies ist eine fundamentale Phase bei der Entstehung der Intelligenz, die von allen Autoren betont wird. Die Pädagogik hat sich ihrer bemächtigt und umgewandelt in die Formel: »vom Konkreten zum Abstrakten«. Von der Handlung blieb nur die rationale Manipulation des Objekts erhalten, die direkt auf Lernziele vorbereitet. Man glaubte, von der Handlung zum Denken zu gehen, ist aber vom Denken zur Handlung gegangen, da man die Handlung in eine vorbestimmte Planung einschloß. Man ließ das Kind suchen und wußte schon im voraus, was es finden sollte, statt daß man es suchen ließ und sich damit zufrieden gab, ihm zu helfen, das zu entdecken, was es interessierte.

Die wesentlichen Merkmale erlebnisreichen Handelns sind Spontaneität und Emotionalität. Genau diese Spontaneität wollen wir wiederfinden, indem wir das Kind lange Zeit frei mit Dingen leben lassen, vor allem mit großen Dingen, die es mit seinem ganzen Körper erleben kann und nicht nur mit der Fingerspitze.

Zu glauben, daß ein Kind seinen Plan vor der Verwirklichung gedanklich organisiert, wie es die meisten Erwachsenen tun, ist ein großer Irrtum. Sein Denken bildet sich im Handeln selbst in Form einer ständigen Dialektik. Sein Denken bemächtigt sich der Strukturen, die so mit einem großen Anteil an Zufall geschaffen werden, danach ändert es sie und organisiert sie. Unaufhörlich zerstört es, um wieder neu aufzubauen. Was uns Erwachsenen als wirres und ungeordnetes Tun erscheint, ist für das Kind selbst ein ständiges Suchen und dauerndes Kreativsein.

Auf eben diese Weise organisiert das Kind seine »Raum-Zeit«, ohne sich darüber bewußt zu werden. Genauso lernt es sprechen. Es setzt die Objekte in Beziehung zu sich, und es setzt sich in Beziehung zu den Objekten.

Die Erforschung und Entdeckung der Welt ist zunächst eine motorische Erforschung. Man muß die Dinge berühren, abtasten, verschieben, werfen und wieder aufheben, daraufklettern, sich hinein- und darunterbegeben, um die Formen, die Dimensionen, die Richtungen, die Ausrichtungen, die Oberflächen und Rauminhalte zu lernen, um die Strukturen zu entdecken.

Daniela hatte Gelegenheiten erhalten, etwas zu tun und zu handeln. Dies gab ihr die Möglichkeit, Strukturen und Kompetenzen zu schaffen und zu entdecken. An uns lag es nun, über ihre Entdeckungen nachzudenken und ihr Gelegenheit zu geben, die erworbenen Kompetenzen in andere Situationen zu übertragen, die ihr zu weiteren Fähigkeiten verhelfen. Wir mußten sie entdecken lassen, daß die räumliche Organisation (wie man die eigene Schublade oder die Tür öffnet und schließt) in struktureller Hinsicht Regeln hatte, die man wieder benutzen konnte, um andere Situationen und Kompetenzen kennenzulernen und sich ihrer zu bemächtigen. Eine solche Reifung und Kompetenzerweiterung liegt in den Entwicklungsprozessen der Kinder. Bei Daniela geschah dies nicht von selbst. Jede Entdeckung und jedes Angebot mußte in einer geänderten Situation auf einem anderen Weg wieder angeboten werden. Sie blieben sonst in einer einzigen Situation sozusagen »eingefroren«. Die affektive Dimension konnte die Grundlage für das Gelingen sein, die Kompetenzen in andere Situationen zu übertragen.

f) Eine andere Mutter für das Erkennen

Wir begannen, uns Tätigkeiten auszudenken und berücksichtigten dabei die in der Schule und in Danielas Wohnung durchgeführten Beobachtungen sowie die rehabilitativ-funktionalen Maßnahmen.

Wir wollten uns in die Verhaltensweisen zwischen Mutter und Tochter »ins Spiel bringen«, indem wir eine Art Verlängerung dieser Verhaltensweisen darstellten. Der erste in Betracht gezogene Zeitpunkt war die Ankunft in dem Kindergarten. Die Erzieherin begann an der »Zeremonie«-Beziehung, die sich jeden Morgen zwischen der Mutter und Daniela abspielte, teilzunehmen: Sie zog sie mit aus, liebkoste sie auch und half der Mutter die Windeln zu wechseln.

Die Bedeutung der Ankunft im Kindergarten sollte nicht mehr nebensächlich bleiben, sondern beträchtlich werden, denn hier wurden Weichen gestellt. Wie wir zuvor beobachtet hatten, änderte sich Danielas Verhalten von einem für die Beziehung Aufgeschlossensein zu einem Sich-Verschließen gegenüber dem »Anderen«, sobald die Mutter weggegangen war.

Das Einbeziehen der Erzieherin in die Zeremonie sollte einen Übergang des Anvertrauens von der Mutter zu einer sie ersetzenden Person hervorheben. Dies sollte so geschehen, daß sich die Substitution nicht in einer Situation vollzog, die als Verlassenwerden erlebt werden könnte, sondern als Verlängerung der affektiven Beziehung mit einer anderen Person.

Wir wollten erreichen, daß Daniela die Abwesenheit der Mutter zu akzeptieren begann. Dies jedoch nicht so, daß sie die Abwesenheit als Unterbrechung der Möglichkeiten zur Beziehungsaufnahme und Affektivität erlebte, die erst bei deren Rückkehr wieder aufgenommen werden würden. Daniela sollte vielmehr jene Symbiose mit der Mutter in Form einer körperlich-affektiven Beziehung mit einer anderen Person erleben, indem diese ihr in analogen mütterlichen Verhaltensweisen begegnete.

Die Mutter war zuvor stets heimlich weggegangen: »Ich will nicht, daß sie merkt, wenn ich weggehe, denn sie ist dann enttäuscht.« Dies hatte etwas Magisches an sich und war wie ein Verschwinden. Plötzlich sah Daniela ihre Mutter nicht mehr. Wohin war sie gegangen? Daniela wußte nicht, ob sie zur Tür hinausgegangen war, ob sie sich unter dem Tisch oder anderswo befand. Die Mutter war einfach nicht mehr da. Daniela kannte weder den Grund noch die Art und Weise des Verschwindens. Die Mutter würde später wieder erscheinen, um sie nach Hause mitzunehmen. In der Zwischenzeit zog sich Daniela in sich selbst zurück und schien die anderen und das, was um sie geschah, zurückzuweisen und zu ignorieren. Das »Erscheinen« und das nachfolgende »Verschwinden« von Objekten wurde für das Kind eine häufige Erfahrung. So nahm beispielsweise gegen 10 Uhr die Erzieherin an, daß Daniela Durst hätte. Sie gab Daniela ein Glas Wasser, ohne ihr zu zeigen, welchen Weg und welche Bewegungen sie benutzt oder welche Räume sie durchquert hatte, um das Glas mit Wasser zu füllen. Genauso war es auch beim Frühstück, Mittagessen oder An-ziehen. Abgesehen davon, daß auf diese Weise viele Erfahrungen verhindert wurden, konnte dies bei Daniela zu willkürlichen Verbindungen zwischen den Ereignissen führen. Wir nahmen an, daß Daniela das »Verschwinden« der Mutter (mit der sie sichtbar über Verhaltensweisen wie freudiges Lächeln und Umarmungen eine Beziehung einging) mit dem Erscheinen der Erzieherin (die sie zurückwies, indem sie mit ihr keine Beziehung einging) in Verbindung bringen konnte. Sehr wahrscheinlich lehnte sie die Erzieherin deshalb ab, weil die Mutter verschwand. Diese vermuteten Zusammenhänge gaben der Erzieherin eine negative Rolle und Bedeutung. Die Erzieherin wurde wahrscheinlich, da die Mutter »verschwand«, zu dem symbolischen Abgrund, der die Mutter verschlang.

Die Teilnahme der Erzieherin an der Beziehung zwischen Daniela und der Mutter war ein Ritual, das eine Analogie zu deren Verhaltensweisen so weit hervorheben sollte, daß sie die abwesende Mutter symbolisch vergegenwärtigen konnte. Außerdem sollte die Mutter sich nicht mehr heimlich entfernen, sondern der Trennungsweg sollte Daniela vollständig und klar gezeigt werden. Zur großen Zufriedenheit der Erzieherin begann Daniela die Liebkosungen zu akzeptieren, ließ sich streicheln und küssen und lächelte sie an. Die Trennungszeremonie hatte ihren Zweck erreicht. Die Erzieherin wollte nun von Danielas Zugänglichkeit »profitieren«, indem sie in den sich entwickelnden affektiven Austausch Aktivitäten einfügte. Beim Ausziehen und beim Wechseln der Windeln nahm die Mutter und nachfolgend die Erzieherin die Hände des Kindes zwischen ihre, streichelte sie, ließ sie mit ihren Händen klatschen und machte sie auf das Geräusch aufmerksam, berührte nacheinander ihre Finger und verdeutlichte ihr dabei: ». . . Danielas Hände . . . PAM!, horch, was für ein Geräusch . . ., wir schließen die Hand, wir öffnen die Hand, ein Finger - noch ein Finger!...«

Die Hände waren das Mittel, mit denen Beziehungen zu Daniela aufgenommen wurden. Die Hände der Erzieherin hatten von Daniela die Erlaubnis, sie zu streicheln. Zur Belohnung bekam die Erzieherin ein Lächeln. Damit begann der wechselseitige Austausch. Das Vergnügen am Streicheln sollte zu einem Vergnügen am Berühren, am Manipulieren und Kennenlernen werden.

»Alle Mütter saugen oder beißen im Spiel in die Händchen ihrer Säuglinge, alle Mütter lassen sich das Gesicht und noch davor die Brust von ihren Kindern berühren. Der Säugling versucht das Gesicht der Mutter zu erreichen, er betupft ihre Wangen, den Mund und die Augen. Umgekehrt bemächtigt sich die Mutter seiner Händchen, indem sie diese festhält und sie zu einem lebenden Spielzeug macht.

Die Erregung des Spanns und der Finger und die passiven Bewegungen der Hände der kleinen Kinder sind, wie wir noch sehen werden, darüber hinaus sehr wichtig. Aber rufen wir erst nochmals in Erinnerung, wie die Mütter und Großmütter so spielten, daß sie mit dem Zeigefinger den Spann der Hände ihres Kindes erregten und dabei Lieder sangen, die aus einem einfachen »Lalala« oder aus präziseren und genaueren Rhythmen bestehen konnten und die dann schon zum beweglichen Bewußtsein eines jeden Fingers übergingen, die also dazu tendierten - wie man in der Reedukation sagt -, die »Finger zu lösen«. Die Hände der Mutter und des Kindes wurden so wahre Akteure. Und gerade auf dieser regressiven Ebene muß die Erziehung vieler Behinderter wieder aufgenommen werden, noch bevor man über Übungsformen nachdenken kann, die darauf folgen sollen. Erinnern wir uns an die Anzahl von Kinderreimen, die man mit den Händen und mit den Fingern spielt. Die Mutter streichelt den Spann der Hand des Kindes und sagt: »Über diesen Platz kam ein Hase«, und dann nimmt sie den Mittelfinger: »Dieser hat ihn gefangen«, und den Ringfinger: »Dieser hat ihn aufgegessen« (er wird zum Mund der Mutter oder des Kindes geführt), und der kleine Finger (mit einer Pause, die darauf abzielt, den kleinen Finger zu bewegen, und mit dem sich das ganz kleine Kind identifizieren soll): »Für mich blieb nicht einmal ein Stückchen.« Noch andere, die zu den einfachsten und wesentlichsten Kinderreimspielen gehören, lassen jeden Finger ein Familienmitglied darstellen, also den Vater, die Mutter, den größeren Bruder, den kleineren Bruder. In ähnlicher Weise sagt die Mutter, die mit den beiden kleinen Händen des Kindes wie mit einer Marionette spielt, zu jedem: »Das schöne Händchen von ... Papa« und »das schöne Händchen von ... Mama.«

Man kann Kehrreime so erfinden, daß genau jeder Finger und jede Hand sich mit der Erzieherin, den anderen Kindern in der Gruppe oder den Eltern identifiziert. Die hier erlebte wesentliche Erfahrung des Kindes ist die folgende: Es stellt sich auf der Ebene der Hand dar (stellt seine Person von neuem sich selbst vor) und läßt die Hand an seiner Stelle handeln. Dabei stellt es seine Person nicht isoliert dar, sondern im Zusammenhang mit den anderen, die es liebt und von denen es abhängig ist. Im Handtheater realisiert es Identifikationen, die sein Ich konstituieren, genau an diesem entfernten Teil der Peripherie seines zentralen Körpers, den es annähern und entfernen kann, wie es will. Mit den Händen verwirklicht das Kind die Phantasiespiele, die ihm zugleich die Pluralität der Familienangehörigen enthüllen. Bevor die Hand ein Greifinstrument ist, ist sie das Spielobjekt des Kindes selbst. Mit Ausnahme der Mutterfigur ist die Hand das erste Objekt der äußeren Welt, in der das Kind beginnt sich wiederzuerkennen.« (TOSQUELLES 1979, S. 185 - 192)

Die Erzieherin nahm die Hände von Daniela, ließ sich das Gesicht streicheln, dann führte sie ihre Hände zum Gesicht von Daniela: »Mein Gesicht, Danielas Gesicht.«

Die Hände des Kindes durchliefen vom Gesicht aus in einer Art gelenkter Er-forschung ihren ganzen Körper, indem die Erzieherin dort anhielt, wo die Muskelspannung zu verstehen gab, daß Daniela verweilen wollte. Danach ließ die Erzieherin Daniela ihre Kleider entdecken, und indem sie ihr die Hände führte, konnte sie auch das Hemdchen auf- und zuknöpfen, sich ausziehen, die Schuhe und die Strümpfe aus- und wieder anziehen. Nachdem die Angst, zu berühren und berührt zu werden, überwunden war, hatte sie an den Bewegungen und Tätigkeiten ihr Vergnügen. Von der Erforschung des eigenen Körpers aus wollte die Erzieherin dazu übergehen, von all diesen Aktivitäten ein Bewußtsein dafür zu vermitteln: Daniela begann mit ihren eigenen Händen und Füßen zu spielen. Ihr Körper war zu einem Bereich für Tätigkeiten mit dem »Anderen« geworden. Über Lächeln und Sich-Berühren-Lassen ließ sich nun ein Verlangen nach Kontakt und Aktivsein verspüren. Damit waren Ablehnung und Sich-Abkapseln überwunden.

g) Mein Körper, der Raum und die Objekte

Daniela hatte sich der Beziehung »geöffnet«, und - was noch interessanter war -sie verlangte danach. Dadurch wurde es möglich, ihre Entwicklung durch das Angebot neuer Tätigkeiten zu fördern. Danielas Beteiligung an der Aktivität, »sich an- und auszuziehen« (beim Aufknöpfen, Ausziehen und Zuknöpfen der Kleidung führte man ihr die Hände), ließ das Heranreifen eines gewissen Synchronisierens zwischen den verschiedenen Bewegungen erkennen. Auf die Handführung der Erzieherin reagierte Daniela mit einer immer angemesseneren Muskelspannung: »Nun habe ich weniger Mühe, sie umzuziehen. Sie ist nicht mehr wie ein toter Stein.«

Auf der Basis des Bedürfnisses nach Beziehung und Körperkontakt entwickelte sich zwischen der Erzieherin und Daniela ein Dialog. Daniela verstand die Aufforderungen der Erzieherin. So begannen wir über Schemata zu reflektieren, die im Austausch von Botschaften enthalten waren. Weiterhin dachten wir darüber nach, wie diese Schemata in neuen Zusammenhängen verwendet werden könnten und was wir aus ihnen möglicherweise entwickeln könnten.

Die wesentlichen Schemata waren auf folgenden Anforderungen aufgebaut: »Daniela, hebe die Arme nach oben, stelle die Füße nach unten, komm zu mir, umarme mich.« Die Schemata »oben«, »unten«, und komm »zu« mir kamen in der Beziehung immer wieder vor. Diese Schemata bezogen sich auf Körperpositionen im Raum. Damit aus ihnen Kenntnisse würden, die Danielas Positionen in Form von »unten«, »oben« und »zu« nicht nur in Beziehung zu ihrer Erzieherin beschrieben, sondern auch in Bezug zu anderen Personen und Objekten, mußten wir versuchen, sie auf andere Situationen zu übertragen. Diese Kenntnisse könnten die Voraussetzung sein, um Personen und Orte erkennen zu können und um sich im Raum zu orientieren. Wir begannen, weitere Aktivitäten zur Verdeutlichung dieser Schemata zu organisieren. Die Erzieherin erfand ein Spiel. Sie setzte sich auf einen Stuhl und hatte Daniela rittlings vor sich auf dem Schoß. Indem die Erzieherin Daniela umarmte, brachte sie die Schemata wieder ins Spiel. Die Erzieherin kippte Daniela nach hinten in Richtung Fußboden und sagte: »Jetzt geht Daniela nach unten«, sie hielt sie fest: »Ganz nah, ganz nah, ganz nah«; sie beugte sich nach rechts: »...nach unten...nach oben«, und sie beugte sie nach links: »...nach oben...nach unten.«

Die zu Beginn kleinen Bewegungen wurden, nachdem sich Daniela allmählich entspannte, immer größer. Im Laufe der Zeit konnte die Erzieherin sogar feststellen, daß Daniela von sich aus in Übereinstimmung mit den jeweiligen Worten entsprechende Bewegungen machte. Der Dialog zwischen der Erzieherin und Daniela wurde zunehmend leichter. Wir vermittelten Daniela durch dieses Vorgehen Erfahrungen von schon erworbenen Schemata in einer Situation, die sich von der des An- und Ausziehens unterschied.

Danach boten wir die gleichen Schemata erneut in anderen Situationen an: »Wir gehen unter dem Tisch spielen, auf dem Tisch.« Auch wenn Daniela anfangs den fast unmerklichen Körperkontakt brauchte, um sich im Raum in den Positionen von »unten«, »oben« und »zu« zurechtzufinden, benutzte sie diese Schemata doch in verschiedenen Situationen.

Daniela benutzte ihre Kenntnisse nur, wenn die Erzieherin sich neben ihr befand und sie berührte. Wurden die Worte nicht von einem körperlichen Kontakt begleitet, der Daniela -wenn auch nur flüchtig - die Richtung zeigte, bewegte sie sich nicht. Es genügte diese sehr leichte Berührung, um ihrer Bewegung die richtige Richtung zu geben. Daniela wartete auf dieses Zeichen, das über den Kontakt die Beziehung in eine affektive Atmosphäre stellte. Sehr wahrscheinlich erinnerte Daniela dieser Kontakt an die Liebkosungen, die der Beginn der Beziehung gewesen waren.

Das Kennenlernen der Umwelt wollten wir in Analogie zu den vorangegangenen Aktivitäten entwickeln. Daniela hatte ihren Körper entdeckt, indem die Erzieherin ihr die Hand führte. Jetzt erinnerten wir uns daran, daß für Daniela viele Ereignisse während des Tagesverlaufs unvorhersehbare Erscheinungen waren. Man hatte es ihr nicht ermöglicht, die Herkunftswege der Gegenstände kennenzulernen. Wir griffen den Gedanken auf, daß man ihr zu einer bestimmten Stunde zu trinken gab, ohne ihr den Weg zu zeigen, der zum Füllen des Glases mit Wasser nötig war. Wir entwarfen daher einen Plan für eine geeignete Strecke, um das Trinkglas zu nehmen, es mit Wasser zu füllen und das Wasser dann zu trinken. Der Weg sollte Anhaltspunkte haben, die Daniela ein Wiedererkennen ermöglichten. Es handelte sich also um eine Art von Zeichen, die sie an die »Straße« erinnern und auf sie hinweisen sollten. Dazu benutzte die Erzieherin Gegenstände, die Daniela gefielen, und stellte sie entlang des Weges auf. Außerdem brauchte man zur Orientierung einen Ausgangspunkt, d.h. einen Ort, auf den sich Daniela beziehen sollte, um »losgehen«, »ans Ziel kommen« und »zu-rückkehren« zu können.

Die Erzieherin legte die Dinge, die Daniela gefielen, in eine Schachtel.

Die Idee, Danielas Dinge in eine Schachtel (persönlicher Raum) zu legen, entstand aus den Beobachtungen, die bei Daniela daheim gemacht worden waren. Daniela besaß dort eine eigene Schublade mit ihren Dingen. Diese Dinge konnte sie fast selbständig ergreifen und wieder an ihren Platz zurücklegen. Dabei zeigte sie eine gewisse Fertigkeit und Fähigkeit in der räumlichen Orientierung.

Die Erzieherin klebte auf die Schachtel das Foto, auf dem Daniela sich in einem Spiegel betrachtete. Daneben wurde ein Spiegel gelegt, so daß Daniela ihr Bild im Spiegel sehen und es auf dem Foto wiederentdecken konnte.

Der Weg »Wassertrinken gehen« begann bei Danielas Schachtel. Sie betrachtete sich im Spiegel, erkannte ihr Foto, öffnete die Schachtel. Die Erzieherin sagte, indem sie Daniela die Hand führte : »Nimm das Glas, damit wir Wassertrinken gehen können«. Danach half sie Daniela, sich aufzurichten und lenkte sie zu dem Flur, der zum Waschraum führte.

Daniela bewegte sich normalerweise kriechend fort und richtete sich nur auf, wenn sie Hilfsmittel dafür fand. Sie hatte eine Mißbildung an den Hüften, die einen chirurgischen Eingriff erforderlich machte. Solange es ihr jedoch nicht gelang, sich aufrecht zu bewegen, wurde dies für nutzlos gehalten. Aus diesem Grund suchten wir nach Aktivitäten, bei denen sie sich mit Hilfe der Erzieherin aufrichten mußte. (Wir legten die Gegenstände auf einen Tisch, so daß sie mit ihnen nur spielen konnte, wenn sie, auf ihre Ellenbogen gestützt, aufrecht stand. Die Schachtel wurde hochgestellt, damit sie sich aufrichten mußte, um ihre Spielsachen zu nehmen).

Auf dem Weg fand Daniela auf einem Tisch den Schnuller und auf einem Stuhl das Heftchen. Diese Zeichen kennzeichneten den Weg. Die Erzieherin sagte zu ihr: »Schau Daniela, dein Schnuller, wir nehmen ihn mit und waschen ihn.« Wenn sie bei dem Heftchen ankamen, hielten sie an, und die Erzieherin sagte zu ihr: »Schau, da ist dein Heftchen. Wenn wir zurückkommen, nehmen wir es und betrachten es zusammen.«

Wenn sie die Tür des Waschraums erreicht hatten, nahm die Erzieherin Danielas Hand und legte sie auf die Türklinke. Sie hielt die Hand von Daniela zwischen der ihren und der Türklinke und übte Druck aus, um die Türe zu öffnen. Sie traten ein, und Daniela schaltete das Licht ein. Um sich aufrecht zu halten, stützte sich Daniela zuerst mit dem Rumpf, dann mit den Ellenbogen auf das Waschbecken. Schließlich nahm die Erzieherin ihre Hand, legte sie auf den Wasserhahn des Waschbeckens und ließ sie das kalte Wasser aufdrehen. Daniela fühlte das kalte Wasser und danach das warme Wasser.

Die Erzieherin wusch Daniela die Hände, ihren Schnuller und füllte das Glas mit Wasser. Daniela trank das Wasser. Danach kehrten sie zurück und legten das Glas in die Schachtel zurück. Für den Vormittag waren zwei Wege vorgesehen. Der eben beschriebene diente zum Wasserholen und der andere, um die Mama anzurufen. Er basierte auf dem gleichen System. Auf dem Weg stellte die Erzieherin andere Zeichen auf. Sie gingen die Mama anrufen, um ihr mitzuteilen, daß sie Daniela abholen sollte. Das Kind hörte die Stimme der Mutter und erkannte sie. Die Mutter sagte ihr dann, daß sie in Kürze kommen würde, um sie zu holen.

Die Idee, den Erkundungsgängen von Daniela ein weiteres Ziel in Form des Telefonierengehens zu geben, entstand aus Beobachtungen: Eines Tages rief die Mutter an und sagte, daß sie später kommen würde. Die Erzieherin gab Daniela den Hörer. Sie erkannte die Stimme der Mutter und zeigte große Freude.

Ein Rehabilitationsspezialist hatte vorgeschlagen, regelmäßige Übungen zum Hörtraining durchzuführen. Diese Übungen bestanden daraus, daß Daniela die Stimme der Erzieherin über ein Stethoskop erst mit dem einen Ohr und dann mit dem anderen hören sollte. Daniela hatte aber kein Interesse an diesen Übungen. Dieses Hörtraining sollte nun mit der Stimme der Mutter über das Telefon angebahnt werden.

Außerdem bekam die Zeit dadurch, daß die Mutter erst telefonierte und dann Daniela abholen kam, eine Bedeutung. Aus dem Warten auf ein Ereignis wurde darüber hinaus das Vorhersehen eines Ereignisses.

Aus Danielas Alltag im Kindergarten war nun eine Aufeinanderfolge von Aktivitäten und Verabredungen geworden, die die Zeit einteilten. Alles verlief vor oder nach etwas anderem. Dies geschah im Rahmen von komplex gestalteten Aktivitäten, die nach einem methodischen Plan miteinander verbunden waren.

Ordnung in Danielas Erfahrungen zu bringen, hieß für uns: die Zeit, den Raum und die Objekte so zu organisieren, daß sie für Daniela zu Beziehungspunkten wurden. Dies mußte so geschehen, daß die Zeit, der Raum und die Objekte in Funktion zu einem Ziel erlebt werden konnten. Dieses Ziel wurde ständig durch die Vielfalt der einzelnen Beziehungselemente in Erinnerung gebracht. In der Komplexität der Wege sammelte Daniela Objekte, die sie in materieller Form an das Ziel und zugleich - um es zu erreichen - an die aufeinanderfolgenden Etappen erinnerten. Ihr Gedächtnis fand in der Gestaltung des Wegs eine Möglichkeit zum Vergleich und zur Überprüfung.

Nachdem die Wege mit Daniela ca. 2 Monate lang geordnet und täglich zurückgelegt worden waren, gelang es ihr, sich an die Abfolgen und Räume zu erinnern, die sie hinter sich bringen mußte, um das Ziel zu erreichen. Dies zeigte, wie die Organisation der Wege zur Organisation des Gedächtnisses geworden waren.

Allmählich war die Hand der Erzieherin nicht mehr nötig, die Danielas Hand die beabsichtigten Bewegungen »suggerierte«. Dem Kind genügte das Wort, um sich an das zu erinnern, was es machen sollte. Das Symbol rief ihr die entsprechende Geste ins Gedächtnis zurück. Daniela begann zu wissen, wie die Tür zu öffnen ist, wie das Licht einzuschalten ist und wie der Wasserhahn aufzudrehen ist.

h) Die Objekte

Daniela zeigte keinerlei Interesse, mit Objekten zu hantieren, ausgenommen solche, die ihr gefielen. Bei letzteren beschränkte sie sich darauf, sie in die Hand zu nehmen, sie zu halten und manchmal als Geräuschquelle zu benutzen, indem sie diese auf den Tisch oder den Fußboden warf. Nur wenn sie das Mickymausheftchen nahm, beschäftigte sie sich ein bißchen länger mit einem Objekt - sie blätterte es durch. Wir versuchten herauszubekommen, welche Motive das Kind dazu brachten, das Heftchen durchzublättern. Wir hofften, in dieser Aktivität eine Fähigkeit von Daniela zu entdecken, nämlich Formen und Zeichnungen erkennen zu können. Die Versuche aber, die darauf gerichtet waren, ob Daniela sich mit dem Heftchen beschäftigte, um Figuren oder Farben wiederzuerkennen, erwiesen sich als negativ.

Die einzige Erklärung ihres Interesses für das Heftchen fanden wir in dessen Aufbau - man konnte es blättern. Im Vergleich zu den anderen Objekten regte das Heftchen Daniela aufgrund dieser Organisation zu Bewegungen an. Wahrscheinlich genügte es, daß das Kind das Heftchen in die Hand nahm, damit das Flattern der Seiten es an die Bewegung des Blätterns erinnerte. Wir wollten, daß es Daniela gelang, ihre Hände zu gebrauchen, aber wir wollten ihr keine sich selbst genügenden Übungen anbieten. Wir hatten ja im Bereich der funktionalen Rehabilitation gesehen, daß Daniela solche Übungen ablehnte und sie als Gewalt erlebte. Sie waren dann auch ein Grund für Danielas Ablehnung der Beziehung gewesen.

Aus den Beobachtungen ging hervor, daß Daniela die einfachen Dinge zwar gefielen, sich aber nicht von ihnen angeregt fühlte und sie fast sofort wieder liegen ließ. Wir bastelten ein Heftchen, indem wir Papier- und Kartonstücke verschiedener Stärke, Staniolpapier, farbige Streifen und geknittertes Papier mit einer Heftmaschine zusammenhefteten. Im Innern befand sich einmal die Zigarettenschachtel und ein andermal der Schnuller (die Dinge, die ihr gefielen).

Wir gaben Daniela das Heft in die Hand und machten sie darauf aufmerksam, was sich im Innern befand. Die Konstruktion war eine Art komplexer Hülle. Sie enthielt einen von Danielas Lieblingsgegenständen. Der Sinn war, diesen Gegenstand zu erreichen. Die Erzieherin zeigte Daniela den bunten Gegenstand und sagte zu ihr: »Komm, wir wollen die Zigarettenschachtel holen!« Indem sie ihr die Hand führte, fing sie an, die Papierstücke und die Streifenquasten zu lösen und mit dem Kind das komplexe Gesamt auseinanderzunehmen. Sie übten das Auseinandernehmen. Mit der Zeit gelangte sie schließlich allein an die Zigarettenschachtel. Das komplexe Ding wurde wieder angeboten. Manchmal begann Daniela mit der Hilfe der Erzieherin und manchmal auch alleine ihre Hände entsprechend der verschiedenen Widerstände, der verschiedenen Formen und verschiedenen Dichte des Materials zu bewegen. Ihre Hände mußten verschiedene Papierstückchen verschiedener Dicke und verschiedener Zusammensetzung zerreißen. Somit mußte sie den Muskeltonus der Hand den verschiedenen Widerständen des Materials entsprechend regulieren, sie mußte Quasten loslösen, die aus Streifen gemacht waren. Manchmal war der Streifen elastisch und schien sich loszulösen, aber kaum losgelassen, kehrte er zu dem Objekt zurück.

Abgesehen von der manuellen Tätigkeit, war das Loslösen eine Möglichkeit, die Wahrnehmungsfähigkeit der eigenen Finger zu entdecken. Das Rauhe, das Glatte, das Gekräuselte, das Weiche, das Harte und das Dehnbare waren alles Tastempfindungen, die wir schon bei anderen Gelegenheiten versucht hatten, Daniela erfahren zu lassen. Aber es gelang nicht, sie wirklich einzubeziehen und aus der Isolation herauszuführen, in die sie sich verschloß. Das Auseinanderlösen bot solche Erfahrungen nicht in isolierten Situationen an, sondern in Form eines Weges, der Daniela in das Tun einbezog. In diesem Tun fand das Kind die Möglichkeit, Kenntnisse zu erwerben. Genauso wie in den Handlungsabläufen des Wasser-Holen-Gehens und des Telefonieren-Gehens Möglichkeiten zur Unterscheidung verschiedener Umgebungen gelegen hatten.

i) Ein nur teilweise gelungener Versuch?

Das erzieherische Handeln hatte zufriedenstellende Ergebnisse. Daniela war dabei, aus ihrer Isolation herauszutreten. Ihre unverhofften Lernfortschritte waren für die Gruppe der Mitarbeiterinnen eine Art Belohnung.

Eine Erzieherin arbeitete schwerpunktmäßig mit Daniela. Aber die Arbeitshypothesen, die Projekte und deren Überprüfung waren das Ergebnis der kollektiven Arbeitsgruppe. Vor allem die Mutter hatte an dem Erziehungsprojekt ihren Anteil.

Daniela ernährte sich von homogenisierten und verquirlten Speisen, das sie - wie die Mutter sagte - nicht kauen konnte. Die erzielten zufriedenstellenden Ergebnisse im Kindergarten führten dazu, daß die Erzieherinnen versuchen wollten, Daniela zu »entwöhnen«. Sie gaben ihr Plätzchen. Daniela saugte daran und spuckte sie wieder aus, kaute sie jedoch nicht. Außerdem zeigte sie auf verschiedene Geschmacksarten keine Reaktion. Die Erzieherinnen probierten, ob sie ihr eine Prise Salz, eine Prise Pfeffer oder einen Löffel Kaffee geben konnten. Sie zeigte weder Abscheu noch Gefallen. »Was auch immer wir ihr an nicht fester Speise zum Munde führten, sie spuckte es aus.«

In den letzten Monaten ihres Kindergartenbesuchs versuchten wir, ihr Nudeln mit Tomatensoße zu geben, ohne sie klein zu schneiden. Und zum großen Erstaunen der Erzieherinnen aß Daniela diese Speise, ohne sie zurückzuweisen, wenn sie auch nicht perfekt kaute. So war es auch mit dem Fleisch (das man in Stücke schnitt) und mit dem Obst. Daniela begann zu essen, und zuletzt wählte sie sich auch Geschmacksrichtungen: »Sie mag Fleisch und lehnt Fisch ab.« Es hatte keinen einzigen Arbeitsplan und keine geplanten erzieherischen Maßnahmen mit dem Ziel gegeben, ihr das Essen beizubringen. Und dennoch hatte es diese Überraschung gegeben. Die Ursachen, die diese Veränderung hervorgerufen hatten, waren sehr wahrscheinlich in den anderen Bereichen der Intervention zu suchen. Danielas Fähigkeit im Erkennen, im Unterscheiden und im Sich-Erinnern waren wirkliche Fähigkeiten geworden, mit deren Hilfe sie verschiedene Geschmacksrichtungen unterscheiden und das Angebot leichter akzeptieren konnte. Es ist schwierig, aber nicht so wichtig, den eigentlichen Grund herauszufinden. Zu betonen ist jedoch, daß dieses Ereignis weitere Kenntnisse und Erfahrungen ermöglichte. Bei erzieherischen Maßnahmen mit schwer behinderten Kindern ist häufig zu beobachten, daß zufriedenstellende Ergebnisse im Bereich der Motorik von Fortschritten im Bereich der Sprache begleitet sind, oder Fortschritte im sozialen Bereich zu Fortschritten in der Motorik führen.

Die zunächst angestrebte Beziehung zum »Anderen« und zu den anderen Kindern wurde nicht realisiert, denn Daniela zog sich in solchen Situationen noch mehr in sich selbst zurück. Vielleicht hatte sie Angst und hielt deshalb an dem Verhalten des Sich-Nach-Hinten-Streckens fest, das dann ihre noch immer minimalen Bewegungsfähigkeiten total lähmte.

Auch wenn es zunächst den Anschein hatte, daß die Eingliederung von Daniela nicht verwirklicht werden könnte, hatte sich dennoch ergeben, daß nun Erzieherinnen mit dem Kind in Kommunikation treten konnten. Der Weg, auf dem wir die bisherigen Ziele erreicht hatten, konnte als pädagogischer Reflexionsraum genutzt werden, um auf die vorangegangenen Maßnahmen, die ja zu zufriedenstellenden Ergebnissen geführt hatten, weitere aufzubauen.

k) Einige vertiefende Reflexionen

Oftmals kann die Eingliederung dann zur Begrenzung des Interventionsfeldes führen, wenn man sich unbedingt an formale Aspekte oder an eine allgemeine Definition von sozialem Lernen klammert. Wir betonen, daß gerade bei Daniela dann die Gefahr bestand, bei einer rein äußerlichen Eingliederung stehen zu bleiben, wenn man schon in ihrem bloßen räumlichen Zusammensein mit den anderen Kindern eine Lösung der Probleme sah. Der Beschluß, behinderte Kinder in die Schule und in den Kindergarten einzugliedern, darf nicht als formaler Beschluß gesehen werden, der für sich eine Art »automatische« und »natürliche« Lösung der Probleme beinhaltet und dann oft in einem langen und geduldigen Warten realisiert wird. Dagegen muß er zu einer Integration auf der Basis von Analyse, Reflexion und Planung führen, indem man sich auf ein wissenschaftlich organisiertes pädagogisches Handeln bezieht. Ein Erziehungsprojekt begründet die Gültigkeit eines solchen Beschlusses, wenn es auf Annahmen gestützt ist, die in der konkreten und alltäglichen Erfahrung die Analyse und Reflexion ermöglichen. Wenn wir von einer pädagogischen Intervention sprechen, so heißt dies nicht, daß wir auf spontane und natürliche Entwicklungsvorgänge warten. Es wird vielmehr darunter die Organisation einer pädagogischen Intervention verstanden, die in drei grundlegenden Dimensionen begründet ist, die in einer untrennbaren dynamischen Beziehung zueinander stehen.

»Es gibt eine theoretische Dimension. Hier werden allgemeine Abhandlungen relevant, wie z.B. solche über die Natur des Menschen, über die wesentlichen Merkmale der erzieherischen Erfahrung oder über Werte, die als zu realisierende Teil- oder Endziele konzipiert sind. Sodann gibt es eine wissenschaftliche Dimension, die als Öffnung zu den anderen Humanwissenschaften verstanden wird und die für die Kenntnis der jeweiligen konkreten Realität, in der man arbeitet, notwendig ist (auf individueller Ebene: Merkmale, Bedingungen und Möglichkeiten des einzelnen Kindes; auf sozialer und soziokultureller Ebene: Merkmale, Bedingungen und Erfordernisse einer bestimmten Epoche, einer Gesellschaft, einer Institution). Schließlich gibt es eine technische Dimension, auf der aus einer genauen Analyse und Gegenüberstellung von Ergebnissen aus den zwei vorgenannten Dimensionen besondere Mittel und Erziehungsmethoden (Methodologie, Pädagogik, Didaktik) ausgewählt werden. Die Anwendung dieser drei Dimensionen ist also die Bedingung für die Wissenschaftlichkeit der Pädagogik selbst. Aber sie umfaßt auch innerhalb ihres eigenen Spektrums eine erneute Aufwertung des künstlerischen Aspekts im Erziehungsakt. In der Tat ist die Kombination jener Dimensionen oder Instanzen mit einer originalen Erfindungsgabe und einer Fähigkeit zu freier Initiative verbunden - was ja eben gerade das künstlerische Tun kennzeichnet -, indem sie die Verwirklichung konkreter und nicht dogmatischer, sondern immer wieder neu überdachter und erneuerter Erziehungsmaßnahmen zum Ziel hat. Jemand hat behauptet - meiner Meinung nach richtig -, daß die Pädagogik auf die gleiche Weise eine Wissenschaft ist, wie z.B. die Medizin oder die Ingenieurwissenschaften: Tatsächlich aber verwirklicht sie, während sie den Beitrag anderer Disziplinen in Anspruch nimmt und oft nicht originale, sondern aus anderen Wissenschaften entlehnte Methoden benutzt, etwas Einzigartiges und von den anderen Verschiedenes, das absolut nicht auf die bloße Summe der verschiedenen Beiträge reduzierbar ist. Sie verwirklicht etwas, das mehr ist als die Summe der einzelnen Aspekte. Dies entsteht hauptsächlich dadurch, daß ihr Hauptinteresse auf die menschliche Dimension von »Zukunft« gerichtet ist (im Gegensatz zu den vorwiegend an der Vergangenheit interessierten Humanwissenschaften naturalistisch-erkennenden Typs), wobei das letztere jedoch nicht als von der gegenwärtigen und zufälligen Realität losgelöst verstanden wird, sondern mit dieser fest verbunden und abgestimmt ist. Aus diesem Grund ist es notwendig, neben einer Wissenschaftlichkeit der Pädagogik (in deren Perspektive die Tendenz herrscht, eine Art von Formalisierung ihrer Aussagen zu betreiben) ihre Autonomie zu betonen, denn diese entspringt aus der Originalität, mit der das komplexe Material - in dem sie gründet - verfeinert, neu überdacht und koordiniert wird«

(Vgl. BERTOLINI 1980, S. 150).

l) Weitere sozial-erzieherische Bemühungen

Wir wollten nun Daniela dazu bringen, mit der Gruppe der Kinder in eine Beziehung und in Interaktion zu treten. Wir bildeten kleine Gruppen, die mit Daniela in den Waschraum zum Spielen gingen. Die Erzieherin regte Spiele an, die sich auf Einfüllen und Ausleeren sowie auf Erfahrungen des Schwimmens bezogen. In solchen Situationen suchte die Erzieherin nach Möglichkeiten, die Hände von Daniela so zu führen, daß sie z.B. im Wasser die Hände der anderen berührte, den anderen die Korkpfropfen und Gummibälle reichte oder das Wasser aus ihrem Glas in die Behälter ihrer Gefährten umschüttete...Trotz der Versuche der Erzieherin bezog sich Daniela nur auf sie. Wir hatten zwar erreicht, daß jene Verhaltensweisen des Ablehnens verschwunden waren, die Daniela in Anwesenheit der anderen Kinder gezeigt hatte - dies war jedoch noch nicht die Erweiterung der sozialen Beziehung zu den anderen Kindern. In Anbetracht dessen, daß der Kindergarten für die Sommerpause geschlossen wird, hatte es nur wenige Versuche gegeben, Daniela in Beziehung zu den anderen treten zu lassen. Wir hatten jedoch erreicht, daß sie bei den Kindern blieb. Diese Erfolge gingen mit der Zeit nicht verloren, denn - wie wir sehen werden - in der ersten Klasse der Grundschule hatte sie keine Angst vor ihren neuen Altersgefährten.



[7] Die Fortbildungsgruppe ist näher erläutert auf den Seiten 26f.

[8] In der italienischen Originalausgabe ist an dieser Stelle das Beobachtungssystem genau beschrieben. Das Vorgehen orientierte sich an den Vorschlägen von E.T. HALL: The silent language. New York 1959.

[9] Vgl. DOMAN, G.: Was können Sie für Ihr hirnverletztes Kind tun? Freiburg 1980.

3. Die Geschichte von Daniela und Ines

a) In der Grundschule

Aufgrund der schweren Behinderung wurde Daniela für »nicht beschulbar« gehalten. Da man sie aber einerseits nicht für unbegrenzte Zeit im Kindergarten behalten konnte und andererseits auch nicht in einem Heim für schwerbehinderte Erwachsene unterbringen wollte, machten wir uns auf die Suche nach weiteren Möglichkeiten der entwicklungsfördernden Maßnahmen. Bei Zusammenkünften mit den Erzieherinnen und den Fachleuten der Rehabilitation, dem Neuropsychiater und den Vertretern der Schule fanden wir eine Lösung, die uns angesichts der gegebenen schweren Behinderung als die geeignetste erschien. Diese Lösung ermöglichte uns Experimente und Hypothesen für weiteres Handeln. In der Grundschule wurde es möglich, mit Ines, einem anderen schwer behinderten Kind, eine Klasse zu bilden.

Ines und Daniela waren 9 Jahre alt. Ines hatte - abgesehen von der Kopfkontrolle - über ihre Motorik keine Kontrolle. Sie konnte ihren Kopf mühsam und langsam nach rechts und links drehen. Sie sprach nicht und schien auch nichts zu verstehen. Sie hatte auch noch keine Darmkontrolle.

Der Unterricht der »offenen Schule« dauerte von 8.30 bis 16.00 Uhr. Es gab eine Lehrerin pro Klasse. Daniela und Ines bildeten die Klasse la. Zusammen mit den 20 Kindern der Klasse 1b sollte sich eine Arbeitsform des Experimentierens entwickeln.

Die Arbeitsform des Experimentierens wurde durch das persönliche Engagement der beiden Lehrerinnen möglich. Sie stellten sich dem Stadtviertel für das bereits in der Vorschule begonnene Projekt zur Verfügung. Dieses Projekt war aus den wiederkehrenden Fortbildungskursen des Schulamtes der Stadt Bologna und als Veranstaltung des Instituts für Erziehungswissenschaften der Universität hervorgegangen. Für das Reflektieren der an-stehenden Probleme wurden regelmäßige Zusammenkünfte angesetzt. Sie sollten in der kleineren Gruppe (mit den 2 Lehrerinnen) in der Universität und in der erweiterten Gruppe (Neuropsychiater, Vertreter der Schulkommission, Rehabilitationsspezialisten) im Haus der Schulverwaltung abgehalten werden.

Unabhängig von der institutionellen Organisation, durch die jeder Lehrerin die Verantwortlichkeit für die Klassen getrennt zugewiesen wurde, betrachteten wir die Klassen la und 1 b als ein gemeinsames Experimentierfeld. Hier sollten im Hinblick auf die Integration der zwei als schwer behindert diagnostizierten Kinder pädagogische und didaktische Möglichkeiten zur Überprüfung von Handlungsstrategien geschaffen werden.

Die beiden Lehrerinnen hatten für die Arbeit einen Rahmen bestimmt, der über die rigide bürokratische Organisationsform hinausging. Sie stellten die geschlossene Klasse und ihre auf die »eigenen Kinder« begrenzte Verantwortlichkeit in Frage. Es fand ein Übergang von der isolierten Unterrichtsform zur Kooperation statt - als wesentliches Moment für die didaktische Unterrichts-planung und Erziehungskontrolle.

Das Ziel »Integration« sollte nicht einfach nur aus der einfachen Einnahme einer Position bestehen, sondern vielmehr aus der Suche nach Theorien, die auf vor-ausgegangene Erfahrungen sowie Analysen und Beobachtung neuer Anhaltspunkte gegründet sein sollte. Die Räumlichkeiten, die Stundenaufteilungen, die Lehrpersonen und die -ziele waren nicht die gleichen wie im Kindergarten. So gingen wir daran, der zur Verfügung stehenden anderen Struktur und den neuen Lehrzielen entsprechend, alles noch einmal genau zu analysieren und neue Angebote zu machen. In der Grundschule gab es Probleme, die im Kindergarten nicht vorhanden waren.

Bei der Integration der beiden schwerbehinderten Kinder in die Grundschule mußte mit möglichen Vorurteilen der anderen Eltern gerechnet werden. Diese konnten die Anwesenheit der beiden Kinder als Hindernis beim Bewältigen des Lernpensums in quantitativer und qualitativer Hinsicht empfinden.

Die Inhalte durften nicht hinter den traditionellen schulischen Lehrplänen zu-rückbleiben. Auch wenn wir mit einigen Regelungen oder bestimmten Unterrichtsinhalten nicht einverstanden waren, weil sie Bereiche und Formen des Lernens streng festsetzten (bekanntlich ist das Einhalten des Lehrplans, den Kindern bis Weihnachten Schreiben beizubringen, mit einer Berufsehre des Lehrers verbunden), mußten wir sie dennoch berücksichtigen.

Wir wollten bei der Unterrichtsmethode und -planung ansetzen. Letztere sollte von der Beobachtung der individuellen Lernvoraussetzungen und den Bedürfnissen aller Kinder ausgehen.

Die Integration mußte nicht schon vom ersten Tag an gelingen. Vielmehr sollte sie das Ergebnis von Beobachtungen und Analysen sein. Eine erste Möglichkeit zur Integration entstand aus der Analyse der Räume. Das Klassenzimmer von Daniela und Ines hatte keine Bänke. Es gab einen Teppich, einen Tisch, ein kleines Schränkchen und einige Stühle. Der Raum ermöglichte es, sich frei zu bewegen. So wurde beschlossen, daß die Klassengruppe B in den Pausen in die Klasse A zu Daniela und Ines gehen durfte, da dort verschiedene Aktivitäten möglich waren wie Laufen, Gruppenspiele machen, sich auf den Boden setzen. Außerdem konnten wir die Beziehung, die zwischen der Klassengruppe und den beiden Kindern entstehen würde, in einer Situation beobachten, in der es nicht darum ging, eine Aufgabe zu erfüllen. In dieser Zeit freier Aktivitäten versuchten die Kinder, Daniela und Ines in ihr Spiel einzubeziehen, auch wenn diese eine passive Rolle zu haben schienen, wie z.B. beim Friseurspielen.

Daniela und Ines standen sozusagen im Spiel. Sie ließen sich kämmen und wiegen. Sie antworteten auf sprachliche und gestische Aufforderungen sowie auf einfache Mitteilungen, die die Kinder vorwiegend durch Körperkontakt an sie richteten: »Komm her, Daniela.« (Sie nahmen sie an der Hand und führten sie zu dem gewünschten Platz.) .. »Setz dich hin.« (Indem sie Daniela bei der Hand nahmen und zum Stuhl führten.)...»Beuge dich hinunter...Halte den Kopf hoch...Nicht so.« (Auf diese Weise leiteten sie den Kopf zur gewünschten Seite.)...»So ist es gut...Bewege dich nicht...Bleib so, gut, Daniela.«

Die Beziehung lief über Zeichen und Mitteilungen, über Körperkontakte und aus Situationen des Sich-im-Einklang-Fühlens. Umarmungen und Liebkosungen waren die Syntax, über die das Gespräch verlief. Die beiden Kinder wurden vorwiegend in das Mutterspielen einbezogen.

Die Kommunikation zwischen Mutter und Kind ist schon vom ersten Lebensjahr an sehr komplex und bezieht sich auf eine Vielzahl von Zeichen und kommunikativen Austausch-formen. Sie regen den Austausch von Mitteilungen in Form gegenseitiger und fortgesetzter Stimulation an.

Das affektive Erleben der beiden Kinder erwies sich als Kompetenz, die aus der Erfahrung mit der mütterlichen Beziehung hervorgegangen war und die in einem neuen Zusammen-hang und mit anderen Personen wieder eingebracht werden konnte.

Der Austausch zwischen Mutter und Kind, der sich vorwiegend in einer affektiven Sphäre abspielt, erzeugt eine Vielzahl von Bedeutungen, die mit einer Syntax vergleichbar sind. Die Kompetenz, die Daniela und Ines beim Wiederholen der affektiven Verhaltensweisen in der mütterlichen Beziehung erworben hatten, erlaubte ihnen nun in einem Bereich, in dem solche Verhaltensweisen wieder angeboten wurden, in ein Beziehungssystem einzutreten.

In der Beziehung zwischen Mutter und Kind organisieren sich die Bedeutungen in Form einer komplexen Struktur durch Gesten, Verhaltensweisen und Körperstellungen, durch Worte und Sprachmelodien.

In diesem Kommunikationssystem kommen bekräftigende Kontakte, Blicke, Umarmungen, Streicheln, Eindrücke des Wohlbefindens ins Spiel. Diese Syntax ermöglicht dem Kind, die Passivität zu verlassen und sich die verbale Sprache anzueignen.

b) Der Raum des Spielens und der Raum des Arbeitens

Wir unterschieden, wann die Klassengruppe in ihrem eigenen Raum bleiben sollte und wann sie in das Klassenzimmer von Daniela und Ines gehen sollte. Bei einem Arbeitsprojekt entwickelten wir Integrationsmöglichkeiten unter didaktischen Fragestellungen. Wir legten Raum und Zeit in bezug auf Spielen und Arbeiten fest. Da die Kinder im Raum des Spielens sehr aktiv waren, wollten wir diesen Spielraum mit Aktivitäten ausfüllen, durch die schulisches Lernen im Hinblick auf die Ziele im ersten Schuljahr in einer anderen Art und Weise erfolgen sollte.

Der für das Arbeiten bestimmte Raum sollte dazu dienen, die Erfahrungen zu reflektieren, Arbeitsprojekte zu organisieren und zu überprüfen, ob Inhalte und Techniken (im Denken, Lesen und Schreiben, in Mathematik und Mengenlehre) aufgenommen wurden.

Es entstand also die Idee, die beiden Klassenräume hinsichtlich der sich dort abspielenden Aktivitäten zu unterscheiden. 'Auf die Türen der beiden Klassenzimmer wurde je ein Plakat mit einem Satz, einem Symbol oder einem Zeichen angebracht.

Die Kinder der Klasse sollten nach einem kurzen und sinnvollen Satz und nach einem Symbol suchen, die an den Türen der Klassenzimmer befestigt werden könnten. Wir organisierten dies so, daß jedes Kind einen Satz sagen konnte, der dann zusammen mit den anderen gesammelt und auf ein Plakat geschrieben wurde. Daraus suchten wir dann gemeinsam den sinnvollsten Satz aus.

Diese Aktivität erforderte von jedem Kind die Fähigkeit zur Synthese, da die beiden unterschiedlichen Formen des In-der-Schule-Seins mit einem kurzen Satz und einem Symbol dargestellt werden sollten. Dies war ein motivierender Zugang zum Schreibenlernen. Die Kinder konnten den Zweck unmittelbar einsehen. Da außerdem jedes Kind das Symbol entweder auf das Plakat schreiben oder, wenn es noch nicht schreiben konnte, diktieren bzw. malen durfte, konnte jedes Kind nach seinen individuellen Fähigkeiten im Projekt mitarbeiten.

Es waren viele Kinder in die erste Klasse der Grundschule eingeschult worden, die bereits lesen und schreiben konnten. Dies brachte unterschiedliche Ausgangsvoraussetzungen mit sich, die überbrückt werden mußten. Dabei erwies sich die gemeinsame Arbeit am Plakat als sinnvolle Lösung. Auch die Kinder, die weder schreiben noch lesen konnten, wurden in die Aktivitäten miteinbezogen. Beim Diktieren sahen sie zu, wie die anderen schrieben; gemeinsam wurden die Sätze erlesen, um einen auszuwählen. Gemeinsam interpretierten die Kinder das gemalte Symbol. Die Arbeit in der Gruppe ermöglichte die Auswahl des folgenden Satzes eines Kindes, das noch nicht schreiben konnte. Das Kind diktierte: »Hier vergnüge ich mich mit meinen Freunden.« Dieser Satz sollte den Klassenraum von Daniela und Ines kennzeichnen. Und für das andere Klassenzimmer wurde der Satz gewählt: »Hier arbeite ich.«

Am meisten gefiel den Kindern der Fisch als Symbol. Nach ihrem Willen sollte er auf beiden Plakaten erscheinen, jedoch mit dem Unterschied, daß er bei der Klasse, in der die Arbeit spielerisch verlief, lächelte, bei der anderen dagegen traurig war. Die Kinder übertrugen die Modelle auf Zeichenpapierbögen. Nun entstand das Problem der angemessenen Vergrößerung. Die Kinder fanden sofort eine Lösung: Sie zählten, wieviele Zeichenblätter nötig waren, um die Breite der Tür zu bedecken, maßen in der gleichen Weise die Höhe aus und klebten alle Blätter zusammen. Darauf zeichneten sie noch einmal den Fisch und schrieben die Sätze darunter. Diese Lösung des Problems wurde auf das Plakat geschrieben. Reflexionen über Größenverhältnisse, das Messen, die Länge, die Flächen, über die Summen der Längen und die Summen der Flächen folgten.

Der traurige und lächelnde Gesichtsausdruck des Fisches führte darüber hinaus dazu, weitere Überlegungen zur Kommunikation anzustellen: Abgesehen vom Schreiben, Lesen und Sprechen kommunizieren wir u.a. mit Gesten, Stimmgebung, Lächeln oder Schweigen. Jedes Kind zeichnete auf das Plakat eine nonverbale kommunikative Verhaltensweise und schrieb bzw. diktierte unter die Zeichnung die entsprechende verbale Mitteilung.

c) Die Zeit des Spielens und die Zeit der Arbeit

Wir können nicht ständig arbeiten oder ständig spielen. Wie können wir wissen, wann und wie lange wir spielen bzw. wann und wie lange wir arbeiten?

Die Lehrerinnen brachten die Aktivitäten der Klasse mit der Frage der Zeit in Beziehung. Zuerst antworteten die Kinder, daß man ein bißchen hier und dann wieder ein bißchen dort bleiben könnte. Oder ein Kind sagte, daß man sich nicht irren würde, wenn man immer im Spielzimmer bliebe. Andere machten die Ermüdung zum Maßstab. Die Lehrerinnen führten das Gespräch, bis man zum Gebrauch der Uhr kam, indem sie immer wieder die Zeit und ihren Gebrauch aufgriffen. Die Kenntnisse über den Gebrauch der Uhr gingen aus folgendem hervor: »Wir sehen, ob einer zu spät kommt ... ; wir treffen eine Verabredung wir sehen fern wir machen ein Geschenk ... ; wir sehen, wer schneller ist.« Die Kinder sammelten alles immer nach dem gleichen System. Sie schrieben die Sätze entweder direkt auf ein Plakat oder sie wurden diktiert. Hierzu begannen die Kinder, die Wanduhr zu beobachten. Sie sollten sie zeichnen. Die Uhr war rund. In einer improvisierten Mengenlehre-Stunde machten sich die Kinder auf die Suche nach runden Dingen, um sie als Schablone zu benutzen.

Die Kinder stellten fest, daß die Zahlen des Zifferblattes denselben Abstand voneinander hatten. Es war schwierig, den gleichmäßigen Abstand der Ziffern auf die Zeichnung zu übertragen. Mit dem bloßen Auge gelang es offenbar nicht. Nach verschiedenen Versuchen, die Zahlen in gleichem Abstand zu zeichnen, kamen die Kinder zu der Lösung, daß es genügte, die Zeichnung des Kreises zweimal zu falten. Die Faltlinien des Blattes entsprachen dann oben der Zahl Zwölf, unten der Zahl Sechs, rechts der Zahl Drei und links der Zahl Neun.

Die Entdeckung, daß es genügte, das Blatt zu falten, um die Lage der Zahlen zu finden, wurde weiterentwickelt: Die Kinder wiederholten den Vorgang, entwickelten Veränderungen und wendeten sie an. Sie zeichneten auf ein Blatt mit Hilfe eines runden Gegenstandes einen Kreis, schnitten ihn aus, falteten ihn in vier Teile, zeichneten mit dem gleichen Gegenstand einen neuen Kreis auf ein Blatt, legten den ausgeschnittenen und gefalteten Kreis darüber und markierten durch Punkte, wohin die Zahlen 12, 3, 6 und 9 kommen sollten. Sie schnitten ein Kreisviertel aus, das sie von dem gefalteten Kreis kopierten. Sie falteten es in drei Teile und heraus kam die Form eines kleinen Käses. Danach legten sie das Kreisviertel auf das Viertel des gezeichneten Kreises, wie Sie es zuvor getan hatten. Nun zeichneten sie in Korrespondenz zu den Faltlinien die entsprechenden Positionen der 1, der 2, der 4 usw. ein.

Die Lehrerinnen waren über die fortgesetzten Entdeckungen und über die vielseitigen Lösungsversuche überrascht. In den Besprechungen des Fortbildungskurses stellten die Lehrerinnen dar, daß sie eingegriffen hätten, wenn wir nicht zuvor übereingekommen wären, zwar das Beobachten anzuregen, aber nicht mit Lösungen einzuschreiten. Der ganze Vorgang war sehr lang und komplex. Die Lehrerinnen selbst hätten einen viel einfacheren und direkteren Weg lehren können.

Das Warten kann oft eine Quelle der Angst sein. Wenn die Problemlösungsversuche der Kinder nicht dem Weg folgen, den der Lehrer - als einer, der die Lösung schon kennt - im Kopf hat, kann der Eindruck entstehen, daß die Kinder auf dem Irrweg sind und die Korrektur des Irrtums das Eingreifen unbedingt nötig macht. Es ist aber möglich, daß ein Kind einen anderen Weg geht, der seiner individuellen Lernweise, etwas kennenzulernen und etwas zu entdecken, entspricht. Und auf diesem Pfad trifft es auf andere Entdeckungen, die die für einfach und korrekt gehaltene Straße des Lehrers im Grunde nicht ermöglicht.

Ich möchte auf eine Erfahrung hinweisen, die AUCOUTURIER in den 60er Jahren in einer französischen Grundschule gemacht hat: Er verwies darauf, daß bei Problemlösungsversuchen und Entdeckungen der Kinder, die vom Lehrer nicht vorgesehen sind, die Gefahr besteht, daß die Entfaltung der eigenen und authentischen Fähigkeiten der Kinder gestört wird.

AUCOUTURIER verdeutlichte die im folgenden dargestellten Zusammenhänge anhand eines kleinen Filmes, den er während einer Veranstaltung des Fortbildungskurses den Lehrerinnen erläuterte.

Es ist sehr wichtig, den Kindern Raum zu geben, um subjektive Beziehungen mit der Objektwelt aufzubauen. Gewöhnlich läßt der Lehrer den Kindern nicht die Freiheit, eigene Beziehungen zu leben, denn, da er ständig Angst hat, »Zeit zu verlieren«, will er die Kinder sehr schnell in eine vergegenständlichte und rationale Beziehung zu den Objekten bringen. Dagegen wären aber die affektiven und subjektiven Beziehungen des Kindes zu den Objekten wesentlich für den späteren Aufbau logischer Beziehungen.

Der Lehrer konnte z.B. über das Begriffspaar Gleichgewicht und Ungleichgewicht später logisch-mathematische Beziehungen einführen. Der erste Schritt war das Spiel mit dem eigenen Gleichgewicht: Die Kinder entdeckten, daß es ein Gleichgewicht des eigenen Körpers nicht gibt. Wenn sie sich beispielsweise auf ein Bein stellten, wurde nicht das Gleichgewicht, sondern gerade das Ungleichgewicht betont. Dies ist eben die Entdeckung eines Kindes, und davon muß man ausgehen.

Wie könnte man das Ungleichgewicht des Körpers auf die Objekte ausdehnen? Jedes Kind machte Vorschläge, wie man das eigene Ungleichgewicht verstärken oder stabilisieren konnte. Es ging dabei darum, das Gleichgewicht zu suchen. Die Kinder spielten mit dem Gleichgewicht und dem Ungleichgewicht (auf einem Bein stehen, auf Kugeln stehen usw.).

Dann führte man in das Spiel Hocker ein: Der Spielleiter schob seine Absicht, mit den Kindern aus den Hockern eine Gleichgewichtskonstruktion zu bauen, zunächst beiseite, solange sie noch damit spielten. Es würde ihnen mehr helfen, wenn sie den alltäglichen Gebrauch dieser Objekte verändern. Danach erst wurde die Konstruktion aus aufeinander gestellten Hockern zu einer Erforschung des Gleichgewichts und Ungleichgewichts und zu einer Erforschung genauer Handlungen.

jeder wartete, bis er an der Reihe war. Es ging darum, etwas Gemeinsames zu bauen. Gerade bei diesem gemeinsamen Bauen (gemeinsam das Gleichgewicht und Ungleichgewicht wiederfinden und die Handgriffe ausführen, um es herzustellen) bildete sich die Gruppe. Die Arbeit eines jeden wurde von den anderen akzeptiert und in der Suche nach der eigenen Rolle fortgesetzt. Das Gleichgewicht entstand aus der symmetrischen Anordnung der Objekte. Um diese Objekte symmetrisch anzuordnen, mußten die Kinder sich zu ihnen symmetrisch in Beziehung setzen. Wenn man die Symmetrie durchbrach, fand man das Ungleichgewicht.

im Verlauf des Spiels suchte man nach Situationen des Gleichgewichts und Ungleichgewichts. Man bemerkte, daß das Gleichgewicht auf der Ordnung und das Ungleichgewicht auf der Unordnung beruhte und daß das Begriffspaar Gleichgewicht - Ungleichgewicht für die Organisation der Objekte untereinander wesentlich war.

Der Lehrer hatte den Weg der Kinder zur Entdeckung der Symmetrieachse miterlebt, und als man den Kindern einen Zeichenkarton gab, damit sie eine Collage aus Stoffstückchen verschiedener Farben und Formen anfertigen sollten, bemerkte man, wie die Kinder vom Rand des Zeichenkartons ausgingen und schließlich nach und nach beim Kleben dessen Symmetrieachse entdeckten.

»Wir Erwachsenen« - stellt AUCOUTURIER fest - »wären von der Symmetrieachse des Zeichenkartons ausgegangen und hätten in Funktion dazu die Collage entwickelt, da wir wissen, daß es eine Symmetrie gibt. Das Kind dagegen muß den Weg dahin erst zurücklegen. Es muß tun, um zu entdecken. Dieser Weg ist der Weg des Entdeckens.«

Der Erzieher geht davon aus, daß ein Kind die Symmetrieachse kennt. Diese Überzeugung kommt daher, daß er es aufgrund seiner eigenen Kenntnisse glaubt. Das Erleben des Erwachsenen ist ein Erleben, das die Entdeckung der Zusammenhänge bereits enthält. Ein Begriff, dem keine Entdeckung zugrunde legt, wird weder erlebt, noch wird er zum wirklichen Besitz.

Es ist Sache des Erziehers, Erfahrungen zu ermöglichen, in denen der Begriff von der Symmetrie enthalten ist. Er muß das Kind diesen Begriff erleben lassen und - wenn es reifer geworden ist - muß er ihn festigen. Dazu braucht man Zeit. »Aber in der Schule ist man nicht imstande zu warten«, hebt AUCOUTURIER hervor. »Man will sich auf den Lernstoff stürzen, während das Entdecken und Erleben die entscheidenderen Phasen sind. Das Implizite ist wichtiger als das Explizite.«

Das Handeln des Erziehers muß zur Eroberung des Symbols führen, dessen Verlängerung das Lesen und Schreiben sein kann. Wenn der Erzieher kreativ ist und sein Handeln auf Beziehungen baut, wird es ihm gelingen, eine Vielzahl von Situationen und Beziehungen zurückzugewinnen, die nach und nach zu einer Gelegenheit für Mathematik, Lesen und Schreiben werden können.

»Die Inhalte haben erst dann eine Existenz, wenn sie von einer 'echten' Beziehung zwischen Erwachsenem und Kind ausgehen. In dieser Beziehung stellt der Erwachsene seine Macht zur Seite und überläßt dem Kind die Macht. Er läßt ihm dadurch die Freiheit, die Sprache zu erobern. Er nimmt sich zurück und läßt etwas geschehen, damit auch die Kinder sich in den Mittelpunkt von Situationen stellen können.« Aus dieser »echten« Beziehung gehen beinahe alle Entdeckungssituationen hervor. Die »echten« Situationen, die auch als Situationen der Redlichkeit des Erziehers bezeichnet werden, entstehen aus dessen beständigem Wunsch zu lernen. Sie ist das genaue Gegenteil der Wiederholung. Aus dem Bedürfnis des Erziehers, etwas zu lernen, entsteht der gleiche Wunsch beim Kind.

Wenn es eine solche Beziehung zwischen dem Wunsch des Erwachsenen und dem Wunsch des Kindes gibt und wenn diese aufeinandertreffen, dann wird der Wunsch des einen zum Wunsch des anderen: der Wunsch, etwas zu lehren, wird der Wunsch, etwas zu lernen.

Während die Kinder die Uhr beobachteten, stellten sie fest, daß sich ihre Zeiger immer in die gleiche Richtung drehen und daß der große Zeiger schneller war als der kleine. Die Lehrerinnen machten darauf aufmerksam, daß jede Umdrehung des schnelleren großen Zeigers der Bewegung des kleinen Zeigers von einer Zahl zur anderen entsprach (eine Stunde durchlief). Die Lehrerinnen organisierten gemeinsam mit den Kindern den Tag in Funktion zur Zeit. Jede Bewegung des kleinen Zeigers von einer Zahl zur anderen entsprach der Dauer einer Aktivitätseinheit. Sie stellten ein chronologisches Verzeichnis der Aktivitäten auf und ordneten jeder eine Farbe zu, mit der sie den Raumsektor des Kreises in Bezug zur Zeit ausmalten.

Die Kinder wählten die Farben aus, indem affektive Motive aufgegriffen wurden: So wurde beispielsweise die Farbe Himmelblau für die Pausenstunde gewählt, weil sie mit der Vorstellung »schön« verbunden war. Die Wahl der Farbe Rosa für die Zeitabschnitte des Spielens in der Klasse war darauf zurückzuführen, daß an jenem Tag, an dem das Projekt durchgeführt wurde, die Lehrerin von Daniela und Ines einen rosa Pullover trug. Die Wahl sämtlicher Farben mit den ihnen zugeordneten Bedeutungen sah so aus:

grün

Ankunft in der Schule

rot

Stunde für Aufgaben

himmelblau

Pause

rosa

Spiel in der Klasse von Daniela und Ines

lila

Arbeitsphase

himmelblau

Pause

rosa

Spiel in der Klasse von Daniela und Ines

rot

Aufgaben am Nachmittag

grün

Schultasche einräumen und nach Hause gehen

d) Wir organisieren die Objekte

Nach der Organisation der Zeit gingen wir dazu über, den Raum und die Dinge zu organisieren. Das Spiel war zweifellos die von den Kindern bevorzugte Zeit. Ein großer Teil der Spielzeit ging aber oft mit dem Suchen der Dinge verloren, mit denen sich die Kinder vergnügen wollten. Nur selten wurden gleich die Farben, der Klebstoff, die Bleistifte, die Scheren oder der Leim gefunden. Es war alles in großer Unordnung. Die Lehrerinnen und die Kinder machten gemeinsam von den Dingen, die vorhanden waren, eine Liste und überlegten, wie sie die Dinge anordnen müßten, damit sie leicht wiederzufinden sind und nicht verlorengehen.

In dem kleinen Zimmer gab es einen Schrank. Seine Türen wurden abgenommen, damit die Materialien leichter und einfacher zugänglicher waren. Die Kinder machten uns darauf aufmerksam, daß die Farbe des Schranks sehr trist sei,» sie eignete sich nicht für ein Spielzimmer. So beschlossen wir, den Schrank mit farbigem Papier zu verkleiden. Es wurden die Farben ausgewählt, Maß genommen, Papier ausgeschnitten. Dies war eine weitere Aktivität, die - nachdem sie für die Kindergruppe zum Projekt und zur Reflexion geworden war - nun zur Entdeckung von Analogien im Hinblick auf die anderen Aktivitäten und auf geometrische Formen führte. Da außerdem die Projekte und Entdeckungen auf ein Plakat übertragen wurden, liefen Lesen und Schreiben weiter.

Das Aufstellen einer Inventarliste gab Gelegenheit, über Quantitäten, Zahlen, Unterschiede, Größen und Gemeinsamkeiten nachzudenken. »Wie viele Bleistifte und wie viele Federhalter haben wir? Wir haben mehr Federhalter als Bleistifte. Wie viele Blätter haben wir? Wir legen alle Stifte mit gleicher Größe und gleicher Farbe zusammen. Genauso machen wir es mit den größeren und kleineren, rauheren und feineren Blättern.«

Wir bastelten Schachteln aus Karton, versahen sie mit einem Symbol und dem Namen des Inhalts. Die Schachteln sollten die Dinge nach den vereinbarten Einteilungskriterien enthalten - wir stellten die Regel auf, sie wieder auf den entsprechenden Platz zurückzulegen, nachdem sie benutzt wurden.

e) Wir beobachten Ines

Über Ines' bisherige Lebensgeschichte besaßen wir wenig Anhaltspunkte. Sie hatten auch kaum einen Wert. Was die rehabilitativen Maßnahmen betrifft, gab es keine systematischen Angaben. Bisher konnten keine bedeutsamen Veränderungen der Entwicklung erzielt werden.

Ines war das Objekt von Übungen gewesen, die unter Einbezug der Verwandten und Freunde oft den ganzen Tag gedauert hatten. Das Ausbleiben von Erfolgen hatte bei den Eltern zu Mißtrauen geführt. Sie glaubten an keine Besserung mehr. Ines war in den motorischen Rehabilitationsmaßnahmen wie ein Objekt behandelt worden. So hatte man weder Ines' affektive noch kognitive Anwesenheit berücksichtigt.

Da Ines sich fast überhaupt nicht bewegen konnte, bestand die Gefahr, daß die Lehrerin ihre möglichen aufforderungsbezogenen intentionalen Antworten nicht wahrnahm. Die Unbeweglichkeit ließ Ines gleichgültig erscheinen. Sie war immer gleich; es schien so, als ob sie an den Vorgängen nicht teilnahm.

Da Ines den Lehrerinnen nicht mit einer Bewegung antwortete, konnte es bei ihnen zur Desorientierung kommen. Die schwere motorische Behinderung des Kindes konnte seine - wenn auch noch so geringen - kognitiven und intentionalen Fähigkeiten verborgen bleiben lassen. Die Fragen und Antworten von Ines konnten nur sehr minimal sein. Wenn sie nicht gesehen und interpretiert wurden, konnten sie von ihr als ein Nichtbestätigen ihrer mühsamen Versuche zur Kommunikation erlebt werden und dann schließlich zum Verzicht auf den Wunsch nach Beziehung führen. Da andererseits die Lehrerin, infolge der Langsamkeit von Ines und ihrer nicht leicht zu entschlüsselnden Zeichen, auf ihr Tun keine sichtbaren Antworten bekam, konnte sie hinsichtlich ihrer eigenen pädagogischen Fähigkeiten mißtrauisch werden und dann jegliches Interesse verlieren. Die Unbeweglichkeit von Ines war als Nichtkommunizieren interpretiert worden. Bei der Analyse von Verhaltensweisen sind auch in der Körperbewegung selbst Mitteilungen zu finden. Ines konnte uns nicht einmal im nonverbalen Bereich wahrnehmbare Mitteilungen geben, da sie ihre Bewegungen nicht beherrschte.

In der ersten Zeit versuchten wir durch sorgfältige Beobachtungen in ihren auch noch so geringen Bewegungen kommunikative Gesten zu entdecken. Dabei ergab sich, daß ihr Lächeln und Traurig sein die einzigen Kommunikationszeichen waren. Diese auch noch so minimalen Signale der Kommunikation standen nicht für sich, sondern bezogen sich auf einen Zusammenhang, auf soziale Situationen. Wir vergrößerten das Beobachtungsfeld und zogen Ereignisse mit ein, an denen Ines durch Mimik, durch Lächeln und Traurig sein teilnehmen konnte.

»Werden solche (psychopathologischen) Verhaltensformen in künstlicher Isolierung gesehen, so steht zwangsläufig die Frage nach der NATUR dieser Zustände und damit im weiteren Sinn nach dem WESEN der menschlichen Seele im Vordergrund. Wenn aber die Grenzen dieser Untersuchung weit genug gesteckt werden, um die Wirkungen eines solchen Verhaltens auf andere, die Reaktionen dieser anderen und den Kontext, in dem all dies stattfindet, zu berücksichtigen, so verschiebt sich der Blickpunkt von der künstlich isolierten Monade auf die BEZIEHUNG zwischen den Einzelelementen größerer Systeme« (WATZILAWICK u.a. 1969, S. 22).

Ines war in soziale Situationen und Ereignisse, in Verhaltensweisen und Bewegungen der anderen mit einbezogen. Dies waren für sie bedeutsame Beziehungen. Das Beobachten war deshalb auf die Entdeckung ihr bekannter Situationen ausgerichtet, um sie von da aus mit neuen bekanntzumachen. Dabei versuchten wir die Bedeutungen zu verstehen, die uns ihre durchscheinende affektive Anteilnahme vermuten ließ.

Nachdem das Lächeln und das Traurig sein nicht mehr als isolierter Zustand interpretiert wurden, zeigte sich, daß Ines - im Gegensatz zur Unbeweglichkeit ihres Körpers - in der Beziehung aktiver war.

Die Situationen wurden zum Gegenstand der Analyse. Nachdem wir allmählich entdeckten, daß Ines die Bedeutungen der Situation berücksichtigte, gaben wir ihr dies zu verstehen. Ines sollte wissen, daß wir ihre wenn auch noch so minimalen Verhaltensweisen bemerkten und folglich ihre Absichten berücksichtigten: »Schau zur Tür, Ines, du weißt, daß gleich 'Dada' dir die Milch bringt, die du magst. Freust du dich? Wir schauen zusammen, sie wird bald kommen. - Gefällt dir dieses Lied? Willst du es noch einmal hören?« Ines lächelte. »Gut, dann hören wir es noch einmal.«

Nachdem nun die Kommunikation mit Ines etwas entwickelt und aufgebaut war, begannen wir, die Dinge, Personen, Düfte und Geschmacksrichtungen herauszufinden, die ihr vermutlich gefielen, was wir durch ihr Lächeln immer wieder bestätigt fanden.

Die Situationen standen in einem komplexen Beziehungssystem und wurden nicht isoliert, auch dann nicht, als wir damit begannen, sie zu unterscheiden und ihnen im Verlauf eines Tages eine zeitliche Abfolge zu geben. Wir wollten, daß Ines die verschiedenen zeitlichen Phasen unterscheiden sollte: das Frühstück, das Spiel mit den Kindern, ihre eigenen Tätigkeiten, das Mittagessen, ein Schokoladenplätzchen erhalten. Diese eher Moment-Situationen sollten für Ines einen klaren Anfang und ein klares Ende haben und bereits dadurch voneinander unterscheidbar sein.

Während eines jeden Moments, nehmen wir z.B. den Moment »Ihr ein Schokoladenplätzchen schenken«, boten wir eine Reihe von Ereignissen an, die ihn von anderen unterscheidbar machten. So gaben wir ihr zu verstehen, daß es eine Situation war, die nach einer vorhergehenden und vor einer nachfolgenden kam. »Nachdem wir nun das Essen beendet haben, gehen wir und nehmen ein Schokoladenplätzchen aus der Schublade.« (Ines lächelte und versuchte den Kopf zur Schublade zu drehen.) »Gib mir dein Händchen, damit wir zusammen die Schublade öffnen können.« (Die Lehrerin nahm die Hand des Kindes, die schon darauf wartete, genommen zu werden; nachdem sie Ines liebkost hatte, führte sie das Kind zur Schublade, die sie beide nun gemeinsam öffneten.) »Schau, Ines, wie viele Schokoladenplätzchen!« (Und Ines lächelte und zeigte den Wunsch, eines zu haben.) »Wir nehmen eines davon.« (Mit der Hand der Lehrerin geführt, nahmen sie eines.) »Wir essen es, öffne den Mund.« (Ines öffnete ihn, noch bevor wir es von ihr verlangt hatten.) »Schmeckt es dir? Nun schließen wir die Schublade. Wir wollen jetzt zum Spiegel. Dort spielen wir.«

Das Lächeln und das Traurig sein gewannen durch die Interpretation der Lehrerin allmählich an Bedeutung. Diese gefühlsmäßigen Äußerungen waren mehr als ein Zeichen von Freude und Trauer. Sie waren darüber hinaus eine Möglichkeit, an einem komplexen Gespräch teilzunehmen. Ines konnte mit dem Gesichtsausdruck eine Vielzahl von Bedeutungen symbolisieren. Er bezog sich auf ein Erleben, das allmählich in direkter Beziehung zu Dingen, Tönen, Geschmacksrichtungen, Düften und zu anderem stand und dessen Bedeutungen sie bereits in ersten Ansätzen verinnerlicht hatte.

»Erst wenn die Kommunikation zur symbolischen Sprachebene vorgestoßen ist, kann sich das Selbst, das nunmehr klar vom 'Du' getrennt ist, zusammen mit dem 'Ich' voll durchsetzen. Erst dann können wir unsere Erfahrungen, was ihre Gültigkeit angeht, nachprüfen, so daß nun im Gegensatz zur Konditionierung intellektuelles Lernen stattfinden kann.

Das aber bedeutet, daß Sprache nicht nur dann ungemein nützlich ist, wenn Wissen vermittelt werden soll, sondern auch dann, wenn all die Dinge bewertet und objektiviert werden sollen, die insgesamt und unter anderen Umständen eine solipsistische (ichbezogene; Anm. d.H.) Sicht dieser Welt bleiben würden. Doch ist auch das kein ausreichender Grund dafür, daß der Mensch seine Sprache erwirbt und fortfährt, sie zu benutzen, es sei denn, sie dient ihm als Instrument für den positiven emotionalen Kontakt mit der Wirklichkeit.

Das bedeutet nicht, daß die ärgerlichen Worte eines Elternteils das Kind veranlassen werden, seine Sprache aufzugeben. Ärger ist in der Regel eine klare und unzweideutige Emotion. Der verbale Ärger der Eltern hilft dem Kind, genau zu bestimmen, wie es im Augenblick zu seinen Eltern steht, er hilft ihm, seine Handlungen dementsprechend zu planen, zum Beispiel auszuweichen, zu widersprechen oder sich zu entschuldigen. Nur wenn Sprache überhaupt keine Unterschiede macht, verliert sie ihren Wert; oder wenn sich trotz verbaler Proteste unangenehme Folgen einstellen« (BETTELHEIM 1986, S. 73).

Ines fühlte sich nun innerhalb des Beziehungssystems. Sie lebte in der Beziehung. Sie nahm an den Aktivitäten anderer teil und drückte auch ihre eigenen Emotionen und Affekte aus. In der Vergangenheit war sie in der Dimension ihrer Wünsche und Gefühle als nicht-existent wahrgenommen worden. Die bloße funktionale Rehabilitation hatte meistens nur die Mechanik ihres Körpers berücksichtigt und die Existenz einer Absicht nicht bestätigt. Bei solchen Übungen war sie an Veränderungen um sich herum nicht aktiv beteiligt. Alles geschah nach den Wünschen und dem Willen der anderen. Ines stand dort den Veränderungen, die sich um sie herum abspielten, passiv gegenüber. Es gab für sie keine Möglichkeit, eine Beziehung zwischen ihrem Ich und den Dingen herzustellen, um daraus kausale Beziehungen abzuleiten.

»Die Kausalität besteht aus einer Organisation des Universums, welche der Gesamtheit der Beziehungen zu verdanken ist, die zuerst mit dem Mittel der Handlung und später mit dem Mittel der Vorstellung zwischen den Objekten und auch zwischen dem Objekt und dem Subjekt hergestellt wurden. Die Kausalität setzt also auf allen Stufen eine Interaktion zwischen dem Ich und den Dingen voraus. Der radikale Egozentrismus am Anfang läßt das Subjekt alle äußeren Ereignisse der eigenen Handlung zuschreiben. Die spätere Konstruktion eines Universums gibt dem Ich jedoch die Möglichkeit, sich in die Dinge einzureihen und die Gesamtheit der Sequenzen zu verstehen, die es beobachten kann oder aber in denen es sich selbst als Ursache oder Wirkung befindet« (PIAGET 1974, S. 304).

»Was, wenn das Individuum daran gehindert wird, mit Menschen oder Dingen zu agieren und zu interagieren? Auch dann kann der Mensch keine kausalen Zusammenhänge entdecken. Doch ist in einer Welt, in der keine Kausalität existiert, weder eine Vorhersage noch ein geplantes Handeln möglich. Wenn wir nicht vorhersehen können, welches die Ergebnisse unseres Handelns sein werden, sind wir nicht Herr unseres Schicksals. In diesem Fall sind nur zwei Handlungsweisen sinnvoll: entweder wir tun nichts, um so die Kräfte zu sparen und Enttäuschungen zu vermeiden, oder wir schaffen uns eine Phantasiewelt, in der wir uns vorstellen können, wir seien nach wie vor der Herr unseres Schicksals« (BETTELHEIM 1986, S. 71).

Wir waren gerade dabei, Ines die Möglichkeit zu geben, »mit den Dingen zu handeln und zu interagieren« und an den Ereignissen teilzunehmen. Sie war den Dingen und Ereignissen nicht mehr nur ausgesetzt, sondern sie bewirkte selbst etwas. Dies gab Raum für das Entstehen von Wünschen, die beobachtet und verstanden wurden und die wiederum Voraussetzung für die Bewegung der anderen wurden. Den Wunsch, etwas zu nehmen oder fallenzulassen, sich zu entfernen oder sich zu nähern, andere zu berühren und sich zu bewegen, nahm Ines in den Bewegungen der anderen wahr; so wurden nach und nach diese Aktivitäten in ihre eigenen Bewegungen aufgenommen.

»Ines, willst du mit deiner Puppe spielen?« (Die Lehrerin bemerkte, wie der Blick von Ines unter den verschiedenen Dingen die Puppe fixierte, und las daraus den Wunsch. Ines lächelte, und das bedeutete 'ja'.) »Nun, dann nehmen wir sie.« (Die Lehrerin näherte das Kind der Puppe, nahm ihren Arm, streckte ihn in Richtung der Puppe aus, öffnete ihr die Hand und ließ sie wieder schließen, so daß sie die Puppe festhielt.) »Nimm sie nun in deine Arme, streichle ihr das Haar, berühre die Nase, die Augen und den Mund.« (Dabei führte die Lehrerin ihr stets die Hand.) Bewegungserfahrungen ohne die Hilfe der Lehrerin hätte Ines nicht haben können, da es ihr ja nicht gelang, ihren Körper zu kontrollieren.

Die Teilnahme an den Ereignissen erlaubte Ines die Rekursivität der Bedeutungen und Ereignisse im komplexen System der Beziehung zu entdecken und auch zu entdecken, wie die Mitteilungen, Bedeutungen und die verschiedenen Zeichen im Beziehungssystem miteinander interagieren. Das Mit-den-anderen-Interagieren-Können bedeutete, in die Regeln der Kommunikation und des Beziehungssystems einzutreten und daraus Kompetenzen zu erwerben.

Wir haben die Bedeutung der Begriffe REKURSIVITÄT und Kompetenz aus der Sprachanalyse abgeleitet und gebrauchen sie in einer Dimension, die sich um den Zusammenhang, die Situation und das Beziehungssystem erweitert. Dort kommen eine Vielzahl von Codes und Bedeutungen ins Spiel. Das Ereignis, die Beziehung, die Bedeutungen, die Codes und der Sprachgebrauch werden durch Aspekte bestimmt, die das affektive Erleben eines jeden mit einbeziehen. Unserer Meinung nach ist es sehr nützlich, sich auf die Forschungen über die Sprache zu beziehen, die in der Linguistik, der Sprachpsychologie und in bestimmten Bereichen der Sprachphilosophie behandelt werden; insbesondere auch die Transformationstheorie[10] von CHOMSKY erscheint uns bedeutsam.

f) Das Kind im Verhältnis zur Zeit, zum Raum und zur Kausalität

Ines begann mit Hilfe der Lehrerin auf Dinge und Ereignisse einzuwirken.

»Ich glaube, die Überzeugung 'Ich hab's getan 'und 'mein Tun hat etwas verändert' ist eine ausschließlich menschliche Erfahrung. Und diese Überzeugung ist es, die zur spontanen Entwicklung der Persönlichkeit und des Erfahrungsbereiches führt, denn nun können komplizierte Abfolgen von Ereignissen modifiziert, gemeistert, zum Stillstand gebracht und kontrolliert und gesteuert werden, je nachdem, wie es die jeweilige Persönlichkeit wünscht« (BETTELHEIM 1986, S. 65).

Die Erfahrungen von Ines sollten vervielfacht werden, damit ihr Handeln können in bezug auf Dinge und Ereignisse als Fähigkeit erlebt und in verschiedenen Situationen überprüft werden konnte. Wie wir bereits erwähnt haben, organisierten wir den Tagesablauf in Form von verschiedenen, chronologisch unterscheidbaren Situationen, um auf diese Weise Ines in die Dimensionen Zeit und Raum zu stellen, die ihr die Erfahrung und das Bewußt werden des »Vorher«, des »Jetzt« und des »Danach« ermöglichten. Ines sollte ihre Erfahrungen und Kompetenzen, die im Raum aus unterschiedlichen Zeiten hervorgingen, zu Raum und Zeit in Beziehung setzen. Sie sollte entdecken, daß die gleichen Kompetenzen in verschiedenen Situationen verwendet werden konnten und daß sie durch Bewegungen intentional eingreifen kann, indem sie Veränderungen jeglicher Art im Verlauf von Ereignissen erzeugt.

»Doch unsere Fähigkeit, aus der Kontinuität von Raum und Zeit ein Kausalitätsgefühl zu entwickeln, hat uns in das Abenteuer der Menschheit hineingeführt. Das, wodurch wir wurden, und das, was wir sind, ist nicht einfach auf die Tatsache zurückzuführen, daß wir kausale Zusammenhänge zu erkennen begannen, sondern auch darauf, daß wir in diesem Prozeß zu der Überzeugung gelangten, wir könnten Abfolgen von Ereignissen durch unseren Einfluß verändern, die Überzeugung, daß wir durch die Einfügung eines neuen Gliedes in die Kette der Kausalität den Lauf der Ereignisse derart verändern können, daß das Resultat völlig anders ausfällt als das Resultat, das sich ohne unser spontanes Handeln eingestellt hätte. Hier liegt der Grund, weshalb ich im letzten Kapitel eindringlich darauf hingewiesen habe, daß der Säugling durch Eßzeiten nach der Uhr entmenschlicht werden kann, da er unter solchen Umständen nicht das Gefühl vermittelt bekommt, daß sein Handeln (Weinen oder Lächeln) zu Fütterung führt.

Wenn wir das Gefühl haben, wir könnten die wichtigsten Dinge, die uns zustoßen, nicht beeinflussen, und wenn diese Dinge uns durch irgendeine unerklärliche Macht zudiktiert zu sein scheinen, dann geben wir es auf zu lernen, wie wir auf sie reagieren und wie wir sie verändern könnten. Mit der Zeit können wir diese scheinbar unerschütterliche Ordnung als eine Art Maschine erfahren, bis wir schließlich zu der Überzeugung gelangen, alle Ereignisse würden durch diese oder ähnliche Mechanismen erzeugt werden. Da ein Großteil des Lebens, welches das Kind führt, durch einen' willkürlichen Zeitplan geregelt zu werden scheint, kann dieses Kind die Macht, die es dahinter vermutet, mit einer Uhr oder mit der Uhrzeit schlechthin identifizieren. Doch dies geschieht wesentlich später. Normalerweise ist es jedoch so, daß das Kind, je mehr es heranwächst, um so mehr zu der Überzeugung gelangt, daß es durch seine persönlichen Bemühungen bestimmte Abfolgen von Ereignissen verändern könne. Und wenn dem so ist, gewinnt die Fähigkeit des Kindes, Dinge zu ordnen und vorherzusagen, eine neue Bedeutung, weil das Kind dadurch, daß es die Ereignisse in Raum und Zeit richtig einordnet, deren Kausalzusammenhänge zu begreifen beginnt. Die Fähigkeit, zweckgerichtet zu handeln, stützt sich darauf, daß wir die wahrscheinlichen Folgen unseres Handelns begreifen. Diese Fähigkeit kommt nur dann zustande, wenn sich der Handelnde in Raum. und Zeit orientiert oder wenn er die von ihm beobachteten Ereignisse in ihrer Kausalität organisiert ...

Um als Mensch funktionieren zu können, muß man also gelernt haben, sein eigenes Leben im Raum, in der Zeit und in der Kausalität zu führen. Diese Kategorien der Vernunft sind nicht bloß metaphysischer Art, da es immer auch die klar umrissene historisch genetische Entwicklungssequenz gibt, in der sie auftreten. Die Orientierung in Raum und Zeit geht der Kausalitätserfahrung voraus. Das Füttern des Säuglings ist sicherlich eine entscheidende Erfahrung der Zeitdimension, durch die das Leben in einem sehr frühen Alter eine gewisse Ordnung erfährt ...

Unsere autistischen oder schwer blockierten schizophrenen Kinder gelangen ausnahmslos zu einer ziemlich klaren Vorstellung von der Raum Zeit, lange bevor sie kausale Zusammenhänge verstehen können.

So ist zum Beispiel ihr Tag, wenn er schließlich geordnet ist, nicht mit Begriffen wie Morgen, Mittag und Abend organisiert, genauso wenig wie ihre Raumvorstellungen darauf basieren, wo gewisse Räumlichkeiten lokalisiert sind. Stattdessen erwerben sie relativ früh eine Raum-Zeit-Vorstellung, die durch so irreführende Bezeichnungen wie »Speisesaal« oder »Schule« etikettiert wird. Denn diese Bezeichnungen bedeuten eine einheitliche Erfahrung, die sowohl die Tageszeit umschließt, zu der die Kinder vom Schlafsaal zum Speisesaal oder Schulzimmer gehen, als auch die Bewegung durch den Raum, die erforderlich ist, um zu diesen Örtlichkeiten zu gelangen. Diesen Sachverhalt belegen die Kinder durch viele Arten von Verhalten, wobei eines dieser Verhalten folgenden Gedankengang veranschaulichen könnte: 'Schule' bedeutet für diese Kinder die Tageszeit, zu der sie dorthin gehen, den Ort selbst sowie die Person des Lehrers. Ein Feiertag bedeutet 'keine Schule', und die Tatsache, daß sie zur üblichen Zeit nicht den üblichen Ort aufsuchen, erfüllt sie mit Panik, und sie fühlen sich verloren, weil ihre Raum-Zeit-Orientierung nicht mehr funktioniert.

Wie immer die Lernsequenz, durch die man sich im Raum und in der Zelt zurechtfindet, aussehen mag, der Vorhersage muß eine richtige Ordnung der Ereignisse und der Handlung muß die Vorhersage vorausgehen, da sonst die Handlung planlos und ohne erhofftes Ergebnis geschähe« (BETTELHEIM 1986, S. 65 - 68).

g) Die Wege

Der Tagesablauf von Ines sah Wege mit bestimmten und voneinander verschiedenen Momenten vor. Die Ereignisse auf den Wegen waren in Folgen geordnet. Das Klassenzimmer wurde in Form einer Route organisiert. Ines begann nach der Zeremonie der Ankunft und des Frühstücks mit ihrem »Spaziergang« im Zimmer und traf in einer Schachtel unter einem Tisch auf eine Trillerpfeife mit einem Vögelchen. Das Vögelchen bewegte sich, wenn die Lehrerin darauf blies. Ines erkannte die Trillerpfeife und lachte vor Vergnügen. Ines nahm die Trillerpfeife. Die Lehrerin führte mit der Hand des Kindes die Trillerpfeife zum Mund. Ines konnte mit der Hand, die auf der Pfeife lag, den Atem der Lehrerin, also ihren Ton, fühlen und sah, wie sich das Vögelchen bewegte.

Abgesehen davon, daß die Lehrerin diesen Augenblick Ines verdeutlichen und ihr die verschiedenen, aufeinanderfolgenden Handlungen für das Pfeifen zeigen wollte, wollte sie in Ines auch den Wunsch entstehen lassen, das Instrument selbst zu benutzen, denn das Pfeifen und das Bewegen des Vögelchens setzt die Kontrolle der Atmung und der Lippen voraus.

Nach dieser Übung mit der Pfeife bewegten sich Ines und die Lehrerin in eine andere Ecke des Zimmers. Hier konnte Ines mit der Puppe spielen. Dabei führte für die Lehrerin ihr die Hand. Mit Führungshilfe der Lehrerin nahm Ines die Puppe, streichelte ihre Haare und berührte ihre Augen. Dann wechselten sie den Ort und betrachteten ein Fotoalbum. Es wurden in einem Album Fotos von Ines gesammelt; sie zeigten Ines zuhause, in der Küche, auf dem Bett, im Garten, mit der Mutter, mit dem Vater, mit der Großmutter und mit den Mitschülern. Sie betrachteten ein Foto nach dem anderen. Dabei erklärte die Lehrerin die Situationen und motivierte das Kind, mit dem Finger auf Personen und Objekte zu zeigen. Sie nahm die Hand des Kindes, führte sie zum Album und ließ es die Seiten umblättern: »Schau, das bist du mit der Mutter in der Küche.« (Und indem sie ihre Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger geschlossen hielt, deutete sie auf die Mutter, auf ihr Gesicht und auf die Dinge, die für die Umgebung charakteristisch sind.) »Hier bist du im Garten. Da schaust du den Baum an. Hier ist die Gartenbank. Da ist der Springbrunnen.«

Abgesehen davon, daß diese Aktivität im Verhältnis zu den bisherigen einen eigenen Charakter hatte, ermöglichte sie Ines, verschiedene Situationen aus der Erinnerung heraus zu unterscheiden.

Inzwischen kam die Mittagszeit. Das Mittagessen blieb nicht nur ein allein auf die Ernährung ausgerichteter Moment. Wir organisierten es vielmehr in Form von Aktivitäten, die Ines neue Erfahrungen ermöglichen sollten. Bisher war das Mittagessen hastig verlaufen. Die Aufmerksamkeit der Lehrerin war darauf gerichtet, Ines zum Schlucken zu bringen und dabei Gefahren zu vermeiden, die aus der nicht vorhandenen Kontrolle über das Kauen entstanden. Dies wurde nun eine Gelegenheit zum Lernen.

Der Geschmack, die Verschiedenheiten des Geschmackes und der Düfte und die Konsistenz der Speisen waren Elemente, auf die man »hinweisen« wollte, um ihr ein Unterscheiden-Lernen zu ermöglichen. Dies war eine Gelegenheit, ihre Erfahrungen mit zunehmend klarer werdenden Vorstellungen anzureichern. Wir verlängerten die Zeit (mehr als eine Stunde), und die Lehrerin machte Ines die Unterschiede deutlich, indem sie diese beschrieb: den Geschmack, die Düfte, die verschiedene Dichte der Speise (flüssig, fest, warm, kalt).

»Jetzt essen wir. Heute gibt es Gemüsesuppe. Fühl, wie warm sie ist.« (Die Lehrerin ließ sie mit der Hand den Teller berühren, dann führte sie ihr den Löffel zum Mund, um sie die Wärme an den Lippen fühlen zu lassen). »Rieche, was für ein guter Duft.« (Sie führte den Teller in die Nähe ihrer Nase und zeigte Ines, wie der Duft roch; dann ließ sie Ines den Duft riechen.) »Koste, es ist flüssig und leicht gesalzen.« (Und sie gab ihr eine kleine Portion Suppe, so daß Ines sie im Mund halten konnte, um sie zu kosten.) »Schau, heute gibt es Tomaten, sie sind rot. Fühle, sie sind kalt.« Während des Mittagessens versuchte die Lehrerin Ines nur soviel Speise zu geben, wie sie kontrollieren konnte, auch wenn es sehr wenig war. Das Warten zwischen einem Löffel und dem nächsten, zwischen einer Gabel und der nächsten war ausgefüllt mit Erklärungen, wie man die Speise im Mund behalten konnte (sie führte die Bewegung des Kauens mit der Hand aus), oder auch mit kleinen Liedern, mit Fragen (»Schmeckt es dir, ist es gut?«), mit der Anbahnung von Vorstellungen wie »innen - außen« oder »viel - wenig«. (»Die Suppe ist im Teller, und es ist viel. Ich nehme sie mit dem Löffel. Nun ist es wenig, und sie ist auf dem Löffel, außerhalb des Tellers, außerhalb deines Mundes, und nun tun wir sie in deinen Mund. Die Suppe kommt aus dem Teller, und mit einem Mal ist sie mit dem Löffel in deinem Mund.«)

Außerdem berücksichtigte die Lehrerin Speisen und Geschmacksrichtungen, die Ines mehr gefielen. Wir versuchten also, auf ihre Vorlieben einzugehen, da solche Wünsche ihr intentionales Denken ausdrückten.

Nach dem Mittagessen holten sie gemeinsam das Schokoladenplätzchen. Außerdem kennzeichnete noch eine andere regelmäßige Aktivität den Tagesablauf.

Die Lehrerin stellte Ines im Rollstuhl vor einen Spiegel und machte sie auf ihr Spiegelbild aufmerksam: »Ines, betrachte dich im Spiegel, sieh, dein Gesicht, deine Augen, dein Haar, dein Mund.« (Und indem sie ihre Hand nahm, ließ sie die Teile, die sie benannte, berühren.) »Schau, hier bin auch ich, mein Gesicht, meine Nase, mein Mund, meine Haare.« (Sie ließ die Teile berühren.)

Das Kind schaute die Bilder im Spiegel an - und verglich sie auch. Voller Aufmerksamkeit drehte sie den Kopf langsam zur Lehrerin, betrachtete sie und dann sogar ihr Spiegelbild.

»Nach einigen verwirrenden 'Erfahrungen' vor dem Spiegel entdeckt das Kind, daß derenige, den es sieht, keine andere Person ist, die sich dahinter versteckt, sondern daß es selbst die Person ist. Es entdeckt dies, je mehr es eine gewisse Beziehung zwischen den Bewegungen, der Abbildung im Spiegel und den eigenen Bewegungen feststellt. Der kleine Zweifel bleibt, vergeht um so schneller, je öfter es zusammen mit der Mutter oder einer Ersatzperson im Spiegel die beiden Abbildungen sieht und sich nun dem zuwendet, der es trägt. Es wird seiner Identität bewußt und vor allem der freudigen Bestätigung durch die Mutter. In dieser Situation jubelt es sozusagen mit dem ganzen Körper, lacht und springt, indem es sich auf den Armen der Mutter in seiner ganzen Größe aufzurichten versucht. Ein solches 'Spiel' wird sehr oft gesucht und wiederholt werden. Monatelang findet das Kind in dieser freudigen Erfahrung das, was man seine Identität nennen kann. Durch die Identifikation seiner selbst mit der Abbildung erschafft es in der Tat diesen für das menschliche Leben unumgänglichen Mechanismus, nämlich die Fähigkeit, den anderen und die Dinge zu identifizieren.

Zu sagen »dies und das« setzt zunächst voraus, daß man sagen kann »das bin ich«[11]. Und letzteres setzt voraus, daß das Bild, das ich unter den Abbildungen sehe, ich selbst sein kann. Indem das Kind mit Hilfe des Spiegels in die Welt der Bilder und des Imaginären zurückkehrt, ordnet es offensichtlich diese fruchtbare Erfahrung derjenigen über, die wir unter dem Titel 'die Fähigkeit Imaginäres zu schaffen' beschrieben haben, d.h. eine Kategorie, die teilweise ähnlich, aber doch verschieden ist. Die Vorstellungen und Abbildungen überlagern einander. Die letzteren umschließen die ersteren, und durch beide zusammen entsteht das, was man als die Bildung der menschlichen Vorstellungskraft bezeichnen könnte« (TOSQUELLES 1979, S. 106f.).

Der Spiegel wurde zu einer Gelegenheit für viele Aktivitäten: so beispielswiese zur Raum-Körper-Wahrnehmung, zur Entwicklung einer Erwartungshaltung zum Erwerb von Kenntnissen über Dinge und Farben.

Die Lehrerin versteckte sich zunächst hinter Ines und erschien ihr dann einmal auf der rechten Seite und später auf der linken. Dabei zeigte sie vorher durch einen leichten Druck auf Ines' Schulter an, auf welcher Seite sie erscheinen wird. Ines, die den Druck fühlte und dadurch die Seite voraussehen konnte, auf der das Gesicht der Lehrerin erscheinen würde, drehte langsam den Kopf und setzte das Gesicht der Lehrerin zu dem Bild im Spiegel in Beziehung. An diesem Spiel nahmen auch die Mitschüler von Ines teil. Mit demselben System ließen wir auch Objekte und Farben erscheinen und benannten sie. Bei diesen Spiegel-Spielen zeigte sich Ines sehr interessiert.

h) Die Aktivitäten von Daniela

Beim Erziehungsprojekt für Daniela bezogen wir uns auf die Erfahrung im Kindergarten. Die damalige Erzieherin arbeitete in den ersten Tagen zusammen mit den Lehrerinnen, um einerseits die bisherigen Erfahrungen mitzuteilen und andererseits wegen der dadurch ermöglichten vertrauten Atmosphäre für Daniela. Um dem Kind zum selbständigen Aufrechtstehen zu verhelfen, wurde das Klassenzimmer durch den Tisch und durch das Schränkchen in zwei Teil-Räume organisiert. Diese sollten für Daniela zwei Haltepunkte sein.

Die Lehrerin spielte mit Daniela am Tisch Konstruktionsspiele. Dabei motivierte sie das Kind immer wieder, zum Schränkchen zu gehen und das Material für die gemeinsame Tätigkeit zu holen. Sie konnte so beispielsweise die Fähigkeiten von Daniela überprüfen, inwieweit sie bereits verschiedene Materialien wiedererkennen kann. Die Materialien befanden sich in einer gewissen Höhe, die sie anregte, sich aufrecht fortzubewegen.

Zusammen mit der Lehrerin beteiligte sich Daniela - aufrecht stehend - am Bauen von Modellen aus Häusern und Bäumen. Während der Aktivität berücksichtigten wir, daß für Daniela das Aufrechtstehen zwar notwendig, aber sehr anstrengend war. Am Anfang waren die Zeiten kurz (5 bis 10 Minuten). Danach wurden sie allmählich auf 20 Minuten erweitert. Die Materialien aus dem Schrank zu nehmen und zu erkennen, zog die Aufmerksamkeit des Kindes an und war gleichzeitig eine Motivation zum aufrechten Stehen.

Sie legten gemeinsam Straßen und Kreuzungen an, die Daniela mit den Händen, mit kleinen Autos und kleinen Puppen durchfahren sollte. »Nun machen wir auf dieser Straße zwischen diesen Häusern einen Spaziergang. Wir steigen auf die Brücke, gehen hinunter, biegen nach rechts ein, überqueren die Straße... « Die Lehrerin ließ Daniela die Wege mit kleinen Autos und Puppen entlangfahren und -gehen. Dabei führte sie ihr die Hand. Allmählich boten sich ihr bei diesen Fahrten und Spaziergängen neue Lerninhalte an: »Dieses Haus ist größer als das andere, dieses ist rot, dieses ist blau. Das sind Bäume, das sind Türen. Hier sind die Fenster ...«

Daneben setzte Daniela die im Kindergarten begonnenen Tätigkeiten fort: m dem Wasser spielen, den Wasserhahn öffnen und schließen, sich das Gesicht waschen und sich abtrocknen. Im Unterschied zu dem vorangegangenen Jahr führte sie diese Aktivitäten selbständiger aus. Sie unterschied den Hahn für warmes und den für kaltes Wasser, sie öffnete und schloß die Wasserhähne. Sie benutzte das Handtuch selbständig und richtig. Die Lehrerin entwickelte im Waschraum zusammen mit einigen Mitschülern Spiele, die auf folgende Erfahrungen zielten: Leichte Dinge schwimmen, und schwere Dinge gehen unter. Weiterhin sollten Erfahrungen von »voll« und »leer« gemacht werden. Es sollten Gefäße und Flaschen verschiedener Größe mit Wasser gefüllt werden. Die Kinder spielten mit dem Schwamm, den sie zuerst mit Wasser vollsaugen ließen und dann über einem Glas auspreßten, um es zu füllen.

Wir erwähnten bereits, daß Daniela die Atmung noch nicht richtig beherrschte. Daniela bekam eine Mundharmonika, wie sie auch die Lehrerin hatte. Die Lehrerin spielte und forderte Daniela auf, sie nachzuahmen. Daniela gelang es zunächst nicht, das Instrument durch Blasen zum Klingen zu bringen, sondern nur beim Einatmen. Dann entdeckte sie, daß sie es auch durch Hineinblasen zum Klingen bringen konnte.

Die Ziele einer solchen Aktivität waren: a) Die Atmung zu kontrollieren, indem der Atem der Lehrerin als Vergleichsmöglichkeit erfahren werden konnte. So wurde der Atem durch den Ton konkretisiert und zugleich kontrolliert; b) Der Rhythmus und die Tondauer bei der Lehrerin sollten als Beispiel gelten und wiederholt werden. c) Es sollte die gleiche Tonhöhe wie die der Lehrerin gefunden werden.

Daniela konnte zunächst nur die Lehrerin im Spielen der Instrumente nachahmen und - wenn auch nur wenige Male - die Länge des Tons kontrollieren. Aber es gelang ihr noch nicht, den Rhythmus und die Tonhöhe wiederzufinden.

Außerdem praktizierten wir auch mit Daniela zu bestimmten Zeiten und in regelmäßiger Folge Aktivitäten vor dem Spiegel. Wir betrachteten weiter mit Daniela ihr Album mit Fotos, die verschiedene Situationen darstellen. Wir benutzten auch die Zeit der Mahlzeiten und des An- und Ausziehens als Gelegenheit zum lebenspraktischen Lernen.

i) Wir spielen zusammen

Die Spiel-Zeit ermöglichte das Beobachten der Verhaltensweisen aller Kinder. Dabei wurden keine Aktivitäten organisiert, die darauf gerichtet waren, Daniela und Ines zu integrieren. Die Anwesenheit der beiden Lehrerinnen bot die Möglichkeit, den Kindern zur Verfügung zu stehen, um sie nach Bedarf zu informieren. Die Ziele, die wir erreichen wollten, sollten sich nicht nur auf unsere Arbeitshypothesen über die Integration von Daniela und Ines beziehen, sondern auch Anregungen für neue Eingriffe geben, verstärken, beschleunigen und ausweiten. Diese Anregungen sollten aus der Beobachtung von Situationen in der Klassengruppe hervorgehen. Die Lehrerinnen hatten keine Eile, mit vororganisierten Tätigkeiten zu beginnen. Aufgrund der Schwere der Behinderung war die Gefahr gegeben, daß Daniela und Ines rein äußerlich anwesend waren, daß aber die Beziehung keinen Raum bekam, in dem sie affektiv reifen konnte.

Das Verhalten der beiden Kinder wurde neugierig beobachtet. Es ergaben sich viele Fragen, die auch eine Gelegenheit schufen, den eigenen Körper kennenzulernen und sich darüber zu unterhalten, wie wir die Realität sehen, fühlen und wahrnehmen.

Daß die Klassengruppe, durch das Verhalten von Daniela und Ines neugierig gemacht, Fragen stellen würde, war erwartet worden. Die Lehrer bereiteten sich darauf vor, möglichst einfache Antworten zu geben. Diese sollten zu Lern-Möglichkeiten werden. Dabei waren moralisierendes Verhalten und Antworten zu vermeiden.

Das Sehen, Hören, Tasten, Schmecken und Riechen, der Gleichgewichtssinn und die Bewegung wurden zum Unterrichtsgegenstand und zur Gelegenheit, den eigenen Körper kennenzulernen und die Verhaltensweisen von Daniela und Ines zu verstehen. Dabei wurde aus der anfänglichen Neugierde eine ernsthafte Reflexion, Analyse, Gegenüberstellung und Diskussion.

Das Fragen und die Suche nach Antworten ermöglichten in dem zum Spielen bestimmten Raum die Entwicklung eines Unterrichts, bei dem Kenntnisse über den Körper erworben wurden. Der Unterricht wurde als Aktivität verstanden, der von der Beobachtung des eigenen Körpers zur Zeichnung und sogar bis zur Beobachtung der Bedeutungen von Körperstellungen und Mimik führte. Die Namen der verschiedenen Körperteile sollten gesucht und alle Beobachtungen und gesammelten Daten auf einem Plakat zusammengestellt werden.

Abgesehen davon, daß die Thematik ein Anlaß zur Wissensaneignung war, war sie auch eine Gelegenheit, die Beziehung zwischen den Mitschülern in der affektiven Dimension zu verbessern. Aus dem Wunsch, etwas zu wissen, entstand in dieser Dimension der Wunsch, etwas gemeinsam kennenzulernen.

Die Bewegungen von Daniela und die sehr geringe Bewegungsfähigkeit von Ines ermöglichten das Feststellen von Unterschieden und die Reflexion über den Körper in einem Beziehungssystem. Die Kinder der Klassen wurden über die Verhaltensweisen von Daniela und Ines und über ihre zielgerichteten Lern-Aktivitäten informiert. Die Lehrerinnen schlugen den Kindern vor, weitere Spiel-Aktivitäten zu suchen, an denen Daniela und Ines teilnehmen konnten.

»Wenn ein Spiel zwischen einigen Kindern, die einander kennen, entsteht, kann weder der dem spontanen Spiel bewußt beigefügte Sinn noch der allmächtige Wille der Erzieherin die gesamte Strukturierung des Spiels, seine Entwicklung und seine Dynamik erfassen. Die Zugehörigkeiten, Konflikte und Spannungen zwischen den Kindern der Gruppe - ihre Wünsche und ihre Bedürfnisse - verleihen dem Spiel den wahren Ausdruck des Geschehens. Hier kann man die Erklärungen oder den Schlüssel dafür finden, was im Spiel geschieht.

Über das im Spiel offenkundige Thema hinaus ist es nötig, das mehr oder weniger symbolische Thema und das strukturelle Thema des Spiels zu erkennen. Dies macht aus diesen Spielen wirksame Übungen, mit denen das Kind einige seiner Schwierigkeiten beherrschen lernt.

Für das schwer behinderte Kind besteht ständig die Gefahr, wegen seiner Schwierigkeiten in der Beziehung zu anderen aus der Gruppe ausgeschlossen zu werden. Die Aufgabe des Erziehers ist es daher, den Austausch zu erleichtern und neu zu knüpfen, so daß so gut wie möglich die Existenz der Gruppe neu stabilisiert werden kann, in der es seinen Platz und seine Rolle findet; auch wenn dies von einem Moment zum anderen spontan oder unter Anleitung des Erziehers nach den 'Regeln' oder dem 'Gesetz' des Spiels wechselt« (TOSQUELLES 1979, S. 247f.).

k) Das Doktorspiel

Die Beobachtungen des Körpers und die Fragen der Kinder nach den Schwierigkeiten von Daniela und Ines führten dazu, sich mit Unterschieden und Analogien unter den Kindern auseinanderzusetzen. Dies wurde in Form des sogenannten Doktorspiels organisiert.

Beim Vergleich mit Daniela bemerkten die Kinder, daß es keine bedeutenden Unterschiede im Bau des Körpers gab: Die Augen, die Nase, die Hände oder die Beine waren genauso wie bei ihnen. Was anders war, war das Verhalten: »Sie spricht nicht, sie versteht nicht alles, was wir ihr sagen, es ist schwierig, ihr ein Spiel zu erklären; sie will dauernd auf allen vieren gehen; manchmal tut sie so, als ob sie nicht sieht und nicht hört ...«

Diese Beobachtungen führten dazu, den Grund für das andere Verhalten im Innern des Körpers zu suchen. Die Kinder achteten auf den Herzschlag und auf die Atmung. Aber auch diese neuen Elemente zeigten keine Unterschiede. Die Gruppe kam nun zu dem Schluß, daß Daniela sich auf eine andere Art benahm. Sie wollte nicht an allen Spielen teilnehmen, weil ihr nur manche gefielen. Sie kamen deshalb zu folgender Einsicht: Wenn Daniela am Doktorspiel oder Friseurspiel teilnahm, mußten diese ihr also gefallen. »Die anderen Spiele gefallen ihr nicht. Aber es ist nicht so, daß sie die anderen nicht spielen kann. Wenn wir Doktor spielen, gefällt es ihr, und sie spielt mit uns. Wenn wir ihr sagen, sich hinzulegen, sich zu drehen, sich die Hand berühren zu lassen, macht dies Daniela. Auch wenn wir Friseur spielen, läßt sie sich kämmen, dreht den Kopf, lächelt, hält den Kamm in der Hand ...«

Die Beobachtung von Ines ließ dagegen die Kinder Unterschiede in der Entwicklung der Gliedmaßen und der Muskulatur erkennen. Sie gelangten zur Einsicht, daß die Gliedmaßen von Ines einen anderen 'Entwicklungsstand' hatten. Da es Ines nicht gelang, Arme, Hände und Beine oder sich ganz zu bewegen, nahmen die Kinder an, daß sie nicht die nötige Kraft hatte, sich zu bewegen. »Ines möchte spielen, will sprechen, aber sie hat nicht die Kraft, man muß ihr helfen ...«

Aus der Beobachtung der Gruppe hatten sich im wesentlichen zwei Elemente ergeben: das Vergnügen (das Spiel sollte Daniela und Ines gefallen, »sonst wollten sie es nicht tun«) und die Hilfe (wir mußten bei beiden Kindern bei Spielen, die ihnen gefielen, helfen, weil sie aus Mangel an Kraft oder an Gleichgewicht nicht spielen konnten).

l) Die große Schachtel

Im Klassenzimmer gab es einen großen Karton, der die Kinder zu folgendem Spiel anregte: Daniela sollte die Schachtel betreten und nach einer Weile, wenn man sie rief, allein herauskommen. Dies brachte für Daniela eine Reihe von Schwierigkeiten mit sich: Das Betreten der Schachtel, das Beherrschen des eigenen Körpers, um darin zu bleiben, das Warten darauf, daß sie gerufen wurde, das Öffnen des Kartons und das selbständige Herausgehen. Die Kinder halfen Daniela, indem sie ihr zeigten, wie sie es machten. Sie stellten sich paarweise neben Daniela und zeigten ihr die Bewegungen, die sie nachmachen sollte. Sie beugten ihre Beine, den Körper und Kopf. So konnte sie zusammengekauert in der Schachtel bleiben.

Nach einer Pause des Schweigens riefen die Kinder Daniela und forderten sie auf herauszukommen. Daniela zeigte, daß sie gerne an dem Spiel teilnahm und seine Regeln verstand. je öfter das Spiel wiederholt wurde, desto selbständiger wurde Daniela. Sie lernte, ihren Körper zu kontrollieren. Sie beugte ihre Glieder, beherrschte den Körper, um in der Schachtel zu bleiben und suchte dann nach verschiedenen Lösungen, um herauszukommen. Die von ihr bevorzugte Lösung war: Nachdem die Schachtel geöffnet worden war, brachte sich Daniela aus dem Gleichgewicht, um dadurch die Schachtel umzuwerfen und so auf allen vieren herauszukommen. Das Spiel mit der Schachtel führte bei ihr zu einer besseren Körperkontrolle und zur Erfahrung des Innen und Außen, des Schließens und Öffnens, des im Dunkeln-Bleibens und auf ein Signal Warten-Könnens, um hinauszugehen.

Die Schachtel war ein ideenreicher Spielgegenstand der Klassengruppe. Einmal war sie ein Flugzeug, dann ein Schiff oder ein Unterseeboot. Der Zusammenhang änderte sich und war abhängig von der Bedeutung, die ihr die Kinder verliehen.

In die geschlossene Schachtel konnten maximal zwei Kinder eintreten: Hierbei wurde sie zu einem Unterseeboot. Wer draußen blieb, war in die Regeln des Spiels miteinbezogen: Er stellte den Meeresboden dar und erfand Abenteuer über eine Unterwasserreise.

Die offene Schachtel konnte zum Korb eines Fesselballons werden und vier aufrecht stehende Kinder aufnehmen. In Abhängigkeit zu dieser neuen Definition wurde der Zusammenhang in Bezug auf Abenteuer in einem Fesselballon angedeutet. Hierbei entstand die Regel, daß diejenigen, die in der Schachtel waren, die Funktion definierten. Aber die komplexe Organisation des Spiels, die Rollen und Abenteuer waren das Ergebnis der Auseinandersetzung der ganzen Gruppe.

Da wegen der Größe der Schachtel für viele Kinder kein Platz war, aber der Wunsch bestand, das Spiel mit einer größeren Gruppe zu spielen, gaben die Kinder der Schachtel solche Bedeutungen, daß für mehrere Personen Rollen vorhanden waren. Die Schachtel wurde zu einer Burg, die man verteidigen mußte, zu einer Kutsche, der Geleit gegeben wurde. Daniela wurde zu einem Bewohner der Burg, zu einem Reisenden in der Kutsche ...

m) Die Kegel

Aufgrund der geringen Beweglichkeit von Ines griffen die Kinder ein Spiel wieder auf, bei dem das Kind eine handelnde Person werden konnte, auch wenn die Hilfe der anderen Kinder dazu nötig war.

Die Kinder entschieden, daß Ines gut am Kegelspiel teilnehmen könnte, da sie mit ihnen auf dem Boden oder auf einem Theaterstuhl sitzen konnte und nur die Kugel mit der Hand loslassen mußte. Es war ziemlich einfach. Die Kinder könnten Ihr auch dann helfen, wenn Ines nicht wußte, wie sie die Kugel in der Hand halten und wieder loslassen sollte.

Die Lehrerin machte auf ein Problem aufmerksam: »Wir müssen immer darauf achten, daß wir verstehen, ob Ines das Spiel gefällt. Sie spricht nicht und kann es uns nicht sagen. Deshalb müssen wir sie verstehen. Wie?«

Eine solche Problemstellung hatte den Sinn, die Aufmerksamkeit der Kinder nicht nur auf die technischen Aspekte des Spiels zu lenken, sondern auch auf den Beziehungsaspekt. Hier war die Suche nach Kommunikation eine fundamentale Voraussetzung für die Entdeckung und Erweiterung der Mitteilungen zwischen Ines und der Gruppe.

Die Kinder bezogen sich auf die schon entschlüsselten Kommunikationsformen von Ines: auf das Lächeln und auf die gesamte Mimik ihres Gesichts im Hinblick auf Zufriedenheit, Fröhlichkeit, Interesse oder Traurigkeit. »Wir betrachten ihr Gesicht, und wenn sie wie bei dem Spiel vor dem Spiegel lacht, dann bedeutet das, es gefällt ihr, wenn nicht, dann versuchen wir es mit einem anderen Spiel.« Die Kinder stellten die Kegel auf und erklärten Ines das Spiel. Ein Kind half ihr. Es legte ihr die Kugel in die Hand und gab ihr mit seiner Kraft den Schwung zum Werfen. Dabei tauchte sofort ein Problem auf: Wenn Ines die Kugel einmal in der Hand hielt, dann öffnete sie nicht die Hand für den Schwung ihres Mitschülers; die Kugel verlor an Kraft und erreichte nicht die Kegel. Außerdem schien Ines noch nicht besonders erfreut zu sein. Sollte sie vielleicht zuerst bei dem Spielvorgang nur zuschauen? Auf diese Weise würde sie es sehr wahrscheinlich lernen. Die Kinder zeigten also Ines, wie sie das Spiel spielten. Ines lachte tatsächlich mit, wenn aufgrund einer hohen Punktzahl die Gruppe schrie und klatschte.

Als die Mitschüler Ines erneut vorschlugen zu spielen, wollten sie ihren Wurf mit einem Applaus bestärken. Ein Kind legte ihr die Kugel in die Hand und half ihr, sie zu werfen. Dabei wurde die Bewegung des Mitschülers mit Klatschen begleitet, so daß Ines die Kraft bekam, die Hand zu öffnen.

Die Lehrerinnen wollten verstehen, ob Ines das Kegelspiel gefiel. Sie beobachteten die Gruppe der Kinder und Ines. Dabei wurde bewußt, daß auch Ines das Verhalten der anderen beobachten mußte. Sie hatte ja eine bestimmte Rolle in der Gruppe. Die anderen spielen zu sehen, ihren Applaus zu hören und ihre Gefühle innerhalb der Gruppe wahrzunehmen, führte zur Einsicht, daß Ines sich in die Situation affektiv einbeziehen ließ. Außerdem verstand sie die Spielregeln (eine Kugel werfen, um die Kegel umzustoßen). Die Kugel zu werfen und die Kegel zu schlagen, bedeutete für Ines, zu einer Gruppe zu gehören, einen Platz und eine Rolle zusammen mit den anderen zu haben. Die anfängliche Starrheit beim Öffnen der Hand, wenn sie die Kugel nehmen, dann die Hand zum Halten der Kugel schließen und sie wieder für den Wurf öffnen sollte, wurde allmählich überwunden. Ines entspannte sich, wenn man ihr vor dem Wurf beim Singen eines Kinderreims die Hände streichelte und ihre Finger berührte. Sie konnte dann ihre Hände so kontrollieren, daß sie sich im Kontakt mit der Hand ihres Mitschülers, der ihr beim Spiel half, an die Bewegung anpaßte.

Ines war bewegungsbehindert. Der Erfolg, etwas fallenzulassen oder ein Objekt willentlich zu werfen, indem Richtung und Weite bestimmt wurden, führte dazu, daß Räume und Objekte, die zuvor für sie nicht erreichbar waren, nun mit ihrem Körper erreicht werden konnten. Das Werfen war für Ines nicht das Aneignen einer Fähigkeit durch Übung gewesen. Sie hatte am Werfen teilgenommen, als dies ihr Gelegenheit zur Erweiterung der Kommunikation und Erschließung der Bedeutungen gab. Die Kugel und die Kegel waren nicht nur irgendwelche Dinge. Sie hatten vielmehr eine symbolische Bedeutung angenommen.

»Die Gesten und das Sich-Hinbewegen auf ein Objekt im Raum bedeuteten eine weitere Dimension in der Aneignung der Welt und des Raums. Diese beiden Dimensionen sind komplernentär und dialektisch und verbinden sich in der dynamischen Dimension des Öffnens zur Welt. Hier bleibt die Projektion über sich hinaus, die Expansion der Person über ihre körperlichen Grenzen hinaus.

Das Objekt vergegenständlicht zuerst diese Projektion als symbolische Projektion des Ichs in den Raum. Eben das Objekt wird dem Raum 'gegeben' und dann auch dem anderen oder ihm zugeworfen. Aber auch der Schrei kann dem Raum 'gegeben' werden, später das Wort und - noch symbolischer - der Gedanke, der in seinen verschiedenen Formen (gestisch, plastisch, verbal) ausgedrückt wird.

Diese Projektion über sich hinaus ist die grundlegende Phase für jeden Wunsch nach Ausdruck und nach Kommunikation.

Ein Kind, das seinen Ball gegen seinen Körper gepreßt hält, ist ein Kind, das sich weigert, sich der Welt zu öffnen. Dieses Kind hat auf allen Ebenen große Schwierigkeiten sich auszudrücken.

Dagegen kannten wir ein präpsychotisches Kind, das kein Zimmer betreten konnte, bevor es nicht alle ihm zur Verfügung stehenden Objekte hineingeworfen hatte: Bälle, Reifen, Ringe oder Würfel. Erst nachdem es so über symbolische Projektionen des Ichs den Raum erkundet hatte, konnte es auch seinen Körper dorthin wagen. Wenn dagegen dieselben Objekte von einem anderen im gleichen Raum herumgestreut wurden, hatten sie für dieses Kind keine versichernde Wirkung« (LAPIERRE/AUCOUTURIER 1976, S. 64).



[10] Eine Einführung in diese Theorie ist in dem Buch »Sprache und Geist« von CHOMSKY dargestellt (vergl. Literaturverzeichnis).

[11] Wohl mit das beste Praxisbuch der Geistigbehindertenpädagogik, das wir kennen, trägt zurecht den Titel »Das bin ich« (MIESSLER u.a. 1987; s. Literaturverzeichnis-Ergänzung für die dt. Ausgabe Ferdinand KLEIN).

4. Die Geschichte von Sergio

Exkurs: Hypothesen über den Autismus von Angela Fiore

»Das Hauptmerkmal der als autistisch bezeichneten Kinder besteht in einer tiefgreifenden Beziehungsstörung zu anderen Menschen. Sie meiden in der Regel den Blickkontakt. Gelegentlich schauen einige dieser Kinder einem Menschen direkt ins Gesicht, aber sie schauen gleichsam durch ihn hindurch; ihr Blick geht ins Leere. Sie verhalten sich, als ob sie taub wären. Oft ist ihre Sprache entweder unverständlich oder nicht vorhanden. Einzelne zeigen gelegentlich ein zerstörendes, ja sogar gewalttätiges Verhalten.

Oft sind aber erstaunlich gut entwickelte einzelne Fähigkeiten zu bemerken, die vom allgemeinen Entwicklungsniveau wie Inseln losgelöst sind.

Einige autistische Kinder sind sehr intelligent« (ZAPELLA 1979, S. 10).

Obwohl das autistische Syndrom zum ersten Mal 1943 von KANNER beschrieben wurde, ist es sehr viel älter. »Hippokrates und andere griechische Ärzte zählten diese schweren und nicht erklärbaren Verhaltensstörungen zu den göttlichen und heiligen Krankheiten. Die stillschweigende Folgerung war nämlich, daß noch etwas anderes als das Körperliche eine Rolle spielte« (DELACATO 1975, S. 35).

Offenbar liegt die einzige Möglichkeit zur Erstellung einer gut fundierten Diagnose in der aufmerksamen Beobachtung des kindlichen Verhaltens und in einer sorgfältigen Erhebung der Befunde von Geburt an. Darüber hinaus wird nach Theorien gesucht, »die das merkwürdige Verhalten der Kinder erklären. Die Wissenschaftler vertreten verschiedene Meinungen über die Entstehung dieser Krankheit und haben auch unterschiedliche Bezeichnungen dafür. KANNER schlug die Bezeichnung 'frühkindlicher Autismus' vor, da er der Meinung war, daß die innere Verschlossenheit und die Abkapselung gegenüber der Umwelt, die sich in den ersten Jahren zeigen, die hervorstechendsten Merkmale wären. ('Autismus' wird in der Psychiatrie verwendet mit der Bedeutung 'zurückgezogen' und 'sich selbst genügend. Der Ausdruck ist von dem griechischen Wort 'autos' = 'selbst' abgeleitet.) Andere Wissenschaftler bezeichnen diesen Zustand als 'kindliche Schizophrenie', da sie der Meinung sind, es sei eine Sonderform der Erwachsenen-Schizophrenie. Andere wiederum verwenden sehr allgemeine Ausdrücke wie 'kindliche Psychose', 'schwere emotionale Störung', 'kontaktlose Kinder'. . .« (WING 1980, S. 17f.).

Für BETTELHEIM ist das autistische Kind entwicklungsbedingt grundlegend beziehungsgestört:

»Da ihr zentrales Nervensystem voll entwickelt ist, sind gewisse Handlungen und Reaktionen oder ihr Ausbleiben nicht auf den Mangel einer potentiellen Fähigkeit zurückzuführen, sondern darauf, daß aus irgendeinem Grunde ein Potential nicht verwirklicht wurde. Zwar erfährt das autistische Kind die Welt wahrscheinlich nicht wie der Säugling, doch genauso wenig erfährt es diese Welt durch eine komplexe Persönlichkeit oder zumindest durch eine Persönlichkeit, die ebenso komplex ist wie die des gleichaltrigen normalen Kindes« (BETTELHEIM 1986, S. 4).

Wing leitet aus dem Vergleich autistischer Kinder mit gesunden Kindern folgendes ab: »Gesunde Kinder haben Probleme, wenn sie sprechen, lesen und schreiben lernen. Sie nehmen manchmal nicht Notiz, wenn sie angesprochen werden. Sie ignorieren unter Umständen andere Leute. Sie haben Wutanfälle. Sie klammern sich vielleicht an ein Stück Lappen oder einen Teddybär und weinen, wenn er verlorengeht. Sie haben ihre besonderen Ängste und erscheinen manchmal unachtsam gegenüber einer Gefahr. Der Unterschied besteht darin, daß bei einem gesunden Kind diese Dinge bald vorübergehen, während sie bei einem autistischen Kind endlose Jahre fortdauern. Desgleichen haben gesunde Kinder Vorstellungskraft und sehr vielfältige Aktivitäten, während autistische Kinder in den Dingen, die sie tun, begrenzt sind und sie wiederholen« (WING 1980, S. 55).

Die Autismus-Forscherin LORNA WING betont, daß die Beobachtung und Beschreibung autistischer Verhaltensweisen grundlegende Voraussetzungen sind, um erzieherische Maßnahmen zur Verhaltensänderung zu planen.

Die Erfahrungen des Säuglings sind sehr wahrscheinlich intensiver als die des älteren Kindes oder des Erwachsenen. Denn zum einen wird die Erfahrungswelt beherrscht von den Sinnesempfindungen des Tastens und Riechens, von Empfindungen also, die aus der Erfahrungswelt des Erwachsenen weitgehend schon herausgefiltert sind. Deshalb könnte es sein, daß derartige Erlebnisse für den noch ganz jungen Menschen eine andere Art der Erfahrung darstellen als für den älteren. Zum anderen - das hat STERN (1914) erkannt - beinhaltet die Erwachsenenvorstellung vom eigenen Selbst für den Säugling oder das Kleinkind keinen Sinn. - Das aber weist darauf hin, daß die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt einer späteren Entwicklung vorbehalten ist. So unterscheidet sich auch hier die Art und Weise, wie das Kind bis zu seinem zweiten Lebensjahr die Welt erfährt, radikal von unserer Welterfahrung.

Doch wie ist es, wenn Menschen diesen frühen Modus der Wahrnehmung und Erfahrung der Welt und ihrer selbst auch erheblich später noch beibehalten? Es sind ja nicht nur Säuglinge, die in dieser Schattenregion des Geistes leben. Manche Kinder bleiben in einem frühen emotionalen und geistigen Entwicklungsstadium stecken, andere Kinder kehren in dieses Stadium zurück. Diese Kinder leiden an einer schweren Störung der frühkindlichen Entwicklung, wie KANNER (1943) beschrieben hat.

»Obwohl manche autistischen Kinder in ihrem Bezug zur Realität ebenso ichbezogen wie Säuglinge sind und genauso wenig kommunizieren, sind sie in ihrer körperlichen Entwicklung altersgemäß weiter fortgeschritten. Ihre Reaktionen und Ausdrucksbewegungen sind komplex und offenbaren mehr als die des Säuglings« (vergl. BETTELHEIM S.O., S. 3f.). Die körperliche Entwicklung der autistischen Kinder, so betont BETTELHEIM, geht also normal weiter, obwohl ihre Kommunikation und ihr Kontakt mit der Realität auf einer Entwicklungsstufe erfolgen, in der »alle Begriffe des Selbst sowie des anderen keine Bedeutungen haben«. Bei der Beobachtung und Analyse einfacher motorischer und psychosozialer Ausdrucksmöglichkeiten sowie bei komplexeren Reaktionen von autistischen Kindern erwies sich das von ZAZZO und seiner Arbeitsgruppe entwickelte Erkenntnisinstrument der Heterochronie als nützlich.[12]

Die einfachsten Verhaltensweisen und Fähigkeiten (wie beispielsweise Kauen oder Laufen) tragen dazu bei, das Kind zu verstehen. Die Beobachtung beschränkt sich nicht auf bestimmte Fähigkeiten, sondern auf alles Wahrnehmbare. Die Daten, die durch direkte Beobachtung oder Befragung der Eltern und Lehrer gesammelt werden, lassen erkennen, daß das autistische Kind zu seiner eigenen Harmonie gelangt. In unzähligen Anforderungen an Fertigkeiten und Verhaltensweisen wird ein ständiges Anpassen der eigenen Fähigkeiten an Situationen, Kontexte und soziale Regeln notwendig.

Im Beispiel von Sergio wurde durch Reflexion der Regeln und Konventionen der Gruppe das kommunikative Beziehungssystem analysiert. Die Regeln und Konventionen wurden diskutiert und neu definiert.

Die Autonomie im Verhalten von Sergio, seine soziale Integration und soziale Intelligenz waren Aspekte, die im Vergleich mit den anderen Kindern der Klasse untersucht und definiert wurden. Hier in dieser sozialen Dimension wurden die Verhaltensweisen von Sergio bedeutsam und waren gerade deshalb Gegenstand der Analyse. Dadurch kam Sergio in Beziehung zu den anderen. Er lebte nun im sozialen Beziehungssystem und wurde nicht mehr ignoriert. Sergio wurde vielmehr mit seinem Verhalten und mit seinen gesamten Lebensäußerungen als anwesend aufgenommen.

Die autistischen Kinder kommunizieren auch mit Personen, »allerdings nicht mehr auf positive Weise, falls das überhaupt je der Fall gewesen sein sollte. Sicher eignet autistischen Kindern eine sonderbare Art der Kommunikation, aber zu behaupten, sie kommunizierten überhaupt nicht, hieße ein sehr dürftiges Konzept von der menschlichen Kommunikationsfähigkeit oder zumindest eine vor-freudsche Vorstellung von der Natur menschlicher Emotionen entwickeln.

Wenn wir unter Kommunikation allerdings nur positive Kontakte verstehen, können wir mit einem gewissen Recht sagen, daß autistische Kinder nicht kommunizieren. Doch ist es seit Freud schwierig geworden, Emotionen, das heißt die meisten unserer Gefühle, die wir im Hinblick auf andere hegen, anders zu beurteilen als ambivalent.

Jede menschliche Beziehung beinhaltet zu jedem Zeitpunkt eine gewisse Mischung aus Zuneigung und Vermeidung. Die verschiedenen Mischungsgrade könnte man anhand eines Kontinuums darstellen, das von der stärksten Zuneigung bis zur heftigsten Abneigung reichen müßte. Letztere kann zuweilen den Eindruck einer totalen Vermeidung machen. Doch sogar der äußerste Haß noch läßt eine innere Einstellung vermuten, der der Wunsch zugrundeliegt, etwas in bezug auf die Ursache dieses Hasses zu unternehmen ein Wunsch der nicht dasselbe ist wie Vermeidung« (BETFELHEIM 1986, S. 116)

Die Kinder der Klasse waren in ständiger Auseinandersetzung. Sergio hatte daran teil, sei es durch seine positiven oder durch seine negativen oder störend empfundenen Verhaltensweisen. Der Wunsch der Gruppe war es, nach Strategien zu suchen, die seine Anwesenheit zulassen, indem man ihn vor Regeln stellte, die - auf seine Möglichkeiten abgestimmt - immer ein Teil der Realität waren.

Der Umstand, daß die Regeln aus der Analyse des Verhaltens der Gruppe und der Analyse des Verhaltens von Sergio hergeleitet wurden, erlaubte es, daß jeder sich in der Gruppe mehr oder weniger wiederfinden konnte. Es war der Beginn einer langen Reihe von Möglichkeiten und Wünschen. Die Erfahrung eines jeden war gleichzeitig die Erfahrung der Gruppe. Diese Erfahrung ermöglichte einen dialektischen Prozeß zwischen dem Selbst des Einzelnen und dem 'Selbst' der Gruppe.

Die Kontakte mit der sozialen Realität boten Sergio die Möglichkeit, seine eigene innere Erfahrung mit der Erfahrung der anderen zu konfrontieren. Die anderen wurden so zu Bezugspunkten.

»Je schwerer die Kommunikation gestört ist, desto geringer wird der Kontakt zu den Mitmenschen und desto intensiver muß die Person will sie die Realität interpretieren, auf ihre inneren Erfahrungen zurückgreifen. Als sei das nicht schon schlimm genug, ist es auch noch so, daß die Person, je weniger Kontakt sie zur Realität hat, um so weniger ihre inneren Erfahrungen an etwas messen kann, das ein ausgewogenes Urteil erlauben könnte. Und je weniger Kontakt sie hat, desto wahrscheinlicher ist es, daß sie die Signale von außen falsch und die von innen auf solipsistische (ichbezogene; Anm. d.H.) Weise interpretiert.

Kommt die Kommunikation völlig zum Erliegen oder hat sie sich überhaupt nie entwickeln können besitzt die Person nur ihre inneren Erfahrungen, von denen sie sich leiten lassen kann, ohne daß sie jedoch einen zusätzlichen Maßstab hätte.

Auf den ersten Blick könnte man vermuten daß sich das innere Selbst in diesem Fall vielfältiger entwickeln sollte. Doch diese Vermutung ist falsch. Ein Innenleben, das sich nicht an äußeren Erfahrungen mißt und bewertet, um dieser Bewertung entsprechend organisiert zu werden, bleibt chaotisch. je ausschließlicher wir uns dem Innenleben zuwenden, desto größer wird das Chaos.

Das Innenleben und mit ihm die Persönlichkeit entwickeln sich nicht, um zu einer größeren Fülle an inneren Empfindungen oder Erfahrungen zu gelangen. Die Persönlichkeit entwickelt sich aus nur einem Grund: Sie möchte ihre Umwelt bewältigen und beeinflussen« (BETTELHEIM 1986, S. 103f.).

a) Die Probleme der Eingliederung von Sergio

Sergio war acht Jahre alt. Er besuchte die 1. Klasse einer Grundschule. Seine Behinderung wurde als Autismus bezeichnet. Die Eltern bemerkten sein seltsames Verhalten im zweiten Lebensjahr. Als Sergio ungefähr drei Jahre alt war, wurde er als autistisch bezeichnet.

Schon vom ersten Schultag an zeigte er Fluchttendenzen vor fremder Umgebung. Sie zeigten sich auf verschiedene Weise: Er weinte, schrie, lief weg oder wurde gegen sich selbst aggressiv.

Aufgrund der Kommunikationsschwierigkeiten mit Sergio beschlossen die Lehrerinnen, daß nur zwei von ihnen (die Stützlehrerinnen) sich mit ihm abwechselnd in einem festen Turnus beschäftigen sollten. Dadurch sollten die Angst-Anfälle verhindert werden. Sie kamen jedesmal, wenn ihn die Mutter zur Schule gebracht hatte und diese wieder verließ. Die Situation verschärfte sich bei viel Lärm und vielen Kindern.

So handelten alle Beteiligten in einem Klima gegenseitiger Furcht. Das Kind wurde in ein kleines Zimmer, fern von seinen Mitschülern und von den anderen Lehrerinnen, gebracht. Es wurde isoliert.

Sergio bereitete den Lehrerinnen viele unterrichtliche und erzieherische Probleme. Die größten Probleme aber hatten die Lehrerinnen mit dem Aufbau einer tragfähigen kommunikativen Beziehung.

Die Stützlehrerinnen[13] berichteten: »Sergio zeigte in allen fremden Situationen panische Angst. Vor wenig bekannten Situationen mit vielen Leuten und viel Lärm, vor allem auch vor geschlossenen Räumen, versuchte er zu fliehen ... Es gelang uns nicht, ihn zu bewegen, daß er in seiner Klasse bei seinen Mitschülern blieb. Er schrie und lief weg. Bei uns blieb er ruhig in einem getrennten kleinen Zimmer, in dem wir Zeichnungen und Abbildungen aufbewahren. Wir versuchten ohne jeden sichtbaren Erfolg, ihn dazu zu bewegen, sich diese Bilder anzusehen. Meistens legte er sich auf eine Matratze, schaukelte und bewegte die Hände wie ein Schmetterling ...«

Die Lehrergruppe hatte im Weiterbildungskurs der 'formazione-ricerca'[14] die Erziehungsstrategien zur Eingliederung und Integration von Sergio festgelegt:

Sergio sollte nicht der Anlaß werden, von den Zielen, die sich die Lehrergruppe für die Klasse im Schuljahr gesetzt hatte, abzuweichen. Die gesetzten Ziele waren:

  1. Technische Fertigkeiten: Dieser Begriff umfaßt alle manuellen Fertigkeiten (alle Tätigkeiten des Handhabens von Gegenständen, schneiden können, kleben können ... ).

  2. Mathematik: Topologische Begriffe wie über, unter, hoch, tief, draußen, vorne, hinten ... ; Begriffe wie: Gleichheit, Ungleichheit ... zeitliche Folgen wie zuerst, dann, Anfang, Ende ... ; Reihungen wie dies ist kleiner als das, dies ist größer als das; Beziehungen zwischen Objekten; bis 20 zählen können; zuerst mit Dingen, dann mit Zahlen addieren und subtrahieren.

  3. Lesen und Schreiben: Wörter und einfache Sätze lesen können, ihre Bedeutung verstehen können.

  4. Kommunikation: Auf der Ebene des Wortes und des Schreibens kommunizieren zu können (Bilder, Verhalten, Stimme, Schweigen, Musik, Rhythmen ...).

  5. Interesse am Schulleben anbahnen und entfalten

So wurde im Laufe der Zeit ein Raster zur Kontrolle der Fortschritte von Sergio und der Klasse entworfen. Dabei beachteten die Lehrerinnen immer, daß die einen die anderen nicht behindern durften, wohl aber begünstigen und fördern.

Das Raster bestand aus 4 Spalten mit folgenden Inhalten:

  1. Medizinische Anamnesen und Angaben zur Entwicklung (Anekdoten, Episoden, besondere Umstände und Situationen im Verlauf der Jahre; Quellen: Ärzte, Eltern, Verwandte, Bekannte, Lehrer).

  2. Probleme des Kindes aus der Sicht des Lehrers. In dieser Spalte führte die Gruppe der Lehrerinnen die Probleme auf, die Sergio für die Klassengruppe aufwarf. In Betracht kamen folgende Bereiche: die Didaktik, das Lernen, die Sozialisation, die Autonomie, die Organisation der Klasse, die Organisation der Lehrergruppe, die Verantwortlichkeit in der Lehrergruppe, die Verantwortlichkeit hinsichtlich möglicher Gefahren, Probleme für Sergio aufgrund der Klassengruppe (getrennter Unterricht in der Klasse oder außerhalb der Klasse, Isolation, bestimmte Angstsituationen...).

  3. Die Klassenziele Es wurden die Inhalte, Programme, Kenntnisse und Zielsetzungen eingetragen, die die Klassengruppe unabhängig von Sergio erreichen sollte. Es galt zu überprüfen, ob die Eingliederung das Vorhaben der Lehrer behindern würde. (Die Theorie der »integrativen Didaktik« sieht die Anwesenheit von Sergio als Chance, neue didaktische Möglichkeiten zu entdecken; sie vermutet in diesem Zusammenhang Erleichterungen beim Erreichen von Lernzielen.)

  4. Arbeitspläne, Strategien, Methoden Die Integration von Sergio in die Klasse im Verlauf des Schuljahrs sollte zu Erziehungsstrategien führen, die sich zunächst auf die Überwindung der Anfangsprobleme bezogen und dann die Probleme betrafen, die nach und nach während des zu organisierenden pädagogischen Weges auftauchen würden. Man sammelte die Arbeitspläne, die Sergio (als aktive Person) in die Lernprozesse integrieren und gleichzeitig zu den von den Lehrerinnen festgelegten Zielen führen sollten. Anschließend sollten sie überprüft werden und bei den Fortbildungstreffen der Reflexion dienen, um dadurch die Strukturen und das methodische Vorgehen bewußt zu machen. Die Eingliederung durfte nicht auf Kosten der Klasse gehen. Vielmehr mußte in den Erziehungsstrategien und Arbeitsplänen, die im Verlauf der Fortbildungstreffen entworfen und aufgestellt werden sollten, garantiert sein, daß die Anwesenheit von Sergio eine weitere Gelegenheit zu pädagogischer Reflexion war.

Bei den ersten Zielen, die festgelegt wurden, ging es zunächst nicht darum, pädagogische Strategien zu entwickeln. Es ging vielmehr darum, jene Probleme zu überwinden, die Sergio in der Kommunikation mit »dem Anderen«, im Sich-in-Beziehung-Setzen zu den Personen, Orten und Objekten hatte.

b) Ein wenig vom Zuhause

Es ist hervorzuheben, daß Sergio sich zu Beginn der Eingliederung weigerte, in der Klasse zu bleiben. Sein Fluchtverhalten wurde vor allem beim Mittagessen zum Problem. In dem Raum, in dem das Mittagessen stattfand, waren viele Klassen anwesend, die viel Lärm verursachten. Deshalb mußten die Stützlehrerinnen ihn in der Schulküche, einem abgetrennten und stillen Ort, essen lassen. Hier machten die Lehrerinnen einige Beobachtungen: »In der Küche ist Sergio sehr entspannt, er lächelt und zeigt kaum mehr die Verhaltensweisen des Schaukelns und Wedelns, auch wenn wir nicht gerade zum Mittagessen dorthin gehen.«

Beim Sammeln und Reflektieren der Beobachtungen stellten sich die Lehrerinnen folgende Fragen: »Ist es ein purer Zufall, daß Sergio in der Küche viel entspannter aussieht und weniger stereotype Verhaltensweisen zeigt? Wollen wir versuchen, den Zusammenhang Küche zu analysieren, um herauszufinden, was zu seinem entspannten Verhalten führt?« Wir begannen, den Zusammenhang »Küche« an Situationen, Objekten und Verhaltensweisen zu analysieren. Als erstes entdeckten wir, daß die Küche hinsichtlich ihrer Struktur, der Dinge, Gerüche, Geräusche, Farben und Situationen für Sergio der am wenigsten fremde Ort war. Die Küchen in der Schule oder Zuhause ähneln einander sehr - im Gegensatz zu den Schulstrukturen in ihrer Gesamtheit, den Klassen, deren Organisation und den dort vorhandenen Dingen. Während die Schulküche Situationen, Dinge, Geräusche, Düfte und Farben mit der Küche in der Wohnung von Sergio gemeinsam hatte, hatte dies die Klasse nicht. Die Küche ist also für Sergio ein Raum, der ihn an Zuhause erinnert. Deshalb wirkt sich dieser Raum auf ihn positiv aus.

Gerade der Zusammenhang, in dem Sergio gewöhnlich lebt, ist bedeutsam: Die Räume, ihre Organisation, die Dinge, ihre Lage und Form sind ein Teil seiner Geschichte und seines Erlebens. Er hat diese Dinge schon berührt, er hat gesehen, wie man sie berührte, er hat sie bewegt, sie erinnern ihn an Ereignisse. Der neue Klassenraum hat diese Bedeutung nicht, denn er erinnert ihn an nichts. Erst wenn die neue Umgebung mit bedeutungsvollen Erlebnissen verbunden wird, fängt Sergio an, sich zu erinnern. Er erlebt sich in seiner eigenen Geschichte.

Sehr wahrscheinlich vermittelte die Küche Sergio Zusammenhänge mit seinem Erleben und mit seiner Geschichte. Vieles war ihm hier vertraut: Das Vorhandensein von Objekten wie Pfannen oder Gläser, von Geräuschen mit Wasser oder Töpfen, von Gerüchen in Verbindung mit dem Zubereiten von Speisen, von Farben der Teller, des Bestecks oder der Speisen und von Situationen wie das Um-den-Tisch-Setzen zum Einnehmen der Mahlzeiten. Sergio spürte, daß er hier etwas vom Zuhause wiederfindet. In der Küche ähnelten aber auch die Bewegungen, Haltungen und Verhaltensweisen denen, die er täglich daheim erlebte.

Wir beschlossen, auf dem Raster jene Elemente der Küche zu sammeln, die dazu beitragen könnten, sich in einer fremden Umgebung nicht mehr fremd zu fühlen, um sie dann in anderen und von der Küche unabhängigen Situationen wieder ins Spiel zu bringen. Wir wollten vor allem sicherstellen, daß Sergio in keine ihm fremde Beziehung unvermittelt eintritt. Vielmehr sollten ihm die Situationen, Räume, Objekte und Beziehungen unter sorgfältiger Berücksichtigung der affektiven Komponente des bekannten Zusammenhangs so dargeboten werden, daß er voraussehen konnte, was sich später ereignen würde. Der Arbeitsplan sollte also ein Weg sein, in dem es auch um Medien und um die Entwicklung von Kenntnissen ging, die ihm das Hineinführen in die neue Situation erleichtern sollten. Diese Medien würden zum einen als Vermittlungen dienen, und zum anderen konnte er mit ihnen seine individuellen Lernerfahrungen machen.

c) Verhaltensweisen und Kommunikation

Es gelang uns nicht, mit Sergio in Kommunikation zu treten. Zwar konnten wir sein Fluchtverhalten in bestimmten Situationen (im Zusammenhang mit Sich-fremdfühlen) interpretieren und annehmen, aber wir fanden zunächst keine Form der sinnvollen Kommunikation auf der Ebene der kognitiven Verständigung. Wir konnten lediglich die Situationen vermeiden, die bei ihm Angst, Fluchtverhalten, Schreien und aufgeregtes Umherspringen auslösten.

Ein Lehrer ist hierbei in einer ungewohnten Situation: Er darf nicht lehren, sondern muß Über die Beobachtung des Kindes die Bedeutungen lesen lernen, die vor allem durch nonverbales Verhalten ausgedrückt werden.

Die Verhaltensweisen der behinderten Kinder müssen so beobachtet, verstanden und analysiert werden, daß sich daraus die Erkenntnis ergibt, auf die sich der Erziehungsprozeß gründen kann. Der Erziehungsplan darf nicht von einer hypothetischen oder abstrakten Ebene ausgehen, sondern muß sich auf konkrete Fähigkeiten stützen - auch wenn sie noch so gering sind. Erst dadurch bietet sich die Möglichkeit, die non-verbale Kommunikation zu einer Kommunikation über Zeichen und Symbole weiterzuentwickeln, um so zur Kommunikation in Sprache und Schrift zu gelangen.

Wir mußten uns auf die Handlungen von Sergio, auf sein konkretes Tun beziehen, da es keine verbale Kommunikationsebene gab.

»Wenn die verbale Sprache und auch das 'verbale Denken' verschwinden, so tritt die Person in einen anderen Bewußtseinszustand. Sie lebt und handelt direkt auf einer Ebene, die dem Unbewußten sehr nahe liegt und mit einem Minimum an bewußter Kontrolle ausgestattet ist. Das Handeln ist dann nicht mehr ein intellektueller und rationaler Akt, sondern der direkte Ausdruck von 'etwas', das mehr intim ist, aus dem Innern, aus den tieferen Schichten kommt. Die nicht von einer höheren Instanz kontrollierten emotionalen Spannungen drücken sich in Symbolen des Agierens aus. Hier findet die Person ihre Authentizität, ihre Echtheit wieder. Die Geste, die Bewegung und das Agieren nehmen nun eine symbolische Bedeutung an; es ist die symbolische Befriedigung der tiefsten und authentischsten Wünsche. Es handelt sich dabei um einen direkten, erlebten und verinnerlichten Symbolismus, der nicht von linguistischen Strukturen vermittelt wird und nicht zwangsläufig verballsierbar ist. So ist er der Person direkt zugänglich« (LAPIERRE/AU-COUTURIER 1976, S. 136f.).

Wir wollten mit Sergio ein Zeichensystem aufbauen, das der Klasse die Möglichkeit gab, eine Sammlung von Zeichen anzulegen, mit denen alle miteinander kommunizieren konnten.

Mitteilungen aus dem Bereich des Non-Verbalen sollten dadurch den Kindern und Lehrerinnen als Zeichensystem mit Regeln bewußt werden.

Manchmal werden Stimmgebung, Haltung und besondere Gesten als Mitteilungen nicht beachtet oder mißverstanden. Es erweist sich deshalb als notwendig, durch Beobachtung solche Möglichkeiten zu berücksichtigen, genauso wie den Zusammenhang und die Umstände, in denen sie geschehen. Das noch nicht Festgelegte stellt einen zu entdeckenden Kommunikationsraum dar.

Nach unserer Hypothese empfing Sergio aus dem Zusammenhang, aus den Situationen, von den Objekten und von den Beziehungen Botschaften, die in ihm einen bestimmten Gefühlszustand hervorriefen. Sie waren das Ergebnis einer besonderen Deutung, von der wir aber nicht überprüfen konnten, ob sie jener Bedeutung entsprach, die der andere vermitteln wollte.

Die Mitteilungen, die er aufnahm, konnten in ihm eine Art Trugbilder (Phantasmen) erzeugen, die eine Entschlüsselung nach konventionell-objektiven Begriffen nicht erlaubten, sondern die er nach seinem Erleben interpretierte. Die Dimension des Phantasmatischen, auf die sich Sergio nach unserer Hypothese bezog, besetzte den Platz des strukturierten Denkens.

»... Die Verwechslung von Phantasma und Phantasie erklärt sich aus der Tatsache, daß es zwischen diesen Phänomenen eine Verbindung gibt, genauer eine Ähnlichkeit, deren Unähnlichkeit allein von dem Zusammenhang abhängt, in dem sie stehen.

Die Phantasie gehört der bewußten und vorbewußten Ebene an und wird dort entwickelt. Ihr Beitrag zum allgemeinen psychischen Gleichgewicht hat meistens den Wert einer bilderreichen Kompensation gewisser nicht befriedigter Bedürfnisse. In der Tat kann die Phantasie trotz gewisser Unzulänglichkeiten leicht mitgeteilt werden. Sie liefert ein verbales Material, das in Fabeln und in der Literatur Verwendung findet. Die Literatur kann mehr oder weniger diese Phantasie sammeln, sie entgegennehmen, sich daran vergnügen oder ihr Gewicht und ihren Beitrag verkleinern. Die Phantasie suggeriert und beeinflußt. Sie gibt dem anderen mitunter zu denken.

Etwas ganz anderes sind die Quellen, Ursprünge und die Tragweite der Phantasmen ... Diese entstehen aus einer unbewußten Überarbeitung. Sie zielen überhaupt nicht auf Kommunikation und beziehen sich nicht auf den anderen, weder als bewußtes Wesen noch als sein imaginäres Wesen: Das Phantasma enthält nur seine triebhafte Struktur. Es kann nur eine direkte Kommunikation von Unbewußtem zu Unbewußtem sein. Auf verbaler Ebene kann man nur eine 'Interpretation' vom anderen erwarten« (TOSQUELLES 1979, S. 99).

Sergio befand sich sehr wahrscheinlich in der Situation eines neugeborenen Kindes.

Tatsächlich besetzen beim kleinen Kind die Phantasmen den Ort, der später zum Denken wird. Der Säugling denkt noch nicht in logischen Strukturen, er erzeugt vielmehr Phantasmen. Er fühlt sie und projiziert sie nach außen, um sich vor seinem Unbehagen zu schützen. Es ist, wenn man so will, ein Eindruck von etwas Diffusem, von etwas vollkommen Unbewußten, für dessen Beschreibung ihm noch keine Worte zur Verfügung stehen. Das eben sind die Phantasmen. Das Denken strukturiert und klärt sich nur mit dem Verständnis und der Vorherrschaft der Sprache, und deshalb darf man nicht damit rechnen, daß Säuglinge oder schwer geistig behinderte Menschen uns von diesen Phantasmen erzählen. Dies bedeutet jedoch nicht, daß sich ihr Verhalten im Gefolge der von ihnen erlebten Phantasmen nicht strukturieren und besonders in ihren Spielen oder spontanen Aktivitäten keinen Sinn erhalten würde. Deshalb ist es nötig, die typischen Modelle der üblichen Phantasmen dieses Alters und dieses passiven oder aktiven oralen Entwicklungsstadiums zu kennen. Eine große Zahl der Kinder, mit denen wir uns beschäftigen, bleibt auf diese Stufe fixiert.

Während des ersten Lebensabschnitts hat das Kind von sich selbst und von der Mutter nur einen verschwommenen und zusammenhanglosen Begriff von Teilobjekten. Die Eroberung der Einheit des Körpers erfolgt langsam und zaghaft. Es kommt vor, daß die ersten Eindrücke einer Einheit als Angst vor Zerstückelung und möglicher Zerstörung erlebt werden. Dies ist nur logisch, wenn man bedenkt, daß Mund und Brust im aktiven oralen Stadium als etwas erlebt werden, das mit Aggression zu tun hat. Der Mund kann beißen, und die Brust kann gebissen werden. So werden diese wertvollen Teilobjekte einer Gefahr ausgesetzt. Sie können dann auch verschlungen oder auf »Phantasmen« reduziert werden (vgl. TOSQUELLES 1979, S. 98ff.).

»... die Einheit des Körpers der Mutter geht der Einheit des Körpers des Kindes voraus. Wir können sagen, daß es erst zur kindlichen Einheit durch die in der Außenwelt, im Körper des anderen, erlebte Einheit kommt, sofern die eigene Einheit der Mutter gegeben ist. Wenn die Mutter selbst ihren Körper als zerstückelt oder die kindlichen Ängste vor Zerstückelung und Zerstörung intensiv erlebt, wird das Kind seine eigene körperliche Einheit nicht entwickeln können. Folglich kann es keine stabile Persönlichkeit ausbilden.

... Da das Kind seine Eindrücke auf die 'Leinwand' der Mutter projiziert und diese so im Körper des anderen erlebt, liegt im Grunde nichts Ungewöhnliches darin, daß es, wenn es das Verschwinden dieser mütterlichen 'Leinwand', an die seine Projektionen gerichtet sind, bemerkt, seine Teilobjekte, die es außerhalb seiner selbst erlebt,...in eine Form weiter projiziert, die halluzinatorischer Natur ist. Das Kind - so sagt man - lächelt zu den Engeln. Bei Abwesenheit der Mutter sieht das Kind sie in seinen Halluzinationen. Es ist auch möglich, daß es, wenn es auftaucht und hungrig ist, sich selbst befriedigt, indem es an seiner Zunge oder an seinen Lippen saugt und sich dabei mitunter auf gefährliche Weise langweilt. Auf jeden Fall erlebt es das so, als ob die Mutter da wäre.

Es ist sehr wichtig, daß das Kind mit dem Erscheinen von 'inneren Bildern' ohne reales Objekt auskommt. Eben diese einfachen Vorstellungen wird es unbewußt suchen, und gerade mit ihrer Hilfe wird es danach die Realität in ihre sozialen Beziehungen und in das Wissen über diese Realität aufteilen. Die 'inneren Bilder' stellen unbewußte Muster oder Grundstrukturen des Geistigen dar. Wenn - aus welchem Grund auch immer - das Kind seine 'inneren Bilder' nicht entwickeln kann, wird sein ganzes zukünftiges psychisches Leben darunter leiden. Aus diesem Grund kann die Trennung zwischen Mutter und Kind während des Zeitraumes während des 6. bis 8. Lebensmonats für das Kind eine Katastrophe werden, die bis zum Tod führen kann« (TOSQUELLES 1979, S: 98ff.).

In dem genannten kritischen und krisenanfälligen Zeitraum ist die Möglichkeit gegeben, daß das Kind sich in »einen sozialen Tod zurückzieht, in dem sich sein vegetatives Leben schließlich in der Teilnahmslosigkeit verkriecht. Dies ist bei vielen schwer geistig behinderten Kindern der Fall, die dann keinen Versuch mehr unternehmen oder es ganz aufgeben, die 'inneren Bilder' zum Leben zu bringen oder wieder aufleben lassen. Sie trennen sich von den 'inneren Bildern', die uns durch das Leben tragen können, mit denen wir die aufeinanderfolgenden Stufen unserer Menschwerdung erreichen können« (TOSQUELLES 1979, S. 103).

Die phantasmatische Dimension, in die sich Sergio eingeschlossen hatte, gestattete nicht die Verfeinerung der 'inneren Bilder' und die Unterscheidung zwischen dem Phantasmatischen und dem Wirklichen sowie zwischen der halluzinatorischen Vergegenwärtigung und den realen sozialen Beziehungen.

Wir hatten die Hypothese aufgestellt, daß Sergio die Erfahrungen nicht im Hinblick auf eine Beziehung verarbeitet, in der er intentional nach mehr oder weniger ausgearbeiteten Zeichen suchte, die er auch in Übereinstimmung bringen konnte. Sein Verhalten war für uns Gegenstand der Analyse, obwohl in seiner Kommunikation keine Intentionalität lag und wir auch nicht wissen konnten, wie er die Situationen erlebte. Auch wenn bei ihm ein Nicht-Kommunizieren und ein Nicht-auf-der-Suche-Sein nach intentionaler Beziehung vorlag, so gab es doch bei den Kindern seiner Klasse den Wunsch, mit ihm zu kommunizieren.

Wir hatten für das Erstellen eines Arbeitsplans den Moment des »Ursprungs« angesetzt. Mit der Analyse der Ängste von Sergio wollten wir beginnen, um so mit ihm zu einer Vereinbarung zu kommen, die eine Voraussetzung zum Aufbau gemeinsamer Zeichen sein sollte.

Zur Anbahnung dieses Zeichensystems mußten wir vermeiden, daß Sergio die Orte, Objekte und Situationen mit negativen Vorzeichen verband. Die Angstzustände und Fluchttendenzen waren Ausdruck einer Angst, in neuen Situationen zu bleiben und in eine Beziehung einzutreten. Die Flucht war für Sergio ein ständiges Suchen nach einem Ort, den er schließlich in sich selbst fand. Wir wollten diesen Zufluchtsort vergrößern, indem das Suchen nach einem sicheren Ort das Suchen nach Kommunikation sein sollte. Wir hatten ja bei der Erfahrung in der Küche gesehen, daß die Situationen, die nicht fremd waren, in Sergio keinen Wunsch nach Flucht erzeugten. So beschlossen wir, mit einer systematischen Präsentation von allen Orten, Objekten und Umständen zu beginnen, die er kennenlernen sollte. Wir begannen, einen Präsentationsplan zu entwickeln.

d) Sergio und seine Klasse

Sergio zeigte Angstverhalten und Fluchttendenzen in fremden Situationen und insbesondere an Orten mit vielen Leuten und viel Lärm. Wie wir schon erwähnt haben, betrachteten die Stützlehrerinnen sein Verhalten als ruhig, wenn er von den anderen getrennt in einem kleinen Zimmer war, wo er sich gerne auf eine Matratze legte.

Wir fingen mit dem Entwurf eines Präsentationsplanes an. Unter Berücksichtigung der Erfahrung in der Küche und in dem kleinen Zimmer, sollte Sergio im voraus ein Eindruck von der Situation in der Klasse vermittelt werden.

Die Elemente, die in der Analyse als angstauslösend erkannt wurden (Geräusche, andere Kinder, andere Umgebung), mußten Sergio in irgendeiner Weise im voraus vermittelt werden, so daß er sie vorausschauend (wieder-)erkennen konnte. Im wesentlichen hatte die vorzustellende Situation, abgesehen von ihrem affektiven[15] Charakter, vor allem visuelle, auditive und geruchliche Dominanzen, weil hier die angstauslösenden Momente am ehesten erkannt und beeinflußt werden konnten.

Wir bastelten mit Sergio ein Album, das eine Reihe von Fotografien enthielt: den Weg zu seiner Klasse, die Tür, das Klassenzimmer und die Mitschüler; wir sprachen mit Sergio über diesen Weg und erzählten ihm von der Klasse: »... wir müssen in deine Klasse gehen ... dort sind deine Mitschüler ... das ist der Flur ... dies ist die Tür ... dies ist das Klassenzimmer ... dies sind deine Mitschüler ... dieser heißt ... der andere heißt ... das ist deine Bank im Klassenzimmer ... das sind die Bänke deiner Mitschüler.«

Wir sagen »anwesend« sein, obwohl Sergio nach unseren Beobachtungen an den Ereignissen nicht teilzunehmen schien. Trotzdem beschlossen wir, unabhängig von den Beobachtungsdaten, so zu tun, als ob Sergio alles verstehen würde: Wir sprachen mit ihm und erklärten ihm die Bewegungen. Wir nahmen auf ein Tonband die Stimmen der Mitschüler und die Geräusche in der Klasse auf. Wir ließen ihn die Aufnahme hören und zeigten ihm gleichzeitig den Weg des Gehörten auf den Bildern im Album.

Sergio hatte die Möglichkeit, sowohl die Fotos wie auch die Tonbandaufnahmen zurückzuweisen. Wenn wir ihm im kleinen Zimmer das Album zeigten, konnte er wählen, ob er sich diesem nähern und es betrachten wollte oder nicht. Genauso konnte er sich entscheiden, ob er die Tonbandaufnahmen hören wollte oder nicht. Seine Reaktionen schienen gleichgültig. Er schien offenbar nicht wahrzunehmen, wenn wir etwas erzählten, ihm etwas zeigten oder ihn etwas hören ließen. Er nahm erst daran teil, als wir ihm ein Parfüm zu riechen gaben, das nach dem Plan auch im Klassenzimmer sein sollte. Sergio sollte in der Klasse den gleichen Duft wiederfinden, den er mit den Fotos und den Tonbandaufnahmen im kleinen Zimmer assoziierte.

Die Aktivität der Präsentation im kleinen Zimmer dauerte ungefähr eine Woche, dann entschlossen wir uns zu dem Versuch, mit Sergio in die Klasse zu gehen. Wir versprühten in der Umgebung Parfüm. Mit Rücksicht auf seinen Wunsch nach Fluchtmöglichkeiten wurde beschlossen, nur einige Minuten lang einzutreten. Wir blieben auf der Schwelle, ohne die Tür zu schließen. Damit konnten wir überprüfen, ob der Arbeitsplan Erfolg hat. - Wir führten den Plan durch. Sergio zeigte kein Angstverhalten.

Während wir den Weg von dem kleinen Zimmer zu seiner Klasse überprüften, dachten wir über den nächsten Schritt nach: Wie könnten wir Sergio dazu bringen, das Klassenzimmer zu betreten und dort eine längere Zeit zu bleiben? Wir wollten für ihn seinen Platz bestimmen und kennzeichnen, damit er ihn als seinen erkennt. So klebten wir auf seine Bank ein Foto von ihm. Der Klassenraum wurde so organisiert, daß seine Bank neben der Tür war. Während Sergio in der Klasse war, sollte die Tür offen bleiben. Damit hatte er jederzeit die Möglichkeit zur Flucht.

Aber warum sollte Sergio in die Klasse gehen? Was sollte er dort tun? Es fehlte ein Grund. Wir beschlossen, die Tüte in die Klasse mitzunehmen, die einige Objekte enthielt, mit denen er gerne und spontan spielte: ein Gummiband, ein Stückchen Tuch und einige Plastiktüten. Eines Tages sagten wir Sergio, daß seine Sachen in die Klasse gebracht wurden, um sie seinen Mitschülern zu zeigen. Wir betraten die Klasse, in der vorher das Parfüm versprüht worden war. Wir ließen die Tür offen und zeigten ihm die Bank neben der Tür mit seinem Foto.

Sergio betrat die Klasse, verhielt sich gegenüber der Bank gleichgültig und blieb in einem Sicherheitsabstand zwischen der offenen Tür und der Bank stehen. Er blieb dort etwas länger als gewöhnlich, und er zeigte nicht mehr die ursprüngliche Angst vor der Klasse.

Wir setzten dieses Ritual fort und verlängerten die Zeiten, ohne ihn zum Setzen zu zwingen. Auf dem Weg boten wir ihm Lernanreize an, lehrten ihn beispielsweise die geschlossene Tür zu öffnen, die während seiner Anwesenheit in der Klasse offenblieb. Sergio blieb immer länger in der Klasse, blieb aber nahe bei der Tür stehen. Er legte seine Tüte auf die Bank, betrachtete Mitschüler und Bank, aber setzte sich nicht.

Nach einigen Tagen setzte er sich, gehalten im Arm der Stützlehrerin. Später setzte er sich sogar auf eine andere Bank. Er betrachtete immer wieder seinen Platz, bis er sich eines Tages spontan auf seinen Platz setzte. In den folgenden Tagen setzte sich Sergio hin, aber er stand sofort wieder auf, lief zur Tür, blieb ein wenig draußen und kehrte dann zurück.

Schließlich hatten wir mit dem Arbeitsplan Erfolg. Sergio überwand die Angst, in die Klasse zu treten. Während er früher durch Schreien und Wegrennen seine Angst zeigte, machte er jetzt Lernfortschritte: Sergio kannte den Weg von dem kleinen Zimmer zur Klasse und seinen Platz. Er hatte gelernt, den Türgriff richtig zu benutzen. Er konnte die Tür nun alleine öffnen. Er begann, die Tür hinter sich zu schließen und wurde von der Angst nicht mehr so sehr eingeengt.

e) Die Organisation der Klasse

Die Probleme in bezug auf Sergio führten dazu, daß wir über den Einfluß des Situationszusammenhangs im Bereich des Unterrichts nachzudenken begannen. Es wurde überlegt, inwieweit der Tagesablauf in der Klasse an Phänomenen und Mitteilungen reich war, die mitunter unbeachtet blieben, aber deshalb trotzdem vorhanden waren und Verhaltensweisen provozierten, die zu Ereignissen und Entscheidungen führten.

Die Umwelt in ihrer Komplexität, in unserem Fall das Klassenzimmer, in dem sich gewöhnlich die Beziehungen zwischen Lehrer und Schüler entwickeln, kann eine gewisse Fremdheit oder auch eine gewisse Vertrautheit vermitteln. Die Vertrautheit der Umgebung hängt davon ab, inwieweit es der Klasse gelingt, Verbindungen mit der Geschichte eines jeden in der Klassengruppe zu finden. Das Vorhandensein von Dingen wie Bücher, Stifte, Hefte, kann eine gewohnte oder ungewohnte Gegenwart sein. Solche Objekte in der Schule wiederzufinden, bedeutet auch, ein wenig von Zuhause wiederzufinden. Die Kinder finden nicht nur die Dinge in der Klasse wieder, sondern auch die Bewegungen, Gewohnheiten und Verhaltensweisen, die solche Objekte provozieren.

Die Abwesenheit von Dingen kann eine gewisse Fremdheit erzeugen. Eine solche Fremdheit dehnt sich auch auf die Verhaltensweisen und Fähigkeiten aus, die die nicht anwesenden, aber vertrauten Dinge erzeugen würden.

Sich etwas anzueignen, ist ein Verhalten, das den Schülern gewohnt ist. Sie eignen sich Gesten an und setzen ein Zeichen, das die eine Bank von der anderen abhebt (durch den Namen oder etwas anderes). Sie erlauben dem anderen nicht, von ihrem eigenen Platz Besitz zu ergreifen. Sie eignen sich einen Raum an (gewöhnlich die Wände und Türen durch Zeichnungen). Das alles ist ein Teil des Wunsches, sich wie zu Hause zu fühlen und nach einem eigenen Raum zu suchen, um ihn mit der eigenen Geschichte zu erfüllen.

Wir markieren das Gebiet, wie die Ethnologen sagen. Der Sinn liegt darin, ein eigenes Territorium zu definieren, zu verteidigen und zeitweilig einem anderen zuzugestehen.

»Die Schule als Ort eines kollektiven Lebens kann bei den Kindern eine aktive Anpassung an den zur Verfügung stehenden Raum mehr oder weniger begünstigen. Wesentlich dabei ist jedoch, daß der Raum erlebt wird - und nicht erlitten.

Die Gesetze bestimmen den Gebrauch der Räumlichkeiten, den Verkehr oder die Ingebrauchnahme. Sie sind teilweise bis ins Einzelne festgelegt; meistens gehen sie von der Schuldirektion aus, und den Schülern wird nahegelegt, sich ihnen anzupassen, aber nicht an ihrer Ausarbeitung teilzunehmen« (VASQUEZ/OURY 1975, S. 80).

Die Notwendigkeit, die Bank von Sergio nahe zur Tür zu stellen, führte zu einer Reorganisation des Klassenraumes und zur Diskussion über die Gründe. Die Kinder machten verschiedene Vorschläge und schrieben sie auf ein Plakat. Sie verschoben die Bänke, um zu sehen, welche Lösung die praktischste war. Sie machten dabei Entdeckungen. Sie entdeckten, daß die Bänke in einer bestimmten Weise angeordnet werden mußten, wenn sie einander sehen wollten, und daß dies in einer großen Gruppe für das Gespräch günstig war. Sie entdeckten, daß sie die Bankoberflächen zusammenstellen, einen großen Tisch bauen oder daß sie die Bänke an die Wände stellen konnten und so genug Platz für Bewegungsaktivitäten bekamen.

Das Umräumen gab den Lehrerinnen Gelegenheit, in der Klasse Reflexionen anzuregen:

  • über die Topologie (die verschiedenen Grundrisse der Klasse in bezug auf die Aufstellung der Bänke und der Aktivitäten);

  • über die Summe der Flächen (zwei Bänke zusammen, vier Bänke zusammen);

  • über die Kommunikation (es ist anders, wenn man zueinander spricht und sich gegenübersteht und ansieht, als wenn man hinter dem Rücken des anderen steht).

Bei diesen Aktivitäten wurden Lesen und Schreiben nicht vernachlässigt. Zusätzlich verstanden die Kinder den Sinn und Zweck. Es war eine Möglichkeit, den didaktischen Selbstzweckunterricht im Lesen und Schreiben zu sprengen.

Außerdem wurde das Foto nicht nur auf die Bank von Sergio gelegt, sondern das Foto eines jeden Kindes. Dies führte zu Reflexionen über den eigenen Raum und über den Raum des anderen.

Die Klasse ist ein anonymer Raum, der Zeichen nötig hat, damit sich jeder Schüler seinen persönlichen Raum erobern kann. Der Raum ist anonym, weil die Kinder zwar über die Dinge verfügen, sie aber nicht nach ihrem Willen benutzen dürfen. Sie dürfen die Bänke nicht umstellen und kennzeichnen. Sie dürfen keine persönlichen Dinge mitbringen und sie auf ihre Bank stellen, und wenn sie etwas aufbewahren wollen, gibt es keinen eigenen Raum dafür, zu dem andere keinen Zugang haben.

Die eigenen Dinge im Raum sind als persönliche Zeichen für die Schüler wichtig. Gerade diese Dinge werden gewöhnlich ausgeschlossen und als kommunikative Elemente (Zeichen) nicht in Betracht gezogen.

In der Klasse trifft das Kind die Anderen und andere Dinge; die anderen Dinge treffen auch das Kind und dessen Dinge in Form eines Austausches, der nicht nur über die Sprache stattfindet. Aber die Strukturen, die Organisation der Klasse, die Lehrinhalte und die Lehrweise der Lehrerinnen ermöglichen Austausch und Verständigung.

Die Aktivitäten in der Klasse

In der Klasse zu bleiben, bereitete Sergio nun keine Schwierigkeiten mehr. Er erkannte seine Bank, setzte sich dort hin, öffnete seine Tüte, nahm seine Dinge heraus, stellte sie auf die Bank, betrachtete sie, berührte sie und legte sie in die Tüte zurück. Die Anwesenheit von Sergio wurde von der Gruppe so erlebt, als ob er ein Besucher wäre, der sich eine bestimmte Zeit dort aufhält und beobachtet, was geschieht.

Sergio schien das, was sich in der Klasse abspielte, nicht zu verfolgen. Sein Blick war immer ausweichend, und wenn wir ihn dazu bringen wollten, etwas zu betrachten, wendete er den Blick ab. Sollten wir dieses Verhalten als Ablehnung, Abwesendsein oder nur als nicht aktiv Teilnehmen interpretieren?

Die Fotos, die Geräusche und Gerüche, deren Präsentation in den Erziehungsstrategien geplant und realisiert wurden, hatten wir Sergio so dargeboten, daß wir sein abwesendes Verhalten ignorierten und so taten, als ob er den Erklärungen aufmerksam zuhörte. Dies hatte zum Erfolg geführt und uns davon überzeugt, dieses Verhalten ihm gegenüber beizubehalten.

Wir sprachen mit ihm, als ob er alles verstehen würde, auch wenn er den Lehrerinnen den Eindruck vermittelte, daß sie nur für sich sprachen. Er war nun länger in der Klasse anwesend, und wir mußten die Zeit deshalb mit sinnvollen Aktivitäten ausfüllen.

Die Reflexion über das Verhalten von Sergio brachte uns dazu, ihn in jene Tätigkeiten einzubeziehen, die das Suchen nach Zeichen, Bedeutungen, Mitteilungen und Kommunikation als »Arbeitsfeld« hatten.

Wir dachten an das Zeichnen und das Kennenlernen der Farben. Aber von dieser Aktivität war Sergio ganz und gar nicht gefesselt. Wenn es gelang, ihn ein Zeichen machen zu lassen, indem wir ihm die Hand führten, reagierte er nicht. Seine einzige willentliche Reaktion entstand, als er - in eine Arbeitsgruppe einbezogen - Farbpunkte mit dem Finger auf ein Blatt machte. Es war nicht klar, ob das Berühren des Blattes mit den farbigen Fingern eine willentliche Handlung oder ein Zufall war. Aber es brachte uns auf eine Idee. Wir organisierten mit Sergio eine Arbeitsgruppe, in der gemalt werden sollte. Wir wollten also Sergio in die Gruppe bringen und nach gemeinsamen Aktivitäten suchen, aus denen sich Möglichkeiten für eine Beziehung ergeben könnten.

Die Gruppe hatte die Aufgabe, von den Zeichen auszugehen, die Sergio - spontan oder von der Lehrerin angeregt - auf das Blatt gemacht hatte. Sergio berührte die Farben meistens mit den Fingerspitzen und machte einige Punkte auf das Blatt oder strich mit dem Finger über das Blatt, als ob er den Finger säubern wollte. Er machte einen Punkt oder einen Strich, und die Mitschüler sollten, je nachdem, wie der Punkt, der Strich, die Punkte oder die Striche sie motivierten, ein Bild mit Bedeutung daraus malen, z.B. eine Blume, einen Baum, ein Haus, den Regen ...

Sergio machte im Zeichnen keine Fortschritte, aber aus der Situation Zeichnen ergab sich eine Möglichkeit zur Kommunikation. Die Mitschüler sprachen mit ihm, riefen ihn beim Namen, forderten ihn auf, einen oder mehrere Finger oder die ganze Hand in die Farben zu tunken und das Blatt zu berühren. Sie führten ihm die Hand und sprachen, als ob er es verstehen würde: »Sergio, gib mir die Hand ... male deinen Finger rot oder grün an, mache einen Strich auf das Papier ...« (Die Aufforderungen kamen spontan von den Kindern, und um sie zu verwirklichen, sollte von den Zeichen, die Sergio malte, ausgegangen werden.) Meistens bestand die Teilnahme von Sergio darin, für das Tun verfügbar zu sein und nicht im Ergreifen von Mal-Initiativen, da seine Hand von den Mitschülern geführt wurde. Aber gerade diese Verfügbarkeit für eine Beziehung hatten wir gesucht.

Wir wollten, daß Sergio die anderen nicht mehr zurückwies, sondern nach ihnen verlangte. Aus dem Wunsch nach den anderen und nach Beziehung mit ihnen sollte der Wunsch nach Kommunikation werden. Der von den Kindern ausgehende Austausch wie Lächeln, Liebkosungen, anregende Worte, Berührungen und Umarmungen sowie die Tatsache, daß Sergio es mit sich geschehen ließ, eröffneten einen Raum und die Möglichkeit für eine Syntax, für die Kommunikation.

Sergio signalisierte durch seine abwesenden Verhaltensweisen, daß er nicht aktiv an der Beziehung teilnahm. Deshalb wurde er nicht in die Beziehung einbezogen. Wir sprachen nicht mit ihm, sondern über ihn: über seine Abwesenheit, sein Nichtstun, seine Weigerung und sein Entfliehen. Die Sachen, die wir für ihn machten, verlangten wir nicht von ihm. Der Gegenstand der Diskussion war nicht Sergio, sondern seine Störungen.

Es ging im täglichen Tun, beim An- und Ausziehen oder beim Waschen nicht um ihn selbst, sondern um die Sauberkeit und das Sich-schnell Anziehen, damit er nicht zu spät kam. Der Wunsch der anderen war nicht direkt an ihn gerichtet, sondern an sein Umfeld. Sergio ließ Raum für sein Umfeld. Er zog sich zurück.

»Die gesamte affektive Kommunikation, also jeder Wunsch, mit dem anderen zu kommunizieren, und jedes Vergnügen an dem anderen, gehen wahrscheinlich über die materielle Geste, durch Vermittlung eines verstärkenden Systems.

Wenn ein Kind des Wunsches nach dem anderen beraubt wird, stirbt es. Dies beweist gerade die Depression des Neugeborenen, die bei Säuglingen in Kinderkrippen eintritt. Alle ihre materiellen Bedürfnisse werden zwar befriedigt, aber sie finden unter dem Personal keinen affektiven Kontakt.

Wenn ein Kind die Angst hat, im Wunsch des anderen nicht zu existieren, so stellt dies eine symbolische Bedrohung durch den Tod dar. Dies kann wesentliche Grundlage für ein unaufhörliches Suchen nach einer affektiven Beziehung sein, die das ganze Leben bestimmt.

Ein Kind dagegen, das nahezu ausschließlich wie ein Gegenstand gehalten wird, kann eine Psychose entwickeln. Das Wunschobjekt des anderen sein zu wollen, finden wir ständig in spontanen Situationen wieder.

Es ist das Warten, die Hoffnung und die Forderung nach einem Angebot zum Austausch: Eine Aufforderung durch den Blick, durch die Geste, die Mimik oder die Unbeweglichkeit: Ein Warten, daß der andere zu mir kommt ...« (LAPIERRE/AUCOUTURIER 1977, S. 55).

Die Klasse wollte Sergio etwas tun lassen: Sergio fühlte sich als Wunschobjekt, und die anderen wünschten ihn als Subjekt.

f) Das Bild und das Symbol

Das Foto auf der Bank von Sergio kennzeichnete für ihn seinen Platz. Sein Platz war nun ein Ort, an dem er ein Wunschobjekt war. Dies führte dazu, daß wir die Räume und die Dinge von Sergio so kennzeichneten, daß er sie als seine eigenen empfand.

Einen Raum und einen Gegenstand als sein eigen zu empfinden, bedeutet, sie von den anderen zu unterscheiden. Dies ist Voraussetzung und Möglichkeit für einen Austauschprozeß.

Außerdem wollten wir, daß Sergio sich die Gegenstände und die Situationen, die ihn direkt und positiv betrafen, auf irgendeine Weise merken sollte. Wir brauchten also ein Mittel, das Situationen als positiv benannte und kennzeichnete. Wir beschlossen, daß auf der Bank neben sein Foto ein Symbol aufgeklebt werden sollte. Wir wählten ein kleines rotes Viereck. Mit diesem Symbol wurden alle seine Dinge gekennzeichnet. Sergio sollte beginnen, sich zu erinnern und die positiven Erlebnisse mit der Gruppe mit einem Symbol verbinden. Das Symbol sollte für ihn die Ereignisse sammeln, indem es ihn an sie erinnerte und sie ihm vergegenwärtigte.

Dies sollte sich als sehr nützlich erweisen, da es in Sergio eine positive Situation, ein positives Gefühl und bei neuen Situationen eine positive Erwartung bestimmte.

Das Symbol sollte in Sergio eine Erwartung in der gleichen Wertigkeit erzeugen, in der sie erlebt worden war. Wir konnten nicht überprüfen, ob Sergio eine solche Assoziation vollzog.

Das Symbol erinnerte die Lehrerinnen an die Skepsis, an die Schwierigkeiten, an die Veränderungen und an die Strategien, um die Ziele zu erreichen. Es erinnerte sie daran, daß es nötig ist, zu beobachten, zu analysieren, Hypothesen aufzustellen, zu experimentieren und sich Ziele zu setzen, und daß die Hypothesen und Strategien wieder zur Diskussion, ins Licht neuer Daten und neuer Ereignisse gestellt werden können und müssen. Das Symbol erinnerte die Lehrerinnen daran, daß die Erfolge von Sergio nicht in einer traditionellen schulischen Lerndimension lagen.

g) Das Mittagessen

Sergio akzeptierte anfänglich, von seinem kleinen Zimmer abgesehen, nur den Bereich Küche. Beim Mittagessen war er dort allein mit der Stützlehrerin. Wir hatten versucht, ihn in den Eßsaal zu bringen, aber die große Kinderzahl und der große Lärm erzeugten in Sergio Ängste. Die Fluchttendenzen und das Geheul waren viel ausgeprägter im Vergleich zu dem Verhalten, das er zeigte, als er sich weigerte, das Klassenzimmer zu betreten. Da die Strategien zur Eingliederung in die Klasse erfolgreich gewesen waren, wandten wir sie nochmals an.

Wir nahmen die Stimmen und Geräusche beim Mittagessen auf, machten Fotografien, legten ein Album an. Diesmal beteiligte sich an diesen Aktivitäten die Gruppe, die mit ihm in den Eßsaal gehen sollte. Wir begannen über das Mittagessen zu sprechen, die Geräusche vom Tonband zu hören und die Bilder im Fotoalbum zu betrachten. Wir spielten das Mittagessen in der Klasse.

Wir wiesen ihm einen Platz im Eßsaal nahe bei der Treppe zu. Der Platz wurde mit dem kleinen roten Viereck und seinem Foto gekennzeichnet. Außerdem wiesen wir die Plätze und die Tische um ihn herum Schülern seiner Klasse zu. Sergio zeigte kein Zeichen der Angst oder Flucht.

h) Ein Vergessen - Sergio in der 2. Grundschulklasse

Nach den Ferien hatte Sergio die Verhaltensweisen des Vorjahres wieder angenommen. Er weigerte sich, in die Klasse einzutreten, zeigte Angst und heulte. Er war nur mit der Stützlehrerin zusammen. Solange die Beobachtung auf Sergio konzentriert blieb, wurde die gegenwärtige Situation als Rückschritt gegenüber dem Vorjahr bezeichnet. Aber als wir die Analyse, die wir in der ersten Klasse durchgeführt hatten, auf das Umfeld ausdehnten, erkannten wir, daß in diesem Jahr eine ähnliche Situation von Fremdheit für Sergio gegeben war, die wir im vorhergehenden Jahr als negativ empfunden hatten.

Abgesehen von dem langen Zeitraum der ferienbedingten Abwesenheit war die Klasse in einen neuen Raum umgezogen. Das Klassenzimmer schien hinsichtlich der Farben, der Wände, der Türen, der Bänke und der Größe ähnlich zu sein. Aber dieser Raum war nicht Gegenstand der Eroberung und des affektiven Erforschens gewesen. Die Fremdheit beruhte nicht auf dem formalen Unterschied, sondern auf dem affektiven Wert, den das andere Klassenzimmer, die anderen Dinge, die anderen Bänke und die andere Dimension hatten.

Dieser Wert beruhte auf kleinen Dingen - wie auch unsere Erinnerungen. Die Geräusche und Echos (je nach den akustischen Verhältnissen des Zimmers), die Stellung im Raum, die Lage eines Fensters, der Lichteinfall, die Dinge, welche man von draußen sehen konnte, ein kleiner Kratzer an der Tafel, eine Abschürfung an der Wand und andere, fast unsichtbare Zeichen beeinflussen die Gefühle. Sie konnten durch die Assoziation mit Situationen oder Erinnerungen bei Sergio Angst erzeugen. Dadurch kann die Möglichkeit verlorengehen, mit der Klasse die affektiven Beziehungen und Wünsche wieder ins Spiel zu bringen.

Sergio setzte sich draußen in den Garten und nahm aus der Ferne am Hinein- und Hinausgehen und an all dem, was sich in der Schule zutrug, teil. Wir konnten nicht sagen, er würde etwas betrachten, da sein Verhalten den Eindruck vermittelte, zerstreut und abwesend zu sein. Eine Beziehung zu den Klassenkameraden hatte er während der Pause im Garten.

Wir wollten den Kontakt mit der Klasse wieder aufbauen, indem wir von der Küche ausgingen. Wir planten Aktivitäten für die Klassengruppe wie Zubereiten von Speisen und Kochen zu regelmäßigen Zeiten. Ziel war die Erziehung zur richtigen Ernährung. Auch wenn Sergio in dieser Situation anfänglich sehr aufgeregt war, diente sie ihm doch dazu, die Beziehung zur Klasse wieder aufzunehmen. In der Beziehung zu den anderen Schülern wurde die Kontinuität wieder hergestellt, die als verloren gegolten hatte.

i) Die »Aggression« von Sergio

Etwas später im Schuljahr zeigte Sergio aggressives Verhalten. Er hatte sein ängstliches Verhalten und das Nicht-in-die-Klasse-Gehen-Wollen überwunden. Er blieb in der Klasse, aber er schien die anderen gewaltsam angreifen zu wollen. Er zwickte, verteilte Ohrfeigen und kratzte. Die Aggressionen gegenüber Erwachsenen waren noch stärker. Dies beunruhigte die Lehrerinnen sehr, mehr in Hinsicht auf das zu Erwartende als auf das gegenwärtige Verhalten: »Wenn Sergio weiter aggressiv ist und schreit, wird man ihn nicht mehr in der Klasse halten können.«

Wir beschlossen, darüber mit der Klasse zu reden, um die Gruppe an dem Problem zu beteiligen. Wir mußten von Sergio sprechen und von seinen Verhaltensweisen, die denen anderer Kinder nicht ähnlich waren. Dies traf bei den Lehrerinnen auf gewisse Ablehnung, da sie es nicht für günstig hielten. Aber eine Reflexion über dieses Nicht-für-günstig Halten offenbarte, daß sie selbst gegenüber Sergio ein ablehnendes Verhalten zeigten.

Wir wollten das Gespräch über Sergio nicht auf allgemeine Art einführen: »Was denkt ihr von Sergio? Was denkt ihr, hat er? Warum verhält er sich anders als die anderen, was denkt ihr?« Das Gespräch sollte nicht auf mehr oder weniger moralische Urteile reduziert werden (brav, böse, sympathisch). Das konkrete Problem sollte nicht mit Definitionen über Autismus, Behinderung, Krankheiten oder Ursachen zugedeckt werden.

Wir wollten nicht über Sergio in Form einer Episode sprechen, die durch mehr oder weniger erschöpfende Erklärungen das Problem auslöschen würde. Vielmehr wollten wir so beginnen über ihn zu sprechen, daß eine systematische Arbeit mit der Klassengruppe angeregt wurde. Wir beschlossen daher, die Reflexion über Sergio in einen besonderen Zusammenhang zu bringen: in den der Kommunikation, der Mitteilungen und der Sprache.

Das Nachdenken über Kommunikation, über Mitteilungen, über verbale und non-verbale Sprache und über kodifizierte und nicht kodifizierte Sprache erschien uns als eine sehr wichtige und qualifizierende Gelegenheit zum Lernen. Und diese Gelegenheit gab uns Sergio.

Die Lehrerin bat die Klassengruppe, über das nachzudenken, was Sergio »sagte« (Sergio sprach nicht). Wir kamen zu der Feststellung, daß Kommunikation nicht nur über das Wort möglich ist, sondern auch über Gesten und Verhaltensweisen. Dabei entdeckten wir, daß auch andere Kinder viele Verhaltensweisen von Sergio hatten.

Die Verhaltensweisen und Gesten, die zu einer Mitteilung beitrugen, wurden von den Kindern auf ein Plakat geschrieben: Bewegungen, Schreien, Weinen, Lachen, Liebkosungen, Kneifen, Ohrfeige, Kratzen, Schaukeln, Singen und Nicht-Beachten.

Sie schrieben auf das Plakat nach und nach die Verhaltensweisen und Mitteilungen von Sergio und deren vermutete Bedeutungen und verbanden sie mit den Situationen, Erinnerungen und Anekdoten. Wir kamen zu dem Ergebnis: Wenn Kommunikation nicht nur über Worte verstanden wird, dann konnte Sergio als »Plaudertasche« betrachtet werden.

Das Nachdenken über die Verhaltensweisen von Sergio führte auch dazu, über die besonderen Verhaltensweisen eines jeden einzelnen nachzudenken: »... Paolo bewegt die Hände sehr viel ... Oskar bewegt sich mit dem ganzen Körper und stößt das, was auf seiner Bank ist, zu Boden ... Tina errötet und hält die Hand vor den Mund ... Manuela kratzt sich am Kopf.«

Die Lehrerin berichtete: »Es war gut, daß auch die schüchternen Kinder ihr Problem erkannt hatten ..., ja, es ist wahr, wenn ich spreche, kratze ich mich mit der Hand am Kopf Die Kinder haben verstanden, daß genauso wie Sergio non-verbale Kommunikation zeigt und sich mit Gesten ausdrückt, wir dies auch nicht immer über das Wort, sondern mit Gesten, mit Blaßwerden oder mit der Mimik ausdrücken. Sie haben verstanden, daß die Sprache von Sergio unserer Gefühlssprache sehr ähnlich ist, die wir aber im Gegensatz zu Sergio erweitern, da wir uns auch verbal äußern können ...«

Die Lehrerin war über die Antworten der Kinder sehr erstaunt. Sie hatte nicht erwartet, daß die Kinder beim Sammeln der verschiedenen Kommunikationsarten und der verschiedenen Bedeutungen so gewissenhaft und aufmerksam sein würden.

k) Die Beobachtung

Die Analyse und Reflexion des Verhaltens von Sergio und seiner Kommunikation führte zu der Entdeckung, daß es um so mehr gelang, in seinen Verhaltensweisen Bedeutungen herauszufinden, je gewissenhafter und organisierter Sergio beobachtet wurde. Außerdem mußte Sergio innerhalb von Situationen beobachtet werden, da die gleiche Geste oder die gleiche Stimme in verschiedenen Zusammenhängen verschiedene Bedeutungen annahm. Um dies zu verwirklichen, brauchten wir Instrumente und Methoden zur Beobachtung. Die Lehrerinnen organisierten die Klasse nun analog zu den bereits mit den Kindern durchgeführten naturwissenschaftlichen Beobachtungen wie Beobachtungen der Temperatur, des Kalenders, der Entwicklung von Pflanzen aus dem Samen. Die Kinder waren daran gewöhnt, in Gruppen Naturphänomene zu beobachten.

Nachdem wir die Notwendigkeit einer systematischen Beobachtung festgestellt hatten, um die Zeichen und Bedeutungen im Verhalten von Sergio zu entdecken, entschlossen wir uns, gemeinsam ein Beobachtungsraster zu entwerfen. In einem Turnus von einer halben Stunde nutzten zwei bis drei Kinder dieses Raster zur systematischen Beobachtung. Die im Verlauf des Tages erhaltenen Daten wurden auf eine Graphik übertragen. Situationen, Verhaltensweisen und Bedeutungen wurden zueinander in Beziehung gesetzt und kommentiert.

l) Die Organisation

Für die Organisation der Beobachtung mußte die Klasse eine Analyse der zur Verfügung stehenden Gesamtzeit durchführen. Sie mußte den Turnus bestimmen, ihn respektieren und das Ganze auf ein Plakat skizzieren, das nun half, nach den vorher festgesetzten Übereinkünften zu wechseln, ohne den Unterricht der Klasse zu stören.

Die Beobachtungstätigkeit der jeweils zwei bis drei Schüler, die sich von jener der Klasse unterschied, störte den normalen Unterricht nicht, da die Beobachtungszeitspannen nur kurz und der Unterricht so organisiert war, daß wichtige Punkte auf ein Plakat geschrieben wurden, damit sie so während der relativen Abwesenheit der beobachtenden Schüler nicht verloren gingen.

Die Bedeutung der Zeit, die Beziehung zwischen Zeit und Uhr - ein Instrument zur Angabe der Zeit, das eine bestimmte Aufgabe hat - führte dazu, daß wir über den Gebrauch der Uhr und das Ablesen der Zeit reflektierten. Es waren auch einfache Rechenoperationen durchzuführen. Dies alles geschah nicht in einer von der Realität abstrahierten Dimension, sondern die Zeit, die Zahl und das Rechnen wurden von der Klassengruppe als Instrumente erlebt und benutzt, die zur Organisation und zur Lösung von Problemen nützlich waren.

Außerdem wurde durch die Form der Gruppenarbeit, bei der kleine Gruppen unterschiedliche Inhalte und Ziele verfolgten, allmählich mit solchen traditionellen Mustern gebrochen, die es als einzig möglich ansehen, daß in einer Klassengruppe alle die gleichen Dinge zur gleichen Zeit tun.

Das Suchen nach Bedeutungen in den Verhaltensweisen von Sergio wurde in Zeitabständen überprüft. Wir legten die Situationen fest, fanden Verbindungen zwischen seinem Verhalten und den Situationen, zwischen Verhaltensweisen und Bedeutungen. Die gleichen Beobachtungen führten zu der Feststellung, daß Sergio während solcher Gespräche ein für ihn ungewöhnliches Verhalten des Zuhörens, der Aufmerksamkeit anzunehmen begann, insbesondere dann, wenn wir von ihm und zu ihm sprachen.

Wir beobachteten, daß während solcher Gespräche seine Schaukelbewegungen, sein Wedeln mit den Händen, sein Schreien und seine Sterotypien verschwanden und sein abwesend scheinender Blick sich weitgehend verlor.

Ein Raum zum Zusammenleben

Die Beziehung zwischen Sergio und seinen Mitschülern spielte sich meistens innerhalb geplanter Situationen ab. Wir beobachteten, daß Sergio von der Klassengruppe während der Pause einbezogen wurde - wenn es auch nur gelegentlich war und meistens bei affektiven Verhaltensweisen (Auf-den-Arm-Nehmen, Liebkosen oder Führen). Dies führte dazu, daß wir für kleine Gruppenaktivitäten einen Raum und eine Zeit zur Verfügung stellten. Diese Aktivitäten erfolgten unabhängig vom Unterricht und den von den Lehrerinnen festgelegten Zielen.

Wir dachten daran, einen Teppich in die Klasse zu legen. Die Kinder sollten eine freie Ecke einrichten, in der jeder zweimal am Tag jeweils eine Viertelstunde und zusammen mit höchstens drei Kindern, abwechselnd das machen konnte, was ihm gefiel, ohne dabei die Klasse zu stören: Comics lesen, Karten spielen, über Kopfhörer Tonband hören, Fotos betrachten oder plaudern. Dies sollte für Sergio die Möglichkeit schaffen, in einer »anderen« Weise mit den anderen in Beziehung zu treten. Und jeder Schüler hatte Gelegenheit, sich von den geplanten Aktivitäten zu entfernen, also die Situation zu wechseln.

Die Mutter von Sergio hatte gegenüber dem geplanten Vorhaben Bedenken. Sie sagte, daß möglicherweise für Sergio die Rückkehr zum Teppich zu einem Rückschritt führen könnte, falls er sich dabei an die Matraze erinnerte, die für ihn ein Raum der Isolation bedeutet hatte und aus dem er nur schwer herausgetreten war. Der Teppich konnte aber auch eine neue und andere Definition annehmen.

Wir sprachen darüber mit der Klassengruppe, und der Vorschlag wurde gerne angenommen. (Ein »freier« Raum ruft die Phantasie der Kinder hervor.) Es gab dabei jedoch eine Überraschung: Als die Kinder wirklich einen Raum und eine Zeit im Klassenzimmer zur eigenen Gestaltung zur Verfügung hatten, wußte keiner, was er damit anfangen, wie er diese Zeit und diesen Raum gestalten sollte.

Durch die Situation »Teppich« entdeckten die Lehrerinnen, daß das Klassenklima die Kinder während der Aktivitäten sehr abhängig gemacht hatte. Es gelang ihnen nicht mehr, einen Raum und eine Zeit, wo sie sich während des Unterrichts anders verhalten konnten, selbständig zu organisieren. Obwohl so etwas sehr erwünscht war, wurde der Teppich nicht benutzt.

Für den Zeitraum von fast einem Monat schien der Teppich sowohl von Sergio als auch von der Klassengruppe nicht beachtet zu werden. Deshalb blieb er in einer Ecke des Klassenzimmers zusammengerollt. Eines Tages wurde der Teppich von einigen Kindern in eine Nische des Raumes getragen.

Die Kinder fingen nun an, diesen von ihnen gewählten freien Raum aufzusuchen. Auch Sergio begann, nachdem er eine Zeitlang das Verhalten der anderen beobachtet hatte, ein Mitglied dieser Gruppe zu werden und den freien Raum zu nutzen. Er wurde dazu auch von den Kindern aufgefordert.

Der freie Raum »Teppich«, die Nähe und der Körperkontakt mit den anderen ermöglichten eine Beziehung, die sich - trotz Gebrauchs der Sprache - über den Austausch von Körperkontakten, Berührungen, Liebkosungen, Blicken und Lächeln entwickelte. Dies alles erinnerte an die Beziehung zwischen Mutter und Kind.

Eine der Beobachtungen der Lehrerinnen über die Fortschritte von Sergio: »Er hat sich verändert. Ich merke dies an seinem Blick. Er ist viel aufmerksamer, verfolgt unsere Bewegungen, beobachtet, was wir machen. Er lächelt sehr ausdrucksvoll und bedeutungsvoll. Auch seine Schreie haben sich verändert. Er verändert nun die Stimme. Eines Tages wandte ich mich an die Klasse und sagte: 'Wer singt gerade?' Ich war es nur gewohnt, von Sergio Schreie zu hören.«

Sergio ließ sich berühren, liebkosen und von den anderen betrachten, und er antwortete mit Liebkosungen, mit Blicken und mit Lächeln. Dieser Dialog wurde immer offener, und er bedeutete ihm mehr. Er verstand, wenn er sich setzen, hinlegen und etwas nehmen sollte, wenn ihm etwas gegeben wurde und er etwas geben sollte; er verstand auch, worum man ihn bat. Er zeigte an gewissen Verhaltensweisen Vergnügen und verlangte nach solchen, die ihm Vergnügen bereiteten.

Die Mitschüler sprachen mit ihm. Sie verstanden seine Antworten, antworteten für ihn, interpretierten seine Forderungen und führten sie aus. Für Sergio setzte sich die Mitteilung nicht aus Worten zusammen, sondern aus seinem Verhalten. Er antwortete also in Gesprächen mit nonverbalen Verhaltensweisen.

Im Gegensatz zu einem Neugeborenen, dessen neuromotorisches System die Reife noch nicht erreicht hat, war Sergio schon 9 Jahre alt. Demnach mußten seine Möglichkeiten zur Bewegung und in der psychomotorischen Organisation als ausgereift gelten. Er lief umher, ergriff Gegenstände, warf sie weg, floh aus Situationen, die von ihm nicht erwünscht waren. Die Wahrnehmung der Welt und die Antworten auf Ereignisse entsprachen bei Sergio nicht einem Kind seines Alters. Wir durften aber auch nicht vergessen, daß wir einem 9 jährigen Kind gegenüberstanden.

Die Beziehung zu seinen Altersgenossen ging von biologischen Komponenten aus und reifte darin. Die Beziehung zu den anderen geschah über Bewegungen. Die Kinder imitierten die Bewegungen ihrer Körper. Wir konnten uns darauf beziehen, indem wir uns bewußt machten, wie der Körper es ermöglichte, einen Gegenstand zu ergreifen und einander zu geben. Hier erfolgte der Austausch auf der Ebene von »muskulären Spannungen«, auf der Ebene von Berührungen.

Auch bei Erwachsenen bestehen auf diesem Wahrnehmungsniveau Möglichkeiten zur Erzeugung eines anderen, eines elementaren Bewußtseinszustandes. Eben diese Möglichkeiten machen sich Yoga und alle östlichen Philosophien zunutze.

In unserer gegenwärtigen Zivilisation besteht eine unsichtbare Vorherrschaft der rationalen Wahrnehmungen. Aber es gibt auch das spontane Wiedererwachen von Wahrnehmungen, die den Empfindungen aus Berührungen und Körperkontakt ihre affektive Dimension geben. Vielleicht tritt hier das hervor, was wir Sinnlichkeit nennen. Aus diesem Kontakt kann eine Harmonie oder eine Disharmonie entstehen, je nachdem, ob der andere die Fähigkeit behalten oder nicht behalten hat, auf dieser sehr elementaren Ebene wahrzunehmen und sich auszutauschen.

Nur die Übereinstimmung der Antriebe kann eine solche verschmelzende Kommunikation schaffen, die für die affektive Sicherheit des Kindes notwendig ist. Wenn wir den Begriff des Verschmelzens verwenden, dann deshalb, weil das Zusammentreffen der Rhythmen zur Empfindung führt, vom anderen nicht mehr getrennt zu sein und den gleichen biologischen Antrieb zu erleben. Der Wunsch, diese Kommunikation des Verschmelzens wiederzufinden, wird dann später in das Suchen nach tiefer sexueller Übereinstimmung eingehen.

»Diese ersten körperlichen Kontakte sind nicht immer in befriedigender und sichernder Weise erlebt worden. Mehr noch: Ihr späteres Einfließen in die Beziehungssexualität mit allen damit verbundenen Verboten kann sie mit Schuldgefühlen besetzt haben. Es ist daher für uns wichtig, die symbolische Regression auf diesem Niveau so zu erleichtern und zu begünstigen, daß auf der Ebene des Körpers diese wesentliche Etappe, die die Zukunft des Seins bestimmt, 'noch einmal erlebt' werden kann« (LAPIERRE/AUCOUTURIER 1977, S. 50).

m) Die Beziehung entwickelt sich

Wenn die Klassengruppe zum Mittagessen in das höhere Stockwerk der Schule ging, wurde Sergio von der Lehrerin an der Hand geführt. Wir hatten immer noch Angst, daß er sich in einer fremden Situation allein fühlen könnte. Die Lehrerin, die ihn gewöhnlich begleitete, sagte auf einem der Treffen: »Ich habe den Eindruck, wenn Sergio seine Mitschüler hochgehen sieht, will er alleine hochgehen. Es scheint, als ob er zunächst einen Anlauf unternimmt und sich dann zurückzieht.« Es schien, als ob Sergio auf die Erlaubnis zum Gehen wartete. Wir wollten ihm sagen, er solle allein nach oben gehen. Aber wir hatten Angst, er könnte sich verlassen fühlen.

Um seinem Wunsch zu entsprechen, beschlossen wir, ihn nach oben zu schicken, indem die Lehrerin sagte: »Geh' mit Fernanda, ich habe meine Tasche in der Klasse vergessen und komme gleich nach.«

Dieser Satz, der zu Sergio in dem Augenblick gesagt werden mußte, in dem die Lehrerin den Eindruck hatte, daß er sich von ihr trennen wollte, sollte seine Trennung erleichtern. Der Satz »Geh' mit ..., dann werde ich dich gleich einholen« sollte seinen vermuteten Wunsch verwirklichen, der in einem Gegensatz zu dem Wunsch stehen konnte, nicht verlassen zu werden. Wir boten ihm zwei Perspektiven an: eine zur Verwirklichung des Wunsches »Geh' mit ... « und die andere des Nichtverlassenwerdens »dann hole ich dich ein«. Die Verwirklichung der einen Möglichkeit würde die andere nicht vollkommen ausschließen.

Die Aktion war möglich geworden, weil die Lehrerinnen die Fähigkeit zur Analyse und Reflexion des Wunsches von Sergio entwickelt und seinen möglichen Konflikt erkannt hatten. Sie mußten seinem Wunsch nachkommen, aber durften ihn mit der Wahl nicht belasten. Diese Annahme erwies sich als richtig. Sergio ging hinauf, aß mit seinen Mitschülern zu Mittag; die Lehrerin kam nach, und alles entwickelte sich erwartungsgemäß. Es wurde zur Gewohnheit, immer wieder Ausreden und verschiedene Gelegenheiten zu suchen, um Sergio allein mit den Mitschülern nach oben gehen zu lassen.

In diesem Zusammenhang gab es eine Episode, die als wichtig betrachtet werden könnte. Eines Tages begann Sergio zu weinen. Die Nicht-Intervention der Lehrerin wurde ersetzt durch die Intervention der Mitschüler, die ihn trösteten. Der Moment der Krise wurde so weit überwunden, daß Sergio, der sich nun vorwiegend auf die Klasse bezog, einem seiner Mitschüler ein Stück Brot gab. Es war ein sehr bedeutendes Geschenk, da er Brot besonders bevorzugte. Er aß sehr viel davon. Es war zuvor undenkbar gewesen, daß er es zum Geschenk machen könnte. Das Geschenk wurde auch von der Klasse als eine sehr wichtige Geste erlebt, da die vorhergehenden Beobachtungen die Bedeutung des Brots für Sergio unterstrichen hatten. Es wurde als wertvolle Gabe angenommen, und die Geste wurde mit Umarmungen und Lächeln gefeiert.

n) Andere Aktivitäten

Die Beziehung zwischen Sergio und der Klasse entwickelte sich gut. Es wurden ihm andere Aufgaben mit dem Ziel gegeben, seine Rolle in der Klasse als aktiv zu definieren: Sergio half einigen seiner Mitschüler, die Zeichenblätter und die Buntstifte in der Klasse zu verteilen. Die Lehrerin bat ihn, mit ihr in eine andere Klasse zu gehen und ihr Pakete tragen zu helfen. Er hatte die Aufgabe, Papierhandtücher an seine Mitschüler zu verteilen, damit sie vor dem Mittagessen ihre Hände abtrocknen konnten ... Sergio führte seine Aufgabe ziemlich unbefangen aus. Er verstand, was er tun sollte, und er zeigte, daß er seine Mitschüler beim Namen kannte: »Sergio, gib Gastone, Marcello, Fernanda ein Papierhandtuch.« Während der Aktivitäten weitete sich der Dialog zwischen Sergio und den Kindern immer mehr aus: »Sergio, bring mir ein Zeichenblatt, gib mir einen roten Buntstift, reiche mir ein Blatt ...«

Es ging dem Schuljahrsende zu, und die schönen Tage luden dazu ein, über Aktivitäten nachzudenken, die im Schulhof durchgeführt werden könnten. Von. den Spielen der Klasse im Hof war Sergio meistens ausgeschlossen gewesen, mit Ausnahme des Ringelreihens. Es flößte ihm Furcht ein, mit den anderen zu laufen. Er blieb lieber auf einem Baumstamm sitzen, um die anderen zu beobachten.

Wir beobachteten, wie die Kinder mit Kartons einen Raum abgrenzten und die Mauer einer Burg bauten. Dieses Spiel nahmen wir als Anregung. Wir schlugen der Gruppe vor, eine größere Burg aus verschiedenen Materialien zu bauen. Die Idee wurde mit Begeisterung angenommen. Nun mußten wir die Burg planen und fanden verschiedene Lösungen. Wir überlegten, welches Material wir brauchten und an welchem Ort die Burg gebaut werden sollte.

Das Projekt sollte alle einbeziehen, und jeder sollte beim Bauen eine Rolle haben. Auch Sergio mußte verstehen, daß es in diesem Projekt einen Platz für ihn gab und er daran teilnehmen sollte. Wir stellten eine Liste für die zum Bau der Burg erforderlichen Werkzeuge und Materialien auf. jedes Kind brachte von zuhause einige Materialien und Werkzeuge mit, die in der Schule fehlten. Sergio brachte ein Schnurknäuel mit.

Das Gebiet im Schulhof, auf dem wir bauen wollten, war weit von dem Baumstamm entfernt, auf den sich Sergio gewöhnlich setzte, um zu beobachten. Auch wenn wir ihn riefen, um ihn in das Bauen einzubeziehen, kehrte er sofort zurück und setzte sich wieder auf den Baumstamm. Wir versuchten, den Baumstamm in die Nähe des Bauplatzes zu verlegen, wo sich die Tätigkeiten der Kinder abspielten. Wir erklärten Sergio die Motive dafür: »Sergio, wir tragen den Baumstamm dorthin, dann kannst du nahe bei uns sitzen. Du kannst uns beim Arbeiten helfen, und wenn du müde bist, kannst du dich wieder setzen.« Sergio schien zunächst verwirrt und betrachtete die leere Fläche, auf der zuerst der Baumstamm gewesen war. Aber die Kinder antworteten auf seine Verwirrung, indem sie ihn zu dem neuen Platz führten, hinsetzten und ihn auf das aufmerksam machten, was sie taten. Sergio schien an den Aktivitäten wenig interessiert zu sein. Ab und zu warf er einen flüchtigen Blick darauf. Aber wenn wir ihn mit einbezogen, beispielsweise um Steine mit einer Schubkarre zu transportieren, signalisierte er seine Bereitschaft zum Mitmachen. Sein sachgemäßes Umgehen mit der Schubkarre zeigte, daß er nur bei oberflächlicher Betrachtung gleichgültig war. Vielmehr beobachtete er aufmerksam seine Mitschüler. Er hatte den Wunsch, in die Arbeit mit einbezogen zu werden. Die praktischen Tätigkeiten, die Sergio mit seinen Mitschülern verband, waren vielfältig: Schubkarren mit Materialien beladen, fahren und an bestimmten Stellen ausladen, Bambusstäbe zur Einfriedung der Burg schneiden, bündeln und aufstellen, die Geräte, Hämmer, Zangen und Scheren zureichen. Diese Tätigkeiten bezogen ihn in einen permanenten Austausch von Mitteilungen mit ein.

Die praktische Tätigkeit erforderte ein Verständnis verschiedener verbaler und nonverbaler Mitteilungen. Sie waren auf ein Ziel gerichtet: auf die Verwirklichung des Projekts. Außerdem waren die verwendeten Materialien und Werkzeuge Objekte, die die Kinder im Hinblick auf ein Ziel in unterschiedlicher Weise handhabten. Damit wurden sie ein Mittel zur ständigen Überprüfung des beabsichtigten Tuns.

Bei diesen Tätigkeiten fühlte sich Sergio als Teil des Projekts. Die Änderungen, die von ihm und der Gruppe ständig erzeugt wurden, waren zugleich Motiv des Tuns. Nehmen, geben, empfangen und verändern beinhalteten die Notwendigkeit des In-Beziehung-Seins. Die anderen brauchten Sergio, sie riefen ihn, sie ließen sich helfen. Sergio brauchte die anderen bei diesem Austausch, in dem jeder dem anderen einen Raum, eine Rolle, eine Möglichkeit des aktiven Anwesendseins zugestand. Die Initiativen von Sergio und seinen Mitschülern waren auf Antworten gerichtet; sie waren für das Projekt erforderlich, und sowohl die Fragen wie auch die Antworten erzeugten einen wechselseitigen kommunikativen Austausch. Hier wird eine Organisation sichtbar, in der Zusammenarbeit, Austausch und Veränderungen möglich geworden waren.

o) Die Schachtel der Erinnerungen

Das Schuljahresende stellte uns erneut vor das Problem, daß Sergio von der Schule eine lange Zeit abwesend sein würde. Wir befürchteten, daß sich die zu Beginn der 2. Klasse entstandene Situation wiederholen könnte. Vor einem Jahr hatte ihn das neue Klassenzimmer verwirrt. Sergio hatte Ängste entwickelt und sich geweigert, seinen neuen Klassenraum zu betreten.

Die Analyse der Situation, die Angst und Weigerung von Sergio hervorgerufen hatte, führte zu Elementen und Umständen, die wahrscheinlich sein Sich-in-dieser-Umwelt-fremd-Fühlen erzeugt hatten.

Es stellte sich heraus, daß wir uns darüber zu wenig im klaren gewesen waren, daß Sergio nicht nur zu seinen Mitschülern und zu seiner Lehrerin, sondern auch zum Klassenzimmer, zu seiner Bank, seinem Stuhl, seiner Stellung im Raum, den Objekten und Situationen eine affektive Verbindung hatte aufbauen können. Wir hatten nicht berücksichtigt, daß Sergio die im Laufe des Jahres erlebten Ereignisse mit der Organisation des Raums und der Objekte verbinden konnte. Wir dachten daran, die Klasse in das gleiche Klassenzimmer wieder zurückkehren zu lassen und ein Ritual zu planen, das wir bei Beendigung des Schuljahres und bei Beginn des neuen Schuljahres durchführen wollten.

Die Notwendigkeit, die Arbeitsergebnisse des Jahres wie Zeichnungen, Plakate, Fotografien, Dias oder Modelle aufbewahren zu müssen, führte dazu, daß wir die Materialien in eine große Schachtel räumten, ordneten, klassifizierten und inventarisierten. Die Schachtel sollte zu Beginn des neuen Schuljahres wieder geöffnet und nachgesehen werden.

Die Kenntnisse, die während des Jahres Gegenstand des Lernens und der Entdeckungen gewesen waren, sollten geordnet werden, indem wir sie gemeinsam im Rahmen einer Bestandsaufnahme wahrnahmen. Dies bedeutete, Kenntnisse, Daten, Entdeckungen und Materialien untereinander in einer globalen Synthese nochmals zu verbinden und zu vergleichen.

Durch das »Wiederöffnen der Schachtel« zu Beginn des neuen Schuljahres konnten die Erfahrungen und die Kenntnisse noch einmal in organisierter Form nachvollzogen werden. Die Kinder und die Lehrerinnen lasen gemeinsam das Inventar. Die Materialien wurden in der Schachtel wiedergefunden und im Klassenzimmer verteilt: auf den Bänken, an den Wänden, im Schrank, auf dem Lehrerpult. Gemeinsam bemächtigten sich die Kinder und die Lehrerinnen wieder der zuvor erworbenen Kenntnisse, indem sie sich an die Zusammenhänge erinnerten. Das Wiederholen der Lerninhalte beim Wiederaufstellen der Dinge im Klassenzimmer verband diese mit Situationen und Umständen, in denen sie Gegenstand von Entdeckung, Analyse und Überprüfung gewesen waren. Indem wir sie mit der Vergangenheit verbanden, gaben wir dem Wissen nun eine historische Dichte und vermieden so die Gefahr, sie im Gedächtnis als statische und absolute Größe haften zu lassen.

Die Lerninhalte wurden über die Materialien im Klassenzimmer wieder aufgestellt. Sie schufen so eine Gelegenheit, noch einmal über sie nachzudenken, sie wieder zur Diskussion zu stellen, sie neu zu entdecken und zu potenzieren. So konnten sie erneut interpretiert werden.

Der Beginn des neuen Schuljahres bot der Klassengruppe und Sergio eine Reihe von Aktivitäten an, die vor allem die Affektivität ansprachen. Die Aktivitäten ließen über die Materialien in Form einer symbolischen Vergegenwärtigung eines in der Vergangenheit erlebten Ereignisses die Situationen wieder entstehen, in denen die Dinge hergestellt worden waren.

Es war eine Vergegenwärtigung dessen, wie wir waren, was wir getan hatten und wie wir dies taten. Dabei nahmen wir eine Distanz zur Vergangenheit ein, indem wir sie jetzt beurteilten. Dies war ein Raum des Bewußtwerdens des eigenen Erlebens, der eigenen Existenz und der eigenen vergangenen Erfahrung, die in konkreter Weise über die Dinge (Zeichnungen, Fotos oder Plakate) vergegenwärtigt wurden. Diese Dinge kommunizierten und bezeugten durch ihre Organisation, daß Sergio anwesend gewesen war und jetzt noch anwesend ist.



[12] Das Konzept der Heterochronie meint nicht Disharmonie, sondern ein Gleichgewicht besonderer Art; es ist näher erläutert bei BRUNNE: in: SCHÖLER 1987, S. 267 - 275. Dort findet sich auch ein Beispiel für ein Beobachtungsraster.

[13] Zur Stellung der Stützlehrer im italienischen Schulsystem vergleiche auch: HEINZE in: SCHÖLER 1987.

[14] Zur Organisationsform der Weiterbildungskurse s. S. 26f.

[15] Die Affektivität ist für die Persönlichkeitsentwicklung von fundamentaler Bedeutung. In der affektiven Bestimmtheit zeigt sich das somatische und psychische Befinden gleichermaßen. Mit Recht stellt die Psychoanalyse fest, daß sich die Affektivität von frühester Kindheit an bildet und formt; sie wird auch deshalb als authentisches Bedürfnis betrachtet, das die gesamte Entwicklung begleitet.

Anhang

a) Gesetz 517/1977 (Integrationsgesetz)

Das Gesetz Nr. 517/1977, das am 4.8.1977 mit den Stimmen der Democratia Christiana (etwa vergleichbar der CDU in der Bundesrepublik Deutschland) verabschiedet wurde, trat am 1.9.1977 in Kraft. Damit wurde eine bereits 15 Jahre zuvor begonnene Entwicklung gesetzlich verankert, nämlich die Abschaffung der Sonderschulen.

Der Wortlaut des Gesetzestextes war ein Jahr zuvor veröffentlicht worden.

Auf freiwilliger Basis wurde in einigen nördlichen Regionen Italiens bereits Anfang der 60er Jahre mit der Integration behinderter Kinder begonnen.

Seit dem Schuljahr 1977/78 wurden behinderte Kinder nicht mehr in Sonderschulen eingeschult. Die bestehenden Schulen führten die bestehenden Klassen weiter und lösten sich zu Beginn der 80er Jahre auf.

Das Gesetz 517/1977 regelt eine Fülle von Einzelfragen, die nicht alle im Zusammenhang mit der schulischen Integration behinderter Kinder stehen. Der folgende, von Patricia Monti-Straub übersetzte Text, gibt jene Teile wieder, die sich unmittelbar auf die Situation behinderter Kinder beziehen:

ARTIKEL 2

Unter Erhaltung der Einheit der Klasse kann die didaktische Planung zur Erleichterung der Durchsetzung des Rechts auf Bildung und Förderung der persönlichen Entwicklung jedes Schülers integrierende Aktivitäten enthalten, die für Gruppen von Schülern einer oder mehrerer Klassen organisiert werden, auch mit dem Ziel, individuelle, auf die Bedürfnisse jedes einzelnen Schülers bezogene Maßnahmen zu realisieren.

Im Rahmen solcher Aktivitäten verwirklicht die Schule Integrationsformen für Schüler, die Träger einer Behinderung sind, unter Mitarbeit spezialisierter Lehrer, die den Schulen durch Erlaß des Präsidenten der Republik zugeteilt werden (...).

Es müssen außerdem die notwendigen Spezialintegrationsmaßnahmen, der sozio-psychopädagogische Dienst und besondere Stützmaßnahmen je nach Zuständigkeit des Staates und der Kommunalverbände gesichert werden - im Rahmen der Verfügbarkeit des Haushalts und auf der Grundlage des vorab festgelegten Programms des Distriktschulrates.

Innerhalb des zweiten Monats des Schuljahres erarbeitet das Lehrerkollegium den Plan der Aktivitäten (piano dell' attivitá) auf der Grundlage der allgemeinen, vom Schulrat (consiglio di circolo) vorgegebenen Kriterien und der Vorschläge der Klassenräte (gemeint sind die in einem Jahrgang unterrichtenden Lehrer - Anm. J. Sch.) sowie in Bezug auf das in der Schule vorhandene nicht lehrende Personal, die zur Verfügung stehenden Raum- und Hilfsmittel und die Erfordernisse der Umgebung.

Im Laufe des Schuljahres wird der Plan durch das Kollegium geprüft und verbessert.

Die Klassenräte finden sich mindestens einmal innerhalb von zwei Monaten zusammen, um die gesamte Entwicklung der didaktischen Aktivitäten in ihren Klassen zu überprüfen und entsprechende Änderungen in der Planung (programma di lavoro didattico) vorzuschlagen. (...)

ARTIKEL 4

Der oder die Klassenlehrer sind gehalten, einen »scheda personale« des Schülers auszufüllen und auf dem neuesten Stand zu halten, der Angaben über den Schüler selbst und seine Teilnahme am Schulleben enthält sowie systematische Beobachtungen seines Lernprozesses und des erlangten Reifeniveaus.

Aus den im »scheda« registrierten Elementen wird von den Lehrern der Klasse pro Trimester eine angemessen informierende Bewertung über das allgemeine Reifeniveau des Schülers erstellt, dessen Inhalt den Eltern oder deren Stellvertretern erklärt wird, und zwar in Verbindung mit Maßnahmen, die für den Schüler vorgesehen sind (...)

ARTIKEL 7

Um die Durchsetzung des Rechts auf Bildung und die gesamte Persönlichkeitsentwicklung der Schüler zu erleichtern, kann die didaktische Planung integrative schulische - auch interdisziplinäre - Aktivitäten und Stützmaßnahmen enthalten, die für Gruppen von Schülern einer oder mehrerer Klassen organisiert werden, auch mit dem Ziel, individuelle, auf die Bedürfnisse jedes einzelnen Schülers bezogene Maßnahmen zu realisieren.

Im Rahmen der im vorigen Absatz erwähnten didaktischen Planung sind Integrationsformen und Stützmaßnahmen für Schüler, die Träger einer Behinderung sind, vorgesehen, die mit den Lehrern durchgeführt werden, welche eine Spezialausbildung haben. Einer Klasse, in der Kinder mit Behinderungen sind, wird ein Speziallehrer mit sechs Stunden pro Woche zugeteilt.

Klassen mit Schülern, die Träger einer Behinderung sind, dürfen nicht mehr als 20 Schüler haben. In diesen Klassen müssen außerdem die notwendigen Spezialintegrationsmaßnahmen, der soziopsychopädagogische Dienst und besondere Stützmaßnahmen je nach Zuständigkeit des Staates und der Kommunalverbände gesichert werden. (...)

b) Rahmenlehrpläne für die Grundschule von 1987

Die neuen Grundschulrahmenlehrpläne wurden nach eingehender fachlicher und öffentlicher Diskussion vom Schuljahr 1987/88 an zur verbindlichen Arbeitsgrundlage. Im folgenden werden aus dem 76 Seiten umfassenden Plan die Seiten 10 bis 12 und 14 leicht gekürzt wiedergegeben, die sich mit Integrations- und Bewertungsfragen befassen:

(Der vollständige Text für die Fächer Mathematik und italienische Muttersprache ist im Anhang zu SCHÖLER 1987 nachzulesen.)

Schüler mit Lernschwierigkeiten und Träger einer Behinderung

Die Ausübung des Rechtes auf Erziehung und Bildung im Rahmen der Schulpflicht darf nicht aufgrund der Anwesenheit von Lernschwierigkeiten verhindert werden, unabhängig davon, ob die Lernschwierigkeiten mit Behinderungen oder Benachteiligungen verbunden sind; zwei Situationen, die nicht miteinander zu verwechseln sind.

Die Benachteiligung besteht aus familiären und emotionalen Mängeln, sozialen und ökonomischen Nachteilen und ist mit kulturellen und sprachlichen Unterschieden verbunden, die durch mangelnde intellektuelle Planung verursacht sind. Daher soll die erzieherische und didaktische Planung so gegliedert und entwickelt werden, daß der Aufbau und die Verwirklichung von individuellen schulischen Lernwegen vorgesehen ist. Die Planung soll, unter Berücksichtigung der verschiedenen Ausgangsniveaus, eine Reihe von ... Lernzielen festsetzen.

Der Integrationsprozeß von Schülern, die Träger einer Behinderung sind, insbesondere einer schweren, benötigt nicht ein »ärztliches Attest«, sondern vielmehr eine von den spezialisierten Diensten vorbereitete »funktionale Diagnose«, die Grundlage der erzieherisch-didaktischen Planung ist.

Die funktionale Diagnose soll die wichtigsten potentiellen Entwicklungsmöglichkeiten und Mängel hervorheben, damit die Lehrer die notwendigen bedürfnisorientierten und individualisierten Maßnahmen im Rahmen der erzieherisch-didaktischen Planung durchführen können.

Der Schüler, der Träger einer Behinderung ist, fordert von der Schule umfassendere erzieherische Hilfe und didaktische Unterstützung. Während in den meisten Fällen die Entwicklung, Verfeinerung und Differenzierung der didaktischen Praxis genügen kann, sind in den nicht so zahlreichen Fällen, wo Schüler sich in einer besonders schweren Lage befinden, qualifizierte und differenzierte didaktische Maßnahmen notwendig, unterstützt durch Therapie und Rehabilitation. Hier soll die Schule mit Experten sowie mit den vorhandenen öffentlichen Diensten und Einrichtungen zusammenarbeiten.

Es ist notwendig, daß die Arbeit der Schule von solidarischen Bemühungen seitens der Familie begleitet wird, sowie von der Kooperation mit dem sozialgesundheitlichen Dienst, welcher die Vorsorge, die Frühmaßnahmen und die Fürsorge organisiert.

Bei Kindern mit besonders schweren Behinderungen ist es zweckmäßig, innerhalb eines Schuldistriktes entsprechend ausgestattete Dienststellen vorzusehen, die das Ziel haben, spezielle Maßnahmen durchzusetzen - in enger Zusammenarbeit mit der Schule, den örtlichen Gesundheitsdiensten und Spezialeinrichtungen.

Die Bewertung der Schulleistungen behinderter Kinder kann nur in Zusammenhang mit den individuallsierten Lernschritten und Erziehungszielen, die durch die didaktische Praxis angestrebt werden, stattfinden.

Die Bewertung

Die Lehrer sollen systematisch und kontinuierlich Informationen über die Entwicklung des Kenntnis- und Fähigkeitsniveaus, die Lernbereitschaft, den Reifeprozeß und das Selbstbewußtsein jedes einzelnen Schülers sammeln, mit dem Ziel, eine effektive Bewertung der Ausgangs- und Endpunkte, der Vorgänge, der festgestellten Schwierigkeiten und der kompensatorischen Maßnahmen zu sichern.

Die Informationen sind nach Kriterien zu sammeln, die einen positiven Vergleich der individuellen und kollektiven Entwicklungsstände ermöglichen.

Die Methode und die Mittel der Informationsaufnahme sollen unterschiedlich sein und immer der betrachteten Aktivität entsprechen: In manchen Fällen werden objektive Leistungsmessungen angewendet. In anderen Fällen Aufnahmeformen bevorzugt, die einer weniger formellen didaktischen Praxis entsprechen.

Die gesamten systematischen Beobachtungen, die die Lehrer im Laufe der didaktischen Praxis durchgeführt haben, sind das bestgeeignetste Mittel für die kontinuierliche Anpassung der didaktischen Planung an die individuellen Lernmöglichkeiten.

Die Mitteilung der Ergebnisse dieser Bewertungstätigkeit an die Familien und die weiterführenden Schulen soll auch die gegenwärtigen und zukünftigen Maßnahmen der Schule in bezug auf die Entwicklung des einzelnen und der Gruppe dokumentieren.

Die Planungs- und Bewertungstätigkeit soll den Lehrern die Gelegenheit bieten, die Tiefe ihrer psychologischen, kulturellen und didaktischen Bildung auch hinsichtlich der eigenen Weiterbildung zu überprüfen.

Literaturverzeichnis

Das Literaturverzeichnis der, deutschsprachigen Ausgabe umfaßt die italienischsprachige Literatur nur insoweit, wie darauf in dem deutschsprachigen Text bezug genommen wurde.

Soweit es sich um italienische Übersetzungen aus französischer und englischer Originalliteratur handelte, wurde der italienische Titel und auch der Originaltitel hier aufgeführt, um den interessierten deutschsprachigen LeserInnen den Rückgriff auf die Originalliteratur zu ermöglichen.

Soweit für französische oder amerikanische Werke auch deutschsprachige Veröffentlichungen vorliegen, wurden nur diese in die Literaturliste übernommen.

Die mit * versehenen Titel sind zusätzlich für die deutschsprachige Ausgabe in das Literaturverzeichnis aufgenommen worden.

Bertolini, P.: Dizionario di Psico-Sozio-Pedagogia. Milano 1980 (Scolastiche Bruni Mondadori)

Bettelheim, B.: Die Geburt des Selbst. München 1986

Canevaro, A.: Educazione e Handicappati. Florenz 1979 (La Nuova Italia Editrice)

Chomsky, N.: Sprache und Geist. Frankfurt 1970

*Cuomo, N.: Die Integration - Gelegenheit für Lernprozesse. In: Behindertenpädagogik 26 (1987), S. 234 - 238

Delacato, C.H.: Alla scoperta del Bambino autistico. Roma 1979 (A. Armando Editore)

Delacato, C.H.: Der unheimliche Fremdling (The ultimate Stranger). Das autistische Kind. Freiburg 1975

Doman, G.: Was können Sie für ihr hirnverletztes Kind tun? Freiburg

Hall E.T.: Linguaggio silenzioso. Milano 1969; engl. Originalausgabe: The silent language. New York 1959

*Hall, E.T.: Die Sprache des Raumes. Düsseldorf 1976

*Jenny darf nicht in die Oberschule - Dokumentation, hrsg. von ihren Eltern: Gisela und Wolf-Dieter Lau, Berlin 1987; direkt zu bestellen (für 10,- DM): Neue Straße 6, 1000 Berlin 37

Lapierre, A./Aucouturier, B.: La simbologia del movimento. Cremona 1977. (Distribuzione Editrice Padus); franz. Originalausgabe: La Symbolique du mouvement. Psychomotricité et education. Paris 1975

*Miessler, M. u.a.: Das bin ich. Beiträge zu einer persönlichkeitsorientierten Erziehung. Neues Lernen mit Geistigbehinderten. Bonn-Bad Godesberg 1984 (4. Aufl. 1987)

*Milani-Comparetti, A.: Grundlagen der Integration behinderter Kinder und Jugendlicher in Italien. In: Behindertenpädagogik 26 (1987), S. 226 - 234

Piaget, J.: Der Aufbau der Wirklichkeit beim Kind. Stuttgart 1974

*Schöler, J. (Hg.): »italienische verhältnisse« insbesondere in den schulen von Florenz. Berlin 1987

*Schöler, J.: Die Arbeit von Milani-Comparetti und ihre Bedeutung für die Nicht-Aussonderung behinderter Kinder in Italien und in der Bundesrepublik Deutschland. In: Behindertenpädagogik 26 (1987), S. 2 - 16

Stern, W.: Psychologie der frühen Kindheit bis zum sechsten Lebensjahr. Heidelberg 19679 (l. Auflage 1914)

Tosquelles, E.: L'educazione dei deboli mentali. Bologna 1979 (Dehoniane)

Vasquez, A./Oury, F.: L'educazione nel gruppo classe. Bologna 1975 (Dehoniane); franz. Originalausgabe: De la classe coopérative à la pédagogie institutionelle. Paris 1971 (Librairie Francois Maspero)

*Vasquez, A./Oury, F. u.a.: Vorschläge für die Arbeit im Klassenzimmer. Die Freinet-Pädagogik. Alternativen zum gewöhnlichen Schulleben. Hamburg 1976

Watzlawick, P., Beavon, J.H., Jackson, D.D.: Menschliche Kommunikation. Bern, Stuttgart, Wien 1969

Wing, L.: Das autistische Kind. Ravensburg 1980

Zapella, M.: Il bambino nella luna. Milano 1979 (G. Feltrinelli Editore)

Zazzo, R.: 1 deboli mentali. Torino 1974

Quelle:

Nicola Cuomo: Schwere Behinderungen in der Schule. Klinkhardt-Verlag, 1989. Aus dem Italienischen übertragen und überarbeitet von Jutta Schöler

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 19.04.2012

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