"Das behinderte Kind in der Familie - Die Sicht der Eltern und Geschwister"

Autor:in - Katharina Cain
Schlagwörter: Eltern, Familie, Theorie, Geschwister
Textsorte: Hausarbeit
Releaseinfo: Jahreshausarbeit an der Martin- Luther- Universität Halle - Wittenberg. Fachbereich Erziehungswissenschaften. Betreuer: Dipl. soz. Karsten Exner, eingereicht am: 09. 05. 2007
Copyright: © Katharina Cain 2007

1. Einleitung

Die folgende Arbeit beschäftigt sich mit dem behinderten Kind in seiner Familie. Es soll sich damit auseinandergesetzt werden, wie das Kind in der Familie wahrgenommen wird und wie eine Behinderung diese Wahrnehmung unter Umständen beeinflusst.

Unter dem Begriff Familie verstehe ich in dieser Arbeit die Eltern, bestehend aus Mutter und Vater, und zwei oder mehr Kindes, von denen eines behindert ist. Alle anderen möglichen Formen von Familie wie beispielsweise Alleinerziehende mit Kind bleiben unberücksichtigt, da ihre Untersuchung den Rahmen dieser Arbeit überschreiten würde.

Als theoretische Basis scheinen die ökologische Theorie Urie Bronfenbrenners und die Theorie des symbolischen Interaktionismus geeignet, um zum einen die Strukturen des Systems Familie und zum anderen die Wechselbeziehungen innerhalb der Familie zu erhellen. Danach soll aus Sicht der beiden Theorien ein Blick auf die spezielle Situation von Familien mit behinderten Kindern geworfen werden. Der Hauptteil der Arbeit zeigt die verschiedenen Möglichkeiten der Rollenübernahme und Handlungswahl für die einzelnen Familienangehörigen auf. Dabei orientiere ich mich an Seifert, die das System Familie in drei Teilsysteme gegliedert sieht: das Eltern/Kind-Subsystem, das Ehepartnersubsystem und das Geschwistersubsystem.[1]

Es soll in dieser Arbeit darum gehen, verschiedene Möglichkeiten aufzuzeigen wie die Rolle der Eltern oder Geschwister eines behinderten Kindes gefüllt werden kann und welche Rolle das behinderte Kind selbst dabei spielt.



[1] vgl.: Seifert 1989, S. 35

2. Theoretischen Grundlagen

2.1 Die ökologische Theorie

Urie Bronfenbrenner beschäftigt sich in seiner Theorie der menschlichen Entwicklung mit dem Verhältnis zwischen einer Person und ihrer Umwelt. Dieses Verhältnis ist wie Hurrelmann schreibt von echter Gegenseitigkeit geprägt. Die Person wird als "wachsende dynamische Einheit [gedacht], die das Milieu, in dem sie lebt, fortschreitend in Besitz nimmt und umformt[2]". Die Umwelt eines Menschen versteht Bronfenbrenner dabei als eine Verbindung konzentrisch angeordneter Systeme beziehungsweise aufeinander aufbauender Systemebenen. Die erste Ebene ist das Mikrosystem als die "augenblickliche, direkt auf die sich entwickelnde Person einwirkende Situation[3]", zum Beispiel die Familie oder das Klassenzimmer in dem Moment, in dem die Person sich in diesen Umgebungen aufhält. Die Verbindung mehrerer solcher Lebensbereiche, an denen die Person tatsächlich beteiligt ist, nennt Bronfenbrenner das Mesosystem, beispielsweise die Verbindung zwischen Elternhaus und Schule. Bereiche, zu denen die Person keinen direkten Zugang hat, die aber trotzdem Auswirkungen auf ihr unmittelbares Lebensumfeld haben, wie zum Beispiel die Arbeitsstelle der Eltern Auswirkungen auf das Familienleben und damit auf das Kind hat, werden als Exosystem bezeichnet. Das Makrosystem enthält zuletzt die in einer Kultur vorherrschenden übergeordneten Muster sozialer Institutionen, die den Rahmen für die ersten drei Ebenen vorgeben.[4]

Da es in dieser Arbeit vorwiegend um innerfamiliäre Prozesse gehen soll, genügt es an dieser Stelle, sich mit Bronfenbrenners Beschreibung des Mikrosystems eingehender zu beschäftigen.

"Ein Mikrosystem ist ein Muster von Tätigkeiten und Aktivitäten, Rollen und zwischenmenschlichen Beziehungen, die die in Entwicklung begriffene Person in einem gegebenen Lebensbereich mit den ihm eigentümlichen physischen und materiellen Merkmalen erlebt."[5] Die wesentlichen Elemente des Mikrosystems sind Tätigkeiten, zwischenmenschliche Beziehungen und Rollen.

Von Bedeutung für die Entwicklung einer Person sind nicht alle Aktivitäten, sondern nur solche, die Bronfenbrenner als molare Tätigkeiten bezeichnet. Diese zeichnen sich durch Kontinuität und Komplexität aus und stehen im Gegensatz zu einfachen, abgeschlossenen Handlungen, wie etwa dem Anklopfen an eine Tür, einem Lächeln oder einer einzelnen Frage oder Antwort. Molare Tätigkeiten besitzen Beharrungsvermögen, das heißt bis zu ihrer Vollendung sind sie zeitlich beständig und in gewisser Weise widerstandfähig gegen Unterbrechungen. Die Inhalte molarer Tätigkeiten reichen von passiven Bereichen wie Schlafen oder Warten bis hin zu Aktivitäten wie Spielen, Arbeiten, Bildungsprozessen und Ähnlichem.[6]

Solche Aktivitäten bilden einen wesentlichen Bestandteil von Beziehungen. "Eine Beziehung besteht, wenn eine Person innerhalb eines Lebensbereichs die Aktivitäten einer anderen aufmerksam verfolgt oder sich an ihnen beteiligt."[7] Besteht diese Beziehung in beide Richtungen, spricht Bronfenbrenner von einer Dyade. Er unterscheidet dabei zwischen Beobachtungsdyade, Dyade gemeinsamer Tätigkeit und Primärdyade. Wesentliches Merkmal der ersten ist die Aufmerksamkeit eines der Beteiligten für die Aktivitäten des anderen und die erkennbare Reaktion dessen auf diese Aufmerksamkeit. In der Dyade gemeinsamer Tätigkeit müssen beide Partner nicht das gleiche tun, aber ihre Tätigkeiten müssen aufeinander bezogen sein. Diese Beziehungen zeichnen sich durch Affektivität und ein Kräfteverhältnis aus, in dem eine Person mehr Einfluss auf die Situation hat als die andere. Je positiver und gegenseitiger sich die gefühlsmäßigen Bindungen gestalten, desto stärker begünstigen sie die Bildung einer Primärdyade. Diese ist gekennzeichnet durch gegenseitige positive Gefühle. Ihr wesentliches Merkmal ist ihr Fortbestehen im Bewusstsein der beteiligten Personen auch dann, wenn diese nicht zusammen sind. Sie besitzt daher auch die größte Auswirkung auf die Entwicklung der Personen. "Lernen und Entwicklung werden begünstigt, wenn die in Entwicklung begriffene Person sich mit jemandem, zu dem sie eine starke und dauerhafte Beziehung gebildet hat, an fortschreitend komplexeren Mustern wechselseitiger Tätigkeit beteiligt und sich das Kräfteverhältnis allmählich zu ihren Gunsten verschiebt."[8] Doch nicht nur der in Entwicklung begriffene Partner verändert sich. Je enger und emotionaler die Bindung der beiden Personen ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass auch der andere sich weiterentwickelt.[9]

In der Realität bilden allerdings selten zwei Personen eine nach außen abgeschlossene Einheit. Auch Bronfenbrenner stellt fest, dass der Einfluss Dritter auf eine Dyade nicht unerheblich ist. Sie können die Entwicklung der Dyadenpartner durch ihre An- beziehungsweise Abwesenheit hemmen oder auch befördern. Je nachdem in welcher Beziehung sie zu einem der Dyadenpartner stehen. Bronfenbrenner spricht bei diesen erweiterten Beziehungssystemen von "soziale[n] Netzwerke[n]" beziehungsweise "zeitlich versetzte[n] Interaktionssysteme[n]"[10]. Das heißt, dass die Interaktionspartner nicht notwendigerweise alle zur gleichen Zeit anwesend sein müssen, um sich wechselseitig in ihrem Verhalten und ihrer Rollenausübung zu beeinflussen. Auch das Wissen um die Einstellung eines Dritten zum eigenen Verhalten kann eine Veränderung hervorrufen.[11]

Das Verhalten einer Person richtet sich auch immer nach der gesellschaftlichen Stellung, die sie innehat. Bronfenbrenner benutzt hier den Begriff der Rolle. "Eine Rolle ist ein Satz von Aktivitäten und Beziehungen, die von einer Person in einer bestimmten Gesellschaftsstellung und von anderen ihr gegenüber erwartet werden."[12] Seiner Ansicht nach sind die Erwartungen an den Träger einer Rolle im Makrosystem, das heißt im kulturellen beziehungsweise subkulturellen Bezugsrahmen, verankert. Sie beziehen sich auf die Inhalte von Aktivitäten, die diese Person ausübt und auf die Art der Beziehungen, die sie eingeht. Bronfenbrenners Definition bezieht allerdings nicht nur Erwartungen an die Person selbst ein, sondern spricht auch vom erwarteten Verhalten anderer ihr gegenüber.

Bei allen seinen Ausführungen zum Mikrosystem betont Bronfenbrenner immer wieder die Wichtigkeit des persönlichen Erlebens. Ob eine Situation Einfluss auf die Entwicklung einer Person nimmt, hängt von ihrer subjektiven Bedeutsamkeit für dieselbe ab. "Nicht nur die objektiven Eigenschaften der Umwelten [...], sondern auch die Art und Weise, wie diese Eigenschaften von den Personen in den Umwelten wahrgenommen werden"[13] macht sie zu für die Person bedeutsamen Aspekten.[14] Eine Person wird beispielsweise nicht alle an sie und ihre Rolle gerichteten Erwartungen erfüllen, sondern vielleicht nur die von Personen oder Institutionen, die ihr wichtig sind.

Da die individuelle Interpretation und Konstruktion der Verhältnisse in Bezug auf die Fragestellung dieser Arbeit von besonderer Bedeutung ist, soll im Folgenden noch die Theorie des Symbolischen Interaktionismus herangezogen und näher erläutert werden. Diese beschäftigt sich ebenfalls, allerdings noch etwas eingehender, mit der Bedeutung subjektiver Wahrnehmung für die Deutung von Situationen.

2.2 Der Symbolische Interaktionismus

Auch die Theorie des Symbolischen Interaktionismus geht von einem wechselseitigen Verhältnis zwischen dem Individuum und seiner Umwelt aus. Das Individuum reagiert auf eine Situation, die es zuvor aus seiner subjektiven Sicht für sich definiert hat.

Sheldon Stryker betont in ihrem Aufsatz über die Bedeutung des Symbolischen Interaktionismus für die Familienforschung, dass Menschen erst handeln können, wenn sie die Lage, in der sie sich befinden, für sich bestimmt haben. "Sie müssen Definitionen der Situation leisten"[15]. Dies geschieht, indem sie den Objekten in ihrer Umgebung symbolische Bedeutung zumessen. Die Bedeutung ergibt sich aus der Beobachtung des Verhaltens anderer Personen gegenüber bestimmten Objekten.[16] Das Individuum ordnet die Objekte dabei Kategorien zu, die ihm ermöglichen sein Verhalten gegenüber der Welt zu organisieren. Es handelt also nicht spontan, sondern aufgrund einer zuvor geleisteten Interpretation der Situation.

Als Objekte werden in diesem Zusammenhang nicht nur leblose Dinge verstanden, sondern vor allem auch andere Personen, mit denen das Individuum in Interaktion tritt. Auch hier gilt, "daß Personen auf das Handeln ihres Gegenüber [...] gewöhnlich nicht spontan, sondern aufgrund der Bedeutung (der Interpretation, des Verstehens) dieser Handlung [...] eingehen [...]. Das Verhalten der an einer Interaktion beteiligten Akteure ist also jeweils Antwort des einen auf die eigene Interpretation (Bedeutungsfeststellung) der Handlung(sabsichten) des anderen".[17] Diese Bedeutungszuschreibung bezieht sich nicht nur auf das aktuelle Verhalten des Gegenübers, sondern auch ganz allgemein auf seine Position in der Gesellschaft.

Gesellschaftliche Positionen sind Kategorien und dienen dazu Personen zu klassifizieren und das Verhalten ihnen gegenüber zu organisieren. Wenn eine Person eine bestimmte Position innehat oder ihr eine solche zugeschrieben wird, verbinden sich damit auch bestimmte Erwartungen an Verhaltensweisen der Person selbst und ihrer Handlungspartner. Diese Erwartungen werden als Rollen bezeichnet.[18] Sie geben ein bestimmtes Auftreten, Verhaltensweisen und Einstellungen vor. Eine Rolle vermittelt eine Vorstellung davon, wie eine bestimmte Person handeln wird und was ihre Absichten dabei sein können, und ermöglicht es dem Individuum sich entsprechend zu verhalten und seine Reaktionen schon im Vorhinein darauf einzustellen. Der Begriff der Rolle ermöglicht es meines Erachtens auch, eine Person an diesen Erwartungen zu messen und danach zu beurteilen, ob sie diese Erwartungen erfüllt, das heißt ihre Rolle zufrieden stellend beziehungsweise erwartungsgemäß ausübt.

Auch in Bezug auf sich selbst sind Rollen und Rollenerwartungen für das Individuum bedeutsam. Zum einen hat es eine Vorstellung davon, wie man sich dem Inhaber einer bestimmten Rolle gegenüber verhält und richtet seine Reaktionen im Interaktionsprozess daran aus. Zum anderen " kann [eine Person] sich zu sich selbst verhalten wie gegenüber anderen auch, indem [sie] sich z.B. benennt, definiert und klassifiziert"[19]. Wenn sich eine Person eine Rolle zuschreibt, dann tut sie das immer auch in Bezug auf ihre Beziehungen zu anderen Personen. Eine Mutter beispielsweise definiert ihre Rolle in erster Linie in Bezug auf ihr Kind. Durch die Zuweisung einer Rolle zu sich selbst konkretisiert eine Person immer auch gleichzeitig ihre Beziehung zu anderen.[20] Aber nicht nur die Person selbst sieht sich in einer bestimmten Rolle, sondern auch die anderen schreiben ihr Rollen zu und richten damit verbundene Erwartungen an sie. Je nach Bezugsperson kann ein Mensch verschiedene Rollen gleichzeitig oder nacheinander einnehmen.[21]

Die mit der Rolle verbundenen Verhaltensweisen, Haltungen und Einstellungen ergeben sich aus den Erwartungen, die von der Person selbst, von anderen und allgemein gesellschaftlich, das heißt im Konsens mit allen Beteiligten, an diese Position gestellt werden. Stryker betont, dass die Rollen, die ein Mensch im Laufe seines Lebens einnimmt, vorwiegend aus den Erwartungen anderer und ihren Rollenzuschreibungen resultieren. "Wir kommen dahin, daß wir uns selbst so kategorisieren, wie die anderen uns kategorisieren, und handeln auf eine Weise, die ihren Erwartungen entspricht."[22] Die Person übernimmt also die Rollenausübungen, die sie bei anderen beobachtet, und macht sich diese zunutze. Dies kann zum Problem werden, wenn "die Kategorien, die auf eine Person angewendet werden, kontradiktorische Züge"[23] aufweisen. Um zu handeln, muss die Person deshalb die anderen und ihre Erwartungen in eine Ordnung hinsichtlich ihrer Bedeutsamkeit bringen.[24] Ein nahe stehender Mensch wird in dieser Ordnung wahrscheinlich eine höhere Priorität besitzen als ein nur flüchtig bekannter. Dies muss aber nicht zwangsläufig der Fall sein. So wie die physischen Objekte erst durch die subjektive Wahrnehmung der Person ihre (subjektive) Bedeutung erlangen, gilt dies auch für Personen und die von ihnen gestellten Verhaltensansprüche. Eine Person kann nicht alle an sie gerichteten Erwartungen erfüllen. Meines Erachtens ist es sogar wahrscheinlich, dass sie gar nicht alle Erwartungen wahrnimmt, sondern eben nur jene, die für sie bedeutsam sind.

Der Frage, welchen Blick diese beiden Theorien, der ökologische Ansatz nach Bronfenbrenner und der symbolische Interaktionismus, auf Familie eröffnen, soll im nächsten Abschnitt nachgegangen werden.

2.3 Die Familie im Blick von ökologischer Theorie und symbolischem Interaktionismus

Aus ökologischer Sicht ist die Familie für das Kind das erste und bedeutsamste Mikrosystem. Hier wird es versorgt, sozialisiert, erzogen, und findet es emotionale Unterstützung. In der Familie wird sein Alltag strukturiert und organisiert, und es bekommt durch die anderen Familienmitglieder die nähere und weitere Umwelt vermittelt.[25]

Im Lebensbereich der Familie finden sich laut Seifert drei verschiedene Subsysteme: das Ehepartnersubsystem, das Eltern/Kind-Subsystem und das Geschwistersubsystem.[26] Ist die notwendige reziproke Struktur gegeben, dann kann man mit Bronfenbrenner auch von den Subsystemen als Dyaden sprechen. Ebenso wie Bronfenbrenner betont auch Seifert, dass es sich bei diesen Systemen nicht um statische Gebilde handelt, sondern um dynamische Einheiten, die einem ständigen Wandel unterliegen. Die einzelnen Partner entwickeln sich und verändern dadurch die Dyade. Ebenso nimmt die Veränderung des einen Partners Einfluss auf die Entwicklung des anderen. Diese Möglichkeiten wechselseitiger Beeinflussung gelten nicht nur innerhalb sondern auch zwischen den einzelnen Subsystemen und zwischen dem Subsystem und der Familie als Gesamtsystem.[27] Materielle Umweltgegebenheiten wirken sich ebenso auf die Beziehung zwischen den Familienmitgliedern aus. In engen Wohnverhältnissen beispielsweise eskalieren Konflikte unter Umständen eher als unter großzügigen räumlichen Bedingungen, in denen es ausreichend Rückzugsmöglichkeiten gibt. [28]

In gleicher Weise wie die Interaktion der Familienmitglieder von internen Größen geprägt wird, nimmt auch die familiale Umwelt Einfluss auf das Familienleben. Eine Aufgabe von Familien ist es in diesem Zusammenhang "ein ausgewogenes Verhältnis herstellen [zu] können zwischen dem notwendigen Maß an emotionalen Zusammenhalt und damit auch einer Abgrenzung von der Umwelt einerseits und zwischen einem notwendigen Maß an Offenheit gegenüber dieser Umwelt, in der sie leben und mit der sie in Austausch stehen müssen, andererseits"[29]. In dieser Balance zwischen Abgrenzung und Offenheit wird familiärer Alltag gestaltet. Dabei entwickeln sich familienspezifische Routinen und Gewohnheiten, die das Wesen einer Familie ausmachen.[30] Die Gültigkeit dieser familiären Eigenarten muss immer wieder neu ausgehandelt werden, damit sie für die Familienmitglieder handlungsleitend bleiben.

Im Sinn des Symbolischen Interaktionismus lässt sich die Familie als Interaktionszusammenhang verstehen, der zwar durch seine symbolische Strukturiertheit den Rahmen für Handeln und Verhalten vorgibt, aber auch individuelle und situationsabhängige Variabilität zulässt. "Eine angemessene Handlungswahl und Verhaltensweise setzt immer eine klare Situationsdefinition voraus. Diese muss unter Umständen mit anderen - etwa dem Ehepartner oder den Kindern - erst festgelegt, erarbeitet oder auch erstritten werden."[31] Die symbolische Struktur muss also immer wieder neu definiert werden, zum Beispiel wenn sich aufgrund eintretender Ereignisse etwa dem Schuleintritt des Kindes oder der Geburt eines weiteren Kindes die Rahmenbedingungen verändern.

Das Gleiche gilt auch für die Rollen innerhalb der Familie. "Zwar gibt die Gesellschaft Rollenentwürfe vor, aber diese stellen relativ leere Vorgaben dar, die von den Beteiligten aktualisiert und durchlebt werden müssen. Keine dieser Rollen ist bereits so mit konkreten Erwartungen angefüllt, dass sie ohne subjektive Deutungsprozesse mit Handeln zu füllen wären."[32]

Wie sich die Situation für Familien mit behinderten Kindern darstellt, welche Besonderheiten oder Schwierigkeiten in diesen Familien eventuell bestehen, soll im nächsten Abschnitt behandelt werden.



[2] Hurrelmann 2001, S. 35 [Hervorhebung im Original]

[3] Bronfenbrenner 1981, S. 23

[4] zu allen vier Ebenen vgl.: Bronfenbrenner 1981, S. 23 ff

[5] ebenda, S. 38

[6] zum gesamten Abschnitt vgl.: ebenda, S. 60 ff

[7] ebenda, S. 71

[8] Bronfenbrenner 1981, S. 75

[9] zum gesamten Abschnitt über Dyaden vgl.: ebenda, S. 71 - 81

[10] ebenda, S. 94

[11] zum gesamten Abschnitt über den Einfluss Dritter vgl.: ebenda, S. 82 - 95

[12] ebenda, S. 97

[13] Bronfenbrenner 1981, S. 38

[14] vgl.: ebenda, S. 38

[15] Stryker 1970, S. 54 [Hervorhebung im Original]

[16] vgl.: Markefka: Symbolischer Interaktionismus, Ethnomethodologie und Familienforschung. 1989, S. 64 [Markefka bezieht sich an dieser Stelle auf Blumer, H.: Der methodologische Standort des Symbolischen Interaktionismus. In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. Band 1. Hamburg 1973]

[17] Markefka 1989, S. 64f [ebenfalls mit Bezug auf Blumer 1973]

[18] vgl.: Stryker 1970, S.54f

[19] ebenda, S. 55

[20] vgl.: ebenda, S. 55

[21] vgl.: Stryker 1970, S. 57

[22] ebenda, S. 57

[23] ebenda, S. 67 Anmerkung 9

[24] vgl.: ebenda, S. 56

[25] vgl.: Engelbert 2003, S. 209f

[26] vgl.: Seifert 1989, S. 35

[27] vgl.: Seifert 1990, S. 101

[28] vgl.: ebenda, S. 103

[29] Engelbert 2003, S. 210 [Hervorhebung im Original]

[30] vgl.: ebenda, S. 210

[31] Hill; Kopp 2004, S. 98

[32] ebenda, S. 99

3. Familien mit behinderten Kindern

"Früher bekam oder kriegte man Kinder, jetzt schafft man sich welche an, wie einen Hausrat."[33] Mit diesem Satz beschreiben Lempp und Lempp die Veränderung der Rolle des Kindes innerhalb der Familie. War ein Kind im 19. Jahrhundert noch vom Schicksal oder von Gott gegeben, so ist es heute aus eigenem Entschluss und in eigener Verantwortung der Eltern gezeugt. Damit ändert sich auch der Stellenwert des Kindes innerhalb der Familie. Das Kind ist nicht mehr eine "Leihgabe zu treuen Händen zum Aufziehen"[34], sondern es dient nicht selten "als Stütze des Selbstwertes der Eltern"[35]. Auch Engelbert stellt fest, dass Kinder einen gesteigerten Wert für ihre Eltern erlangen und stärker in den Mittelpunkt des Familienlebens rücken, dies vor allem auf emotionaler Ebene.[36] "Kinder stellen für ihre Eltern in ganz erheblichem Maße nicht nur das Objekt, sondern auch eine Quelle von Emotionalität dar, die nicht zuletzt aufgrund der zunehmend schwieriger werdenden Partnerbeziehungen an Bedeutung gewinnt."[37] Gleichzeitig mit dem Wert des Kindes für die Familie, wachsen aber auch die Ansprüche und Forderungen an Kompetenzen und Entwicklung des Kindes. Engelbert spricht hier vom "Ideal perfekter und vor allem perfekt ‚machbarer' Kinder"[38]. Sie weist aber auch darauf hin, dass die Verantwortlichkeit für die Erreichung dieses Ideals bei den Eltern liegt. "Eltern sind für Kinder und für das, was aus ihnen wird, verantwortlich, und sie werden auch dafür verantwortlich gemacht."[39]

Die Geburt eines Kindes verändert alle Rollen und Beziehungen und die Alltagsgestaltung innerhalb der Familie. Für die Geburt eines behinderten Kindes trifft dies in verstärktem Maße zu. Hier gilt es in besonderer Weise den Alltag zu bewältigen, eine emotionale Beziehung zum Kind herzustellen und sich in die neue Eltern- und unter Umständen auch Geschwisterrolle einzufinden.[40] Es ist zu vermuten, dass es hierbei größere Schwierigkeiten zu bewältigen gibt, als mit einem Kind ohne Behinderung. Engelbert bemerkt, dass das Einfinden in die Rolle als Eltern behinderter Kinder gekennzeichnet ist durch "starke Verunsicherung, ausbleibende Bestätigung und eingeschränkte Handlungsoptionen"[41].

Eltern brauchen, um sich in ihrer Rolle sicher zu fühlen, Bestätigung von anderen. Diese Bestätigung erhalten sie zum einen durch ihr soziales Netzwerk, zum Beispiel durch Freunde und Verwandte, und zum anderen durch das Kind selbst, durch seine Entwicklung und Leistungsfähigkeit.[42] "Aufgrund der Entwicklungsverzögerungen bzw. Entwicklungsstagnationen [bei einem behinderten Kind] stehen in der Folge auch die normalen Gratifikationen der Elternrolle, die sich an einem ‚standardisierten Entwicklungszeitplan' orientieren, nicht wie gewohnt zur Verfügung. So bleiben Bemerkungen wie ‚er kann ja schon laufen' oder ‚wie schön sie schon sprechen kann', die anderen Eltern in ihrer bestätigenden und motivierenden Bedeutung oftmals gar nicht bewußt sind, aus oder werden erst sehr viel später bzw. nur eingeschränkt geäußert."[43] Wichtiger als die Ermutigung durch andere scheint allerdings die Bestätigung durch das Kind selbst. Diese gründet sich zum einen auf positiven Emotionen im Umgang mit dem Kind, Spaß beim Herumtoben oder intensive Gefühle beim Schmusen, zum anderen schöpfen Eltern Selbstsicherheit aus den vom Kind erbrachten Leistungen und Entwicklungsfortschritten, sie sehen darin ihre Erziehungskompetenz gestärkt.[44]Wird die Behinderung des Kindes von den Eltern als problematisch erlebt, dann fällt vermutlich auch die positive emotionale Hinwendung zum Kind schwer. Das Kind ist in einem solchen Fall nicht mehr Quelle angenehmer Gefühle sondern eher von Sorgen, Unsicherheit oder sogar Ablehnung. Engelbert stellt fest, dass Eltern die Entwicklungsfortschritte und Leistungen, die ihnen ihr Kind entgegen bringt tendenziell gering einschätzen. Diese Erkenntnis bringt sie in Zusammenhang mit dem allgemein eher als unbedeutend eingeschätzten gesellschaftlichen Wert und den schlechten Zukunftsaussichten behinderter Menschen, die von den Eltern übernommen werden.[45] Aus der möglichen "Enttäuschung über ein Kind, das nicht den gesellschaftlichen Normen entspricht"[46]können sich dann Zweifel über die individuelle Liebesfähigkeit und damit verbunden die eigenen elterlichen Kompetenzen entwickeln.

Die Unsicherheit in ihrer Rolle als Eltern behinderter Kinder resultiert für viele Väter und Mütter wahrscheinlich auch daraus, dass für den Umgang mit Problemen, die durch die Behinderung eines Kindes entstehen, in der Gesellschaft keine oder nur sehr wenige Vorbilder verfügbar sind.[47] Die Tatsache, dass allgemeine Rollenvorgaben individuell "von den Beteiligten aktualisiert und durchlebt werden müssen"[48], trifft hier in besonderem Maße zu. So ist die folgende Beschreibung einer Mutter nur eine von vielen Möglichkeiten, ihre Rolle zu füllen: "Eltern eines [...] behinderten Kindes zu sein, heißt nicht nur, es zu lieben, für sein Wohlbefinden zu sorgen, seine Fähigkeiten und seine Persönlichkeitsentwicklung zu fördern, es heißt auch, ihm Anerkennung seiner Umwelt zu verschaffen, sich für seine Rechte einzusetzen und ihm ein Leben so normal wie möglich in der Gemeinschaft aller zu sichern. Eltern von [...] behinderten Kindern müssen aktiv sein, lebenslang. Sie müssen lernen, die Behinderung zu akzeptieren und in das eigene Leben zu integrieren - ein Prozeß, der wohl nie abgeschlossen ist."[49] Oftmals lässt sich auch das Leben mit einem behinderten Kind nicht mit dem Wunsch nach einer vielleicht vorher schon zurechtgelegten, überschaubaren Lebensperspektive vereinbaren.[50]

Aber nicht nur in Bezug auf die eigene Lebensgeschichte müssen Eltern behinderter Kinder verstärkt nach individuellen Lösungen suchen. "Die Biografie behinderter Kinder ist in unserer Gesellschaft weniger stark standardisiert als die nicht behinderter Kinder. Die Eltern müssen daher jeweils behinderungsspezifische und kindbezogene Individuallösungen, wie z. B. einen geeigneten Kindergartenplatz oder eine geeignete Ausbildungsstelle, finden."[51]

Wie die Eltern und Geschwister ihre neuen Rollen füllen ist also höchst individuell. Und auch die Auswirkungen, die das Rollenverhalten der Familienmitglieder auf deren Wahrnehmung des behinderten Kindes hat, sind von Familie zu Familie verschieden. Im einen Fall spitzt sich die Situation möglicherweise krisenhaft zu, im anderen scheint die Behinderung des Kindes gar keine besondere Rolle zu spielen. In diesem Zusammenhang scheint auch die Schwere der Behinderung keinen Einfluss auf die Reaktion der Familienmitglieder zu haben. Welche Wirkung eintritt hängt jeweils von der Bedeutungszuschreibung durch die einzelnen Familienmitglieder ab. "Ein gegebenes Ereignis kann in einem Fall eine Familienkrise bewirken, im anderen Fall nicht. Welche Wirkung eintritt, hängt von mindestens 3 Variablen ab: 1. den Belastungen, die die Situation selbst bewirkt; 2. den Ressourcen der Familie in der Form ihrer laufenden Rollenstruktur, ihrer Flexibilität sowie ihren früheren Erfahrungen mit Krisen; und 3. letztlich von der Definition und der Familienrelevanz des Ereignisses; kurz davon, ob sie das Ereignis als eine Bedrohung ihres Status, ihrer Ziele und Absichten sieht. Die kritische Variable ist die letztere, die Definition der Situation."[52]

Welche Möglichkeiten Eltern und Geschwister behinderter Kinder im Einzelnen finden, um die Situation für sich zu definieren und ihre Rollen auszufüllen, und welche Rolle in diesem Zusammenhang für sie das behinderte Kind selbst einnimmt, soll im nun folgenden Hauptteil der Arbeit beleuchtet werden. Dabei werde ich mich an den drei familiären Subsystemen nach Seifert orientieren.[53]



[33] Lempp; Lempp 1994, S. 32

[34] ebenda, S. 31

[35] ebenda, S. 32

[36] vgl.: Engelbert 2003, S. 212

[37] Engelbert 1999, S. 25

[38] Engelbert 2003, S. 212

[39] Engelbert 1999, S. 28

[40] vgl.: Krause 1997, S. 19

[41] Engelbert 1999, S. 31

[42] vgl.: ebenda, S. 29

[43] ebenda, S. 30

[44] vgl.: ebenda, S. 29

[45] vgl.: Engelbert 1999, S. 27

[46] ebenda, S. 30

[47] vgl.: Engelbert 2003, S. 213

[48] Hill; Kopp 2004, S. 99

[49] Seifert 1997, S. 238

[50] vgl.: Praschak 2003, S. 34

[51] Heckmann 2004, S. 24

[52] Stryker 1970, S. 62 [Hervorhebung im Original]

[53] vgl.: Seifert 1989, S. 35

4. Die Rollen der Familienmitglieder

4.1 Die Eltern

4.1.1 Die Rolle der Mutter

Forschung zur Situation von Eltern behinderter Kinder ist, wie Hinze unterstreicht, vorwiegend eine Forschung zur Situation der Mütter.[54] Dies liegt unter anderem darin begründet, dass immer noch die Mutter als primäre Bezugs- und Betreuungsperson des Kindes angesehen wird, und die Behinderung für sie dadurch auch eine scheinbar größere Bedeutung hat. In der traditionellen Kernfamilie ist es immer noch vorwiegend Aufgabe der Frau, sich um den häuslichen Bereich also Kindererziehung und Haushaltsführung zu kümmern.

Doch die Rollenmuster, die zu früheren Zeiten schon allein aufgrund von körperlichen Unterschieden plausibel erschienen, müssen heute längst nicht mehr umgesetzt werden.

Die gute Mutter

Allerdings stellt Cloerkes fest, dass sich Mütter mit behinderten Kindern verstärkt an traditionellen Rollenvorgaben orientieren.[55] Diese implizieren vor allem eine starke Betonung von Gefühlen. Das Hauptaugenmerk der Mutter liegt auf der Bemühung die emotionalen Bedürfnisse ihres Mannes und ihrer Kinder zu befriedigen. Ihre eigene Zufriedenheit leitet sie demnach auch aus einem "persönlichen und emotional offenen Kontakt zu Ehemann und Kindern"[56] ab. Dieses gefühlsbetontere Verhältnis drückt sich beispielsweise in einem engeren körperlichen Kontakt der Mütter zu ihren Kindern aus. Kallenbach stellt in seiner Studie fest, dass im Vergleich zu den untersuchten Vätern die Mütter ihre Kinder häufiger trösteten und sie dazu häufiger in den Arm nahmen.[57] Wobei hier noch zu untersuchen wäre, ob Mütter generell eine emotionalere Beziehung zum Kind haben, oder ihren Gefühlen einfach nur stärker Ausdruck verleihen.

Auch der Bereich der Pflege und Versorgung, der aufgrund der traditionellen häuslichen Aufgabenteilung zu fast zwei Dritteln von den Frauen übernommen wird, bietet weitere Anlässe für intimen körperlichen Kontakt zwischen Mutter und Kind.[58] Dies kann zu einem gefühlvolleren Verhältnis zum Kind und zur Wahrnehmung des Kindes als einer liebenswerten und liebevollen Person führen. Da Pflegeaufgaben jeden Tag notwendig sind, und sich weder Mutter noch Kind diesen Situationen entziehen können, ist es aber auch denkbar, dass verstärkt Spannungen und Konflikte entstehen. Laut Krause nehmen Mütter, die sich durch Pflege und Versorgung stärker überfordert und unter Druck fühlen, mehr Krankheits- und Behinderungszeichen an ihrem Kind wahr und beschreiben es mit mehr Diagnosen.[59] Dies scheint nachvollziehbar, da Mütter durch den engeren und dauerhafteren Kontakt ihr Kind intensiver Beobachten können. Allerdings ist zu vermuten, dass ihnen im anderen Fall auch mehr Entwicklungsfortschritte und positive Eigenschaften des Kindes auffallen.

Aufgrund ihrer engen Beziehung zum Kind werden auch in höherem Maße Erwartungen an die Mutter gestellt. "Der ‚Funktionswandel von Kindern' hat zu einer Zentrierung emotionaler Erwartungen auf das einzelne Kind geführt und ist mit hohen gesellschaftlichen Erwartungen an die Mutterrolle hinsichtlich einer optimalen Förderung des Kindes verbunden."[60] Aber neben einer bestmöglichen Förderung wird von der Mutter erwartet, auch das aktuelle Glück und Wohlbefinden des Kindes zu berücksichtigen. Als Mutter soll sie ihr Kind nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Behinderung sondern als ganze Person wahrnehmen.[61]

"In unserer Kultur erfordert die traditionelle Mutterrolle [auch] die Hintanstellung der eigenen Bedürfnisse hinter die diejenigen des Kindes. [...] [D]ie normativen Verbindlichkeiten rund um die Mutterrolle fordern einen 24-Stunden-Tag in liebevoller Fürsorge - vermeintlich die einzige Beschäftigung der Mutter."[62] Dieser Sachverhalt kann zu Schwierigkeiten führen, wenn die Mutter diese ihr zugeschriebene Rolle als belastend empfindet. Krause zeigt in seiner Studie, dass sich das Stresserleben von Müttern auf ihre Wahrnehmung des Kindes auswirkt. Mütter die in ihrer Rolle allgemein mehr Stress empfinden und unzufriedener sind, nehmen an ihren Kindern verstärkt negative Verhaltensweisen, eine geringere Selbstständigkeitsentwicklung und einen allgemein niedrigeren Entwicklungsstand wahr.[63] Wobei hier meines Erachtens auch von einer Wechselwirkung ausgegangen werden kann. Es ist auch möglich, dass Mütter in Rollenstress geraten, gerade weil ihr Kind nicht ihren eigenen beziehungsweise den gesellschaftlichen Erwartungen entspricht und sie nicht entsprechend in ihrer Rolle bestärkt.

Für Mütter mit behinderten Kindern kommt noch in besonderer Weise hinzu, dass sie unter Umständen das Gefühl haben ihre Mutterrolle würde praktisch nie enden. "Immer stehen die Interessen des behinderten Kindes im Mittelpunkt, auch wenn es längst erwachsen ist und Eltern nichtbehinderter Kinder wieder mehr Zeit für sich selbst und ihre Partnerschaft haben."[64] Das Kind wird dabei in eine ewige Kindrolle gedrängt, in der es seine tatsächlichen Fähigkeiten vermutlich nicht richtig entfalten kann.

Diese Zukunftsperspektive und die von der Gesellschaft zwar erwartete aber nur wenig anerkannte Hausfrauenrolle, in die sich "Mütter behinderter Kinder [...] aufgrund der erhöhten Betreuungsnotwendigkeit stärker als andere Frauen [...] gedrängt"[65] sehen, können zu einer erhöhten Unzufriedenheit und einer, wie oben bereits erwähnt, damit verbundenen unvorteilhafteren Wahrnehmung des Kindes führen.

Die bessere Mutter

Negative und ablehnende Gefühle gegenüber ihrem Kind passen nicht in das Bild einer Mutter. Doch immer wieder ist in der Literatur, vor allem in Autobiografien zum Thema, von Müttern zu lesen, die, und sei es auch nur manchmal, sich für ihr Kind schämen, Aggressionen gegen es hegen oder es bewusst oder unbewusst ablehnen. Die Ursachen dafür sind vielfältig: es kann die Angst vor der Auseinandersetzung mit der Umwelt sein, die Überforderung durch die aufwändige Pflege und Betreuung des Kindes oder die Sorge sowohl um die eigene Zukunft als auch um die des Kindes. Solche Emotionen wecken Schuldgefühle bei den Müttern. Sie versuchen ihre ablehnenden Gefühle durch eine besondere Betonung der liebevollen und fürsorgenden Aspekte der Mutterrolle und durch eine außergewöhnlich intensive Hinwendung zum Kind zu kompensieren beziehungsweise ‚wieder gut zu machen'. Dies geschieht durch die Konzentration aller Kräfte auf das behinderte Kind und seine bestmögliche Förderung[66], vor allem aber durch ein besonders starkes Entgegenkommen. Dem Kind wird jeder Wunsch ‚von den Augen abgelesen' und es wird vermeintlich vor allen Frustrationen und Enttäuschungen bewahrt, indem ihm alle herausfordernden Aufgaben abgenommen werden. Was sich daraus entwickelt nennen Fachleute eine "symbiotische Beziehung"[67]. Das Kind kann sich nicht aus seiner Bindung zur Mutter lösen und signalisiert ständig Hilflosigkeit, da ihm nie oder selten Schritte in die Selbstständigkeit abverlangt werden. Die Mutter ist auf das Kind als ein abhängiges und unselbständiges Wesen angewiesen, um so ihre Schuldgefühle abbauen zu können. Das Kind wird dabei für unerfahrener und hilfloser gehalten, als es tatsächlich ist.[68]

Auch die höhere Verantwortlichkeit der Frau für Pflege und Betreuung des Kindes kann zu einer Entwicklung zur "Über-Mutter" führen. Die Zuständigkeit der Mutter für die meisten Angelegenheiten, die das Kind betreffen, führen bei ihr zu einem Wissens- und Könnensvorsprung gegenüber den anderen Familienmitgliedern. Damit wird es schwierig in der Alltagsgestaltung flexibel zu sein, da vermeintlich nur die Mutter weiß, wie mit dem behinderten Kind umzugehen ist. Das Ergebnis ist häufig der Verzicht der Mütter auf eine Erwerbstätigkeit und andere außerfamiliäre Aktivitäten. In diesem Zusammenhang bekommt die Mutterrolle für sie eine erhöhte subjektive Bedeutung. Sie ist auf die Gratifikationen, die aus dieser Rolle erwachsen angewiesen.[69] Die "erzieherische Alleinverantwortlichkeit"[70] kann ihr dadurch zum Bedürfnis werden, da sie hier eine starke Bestätigung ihrer Person erfährt. Das Kind übernimmt dabei die Rolle eines "besonders schutz- und liebebedürftigen Menschen"[71], der die ganze Kraft und den ganzen Einsatz der Mutter benötigt. Dies kann zum einen zu einer emotionalen Überforderung des Kindes zum anderen zu einer Unterforderung im Hinblick auf Selbstständigkeit und Entwicklung führen.

Die Therapeutin

Die Mitteilung der Diagnose Behinderung erleben Mütter nicht nur als Schock oder Bedrohung, sondern oftmals auch als Aufforderung für ihr Kind aktiv zu werden. Der erste Gedanke geht dann häufig in Richtung einer Therapie für das Kind. "Direkt beim Gespräch mit dem Arzt habe ich gesagt, daß ich sobald wie möglich mit einer Therapie für ihn anfangen wollte. Am liebsten gleich mit mehreren Therapien. Ich wollte so viel wie möglich mit ihm machen, damit er gefördert wird."[72] Die Hilfe von Fachleuten beim Umgang mit dem Kind, kann für Mütter verschieden Auswirkungen haben. Das Hilfesystem ist mittlerweile sehr komplex und differenziert und die "einseitige Fokussierung der Fachleute auf ihr Spezialgebiet grenzt die psychosozialen Bedarfslagen der Eltern tendenziell aus und führt dazu, dass die Eltern in eine Entmündigende Laienrolle gedrängt werden"[73]. Die Folge davon könnte sein, dass Mütter im Umgang mit ihrem Kind unsicher werden. Sie bekommen das Gefühl, ihr Kind gehöre in die Hände von Fachleuten oder sie müssten sich erst ein bestimmtes Fachwissen aneignen um angemessen mit ihrem Kind umgehen zu können.

Auf der anderen Seite werden Mütter oftmals in die Fördermaßnahmen für ihr Kind einbezogen und bekommen die Rolle einer Ko-Therapeutin zugewiesen. Die Übungen, die sie in der Therapie gelernt haben, sollen sie zu Hause weiterführen. Kallenbach bemerkt, dass Mütter im Vergleich zu den Vätern dreimal häufiger mit ihrem Kind zu Hause Bewegungsübungen machen.[74] Um dies leisten zu können, wird ihnen von den Fachleuten behinderungsspezifisches Wissen vermittelt. "Zu dem, was alle Eltern wissen und können müssen, brauchen sie noch weitere Kenntnisse und Fertigkeiten."[75] Der Einblick in den Umgang der Fachleute mit ihrem Kind und die eigene Rolle als Therapeutin, können zu einem verengten Blick auf das Kind führen. Als Therapeutin nimmt die Mutter das Kind nicht mehr als ganze Person wahr, sondern als Patienten unter dem Blickwinkel von Diagnosen und Förderungsbedürfnissen. Diese Sichtweise kann sich auf den gesamten Umgang mit dem Kind übertragen. Was sich unter anderem darin zeigt, dass Mütter in Freizeitsituationen mit ihren Kindern nicht frei spielen, sondern das Spiel meist einen therapeutisch motivierten Hintergrund hat.[76] Die Studie von Kallenbach hat gezeigt, dass der Schwerpunkt der mütterlichen Freizeitaktivitäten mit ihrem Kind vor allem bei verbalem Spiel und kognitiver Förderung liegt.[77]

Bei einem differenzierten Angebot an Therapien und Fördermöglichkeiten steht die Mutter unter dem Druck, das Richtige für ihr Kind auszuwählen und zu tun.[78] Außerdem muss sie abwägen zwischen der Möglichkeit im Hinblick auf die Zukunft alles für ihr Kind zu tun und der gegenwärtigen Zufriedenheit und dem Wohlbefinden des Kindes. Ihre Rolle als Therapeutin kann sie unter Erfolgs- und Leistungsdruck setzen. Wenn das Kind aber nicht den Erwartungen entspricht und unter Umständen keine oder nur geringere als die erhofften Fortschritte macht, kann dies zu Stress und möglicherweise einer innerlich aggressiven Reaktion auf das Kind führen.

Es ist aber auch möglich, dass die Mutter aus dem therapeutischen Umgang mit ihrem Kind Zufriedenheit schöpft, weil ihr das praktische Engagement das Gefühl gibt, die Situation unter Kontrolle zu haben. Die Behinderung stellt so keine Bedrohung mehr dar. Auch scheinen die Mütter durch den intensiven Kontakt während therapeutischer Übungen und vielleicht auch durch die Sensibilisierung durch Fachleute eher in der Lage auch kleine positive Veränderungen wahrzunehmen. "Besser als Väter hatten Mütter es gelernt, das Kind selbst zum Maßstab seiner Entwicklung zu machen."[79]

Die Berufstätige

Der Alltag einer Mutter und insbesondere der Alltag der Mutter eines behinderten Kindes scheint kaum oder gar keinen Raum für die Berücksichtigung eigener Bedürfnisse und Interessen zu lassen. Neben der Pflege und Betreuung des behinderten Kindes sind es sowohl die Erziehung der anderen Kinder und die Versorgung des Haushaltes als auch die Sorge um die emotionalen Bedürfnisse aller Familienmitglieder, die ihre Zeit und Kraft in Anspruch nehmen.[80] Auch wenn traditionell von der Mutter erwartet wird, dass sie ihre eigenen Ziele und Wünsche zugunsten der Familie in den Hintergrund stellt, scheint es für ihre Beziehung speziell zum behinderten Kind von Vorteil zu sein, wenn sie dies gerade nicht tut. Steht allein das behinderte Kind im Mittelpunkt und konzentriert sich die Frau ganz auf ihre Mutterrolle, dann erhält sie eine Bestätigung ihrer Person auch nur aus diesem Zusammenhang. Entspricht das Kind dann nicht ihren eigenen oder den sozialen Erwartungen, führt dies unter Umständen zu kritischen Situationen und Schuldgefühlen.[81] Orientiert sich die Mutter hingegen mehr nach außen beziehungsweise nimmt sie ihre eigenen Bedürfnisse stärker wahr, ist das Kind nicht mehr alleinverantwortlich für ihre Zufriedenheit und ihren Selbstwert. Krause bemerkt in diesem Zusammenhang, dass Mütter, die mehr Bezug auf sich selbst und ihre Bedürfnisse nehmen, weniger negatives Verhalten an ihrem Kind beobachten.[82]

Scheint diese Schlussfolgerung für die Beachtung persönlicher Interessen sehr einleuchtend, so können sich für die Orientierung nach außen im Sinne einer Erwerbstätigkeit doch auch Schwierigkeiten ergeben. Nicht immer ist die Berufstätigkeit der Frau frei gewählt, sondern wird unter Umständen aus ökonomischen Zwängen heraus aufgenommen.[83] Neben ihrer Arbeit im Beruf muss die Frau immer noch die Versorgung des Haushaltes und die Erziehung der Kinder gewährleisten. Um die Zeit dafür aufzubringen spart sie unter Umständen bei ihren eigenen Interessen Zeit ein.[84] Dies produziert Unzufriedenheit und erhöhte Stressbelastung, die wiederum zu einer ausgeprägteren Wahrnehmung negativer Eigenschaften des Kindes führen können.

Es muss allerdings nicht in jedem Fall sein, dass die Mutter ihren Beruf als Zwang ansieht. Krause weist darauf hin, dass die von ihm befragten Mütter ihren Beruf scheinbar eher als Kompensation wahrnehmen und sich dadurch als weniger stressbelastet empfinden.[85] Auch Engelbert behauptet, dass eine Vollzeiterwerbstätigkeit für die Stressvermeidung von Müttern behinderter Kinder von Vorteil ist. Die Mütter sind dadurch eher in der Lage Hilfeleistungsangebote anzunehmen und die Betreuung ihres Kindes zeitweilig abzugeben.[86] Die dadurch eintretende Verringerung von Belastung wirkt sich vermutlich positiv auf die Beziehung zwischen Mutter und Kind aus.

Mutter eines behinderten Kindes

Nach den anfänglichen Unsicherheiten und Schwierigkeiten, die sicher phasenweise und in Teilbereichen immer wieder auftreten, finden sich wahrscheinlich die Mehrzahl der Mütter in ihre Rolle als Mutter eines behinderten Kindes ein. Mit der endgültigen Feststellung der Behinderung fallen nicht nur die zahlreichen diagnostischen Untersuchungen weg, die Mütter fühlen sich auch "allmählich von dem Druck befreit, alles daransetzen zu müssen, um die Probleme des Kindes zu beheben".[87] Sie müssen nicht mehr gegen die Behinderung vorgehen sondern können versuchen mit zu leben. Für die Mütter bedeutet dies eine "Entwicklung ihres Kindes vom normalen zum behinderten Kind"[88] .Die Behinderung wiederum wird dadurch zur Normalität. "Dabei mag auch eine Rolle [spielen], daß sie allmählich dahin gelangt [sind] zu glauben, ihre Vorstellungen von ihrer besonderen Rolle als Eltern eines behinderten Kindes wenigstens teilweise bzw. sogar größtenteils verwirklicht zu haben, mit der eigenen Pflege und Betreuung ihres Kindes allmählich zufriedener geworden zu sein, mit den Belastungen mittelmäßig bis gut fertigzuwerden und die fachliche Betreuung des Kindes als mindestens teilweise erfolgreich anzusehen"[89].

Deutlich wird diese Normalisierung der Beziehung zum einen darin, dass das behinderte Kind nicht mehr ständig Mittelpunkt der Gedanken, Gefühle und des Alltags der Mutter ist. Zum anderen fallen im Vergleich mit anderen Kindern immer mehr normale oder sogar positive Wesenszüge und Eigenschaften auf. Eine Mutter berichtet: "Jetzt spreche ich ganz normal zu ihr und kann mich auch gut mit ihr verständigen. Sie brüllt zwar oft und nervt mich damit, aber das finde ich ganz normal. Im Grunde bin ich froh darüber, daß sie mich nervt. Daß sie ihren Willen haben möchte, ist wie bei anderen Kindern auch. Das ist ganz normal."[90] Eine andere erzählt: "Ich sehe so vieles, was er den anderen Kindern voraus hat, zum Beispiel sein soziales Denken. Er kann garantiert nicht zählen, da bin ich mir sicher. Aber wenn seine Freunde gekommen sind, holt er nicht ein Eis oder einen Joghurt, sondern immer soviele, wie Kinder da sind, und teilt dann aus."[91]

Die Wahrnehmung des Kindes wird auch dadurch vorteilhaft beeinflusst, dass Mütter positive Veränderungen an sich selbst erfahren und ihnen durch die Erziehung des behinderten Kindes ein persönlicher Zugewinn erwächst.[92] Sie berichten von mehr Interesse, Verständnis und Hilfsbereitschaft gegenüber anderen Menschen, allgemein von einem nachdenklicheren und problembewussteren Leben und vor allem von mehr Selbstvertrauen.[93] Das behinderte Kind wird als Auslöser dieser Persönlichkeitsveränderung betrachtet.

4.1.2 Die Rolle des Vaters

In der fachlichen Diskussion wurde der Rolle der Väter in Familien mit behinderten Kindern lange Zeit nur wenig Beachtung geschenkt. Dies liegt wahrscheinlich in ihrer in Bezug auf die Kindererziehung vermeintlich geringeren Bedeutung begründet.[94] Im traditionellen Verständnis ist der Vater eher für die finanzielle Versorgung der Familie und Arbeiten rund um das Haus zuständig. Wenn er sich mit der Kindererziehung befasst, dann meist im Rahmen disziplinierender Maßnahmen.[95] Er steht in der Familie eher für Rationalität, Selbstbeherrschung, "wirtschaftliches Leistungs- und gesellschaftliches Anpassungsvermögen"[96] und übernimmt gewissermaßen die Mittlerrolle zwischen der Familie und der Gesellschaft.[97] Aber "[i]m Zuge der ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Emanzipation der Frau ist auch die Rolle des Mannes in Bewegung geraten"[98], so dass sich nun auch ursprünglich explizit mütterliche Elemente in den Erwartungen an die Rolle des Vaters finden lassen.

Der Rationale

"Die mit der männlichen Rolle verknüpfte Erwartung der Sachlichkeit und Selbstkontrolle führt bei Vätern zu einer Verdrängung der Gefühle. Sie gehen problembezogenen Gesprächen eher aus dem Weg. Im Gegensatz zu den Müttern suchen sie kaum von sich aus Kontakt zu Fachleuten, Verwandten, Freunden oder anderen betroffenen Eltern. Dadurch erhalten sie weniger emotionale Unterstützung bei der Auseinandersetzung mit der Behinderung."[99] So beschreibt Seifert die emotionale Situation von Vätern behinderter Kinder. Auch Hinze stellt fest, dass es vielen Vätern schwer fällt die Behinderung ihres Kindes zu bejahen. Er sieht dies ebenfalls in der wenigen formellen und informellen sozialen Unterstützung der Väter begründet, aber auch in ihrer eher randständigen Eltern-Rolle, die sie hindert mit der Behinderung und damit vermutlich auch mit ihrem Kind vertraut zu werden.[100]

Häufig beschriebene depressive Reaktionen deuten darauf hin, dass Väter die Probleme ihres Kindes nicht unbedingt, wie es ihre Rolle als Mann von ihnen verlangt, ohne starke Gefühlsregungen zur Kenntnis nehmen können.[101] Ihre von Sachlichkeit und Selbstbeherrschung bestimmte Haltung wird durch die immer wieder auftretenden Probleme des Kindes bedroht. Das Kind stellt gewissermaßen eine Gefährdung ihrer Rolle als Mann und der damit verbundenen Kontrollüberzeugungen dar. Sowohl in Bezug auf ihre eigenen Emotionen, die sie aufgrund ihres Selbstverständnisses nicht zeigen können, als auch im Hinblick auf ihre Familie, für die sie sich verantwortlich fühlen. "Aber eigentlich fühlte ich mich gar nicht mehr wie ein Beschützer. Denn irgendwie kam ich mir wie ein Versager vor. Als Mann versucht man ja, alles Unglück von der Familie fernzuhalten. [...] Und jetzt war ich zum ersten Mal hilflos."[102] Viele Väter, in besonderer Weise die Väter von Jungen, erleben eine Enttäuschung, ihrer Wünsche und Vorstellungen über das Zusammenleben mit dem Kind. "Mit ihm einmal Fußball zu spielen, auf Bäume zu klettern und ein kameradschaftliches Verhältnis zu haben, kam wohl nicht mehr in Frage."[103]

Ihre rationale Haltung und ihr größerer innerer wie äußerer Abstand zu den durch die Behinderung verursachten Problemen des Kindes, kann für Väter aber auch "eine illusionslosere und realistischere Einstellung zur Behinderung"[104] zur Folge haben. Dies erleichtert es ihnen unter Umständen ihre Rolle als Vater eines behinderten Kindes zu finden.

Der Ernährer der Familie

Die traditionelle Rolle der Mutter scheint durch die Geburt eines behinderten Kindes verstärkt zu werden, für die Vaterrolle ist dies dem Anschein nach nicht der Fall. Engelbert betont in diesem Zusammenhang, "daß in potentiellen Problemsituationen [...], Unsicherheiten und mangelnde Gratifikationsmöglichkeiten nicht mehr verkraftet werden können und ein ‚Rückfall' in traditionelle Geschlechtsrollenmuster stattfindet"[105]. Im traditionellen Sinn sind für den Mann die Aufgaben der finanziellen Versorgung und Ernährung der Familie vorgesehen.

Männer nutzen ihre berufliche Tätigkeit in der durch die Behinderung des Kindes problematisch gewordenen Situation als Quelle für ihr Selbstvertrauen. Das Leben mit einem behinderten Kind ist durch die nötige Anschaffung von Hilfsmitteln, den Umbau des Wohnraums und die Bezahlung professioneller Hilfeleistungen mit hohem finanziellen Aufwand verbunden. Väter sind in der Lage durch ihre Erwerbsarbeit die materielle Existenz ihrer Familie zu sichern.[106] Engelbert bemerkt dazu, dass eine bessere materielle Lebenssituation bei den Vätern offenbar mit einer geringeren Stressbelastung einhergeht. Neben diesem finanziellen Aspekt, bietet die Berufsarbeit möglicherweise auch einen Ausgleich zu den alltäglichen Belastungen und trägt so zur "Stabilisierung der väterlichen Psyche"[107] bei. Ein insgesamt positiveres Selbstbild lässt, ähnlich wie bei den Müttern, vermuten, dass die Väter weniger negative Eigenschaften und mehr Stärken ihres Kindes wahrnehmen und ihm gegenüber im allgemeinen eine eher optimistische Einstellung haben.

Möglich ist aber auch, dass die Väter sich aufgrund der finanziellen Situation der Familie zu ihrer Arbeit gezwungen sehen und diese dann nicht als bestätigend und kompensierend, sondern als zusätzliche Belastung erleben.[108] Nach Greenglass besteht in der Gesellschaft die Einstellung, dass Männer "die Zeit in der Familie zur Erholung von ihren Berufsanstrengungen nutzen können"[109]. Meines Erachtens ist dies durch den erhöhten Pflege- und Betreuungsaufwand für das behinderte Kind in Frage gestellt, so dass sich die Belastungen weiter verstärken.

Die Erwerbstätigkeit der Väter bedingt zudem eine größere Distanz zum Kind. Durch ihre häufige Abwesenheit sind sie zum einen weniger mit den Entwicklungsproblemen des Kindes konfrontiert, was ihnen eine Auseinandersetzung mit der Behinderung erschwert.[110] Zum anderen können sie in den kurzen Zeitspannen, die ihnen zur Beschäftigung mit ihrem Kind zur Verfügung stehen, kein erzieherisches Kompetenzgefühl aufbauen.[111] Engelbert spricht in diesem Zusammenhang auch von "binnenfamilialer Desintegration"[112]. Die Beziehung zwischen Vater und Kind ist dadurch weniger gut entwickelt, was sich wiederum auf die Art und Weise der Beschäftigung mit dem Kind auswirkt. "Für eine angeleitete Beschäftigung mit dem Kind müßten die Väter Zeitreserven frei machen und die Fähigkeit entwickeln, erhöhte Belastungen in der Vater-Kind-Beziehung auszuhalten. Es ist fraglich, ob dieses von den Vätern gewünscht wird und letztlich auch geleistet werden kann, denn sie haben weder die gleiche Bindung zum Kind wie die Mütter, noch können sie von ihrem Beruf, der zum Selbstkonzept gehört, Abstand gewinnen."[113] Das Kind mit seinen Problemen und seinem Förder- und Betreuungsaufwand wird für die Väter damit zu einer Angelegenheit der Mütter.

Diese Wahrnehmung muss aber nicht mit einem grundsätzlichen Desinteresse von Seiten der Väter verbunden sein, sondern ist möglicherweise einfach ein Hinweis auf die Wirksamkeit der bestehenden Rollenteilung.[114] Es besteht sogar die Möglichkeit, dass Väter durch den größeren Abstand zu den Problemen des Kindes "eine illusionslosere und realistischere Einstellung zur Behinderung"[115] entwickeln. Zum anderen kann eine solche Situation aber auch bewusst herbeigeführt werden. Die Väter meiden die emotionale Herausforderung durch die Behinderung oder nutzen ihre Arbeit als Kompensation ihrer zu Hause erfahrenen Frustrationen und Enttäuschungen. Cloerkes beschreibt dieses Verhalten als "Fluchthaltung"[116].

Der Mittler zwischen Gesellschaft und Familie

In seiner traditionellen Rolle steht der Vater als Bindeglied zwischen der Familie und der Gesellschaft. Er ist für die Familie gewissermaßen der Stellvertreter der Gesellschaft. Sein Selbstbild orientiert sich daher vor allem an den von der Gesellschaft vorgegebenen Normen und Wertvorstellungen und daran, wie gut er sich an diese allgemeinen Vorgaben anpassen kann.[117]

Väter messen daher ihr Kind auch eher an gesellschaftlich festgelegten Richtlinien statt an einem durch seine individuelle Entwicklung bestimmten Maßstab. In diesem Zusammenhang fallen ihnen wahrscheinlich auch eher die Defizite als die kleinen Fortschritte ihres Kindes auf.[118] So sehen Väter die Behinderung vorwiegend als eine Gefährdung ihres Selbstbildes. "Die ‚Mängel' des behinderten Kindes bedrohen ihre gesellschaftliche Anerkennung, sie haben Angst vor Diskriminierung."[119] Da gesellschaftliche Konformität für sie einen besonders hohen Stellenwert besitzt, bezeichnen Väter am häufigsten unangepasstes Verhalten als unangenehm. "Ich hatte so ein Gefühl der Scham, das war mir peinlich, wenn er sich z. B. mitten auf den Boden gesetzt hat und geschaukelt hat. Dann hatte ich immer Angst, was andere Leute denken könnten, wie sie reagieren würden."[120] Diese Furcht vor den Verhaltensweisen und Einstellungen anderer, macht es für Väter schwierig die Behinderung ihres Kindes offen einzugestehen. "Es ist immer noch ein Problem für mich, mit dem ich nicht klar komme. Mit ihm nach draußen zu gehen und zu sagen: ich bin der Vater dieses Kindes...das schaffe ich nicht. Das wäre mir peinlich, und ich würde mich genieren und wüßte nicht, wie ich mich verhalten sollte. Vielleicht würde ich nach Entschuldigungen suchen."[121]

Hinze bemerkt in seiner Studie, dass die Aufnahme in den Sonderkindergarten für Väter ein sehr markanter Punkt in der Auseinandersetzung mit ihrem Kind ist. Die Unterbringung des Kindes in einer solchen Einrichtung stellt in den meisten Fällen den ersten Kontakt mit dem Aussonderungssystem dar. Die Behinderung bekommt dadurch einen öffentlichen Status und die weitere Laufbahn des Kindes scheint mit einer gewissen Endgültigkeit vorgezeichnet.[122] Der Besuch des Sonderkindergartens ist für Väter ein sichtbares Zeichen der Abnormität ihres Kindes. Sie sträuben sich gegen eine Unterbringung in dieser Einrichtung, da sie für sich und ihr Kind gesellschaftliche Diskriminierung fürchten.[123]

Der Wunsch nach Konformität, die Unangepasstheit ihres Kindes und die Furcht vor gesellschaftlichen Sanktionen verunsichern viele Väter und geben ihnen das Gefühl, nicht mehr alles unter Kontrolle zu haben. Um den Einfluss wieder zu erlangen und aufgrund der ihnen zugeschriebenen Rollenerwartungen werden Väter meist gesellschaftlich aktiv. Sie versuchen durch die Beteiligung in Selbsthilfegruppen und Vereinen und Engagement in sozialpolitischer Hinsicht Vorteile für ihr Kind zu erreichen. Durch diese Aktivitäten gelingt es ihnen vermutlich in Bezug auf das Kind ein Kompetenzgefühl zu entwickeln, die Behinderung für sich zu verarbeiten und eine positive Beziehung zu ihrem Kind herzustellen.

Die neuen Väter

Die durch ihren Beruf bedingte räumliche Distanz zu ihrem Kind und der Kompetenzvorsprung der Mütter in Bezug auf den Umgang mit dem Kind, müssen bei Vätern nicht zwangsläufig zu einem mehr oder weniger gewollten Rückzug aus der Pflege und Erziehung des Kindes führen. Neben dem traditionellen Rollenmodell existiert das Bild der so genannten "neuen Väter"[124], die im Bereich der Kinderpflege und -erziehung immer mehr auch ursprünglich typisch weibliche Funktionen übernehmen. Die von Kallenbach in seiner Studie befragten Männer gehören überwiegend zur Gruppe dieser engagierten Väter.

Die Hauptlast der Pflege- und Betreuungsaufgaben liegt zwar nach wie vor bei der Mutter, aber Väter nehmen verstärkt auch Aufgaben wahr, die in ihrer zeitlichen Verfügbarkeit liegen. Hierein fallen unter anderem die abendlichen Pflegemaßnahmen, so dass der Vater auch vermehrt in diesen intimen Bereichen Kontakt zum Kind hat.[125] Die dadurch vermutlich hervorgerufene Intensivierung der emotionalen Bindung, trägt zu einer optimistischeren Sicht auf das Kind und die Behinderung bei. Umgekehrt könnte man allerdings auch annehmen, dass die vertrautere Beziehung es dem Vater erleichtert, auch solche mehr gefühlsbetonten Anforderungen zu erfüllen.

Neben den Pflegeaktivitäten sind die Väter aber vor allem an Spielaktivitäten mit ihrem Kind beteiligt. Im Vergleich mit den Müttern fällt auf, dass Väter sich meist in freier und ungerichteter Weise mit ihrem Kind beschäftigen. Kallenbach vermutet, dass zum einen die väterlichen Zeitreserven für eine therapeutisch motivierte Beschäftigung mit dem Kind nicht ausreichen, zum anderen die Beziehung zwischen Vater und Kind wahrscheinlich nicht so beschaffen ist, die erhöhten Anforderungen, die durch die zum Teil auch belastenden Förderübungen entstehen, auszuhalten.[126] Das väterliche Spielen ist meist spontan und richtet sich verstärkt auf den körperlichen Bereich, beispielsweise in Form von Tobespielen.[127] Es ließe sich schlussfolgern, dass bei diesen Spielen weniger die Behinderung als vielmehr normale kindliche Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen. Der Vater ist anscheinend durch seinen Abstand zu den alltäglichen behinderungsbedingten Schwierigkeiten eher in der Lage ist, das Kind als ganze Person wahrzunehmen und es nicht nur unter dem Blickwinkel der Behinderung zu betrachten.

Die Auseinandersetzung mit der Behinderung bewirkt des Weiteren eine Persönlichkeitsveränderung, die von vielen Vätern rückblickend als vorteilhaft dargestellt wird. Sie beschreiben sich nach der Bewältigung der Schwierigkeiten als nachdenklicher, problembewusster und offener gegenüber ihren Mitmenschen. Ihre Wertsetzungen haben sich verändert und vor allem Väter empfinden ein stärkeres Lebensgefühl als vor der Geburt des Kindes.[128] Das Kind mit seiner Behinderung wird als Auslöser dieser Entwicklung betrachtet.

4.2 Die Ehepartner

Die Geburt eines behinderten Kindes bedeutet für eine Partnerschaft ein Krisenereignis. Dieses Ereignis kann sich stärkend oder schwächend auf die Partnerschaft auswirken. Welcher Fall eintritt hängt allerdings nicht so sehr von äußeren Faktoren wie zum Beispiel der Schwere der Behinderung ab, sondern die Paare unterscheiden sich vielmehr schon vor dem Eintreten dieses Ereignisses in ihrem Umgang mit Belastungssituationen.[129] Ein wesentlicher Indikator für die Stabilität einer Ehe ist die Kommunikation der Partner über eigene Befindlichkeiten und die des anderen, besonders in Krisensituationen.[130] Nur wenn die Partner ihre Erwartungen an den anderen und ihr Selbstbild kommunizieren, können Kompromisse gefunden und Konflikte konstruktiv gelöst werden.

Ein Grund dafür, dass die Schwierigkeiten des Kindes als Störung der Partnerschaft erlebt werden, ist die zwischen Männern und Frauen unterschiedliche Verarbeitung von Problemen. In vielen Fällen bemängeln Frauen die unzureichende Gesprächbereitschaft ihrer Ehemänner. Männer verschweigen Probleme lieber, wohingegen Frauen eher über Probleme sprechen, um sie zu verarbeiten.[131] Aber auch der umgekehrte Fall ist möglich. Hinze konstatiert, dass für Männer in Bezug auf die Verarbeitung der Behinderung die Ehefrau die wichtigste Bezugsperson ist. Frauen sind dagegen in diesem Zusammenhang weniger auf ihren Mann angewiesen. Sie können sich auf ihr außerfamiliäres Netzwerk aus Freunden, Verwandten und Fachleuten stützen. Hinze stellt fest, dass der Ehepartner für weniger als die Hälfte der von ihm befragten Frauen die wichtigste Bezugsperson ist.[132]

Die Geburt eines behinderten Kindes verlangt außerdem eine Neuorientierung bezüglich der eigenen Rollenvorstellungen und der damit zusammenhängenden Aufgabenteilung innerhalb der Familie. "Eine allzu starke Ausdifferenzierung der Rollen jedoch kann Unzufriedenheit und Entfremdungserscheinungen bei den Partnern auslösen, die dann belastend für die Partnerschaft werden können."[133] Sieht sich die Frau zu stark in der Rolle der Mutter und konzentriert sich ausschließlich auf das behinderte Kind, vernachlässigt sie dabei zum einen ihre eigenen Bedürfnisse und zum anderen die der anderen Familienmitglieder. Für den Ehemann kann dies bedeuten, dass er sich in der Gunst seiner Frau dem Kind untergeordnet fühlt und Eifersuchtsgefühle entwickelt. Werden diese Gefühle von der Frau nicht wahr oder ernst genommen, kann es sein, dass der Mann sich der Familie entzieht[134] und das Kind gewissermaßen als Barriere zwischen den Eltern steht. Möglicherweise sieht sich die Frau aber aufgrund der starken Beanspruchung durch das Kind gar nicht in der Lage die Erwartungen ihres Mannes zu erfüllen, dies betrifft vor allem die gefühlsmäßigen und sexuellen Belange.[135] Die Partnerschaft wird für sie zu einer zusätzlichen Belastung.

Generell lässt sich aber sagen, dass es in Familien mit behinderten Kindern keinen Trend zu vermehrten Eheproblemen oder Scheidungsraten gibt. Kommt es zu einer Trennung, erfolgt diese von außen betrachtet meist, weil die Partnerschaft bereits vorher instabil war.[136] In der subjektiven Wahrnehmung ist es allerdings möglich, dass das Kind als Ursache für Beziehungsprobleme gesehen wird.

Gelingt es den Partnern bereits vor der Geburt des Kindes Probleme zu kommunizieren, Konflikte konstruktiv zu lösen und Krisen dadurch zu meistern, wird dies vermutlich auch mit einem behinderten Kind der Fall sein. Für die Korrektur von Wertvorstellungen und Erwartungen an das Kind und die Erarbeitung neuer gemeinsamer Maßstäbe brauchen die Partner eine hohe interaktive Kompetenz. Gelingt dies, kann es zu einem stärkeren "Wir-Gefühl"[137] in der Partnerschaft beitragen.[138] Der Verarbeitungsprozess wird gemeinsam erlebt. Besonders Männer scheinen dabei die Unterstützung ihrer Ehefrauen zu benötigen. Sie ist für sie bei der Bewältigung der Behinderung die wichtigste Bezugsperson.[139] Im Vergleich zu Männern mit Kindern ohne Behinderung fühlen sich Väter behinderter Kinder stärker zu ihrer Familie hingezogen. Aspekte wie Beruf und Finanzen sind für sie von geringerer Bedeutung.[140] Dies führt vermutlich zu einer intensiver erlebten Partnerschaft. "Je höher die Partnerschaftsqualität ist, desto mehr Aufgaben werden gemeinsam ausgeführt."[141] Die Frau trägt zwar vermutlich nach wie vor die Hauptlast bei der Betreuung des Kindes, aber nicht mehr die alleinige Verantwortung. Der Vater beteiligt sich an der Sorge um das Kind, um seine Partnerin zu entlasten. Das Kind wird zu einer gemeinsamen Aufgabe. Doch nicht nur die gemeinsame Betreuung des Kindes, auch und vor allem gemeinsame Freizeitaktivitäten der Eltern und gemeinsame Kontaktpflege tragen dazu bei, dass die Behinderung weniger als Beeinträchtigung der Alltagsbewältigung erlebt wird. Stärkerer emotionaler Zusammenhalt in der Familie führt zu weniger Belastung und Unzufriedenheit in Bezug auf die Behinderung.[142]

4.3. Die Geschwister

Die Geschwisterbeziehung ist eine der dauerhaftesten und prägendsten Beziehungen im Leben eines Menschen. Sie beginnt in der frühesten Kindheit und besteht meist bis ins hohe Erwachsenalter hinein.[143] In der Auseinandersetzung miteinander lernen Geschwister sich zu behaupten und bilden ihre Individualität aus. Im Anderen finden sie aber auch einen Verbündeten und Vertrauten, beispielsweise bei Streitigkeiten mit den Eltern.

Wie gestaltet sich diese Beziehung, wenn eines der Geschwister behindert ist? Cloerkes zieht in Zweifel, dass Probleme "in einem Ausmaß [entstehen], das sich vom Normalfall unterscheidet"[144]. Anders als die Eltern verbinden Geschwister mit großer Wahrscheinlichkeit keine differenzierten Erwartungen und Wertvorstellungen mit dem Geschwister beziehungsweise werden sie in die bereits bestehende Situation mit dem behinderten Geschwister hineingeboren. Ihre Sicht auf das behinderte Kind ist deshalb unbefangener als die der Eltern.[145] Die wichtigste Einflussgröße für die Entwicklung und den Verlauf der Geschwisterbeziehung scheint daher die Haltung der Eltern gegenüber dem behinderten Kind zu sein. Diese prägt das Familienklima und vermittelt sich damit auch den nichtbehinderten Geschwistern.[146]

Generell lassen sich auch hier Aspekte finden, die die Wahrnehmung des behinderten Geschwister positiv beeinflussen, ebenso wie es Faktoren gibt, die sich negativ darauf auswirken.

Rivalität

Auseinandersetzungen in Geschwisterbeziehungen sind normal. Sie dienen der Selbsterfahrung, dem Erlernen von Durchsetzungsvermögen, der Identitätsfindung und der Balance des Verhältnisses zwischen Abgrenzung und Nähe.[147] Achilles beschreibt drei Bereiche in denen es unter Geschwistern zu Reibungen kommen kann: den Kampf um die elterliche Zuwendung, das Streben nach Anerkennung durch das andere Geschwister und das Erobern und Erhalten von Machtpositionen unter den Geschwistern.[148]

Die elterliche Zuwendung gilt meist in besonderer Weise dem behinderten Kind. Die Geschwister fühlen dabei sich mitunter wie "das fünfte Rad am Wagen"[149]. Sie werden aufgefordert, Rücksicht zu nehmen und Verständnis für das unter Umständen eigentümliche Verhalten der Schwester oder des Bruders zu zeigen. Die sich möglicherweise daraus entwickelnden Gefühle von Wut und Eifersucht dürfen sie nicht offen ausleben. Das Kind mit Behinderung gilt als hilflos und schutzbedürftig, ihm dürfen diese Zuwendungen nicht abgesprochen werden oder es kann für sein Tun nicht verantwortlich gemacht werden. "Sie zieht mich auch oft an den Haaren. Aber anmeckern oder hauen darf ich sie nicht, weil sie ja nichts versteht."[150] Die Geschwister nehmen in diesem Zusammenhang die Rolle des lieben und hilfsbereiten Bruders oder der netten, fürsorglichen Schwester ein und stellen hohe Anforderungen an sich. Wut und schlechte Gedanken gegenüber dem behinderten Kind passen nicht in dieses Bild und erzeugen Schuldgefühle.[151] "Unterdrückung von Aggressionen bedeutet aber immer auch Unterdrückung anderer Formen von Spontanität, von Witz, Humor und Albereien."[152] Der unbefangene Umgang unter den Geschwistern geht dadurch möglicherweise verloren. Die Schwester oder der Bruder ist jemand, bei dem man sehr vorsichtig sein muss, was man tut oder sagt.

Auch der Kampf um Anerkennung und Macht gestaltet sich schwierig. In den meisten Bereichen sind die Geschwister dem Kind mit Behinderung überlegen. Doch diese Überlegenheit löst sehr häufig nicht Stolz und Freude sondern Schuldgefühle und Scham darüber aus, dass es ihnen besser geht und sie vieles besser können als die Schwester oder der Bruder. Hier tut sich ein Widerspruch auf zwischen der Eifersucht beziehungsweise dem Neid auf die Vorteile des behinderten Geschwisters, zum Beispiel bei der Zuwendung durch die Eltern, und andererseits der Einsicht, nicht in seiner Situation sein zu wollen.[153] Eine mögliche Form damit umzugehen ist, das behinderte Kind zu idealisieren, ihm in übertriebener Weise positive Attribute zuzuschreiben. "Alle mögen meine Schwester. Sie ist so zart und klein."[154] Besonders deutlich wird diese Problematik für jüngere Geschwister. "Das jüngere Kind erlebt, wie es allmählich das ältere überholt"[155]. Da das Kind mit Behinderung seine Rolle als großer Bruder oder große Schwester nicht entsprechend der Erwartungen des jüngeren Kindes ausfüllt, wird dieses in seiner Rolle verunsichert. Es hat keine Möglichkeit sich am älteren zu messen.

Hier ist meines Erachtens die Einstellung der Eltern von Bedeutung. Sehen sie vor allem die Fähigkeiten ihres Kindes und schließen sie die Möglichkeit nicht aus, dass auch ein Kind mit Behinderung einmal gemein sein kann, dann nimmt es unter den Geschwister keine zu stark herausragende Stellung ein und wird von ihnen auch eher als älteres wahrgenommen, das ihnen möglicherweise sogar besondere Fähigkeiten voraushat, an denen sie sich messen können.

Verantwortung

Die Geschwister sind nicht nur dazu angehalten Rücksicht gegenüber dem behinderten Kind zu üben, sondern übernehmen auch in mehr oder weniger starkem Ausmaß Verantwortung für es.

Diese Verantwortung betrifft vor allem die Mithilfe bei der Betreuung des Kindes. Je nachdem wie stark die Geschwister in die Versorgung des Kindes mit Behinderung einbezogen werden, ergibt sich eine mehr oder weniger enge Beziehung zwischen beiden. Diese kann sich negativ oder positiv auf die Wahrnehmung des behinderten Kindes auswirken. Sehen die Geschwister solche Hilfeleistungen als auferlegten Zwang, werden sie wahrscheinlich zu einer starken Belastung. "Wenn sie diese Mithilfe [jedoch] nicht als Verpflichtung erleben, sondern als selbstverständlichen Beitrag zur gemeinsam getragenen Verantwortung für den Behinderten, empfinden sie die Belastung weniger schwer."[156]

Achilles merkt an, dass vor allem die ältesten Schwestern behinderter Kinder besonders häufig zur Mitarbeit bei der Versorgung des Kindes und im Haushalt herangezogen werden, was vermutlich zu einer Verstärkung ihrer traditionellen Rolle als Frau beiträgt.[157] Aber auch sonst kann es eintreten, dass Geschwister die Rolle des Pflegers und Betreuers ihres behinderten Bruders oder ihrer behinderten Schwester übernehmen und ihre eigenen kindlichen Bedürfnisse dabei vernachlässigen.[158] Das behinderte Kind ist dann nicht mehr nur ein Geschwister, mit dem man spielen, streiten oder sich verbünden kann, sondern mehr oder weniger ein fürsorge- und pflegebedürftiger Patient. Besonders augenfällig wird dies meines Erachtens in der Situation eines jüngeren Geschwisters, das die Rolle des Betreuers eines älteren Kindes mit Behinderung übernimmt, obwohl doch allgemein erwartet wird, dass sich das Ältere um die Versorgung des Jüngeren kümmert. Geschwister fühlen sich allerdings nicht nur für die Versorgung des Bruders oder der Schwester zuständig sondern auch für seinen oder ihren Schutz vor Beleidigung und Ungerechtigkeit. "Anja erinnert sich, daß sie mit zwölf Jahren einen Jungen verprügelte, der den Bruder verspottet hatte: ‚Da war ich so erbost. Aber ich fühlte mich auch ganz toll dabei. Ich fühlte mich so richtig stark als Beschützer meines Bruders.[...]'"[159]

Die Verantwortlichkeit der Geschwister erstreckt sich außerdem auf den Bereich der Freizeit, vor allem der Aktivitäten außer Haus. Das behinderte Kind ist möglicherweise nicht in der Lage selbstständig und allein das Haus zu verlassen, und die Eltern haben vermutlich nicht ausreichend Zeit, um es zu verschiedenen Veranstaltungen zu bringen und ihm immer wieder Angebote zu machen. So wird es für Geschwister unter Umständen zur Pflicht, die sie sich zum Teil auch selbst auferlegen, sich mit dem behinderten Kind zu beschäftigen oder es zu den eigenen Freizeitaktivitäten mitzunehmen. "Ich hab dann immer jongliert, ob ich meinen Bruder mitnehme oder nicht. Manche Dinge hab ich dann auch nicht gemacht, weil ich dachte, ich kann oder will ihn nicht mitnehmen, weil man dann nicht so beweglich ist. - Ich hab mir damals einen eigenen Bereich geschaffen, in einer Volleyballmannschaft und bei den Pfadfindern, aber ich denke, daß das unter ´nem sehr großen Kraftaufwand gewesen ist, weil immer auch Schuldgefühle waren, eigentlich auch was mit dem Bruder machen zu müssen, weil der ja nicht so wie ich sagen konnte: ‚Tschüß, ich geh jetzt weg'[160]." Das behinderte Kind wird dadurch zum sprichwörtlichen "Klotz am Bein", der die Geschwister daran hindert ihre eigenen Bedürfnisse und Vorstellungen zu erfüllen. Diese Rolle behält das behinderte Kind unter Umständen noch bis ins Erwachsenenalter, wenn die Eltern die Verantwortung nach ihrem Tod auf die Geschwister übertragen. "Wenn wir mal nicht mehr leben, kümmert sich unsere Tochter um unseren Sohn."[161] Die Geschwister fühlen sich in einem solchen Fall möglicherweise durch die Sorge um den Bruder oder die Schwester an der Gestaltung ihres Lebens nach eigenen Wünschen und Vorstellungen gehindert.

Entschädigung

Engelbert merkt an, dass es für die Eltern leichter ist ihre Rolle zu erfüllen, "wenn sie in der Erziehung eines weiteren (nichtbehinderten) Kindes Bestätigung findet"[162]. Die nichtbehinderten Geschwister bekommen für die Eltern große Bedeutung als "Entschädigung", "Ausgleich" oder "Sicherung ihrer gesellschaftlichen Anerkennung"[163]. "K. ist eine große Stütze für mich, weil er sich eben normal entwickelt hat. Er ist sozusagen ein Aushängeschild, sodaß ich zeigen kann: es geht ja auch anders. Er ist ein Gegengewicht zu D., und das macht die ganze Sache für mich viel leichter."[164] Diese Ausgleichsfunktion haben nichtbehinderte Geschwister vor allem für die Väter. In Bezug auf eine amerikanische Studie bemerkt Achilles, dass besonders Mädchen mit einer behinderten Schwester und Jungen mit einem behinderten Bruder mit solchen Erwartungen konfrontiert werden. "Von ihnen [den Mädchen] wird erwartet, dass sie doppelt zärtlich, tüchtig hilfsbereit sind, um die Eltern für die Enttäuschung durch die behinderte Schwester zu entschädigen."[165] Für Jungen gilt das Gleiche in Bezug auf gesellschaftlichen Erfolg. "Ich muss doppelt viel leisten, denn ich bin der einzige in der Familie, der einzige Nachkomme, der etwas erreichen kann. Außerdem: Mein Vater ist ein sehr stolzer Mann, und es verletzt ihn sehr, dass Timmy nichts schaffen kann. Er möchte so gern stolz auf seine Söhne sein. Das konzentriert sich jetzt alles auf mich."[166]

Es kommt vor, dass Kinder diese Anforderungen übernehmen und hohe Ansprüche an sich stellen. Sie glauben für ihre Eltern das perfekte Kind sein zu müssen und haben Angst davor, sie zu enttäuschen. Miller glaubt sogar, dass sie die Vorstellung entwickeln, nur wegen ihrer Leistungen geliebt zu werden.[167] Es ist zu vermuten, dass sie damit das Bild der Eltern vom behinderten Kind als einer Enttäuschung übernehmen.

Nach meiner Auffassung könnte sich die Situation aber auch umgekehrt gestalten. Das Geschwister sieht, dass das behinderte Kind auch von den Eltern geliebt wird, wenn es vieles nicht gut kann und viele Erwartungen nicht erfüllt. Das Bild von der behinderten Schwester oder dem behinderten Bruder erfasst dann nicht nur die enttäuschenden Aspekte und Defizite, sondern das Kind in seiner ganzen Person als liebenswerten Menschen.



[54] vgl.: Hinze 1993, S. 33

[55] vgl.: Cloerkes 2001, S. 243

[56] Hinze 1993, S. 198

[57] vgl.: Kallenbach 1997, S. 61

[58] vgl.: ebenda, S. 49

[59] vgl.: Krause 1997, S. 263

[60] Seifert 2003, S. 44

[61] vgl.: Engelbert 2003, S. 213

[62] Greenglass 1986, S. 153f

[63] vgl.: Krause 1997, 238 ff

[64] Seifert 1997, S. 239

[65] Heckmann 2004, S. 38

[66] vgl.: Seifert 2003, S. 44

[67] Lempp; Lempp 1994, S. 34

[68] vgl.: ebenda, S. 34f

[69] vgl.: Engelbert 1999, S. 31

[70] Hinze 1993, S. 109

[71] Engelbert 1999, S. 26

[72] Hinze 1993, S. 120

[73] Heckmann 2004, S. 33f

[74] vgl.: Kallenbach 1997, S. 56

[75] Miller 1997, S. 155

[76] vgl.: Krause 1997, S. 255

[77] vgl.: Kallenbach 1997, S. 56

[78] vgl.: Hinze 1993, S. 101

[79] ebenda, S. 135

[80] vgl.: ebenda, S. 198

[81] vgl.: Greenglass 1986, S. 154

[82] vgl.: Krause 1997, S. 238f

[83] vgl.: Greenglass 1986, S. 160

[84] vgl.: ebenda, S. 162

[85] vgl.: Krause 1997, S. 265

[86] vgl.: Engelbert 1999, S. 246f

[87] Hinze 1993, S. 132

[88] ebenda, S. 140

[89] Hinze 1993, S. 138

[90] ebenda, S. 132

[91] Seifert 1997, S. 238

[92] vgl.: Eckert 2002, S. 41

[93] vgl.: Hinze 1993, S. 142

[94] vgl.: Eckert 2002, S. 41

[95] vgl.: Greenglass 1986, S. 155

[96] Hinze 1993, S. 198

[97] vgl.: ebenda, S. 198

[98] ebenda, S. 198

[99] Seifert 2003, S. 47

[100] vgl.: Hinze 1993, S. 141

[101] vgl.: ebenda, S. 100

[102] Hinze 1993, S. 121

[103] ebenda, S. 100

[104] ebenda, S. 119

[105] Engelbert 1999, S. 291

[106] vgl.: Kallenbach 1997, S. 63

[107] Seifert 2003, S. 47

[108] vgl.: Krause 1997, S. 265

[109] Greenglass 1986, S. 165

[110] vgl.: Seifert 2003, S. 47

[111] vgl.: ebenda, S. 47

[112] Engelbert 1999, S. 290

[113] Kallenbach 1997, S. 66

[114] vgl.: Hinze 1993, S. 97

[115] ebenda, S. 119

[116] Cloerkes 2001, S. 244

[117] vgl.: Hinze 1993, S. 198

[118] vgl.: ebenda, S. 135

[119] Seifert 2003, S. 47

[120] Hinze 1993, S. 131

[121] ebenda, S. 129

[122] vgl.: Hinze 1993, S. 130

[123] vgl.: ebenda, S. 133

[124] Kallenbach 1997, S. 67

[125] vgl.: ebenda, S. 48f

[126] vgl.: Kallenbach 1997, S. 65f

[127] vgl.: ebenda, S. 56

[128] vgl.: Hinze 1993, S. 142

[129] vgl.: Sevenig 2000, S. 142

[130] vgl.: Seifert 2003, S. 48

[131] vgl.: Hinze 1993, S. 105f

[132] vgl.: ebenda, S. 144f

[133] Sevenig 2000, S. 141

[134] vgl.: Praschak 2003, S. 35

[135] vgl.: Sevenig 2000, S. 145 und Greenglass 1986, S. 162

[136] vgl.: Eckert 2002, S. 43f

[137] Sevenig 2000, S. 141

[138] vgl.: ebenda, S. 141

[139] vgl.: Hinze 1993, S. 144

[140] vgl.: Sevenig 2000, S. 145

[141] Kalicki (Internetquelle), S. 8

[142] vgl.: Engelbert 1999, S. 244

[143] vgl.: Achilles 2002, S. 61

[144] Cloerkes 2001, S. 245 [An gleicher Stelle bemängelt Cloerkes, dass in den vorhandenen Studien zur Situation von Geschwistern behinderter Kinder stets auf Kontrollgruppen verzichtet wurde und so keine Schlussfolgerungen in Bezug auf Unterschiede zu normalen Geschwisterbeziehungen möglich sind.]

[145] vgl.: Achilles 2002, S. 157

[146] vgl.: ebenda, S. 93

[147] vgl.: Achilles 2003, S. 63

[148] vgl.: Achilles 2002, S. 18

[149] Seifert 1990, S. 106

[150] Achilles 2002, S. 43

[151] vgl.: ebenda, S. 44f

[152] ebenda, S. 44

[153] vgl.: Seifert 1989, S. 98

[154] Achilles 2002, S. 45

[155] ebenda, S. 47

[156] Seifert 1990, S. 107

[157] vgl.: Achilles 2002, S. 48 [Achilles bezieht sich an dieser Stelle auf eine Studie der amerikanischen Psychologin Frances Grossman von 1972]

[158] vgl.: Miller 1997, S. 176

[159] Seifert 1997, S. 243 [Hervorhebung im Original]

[160] Seifert 1997, S. 243 [Hervorhebung im Original]

[161] Achilles 2003, S. 67

[162] Engelbert 1999, S. 215

[163] Hinze 1993, S. 133

[164] ebenda, S. 133

[165] Achilles 2002, S. 49 [Achilles bezieht sich an dieser Stelle auf eine Studie der amerikanischen Psychologin Frances Grossman von 1972]

[166] ebenda, S. 49 [das Zitat stammt ebenfalls aus der Studie von Frances Grossman von 1972]

[167] vgl.: Miller 1997, S. 176

5. Resümee und Ausblick

Mit der ökologischen Theorie Bronfenbrenners wurde die Familie für ihre Mitglieder als unmittelbarer Lebensbereich aus Tätigkeiten, Beziehungen und Rollen gekennzeichnet. Die einzelnen Familienmitglieder sieht bereits Bronfenbrenner nicht als passiv von den Umweltgegebenheiten gesteuert, sondern als "aktive[.], sich die Umwelt kreativ aneignende[.] Menschen"[168]. Es erfolgt eine Annäherung zwischen dem Individuum und "den wechselnden Eigenschaften seiner unmittelbaren Lebensbereiche"[169]. Dieser Anpassungsprozess wurde mit Hilfe des Symbolischen Interaktionismus genauer beschrieben. Die Aneignung der Umwelt durch das Individuum wird hier als ein Akt von Bedeutungszuschreibung und subjektiver Interpretation objektiver Gegebenheiten verstanden. Solche Gegebenheiten sind zum Beispiel gesellschaftlich festgelegte Rollenmuster. "Die Interpretationsmöglichkeiten der Handlungssituation und die Anzahl der Handlungsalternativen sind so vielfältig, dass auch eine klare Rollenorientierung individuelle Definitions- und Entscheidungsprozesse keineswegs obsolet werden lässt."[170]

Wie die in der Arbeit beschriebenen zahlreichen Rollen und Verhaltensvarianten zeigen, bedarf auch die Geburt eines behinderten Kindes der subjektiven Interpretation durch die von ihr betroffenen Personen, für deren Auswirkungen sich keine Gesetzmäßigkeiten ableiten lassen. Wenn Achilles zu ergründen versucht, welche Konstellationen oder Bedingungen sich auf die Geschwister behinderter Kinder am vorteilhaftesten beziehungsweise am ungünstigsten auswirken, wird schon durch das Aufzeigen verschiedener Möglichkeiten deutlich, dass dies im Einzelfall und unter Umständen auch zwischen den Geschwistern einer Familie höchst unterschiedlich sein kann. Ob es ältere Geschwister besonders schwer haben, weil sie durch das behinderte Geschwister entthront werden und noch dazu die Verunsicherung der Eltern erleben müssen, oder ob sie weniger unter Behinderung leiden, weil sie die Eltern ein paar Jahre für sich allein hatten,[171] hängt von der Person des Kindes sowie dem Umgang und den Einstellungen in der Familie ab. Es lassen sich zwar allgemeine Wahrscheinlichkeiten für das Eintreten bestimmter Reaktionen nennen, aber für den Einzelfall sind keine Vorhersagen möglich.

Ob und wie die Behinderung des Kindes innerhalb der Familie wahrgenommen wird hängt von der Interpretation aller Familienmitglieder ab. Indem jeder den Objekten, Ereignissen und Personen im System der Familie und damit auch dem behinderten Kind eine bestimmte Bedeutung für sein Handeln und seine Rollenausübung zuschreibt, wird eine dieser Familie entsprechende Wirklichkeit konstruiert. Die Rollen, die die einzelnen Familienmitglieder dabei einnehmen, beeinflussen sich wechselseitig. Man kann sogar davon sprechen, dass die Familienangehörigen sich gegenseitig brauchen um ihre Rolle ausfüllen zu können. Egal welche Handlungsalternative sich die Mutter ausgesucht hat, sie ist darauf angewiesen, dass sowohl das Kind, auf das sich ihr Verhalten richtet, als auch die anderen Familienmitglieder sie in ihrer Rolle bestärken. Tun sie dies nicht, muss sie die Situation für sich neu definieren und zu einer neuen Handlungswahl kommen. Ob sie sich durch die anderen Familienmitglieder in ihrer Rolle bestärkt sieht, hängt aber auch sehr stark von ihrer eigenen Wahrnehmung ab. Sie kann das Verhalten oder die Behinderung des Kindes für sich jeweils so interpretieren, dass dadurch ihr Verhalten bestätigt wird. Gleiches gilt natürlich für alle anderen Familienmitglieder.

Der Prozess von Bedeutungszuschreibung und Rollenübernahme. Zum einen beeinflusst also die Bedeutung, die die Behinderung für die Familienmitglieder besitzt, ihre Sicht auf das behinderte Kind und damit auch die Rollen, die sie ihm gegenüber einnehmen. Zum anderen sind es die von den Familienmitgliedern eingenommenen Rollen, die ihre Wahrnehmung des behinderten Kindes beeinflussen. Welche Rollen das behinderte Kind in diesem Prozess aus Sicht der Familienangehörigen einnimmt, ist in dieser Arbeit angedeutet worden. Es wäre noch zu untersuchen, wie sich diese Zuschreibungen möglicherweise auf das Selbstbild des Kindes auswirken.

Auch der Einfluss gesellschaftlicher Faktoren auf das Rollenverhalten der Mitglieder dürfte an dieser Stelle von Bedeutung sein. Bronfenbrenner betont in seiner Theorie, dass die Wurzeln der Rolle im Makrosystem liegen, das heißt Rollenerwartungen werden von der Kultur beziehungsweise Subkultur mitdefiniert.

Des Weiteren sind die Möglichkeiten für pädagogisches Handeln in diesem Zusammenhang bedenkenswert. Hat Pädagogik die Möglichkeit die subjektiven Deutungen und damit die Sicht auf das behinderte Kind und das Verhalten der Familienmitglieder ihm gegenüber zu beeinflussen? An welcher Stelle müsste Pädagogik ansetzen? Genügt es sich in die innerfamiliären Deutungsprozesse einzuschalten oder müssen auch gesellschaftliche Vorgaben und Definitionen überprüft und verändert werden?



[168] Hurrelmann 2001, S. 35

[169] Bronfenbrenner 1981, S. 37

[170] Hill; Kopp 2004, S. 97

[171] vgl.: Achilles 2002, S. 49

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Bronfenbrenner, Urie: Die Ökologie der menschlichen Entwicklung. Natürliche und geplante Experimente. Stuttgart: Klett-Cotta, 1981

Cloerkes, Günther: Soziologie der Behinderten: Eine Einführung. 2. Aufl. Heidelberg: Winter, Programm Ed. Schindele, 2001

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Hill, Paul B.; Kopp, Johannes: Familiensoziologie. Grundlagen und theoretische Perspektiven. 3. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2004

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Eigenständigkeitserklärung

Hiermit erkläre ich, dass ich die vorliegende Arbeit eigenständig und ohne fremde Hilfe verfasst und keine anderen als die angegebenen Hilfsmittel verwendet habe. Insbesondere versichere ich, dass ich alle wörtlichen und sinngemäßen Übernahmen aus anderen Werken als solche gekennzeichnet habe.Halle, den 09. Mai 2007

Katharina Cain (10. FS DEW)

Jacobstraße 17

06110 Halle (Saale)

katharina.cain@web.de

(Tel: 0345/6825990)

Quelle:

Katharina Cain: "Das behinderte Kind in der Familie - Die Sicht der Eltern und Geschwister"

Jahreshausarbeit an der Martin- Luther- Universität Halle- Wittenberg. Fachbereich Erziehungswissenschaften. Betreuer: Dipl. soz. Karsten Exner, eingereicht am: 09. 05. 2007

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 26.02.2008

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