betrifft: integration 2/95

Themenbereiche: Schule, Kultur
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Integration: Österreich / Verein Gemeinsam leben - Gemeinsam lernen (Hrsg.): betrifft: integration Nr. 2/1995, Herold Druck- und Verlagsges.m.b.H., Wien betrifft: integration (2/95)
Copyright: © betrifft: integration 1995

Liebe Leserin, Lieber Leser!

Fahrplan zum Gesetz für den Sekundarbereich!

Spätestens 1997 wird eine entsprechende gesetzliche Regelung für einen gemeinsamen Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Kindern im Sekundarbereich benötigt. Damit der Übergang fließend und zeitgerecht für alle Beteiligten erfolgen kann, wäre ein Bundesgesetz bereits ein Jahr vorher notwendig. Mittlerweile hat die Arbeitsgruppe für schulische Integration im Ministerium für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten mit jeweils zwei Vertreterinnen der Elterninitiativen ihren Betrieb wieder aufgenommen. Noch in diesem Jahr werden zwei weitere Sitzungen stattfinden.

Aus dem gegebenen dringenden Anlaß ist ein Plädoyer für eine kindgerechte Schule - für alle Kinder - auch und ganz besonders im Sekundarbereich, Schwerpunkt dieser Ausgabe. Denn das herkömmliche Schulsystem im Sekundarbereich, macht in dieser Form das gemeinsame Leben und Lernen für Kinder mit besonderem Förderbedarf unmöglich!

Gleichstellung der Lehrerinnen in Integrationsklassen !

Gerichte haben, was im Gemeinsinn unter "gesunden Menschenverstand" verstanden wird, bestätigt. Unterrichten zwei Lehrerinnen - Volks- und Sonderschullehrerin im Sinne des integrativen Gedankens, nämlich gleichberechtigt muß das auch in der Bezahlung Niederschlag finden. Finanzielle Nachforderungen können Sie an Ihren Dienstgeber richten. Genauere Information entnehmen Sie bitte aus dem Blattinneren. Achtung! Dieses Urteil ist nur für den Schulversuchszeitraum gültig. Für alle Integrationsklassen die als Regelschulklassen (ab dem Schuljahr 1993/94) begonnen wurden gilt der Grundsatz nicht mehr. Daß diese Ungerechtigkeit nicht hingenommen werden will von Integrationslehrerinnen, hat die Eingabe einer diesbezüglichen Petition an Parlamentspräsident Fischer gezeigt. Und im Herbst sind Personalvertretungswahlen. Wir denken der richtige Zeitpunkt um eine Änderung der Gehaltsgesetz-Novelle zu verlangen. Ein mögliche Vorlage finden Sie ebenfalls in dieser Ausgabe.

Behinderte Menschen in den Medien

Auszüge und Ergebnisse einer eben fertiggestellten Studie haben wir in dieser Ausgabe abgedruckt.

Wie üblich gibt's weiters noch allerlei Berichte, Termine und Wissenswertes, wobei über den Beitrag von Prof. Hans Hovorka hoffentlich ein interessanter Diskurs geführt wird.

Eine letzte Erinnerung - im Zweifelsfalle weiblich!

Als Zeichen der Gleichbehandlung und Gleichberechtigung verwenden wir, wenn nicht eindeutig aus dem Zusammenhang erkennbar - da tatsächlich Mann betroffen ist -, die weibliche Schreibform. Leser hingegen sollen sich trotzdem angesprochen fühlen, wie das gewöhnlich Frauen umgekehrt tun müssen.

Ferien in Sicht!

Mit dieser Ausgabe von BETRIFF: INTEGRATION wünschen wir Ihnen erholsame Ferien! Insgeheim hegen wir auch ein kleines bißchen die Hoffnung, daß Sie in den Ferien so viel Kraft tanken können, damit Sie uns rege und aktiv bei der Durch- und Umsetzung unserer nächsten Schritte für ein gemeinsames Leben und Lernen unterstützen. Mit viel Kraft und frischen Wind können wir viel erreichen!

das Redaktionsteam

Karl Heinz Pohler: Integration im Sekundarbereich - Modellvergleich und Erkenntnisse daraus

Das herkömmliche Schulsystem - vor allem im Sekundarbereich mit der ausgeprägten äußeren Differenzierung! - , die herkömmliche Pädagogik und Didaktik sind für die meisten Kinder wenig hilfreich. Kindern mit besonderem Förderbedarf machen sie gemeinsames Leben und Lernen unmöglich!

Schulgerechte Kinder oder kindgerechte Schule?

Nirgendwo dokumentieren sich Schwächen unseres derzeitigen, streng horizontal gegliederten, segregierenden und selektierenden Schulsystems derart offenkundig wie in der Frage: Wie steht die allgemeine Schule zu Benachteiligten und Behinderten?

Nicht die kindgerechte Schule steht im Mittelpunkt der Schulorganisation und des "pädagogischen Handelns", sondern das "schulgerechte" Kind. Der Schulalltag der 10- bis 15jährigen ist geprägt durch mehr oder weniger starke Kämpfe gegen den Absturz von bzw. den Aufstieg von der jeweiligen Kaskade in die nächste: von der Unterstufe des Gymnasiums in die Hauptschule, von der ersten Leistungsgruppe in die zweite, von der zweiten in die dritte, von der dritten in die Sonderschule, von der Sonderschule . . .?

Schulversagen oder Versagen der Schule?

Langjährige Erfahrung im "herkömmlichen" Schulbetrieb und einige Jahre intensive Beschäftigung mit Integrationsklassen lassen - verkürzt - feststellen:

Die herkömmliche Pädagogik und Didaktik sind schädlich für alle Kinder, den sogenannten behinderten Kindern machen sie auf der Sekundarstufe I ein gemeinsames Leben und Lernen unmöglich! Umgekehrt nützt eine integrative Pädagogik und Didaktik allen Kindern. Die Beherrschung verschied-ener Kulturtechniken wird vielfach als Selbstzweck gesehen, in der Sekundarstufe I teilweise als Voraussetzung, teilweise als nur noch zu perfektionierende Fertigkeiten. Diese Sichtweise muß etliche Kinder und Jugendliche scheitern lassen, andere schließt sie bereits von vornherein von einer Teilnahme aus.

Setzt man aber als Ziel "Lebensbewältigung" und sieht die Kulturtechniken als Werkzeug dafür an, dann kann es kein schulisches Versagen bzw. keinen Ausschluß mehr geben!

2. Gemeinsames Leben und Lernen ist sowohl unbedingte Forderung als auch die Chance für Weiterentwicklung der Sekundarstufe I.

Ängste

Nicht nur Vertreterinnen der Schulbehörde, für die das Bildungswesen be"rechen"bar sein muß, macht eine grundlegende Umwälzung der derzeit existierenden Schule Angst. Widerstände gibt es vor allem auch im Bereich jener Praktikerinnen, die mit dem Wunsch nach gemeinsamen Leben und Lernen behinderter und nichtbehinderter Kinder konfrontiert werden. "Integration ja - aber alles muß so bleiben wie es ist!" lautet überspitzt formuliert die gängigste Abwehrformel. Dies ist auch das Hauptmotiv für die teilweise vehemente Forcierung des Modells "Kooperative Klasse". Als unnotwendig, ja kontraproduktiv und zu radikal werden Überlegungen angesehen, die nur einige Selbstverständlichkeiten unser-es derzeitigen Bildungssystemes auf ihren Sinn zu prüfen wagen:

  • die hierarchische Verwaltung von Lehrprozessen,

  • die methodische Vorbestimmung von Lernabläufen

  • die institutionell verordnete, normierte zeitliche Gliederung des Lernens und Erholens,

  • die räumliche Trennung von Leben und Lernen,

  • die Bildung sogenannter "homogener" Gruppen,

  • das Beharren auf der Beständigkeit von Lerngruppen,

  • die Bewertung des Lernerfolgs anhand metrischer Merkmale,

  • der Glaube daran, daß sich die Fiktion "Unterricht" in den lernenden Subjekten wiederfindet,

  • das Vertrauen auf spezielle Unterrichtsmaterialien,

  • an der "Normalverteilung" orientierte Notengebung,

  • Abschiebung der Lehrerverantwortung über die Hausaufgaben an die Familie,

  • Bestrafung von Kooperation während der Leistungskontrolle, u.v.a. mehr.

(nach Jetter, 1989 S. 139)

Lernen die Kinder in integrativen Klassen auch genug?

Umfangreiche Untersuchungen (Specht 1993, Wocken 1987) und eigene Beobachtungen und Erfahrungen geben uns die Sicherheit, diese Frage bejahen zu können. Der Grazer Univ. Prof. Dr. Bernd Schilcher, Verfassungsrechtler und Amtsführender Präsident des steirischen Landesschulrates, fordert in einem im Juni 1992 in Dornbirn/Vorarlberg gehaltenen Referat: "Nicht die Integration ist beweispflichtig, sondern die Segregation!" Aber was heißt "genug lernen"?

Für die Eltern genug, für die sehr oft noch andere Leistungsmaßstäbe aus ihrer eigenen Schulzeit bedeutend sind?

Für den weiteren Lebensweg genug, dessen Hürden vielfach nur überwindbar zu sein scheinen mit herkömmlichem Daten- und Faktenwissen?

Aus unserer ersten Integrationsklasse beispielsweise, die die Hauptschule abgeschlossen hat, gehen einige Schülerinnen und Schüler erfolgreich in weiterführende Mittlere und Höhere Schulen, zumindest wie von anderen Klassen auch. Für die Anforderungen einer Zeit, deren Veränderungsgeschwindigkeit in atemberaubendem Tempo zunimmt?

Gerade der letzte Punkt fordert am stärksten, daß Kinder Lernbereitschaft und Lernfreude selbständig entwickeln - also das "Lernen des Lernens" gelernt haben. Diese lebensnotwendigen Fähigkeiten und entsprechende Fertigkeiten stehen im Zentrum des integrativen, offenen Unterrichts. Wenn das (Auswendig-)Lernen von meist zusammenhanglosen Daten und Fakten jemals von Bedeutung gewesen sein sollte (was zu bezweifeln ist), so hat es heute jede Berechtigung verloren! Für unser Weiter- und Überleben sind nicht mehr Anhäufung von Kenntnissen gefragt, sondern Erkennen und Verstehen von gesellschaftlichen Prozessen und Problemen, und damit die Fähigkeit, taugliche Strategien zu deren Lösungen zu entwickeln.

Dazu brauchen wir Arbeitstechniken, die nicht auf Konkurrenz, auf Einzelkämpferinnentum und Egoismus ausgerichtet sind, sondern auf ein solidarisches Handeln, auf eine Kooperation um einer gemeinsamen Sache willen.

Alternativen

Im integrativen Unterricht ist, bei Einbezug aller (eben auch sehr schwer und umfassend behinderter Kinder), zu sehen, daß

  • Kooperation (und damit soziales Lernen und Handeln der Schülerinnen und Schüler; potentiell eine jede mit jeder) nur möglich ist, wenn der Unterricht einen "gemeinsamen Gegenstand" (Thema/Inhalt, Vorhaben, Sachverhalt u.a.) hat, aber

  • nicht von jeder Schülerin von jedem Schüler erwartet wird, daß sie/er in kooperativer Teilnahme am und im Unterricht mit einem gemeinsamen Gegenstand (gleichen Inhalten) auch dieselben Fertigkeiten, Kenntnisse, Erkenntnisse und Qualifikationen gewinnt, also dieselben Ziele erreicht (Feuser/Meyer 1987, S.35).

Feuser vergleicht den didaktischen Ansatz mit einem Baum: Der "gemeinsame Gegenstand", also das Thema eines Projektes beispielsweise, an dem alle Kinder arbeiten, ist das Innere des Baumstammes. Von den Wurzeln (= historische Entwicklung der Wissenschaften) wird der Baum mit seinen Ästen bis in die feinsten Verzweigungen (= heutiger Erkenntnisstand der Einzelwissenschaften) mit Nährstoffen versorgt.

Die Planung und die Differenzierung erfolgen von unten nach oben, d.h., vom niedrigsten Entwicklungsniveau ausgehend. So hat jedes Kind die Chance, an seinem jeweiligen Erfahrungshorizont anzuknüpfen und nach seinen individuellen Fähigkeiten und Interessen am gemeinsamen Thema zu arbeiten.

Um beim bildhaften Vergleich mit dem Baum zu bleiben: Die Äste und deren Zweige entsprechen den Wissenschaftsbereichen, durch die ein Zugang zum gemeinsamen Thema gefunden werden kann. Der Astansatz symbolisiert den sinnlich konkreten Ansatz (zum Beispiel: Wie schmeckt Trinkwasser? Wie fühlt es sich an? Wie schaut es aus? Woher kommt es?).

Je weiter man zur Astspitze vordringt, umso abstrakter wird der Zugang: Sprache, Schrift, Formeln, usw. (z. B. im "naturwissenschaftlichen Ast": chemische Zusammensetzung des Wassers, chemische Eigenschaften der Bestandteile, Kapillarwirkung, Anomalie des Wassers, etc.). Ein Kind mit hoher Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskompetenz dringt auf einem Ast weiter hinaus bis an die feinsten Verästelung-en, möglicherweise sogar auf zwei oder mehreren Ästen gleichzeitig. Es muß dies aber nicht bei jedem Ast und in jedem Projekt leisten (vgl. auch Feuser).

Integration und Leistungsgruppen?

Wozu brauchen wir Leistungsgruppen?

R. Vierlinger, der homogene Schüler-innengruppen in der Schule lediglich bei der Aufstellung einer Turnriege oder beim Zusammenstellen eines Schulchores für sinnvoll erachtet, schreibt in seinen 4 Thesen über die Schädlichkeit von äußerer Differenzierung:

1. Ein gestuftes Schulsystem macht die Schule stets mehr zu einer Stätte der Diagnose, des Richtens und Aburteilens, des Aussortierens und der Auslese als zu einer Stätte des Helfens, der bildenden Begegnung und der Förderung.

Die Angst vor der Abstufung bzw. um das Behalten des jeweiligen Niveaus wird zur ständigen Begleiterin der Schülerinnen. Ein gestuftes Schulsystem ist vergleichbar mit einem Kaskadensystem: sogar diejenigen, die - noch - einen größeren Abstand zum Rand des Absturzes halten können, werden von einem ständigen Sog nach unten bedroht. Die Zusammenarbeit versiegt, das Miteinander wird zum Konkurrenzkampf, wenn der Vorteil der einen automatisch in einen Nachteil für einen selbst umschlagen kann. Wer wird in diesem Gerangel noch der anderen helfen wollen, wenn der Aufstieg der bislang Schwachen zum Abstieg seiner Nachbarin /seines Nachbarn führen kann, die bislang kontinuierlich, aber nur mittelmäßig gearbeitet hat? "Konkurrenzkampf ist eine armselige Entschuldigung für alle, die den Begriff Gleichberechtigung nicht mit Inhalten füllen können", behaupten Dreikurs/Cassel (1979).

Bereits Rousseau hat es vor über 200 Jahren seltsam gefunden, daß man in der Erziehung "auf keine anderen Mittel verfallen ist, als auf Wetteifer, Eifersucht, Neid . . ., also gerade die gefährlichsten Leidenschaften, die am schnellsten emporschießen und am geeignetsten sind, die Seele zu verderben." (zit. nach Flitner, 1982).

Der Ausgleich zwischen den Sozialschichten wird - entgegen der vielleicht einmal vorhandenen Absicht - nicht geringer, sondern durch die Abspaltung in Leistungsgruppen größer (Mairinger 1980)! Der schulische Konkurrenzkampf läßt den Unterlegenen oft gar nichts anderes übrig, als auf einem anderen Feld zu reüssieren, wo nach anderen Maßstäben gemessen wird: In vielen Fällen ist es die Arena des Rowdytums und der Delinquenz.

Was viele Kolleginnen und Kollegen aus eigener leidvoller Erfahrung - vor allem aus der Arbeit in dritten Leistungsgruppen - kennen, hat Hurrelmann (1971) vorausgesagt und haben Fends empirische Forschungen bestätigt (Fend u.a. 1982). Ständiges Verlieren im schulischen Wettkampf demotiviert, frustriert und fördert die Aggressionen. Und - ein besonders harter Vorwurf an die Institution Schule - es zerstört die Bereitschaft zum Weiterlernen! M. Rutter hat in seinen Schulvergleichen in London herausgefunden, daß ein "ausgewogenes heterogenes Sortiment an Begabung weniger Delinquenz zur Folge hat" (Rutter u.a. 1980).

2. Die Bilanz zwischen den Grundvoraussetzungen des psychosozialen Klimas in der Schule und den Ansprüchen der äußeren Organisation ist unausgeglichen (und zwar zu Lasten des Klimas!). Der Tribut an die Organisierbarkeit der Leistungskurve ist sehr hoch! Die Sozialkontakte werden in Schulen mit Leistungsgruppen immer wieder um der exakten Ordnung auf dem Schachbrett der Homogenisierung willen zerrissen.

Hoffmann/Rülker (1977) sprechen von einem "Schülernomadentum", das durch den ständigen Raumwechsel entsteht und die Einwurzelung, die Ruhe und Sicherheit gibt, verhindert. Auf-, Ab- und Umstufungsprozeduren absorbieren aber auch Kraft des Lehrerkollegiums, die für die eigentlichen pädagogischen Aufgaben viel besser genützt werden könnte und sollte.

Ausgesprochen negativ wirken sich auch die sowohl zeitlich als auch inhaltlich starr vorgegebenen Pläne von Zielen, manchmal auch noch der Verfahren aus. Ein bestimmtes Stoffgebiet muß von parallelen Gruppen zur selben Zeit behandelt und beendet werden. Dazu gehört auch das fast blinde und häufig ausschließliche Verlassen auf Schulbücher. Die Schülerinnen und Schüler bekommen Inhalte aus zweiter und dritter Hand vermittelt. Sie legen die Kreativität, die Intelligenz und vor allem auch die Fähigkeit, auf spontan auftretende aktuelle Anlässe angemessen zu reagieren, in Fesseln. Eine solche Schule gerät in die Gefahr, die geistige Bevormundung zu potenzieren, die im traditionellen System des deutschsprachigen Mitteleuropa vorherrscht und eher Gleichgültigkeit und Verdrossenheit erzeugt, als den nötigen Elan zu einer Veränderung und Verbesserung.

3. Die homogene Schülerinnen- und Schülerzusammensetzung liefert der Leherin/ dem Lehrer ein Alibi, für die Individualisierung und Differenzierung nicht weiter Sorge tragen zu müssen.

Jedes gestufte System perfektioniert den Lehrer zu einem Spezialisten für Aussonderung, während er doch ein Spezialist für das Entwerfen von Lehrstrategien sein sollte!

Stellen Sie sich eine Situation vor, die an Schulen ja nicht gerade selten vorkommen soll: Ein Schüler hat ein bestimmtes "Informationsquantum" nicht angemessen verarbeiten können.

a.) Mögliche Reaktion in einer Schule mit Leistungsgruppen:

Zunächst drängt sich die Frage auf, ob denn diese Schülerin richtig eingestuft worden sei. Wiederholt sich dieses Versagen noch in einigen folgenden Kontrollen, so wird die Abstufung folgen. Zwar sollen Stützmaßnahmen das Schlimmste verhindern, aber letztlich sind sie doch nicht mehr als Kosmetik.

Diese Organisationsform der Schule provoziert die Rolle der Lehrerin als Richter. Würde er sich andere Formen des Vermittelns von Inhalten überlegen, so käme dies gewissermaßen einem Verrat am System gleich, in dem es ja schließlich um die korrekte Niveaueinstufung geht. Würde er individuelle Hilfe für diesen Schüler anbieten, so wäre dies ungerecht gegenüber den anderen, die sich ja den "objektiven" Normen des Systems beugen müssen.

b.) Ganz anders muß und wird sich eine Lehrerin verhalten, wenn sie vor einer

Schülerinnengruppe mit natürlicher Begabungsstreuung steht. Sie kann diese Schülerin, die etwas nicht verstanden hat, ganz einfach nicht eliminieren. Wohin denn auch?

Daher wird es ihr zunächst einmal nicht so leicht, sich gegenüber dem Anspruch von individueller Hilfe taub zu stellen. Sie ist geradezu gezwungen, nach neuen Wegen zu suchen, nach neuen Zugängen zu einem Problem. Und die Erfahrung zeigt auch, daß dies zwar mit Anstrengungen verbunden ist, aber auch mit Befriedigung, Motivation und - Erfolg! Und selbst der Lehrerin, die nicht bereit sein sollte, diesen Schritt zu tun, sind wenigstens die gröbsten Instrumente genommen, mit denen die schwachen Schülerinnen noch weiter deklassiert und demotiviert werden.

Von Verfechtern der gestuften Organisationsform wird zwar immer wieder entgegengehalten, daß die untersten Züge und Gruppen gerade deswegen geschaffen worden wären, um sich dort den gescheiterten Schülerinnen besonders eingehend widmen zu können. Doch die Realität, die solchen Schwurformeln folgt, sieht leider anders aus. Horst Rumpf entlarvt sie als "ungedeckte Schecks auf hohe Beträge". Die untersten Gruppen sind weiterhin nur Auffanglager, und häufig verkümmern dort die Methoden eher, als daß sie verbessert und verfeinert würden.

4. Als das Konzept der Leistungskurse aus der Taufe gehoben worden ist, mögen die unterschiedlichsten Lerngesetze Pate gestanden haben. Der wichtigste Lernvorgang aber, das Lernen am Vorbild, wurde und wird mißachtet.

Dies ist wohl der größte Vorwurf, der dem Leistungsgruppenmodell gemacht werden muß. Gerade bei den Schwächsten glaubt man, auf die Bedeutung des Vorbildes verzichten zu dürfen. "Ein immenser Teil der Rollenleistung des erwachsenen Individuums muß in der Identifikation mit Individuen des gleichen oder beinahe gleichen Status erfolgen", schreibt Talcott Parsons (1977 (2)).

James Coleman hat in einer Untersuchung von 600 000 Schülerinnen in den USA den Einfluß der Mitschülerinnen in der Sekundarstufe gegenüber dem der Lehrerinnen als mächtiger befunden, gleich mächtig beinahe wie den der sozio-kulturellen Herkunft und ausschlaggebend für das schulische Schicksal (1966). Der Schwachen fehlt die Erfolgreiche als Vorbild, umgekehrt kann die Rolle der Helferin auch im eigenen Interesse nicht hoch und wirkunsgsvoll genug eingeschätzt werden: Wer einer anderen etwas verständlich erklären kann, beherrscht es!

Wie oft haben wir gerade in der Integrationsklasse beobachten können, wie Mitschülerinnen in vielen Bereichen einen ungleich besseren und direkteren Zugang zu den behinderten Kindern gefunden haben, wieviel mehr sie "pädagogisch wirkungsvoll" waren im Vergleich zu uns ausgebildeten Pädagoginnen! Oft genügte es, den Kindern zu verdeutlichen, worauf sie im Umgang oder im Spiel mit ihnen besonders achten sollten, und sie erreichten Ziele, die wir in der Arbeit mit den behinderten Kindern nur schwer oder gar nicht erreicht hätten.

Legen wir doch endlich unsere Rolle als die "Alleinunterhalterin im Lernprozeß" zurück und verabschieden uns endgültig von der Vorstellung, alles Lernen liefe über die Lehrenden und hänge von deren Darbietungsvermögen ab! Dazu einige Beispiele aus meiner letzten Integrationsklasse: Viele Schülerinnen begeistern sich an Rollen- und Stegreifspielen. So werden oft sehr eindrucksvoll Inhalte vermittelt und bestimmte Absichten deutlichgemacht. Einige der Kinder, die sich hierbei durch besondere Kreativität, Ausdrucksfähigkeit und Originalität hervortun, sind z. B. im Bereich Rechtschreibung äußerst schwach. Hätten wir Leistungsgruppen, wären sie - nach herkömmlichen Kriterien - bestimmt in der 3. Leistungsgruppe. Sie gingen uns also als "Ideenfeuerwerke" und Motoren für einige begeisternde Situationen verloren.

Umgekehrt bringen einige andere Kinder, die sich an diesen Rollenspielen eher selten und ungern beteiligen, weil sie sehr ruhig, fast schüchtern sind, hervorragende Leistungen im Schreiben von Texten, in Rechtschreiben und Sprachbetrachtung. Hier können sie Vorbild- und Helferfunktion für die anderen ausüben.

Gerade dieser so eminent wichtigen Vorbildfunktion werden die Kinder in Leistungsgruppensystemen beraubt! Und - was nicht minder wichtig ist -: ALLE Kinder haben hier die Möglichkeit, sich auf dem einen Gebiet zu profilieren, wenn es auf einem anderen Gebiet (noch) nicht so recht klappt!

Beurteilung

Durch die oben angeführten Beispiele muß klar werden, daß auf diese Maßnahmen der Inneren Differenzierung bei der Bewertung und Beurteilung Ziffernnoten ein völlig unzureichendes und inadäquates Mittel darstellen. Es ist ganz einfach praktisch unmöglich, derart differenzierte und über ein weites Spektrum verteilte Leistungen in das Korsett einer Ziffer zu zwängen und dann auch noch so zu tun, als sei dies "objektiv"!

Aus diesem Dilemma helfen wir uns mit einer sogenannten "verbalen Entwicklungsbeschreibung". Dieser liegen drei Absichten zugrunde:

  1. Beschreibung des Entwicklungsfortschrittes innerhalb einer bestimmten Beobachtungs periode

  2. Diagnose allfälliger leistungshemmenden Faktoren

  3. Vorschläge anbieten, um weitere Entwicklungsschritte machen zu können.

Wie der Name schon ausdrücken soll, handelt es sich bei unseren "Zeugnissen" nicht um eine BeURTEILung im herkömmlichen Sinn, sondern vielmehr um eine Beschreibung des jeweiligen Entwicklungsfortschrittes des jeweiligen Kindes in einem bestimmten Zeitraum. Dabei muß selbstverständlich vom jeweiligen individuellen Stand ausgegangen werden. Nur so ist es möglich, auf individuelle Leistungen und Veränderungen einzugehen, anstatt jede einzelne Leistung an einer bestimmten, weitgehend anonymen Norm zu messen.

Erste Schritte im organisatorischen Bereich

In zahlreichen Diskussionen um "Integration" fällt immer wieder auf, daß auch für Maßnahmen, die pädagogisch sinnvoll, allen Kindern zugute kommend, die sowohl theoretisch fundiert als auch praktisch erprobt sind, ein nur schwer verständlicher Rechtfertigungszwang besteht.

Wir sind - auch aus unserer bisherigen Erfahrung - davon fest überzeugt, daß nur die Integrative Klasse die Rahmenbedingungen bieten kann, in denen für Kinder mit verschiedenen Bedürfnissen gemeinsames Leben und Lernen möglich ist. Nur dieses Modell kann die nötige Kontinuität bieten, was die Beziehungen zwischen den Kindern untereinander und mit den Lehrpersonen, die Planung gemeinsamer Aktivitäten, den gemeinsamen Unterricht und auch die notwendige Reflexion und Nachbesprechung betrifft! In stärker gegliedert-en Schulen und in Schulen mit einem größeren Einzugsbereich muß es - natürlich nur bei entsprechendem Bedarf - möglich sein, pro Jahr eine Klasse integrativ zu führen.

Das Dilemma der zerhackten und in verschiedene Spezialbereiche zersplitterten Unterrichts"einheiten" (schon das Wort ist ein Widerspruch zur Realität: von Einheit kann hier keine Rede mehr sein!) trifft ALLE Kinder. Wir versuchen in unserer Klasse gegen diese Entwicklung als erste Schritte mit einfachen Umorganisationen des Stundenplanes entgegenzusteuern:

Stundenblockungen - z.B. Doppelstunden in Deutsch und Englisch, womit wir die besten Erfahrungen gemacht haben.

Zusammenlegen (Kombinieren) von Fächern, sodaß möglichst wenige verschiedene Lehrpersonen am Vormittag in der Klasse sind. So (und auch durch o. a. Blockung) können Schwankungen in der Leistungsfähigkeit und im Arbeitstempo der Kinder viel eher ausgeglichen werden.

Zusammenfassen von mehreren Randstunden (5. und 6. Stunden) zu einem Projektnachmittag

Fächerübergreifende Projekte

Dies sind nur einige Maßnahmen, die zwar von großer Wirksamkeit, aber ohne besonderen Aufwand zu realisieren sind. Auf Dauer wird aber wohl ein Umdenken weg von der auf dieser Stufe unsinnigen Spezialisierung wieder hin zu einer ganzheitlicheren Auffassung von Lernen erfolgen müssen. Integrationslehrerinnen werden mehr Bereiche abdecken müssen als derzeit. Das bedingt auch ein Umdenken in der Ausbildung.

Aus- und Weiterbildung

Damit sind wir auch bei einem Bereich, wo wir uns laufend auf Balanceakte einlassen müssen:

  1. Sollen wir die Betroffenen (Kinder, Eltern, LehrerInnen) im derzeitigen Schulsystem durch reformistische Maßnahmen vor dem ärgsten bewahren, oder sollen wir danach trachten, durch radikale Maßnahmen entscheidende Verbesserungen durchzusetzen, die aber möglicherweise noch nicht in absehbarer Zeit durchsetzbar sind? Was immer auch mit der Gefahr verbunden ist (als "logische Konsequenz" dieses Systems), daß behinderte Kinder dann auch vom gemeinsamen Leben und Lernen ausgeschlossen sind! Feuser warnt vor den alten Schläuchen, in die neuer Wein gegossen werden soll. Er meint damit, daß sich eine integrative Pädagogik nicht entwickeln könne ohne die Veränderung schulischer Strukturen. Können wir auf die neuen Schläuche warten? Wie lange?

  2. Die andere Seite ist die Gefahr, daß der alte Wein in neue Schläuche gegossen wird: der Unterricht wird auf herkömmliche Art fortgeführt, bleibt prinzipiell unverändert und norm- und selektionsorientiert. Die Unterrichtsformen werden nur äußerlich verändert, unter dem Etikett der Integration werden Behinderte und Nichtbehinderte faktisch getrennt unterrichtet. Diese Entscheidung wird derzeit noch von uns verlangt, und niemand kann sie uns abnehmen. Lassen wir uns auf die Bedürfnisse der Betroffenen (Kinder, Eltern) ein, dann wird sie uns leichter fallen!

In den meisten österreichischen Bundesländern muß man den Eindruck gewinnen, daß die für die Aus- und Weiterbildung zuständigen Institutionen wie Pädagogische Akademien und Pädagogische Institute nach über 10 Jahren Integrationsbewegung und nach 2 Jahren Gesetz das gemeinsame Lernen aller Kinder immer noch als eine Art Modeerscheinung ansehen, die es mit entsprechend dicker Haut einfach "auszusitzen" gilt. Während den Pädagogischen Instituten zugute gehalten werden muß, daß sie zumindest punktuell versuchen, die Bedürfnisse von Kolleginnen nach Weiterbildung auf dem Gebiet der integrativen Pädagogik und Didaktik mit vereinzelten Angeboten zu befriedigen, gibt es für einige Vertreterinnen von Pädagogischen Akademien zwei Argumentationsschienen:

1.-"Wir bieten in unserer Ausbildung ohnehin all diese Dinge (Offenes Lernen, Projekt- und handlungsorientiertes Lernen, ...) an."

2.-"Wir dürfen unseren Studentinnen, die ohnehin schon mit der rauhen Praxis bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit belastet sind, nicht noch zusätzlich mit diesen Dingen überfordern."

Beide Standpunkte sind keineswegs akzeptabel für eine Institution, die eigentlich auf der Höhe der Entwicklung stehen sollte und gefälligst auch gesellschaftlichen Entwicklungen entsprechend berücksichtigen sollte!

So ist es auch nicht verwunderlich, daß - gestützt auf solch träges Verhalten der Institutionen, die das "Handwerkszeug" für die pädagogische Arbeit liefern sollten - schulische Entwicklung durch Kräfte in der Schulverwaltung vielfach durch die vehemente Forcierung des Modells "Kooperative Klasse" gebremst bis verhindert wird. Dort können nämlich in einer Art Schonraum sowohl die Struktur als auch die Pädagogik und Didaktik gleich bleiben, dort besteht - im Gegensatz zur "Integrativen Klasse" - kein unmittelbarer, unverzichtbarer Zwang zur Veränderung, zu einer Veränderung, die die Chance schlechthin für die Weiterentwicklung der Schule sein könnte!

Dem Erfahrungsbericht einer Sonderschullehrerin, die vier Jahre lang in einer Kooperationsklasse gearbeitet hat, hatte Karl Heinz Pohler nichts hinzuzufügen:

"Trotz intensiver und engagierter Bemühungen des Lehrerteams kann von Integration im Sinne eines gegenseitigen Lernens, Helfens und Akzeptierens keine Rede sein, wenn man als Maßstab für eine geglückte Integration die dereinstigen Resultate aus der Volksschule herannimmt. Im Gegenteil: Es ist ganz entgegen den proklamierten Zielen einer Integration eine sich in allen Bereichen des täglichen Miteinanders äußernde Zwei-Klassen-Gesellschaft entstanden."

Hovorka: Sonderpädagogische Zentren: Chancen und Risken für die Integrationsforschung

gekürztes Referat von Univ.-Prof.Mag. Dr. Hovorka beim Jahrestreffen der Integrationsforscherinnen im Februar 1995 in Innsbruck

Integrationsforscherinnen haben es heutzutage schwer! Zu einer wahllos gebrauchten Allerweltsformel verkommen, signalisiert "Integration" zunehmend die Gefahr von weiterer Ausgrenzung der Randständigen, der Unangepaßten, der Fremden, der Behinderten und der Alten. Kurzum der bedrohlich wirkenden "Anderen", deren Hiersein und deren Lebensansprüche in der zeitgeistigen Kosten-Nutzen-Rechnung von Budgetkonsoldierung keinen Platz mehr haben.

Auch die trotz mancher Erfolge öffentlich lange unbeobachtet gebliebenen Bemühungen von engagierten Eltern, Lehrerinnen und Forscherinnen zur Durchsetzung einer "Pädagogik der Nichtaussonderung" behinderter Kinder, sind diese vom finanzpolitischen Diktat der "Kostenneutralität" bei Reformen im Bildungs- und Sozialbereich massiv bedroht.

Kostengünstige "Integration nach oben"

Integrationsklassen entstanden in Österreich vor allem dort, wo mutige Eltern sich unter Einsatz großer persönlicher Opfer zu schlagkräftigen Initiativen zusammenschlossen. So gelang es Ihnen auch, die erforderlichen Begleitmaßnahmen privat zu organisieren und vor allem zu finanzieren. Für Kinder mit sozial und wirtschaftlich ungünstigem familiären Hintergrund blieb daher meist die Sonderschule die Regelschule.

Kinder, die deklassierten Minderheiten, asylsuchenden und ausländischen Nicht-EU-Familien angehören oder gar als "verhaltensauffällig" diagnostiziert werden, bilden weiterhin das sichere Stammklientel für die Institutionen und für das Fachverständnis einer selektiven Pädagogik, ebenso wie geistig und schwer mehrfach behinderte Schülerinnen.

Wir können daher heute durchaus von einer geglückten "Integration nach oben" sprechen, die kostengünstig zu betreuende "pflegeleichte" und sozial angepaßte Inländerkinder bevorzugt, die noch dazu den Vorteil haben, das sozialemotionale Klassenklima als willkommene "Musterkrüppel" (Ernst Klee) zu beleben.

Damit diese Entwicklung nicht zum endgültigen Befund einer in private Trägerschaften abdriftenden Schullandschaft zu werden droht, sind auch von der Integrationsforschung stärker als bisher sozial-kompensatorische Gegenmaßnahmen sowie eine breitere Zielgruppen- und Lebensweltperspektive ihrer wissenschaftlichen Fragestellungen einzufordern. Denn durch die starke Fokussierung auf unterrichtsorganisatorische und didaktische Fragen haben viele der vorliegenden Untersuchungen die fachliche, rechtliche und organisatorische Sicherstellung von Rahmenbedingungen schulischer Integration nur unzureichend thematisiert. Wohl auch deshalb, weil diese nicht nur schulpädagogisch erfaßt und interpretiert werden können.

In diesem Kontext sollte auch die seit mehreren Jahren recht kontroversiell geführte sonder- und integrationspädagogische Debatte zur Errichtung regionalisierter und überregionaler Sonderpädagogischer Zentren - in der Folge SPZ genannt - verstanden werden. Diese können als "alter Wein in neuen Schläuchen" (Georg Feuser) verdächtigt, aber auch als Herausforderung zu einer Aufgabenänderung der Sonderschule angenommen werden, gemeinwesenorientierte, multiprofessionelle und -funktionale soziale Netzwerke, Verbundsysteme sowie ein Beratungs-, Förder- und Fortbildungszentrum für Berufsgruppen und Personen entstehen zu lassen, die mit sozialer Integration insgesamt befaßt sind.

Autonomie, Dezentralisierung und Deregulierung

Das mit der 15. Novelle zum Schulorganisationsgesetz gesetzlich verankerte "Elternrecht" auf schulische Integration hat bei Befürworterinnen und Skeptikerinnen unterschiedliche Reaktionsweisen ausgelöst. Diese waren von schulpolitischen Veränderungen insgesamt beeinflußt und kennzeichnen auch die aktuelle Entwicklung von SPZ.

Die vorwiegend von artikulationsstarken Elterninitiativen aus der sozialen Mittelschicht über rund zehn Jahre "von unten" kraftvoll entwickelte Integrationsbewegung schenkte in der Formulierungsphase der von Euphorikern als "Jahrhundertgesetz" eingeschätzten 15. SchOG-Novelle und dem darin enthaltenen Passus zur Einrichtung "Sonderpädagogischer Zentren" nur wenig Aufmerksamkeit. Traditionell eingestellte Sonderpädagoginnen sowie deren Behördenvertretungen erkannten hingegen früh die Chance, die diese Zentren für die Festigung ihres Berufsstandes bieten können.

Die Festlegung, welche Sonderschulen als SPZ festzulegen sind, obliegt also in bester föderalistischer Schulpolitiktradition dem Bezirksschulrat (Antrag) und dem Landesschulrat (Beschluß), ohne daß der Bund als Gesetzgeber dafür qualitative Mindeststandards und Kontrollinstrumente festgelegt hat. Die Ausführungsgesetze der Länder sowie die derzeit überschaubare praktische Umsetzung derselben zeigen bereits länder- und regionenspezifische Unterschiede, die auf z.T. divergierende gesellschafts- und bildungspolitische Haltungen zu einer "ungeteilten Integration" zurückgeführt werden können.

Es steht zu befürchten, daß die Einrichtung von SPZ als "Probegalopp" für die geplante flächendeckende "Strukturreform im Österreichischen Schulwesen" mißbraucht wird, mit der "der gewaltige Zentralismus in der österreichischen Schulverwaltung" verringert werden soll (Entwurf zweite Fassung Oktober 1993, vorgelegt von den amtsführenden Präsidenten des Landesschulräte Österreichs).

Ausgehend von der optimistischen Vision eines "Europa der Regionen", dem Österreich seit Anfang 1995 anzugehören vermeint, sieht die geplante Strukturreform eine "betriebsähnliche" Aufwertung der Landesschulräte (Bezirksschulräte) sowie die Stärkung der "pädagogischen und organisatorischen Autonomie", insbesondere in den Pflichtschulen vor.

Für die schulische Integration bedeutsam ist die dem Reformentwurf offenbar zugrunde gelegte Annahme, daß eine "Dezentralisierung" und "Deregulierung" des österreichischen Schulwesens auf regionaler und auf örtlicher Ebene demokratische und tolerante Kräfte freisetzen wird, die auch die besonderen Bedürfnisse jener Schülerinnen fachgerecht wahrzunehmen bereit sind, die ein ungünstiges soziales Umfeld aufweisen, die verhaltensauffällig und behindert sind.

Bezogen auf integrationspädagogisch durchaus erwünschte Gemeinwesenorientierung und auf die vorgesehene sonder- und sozialpädagogische Erweiterung der Angebotspalette von multiprofessionell geführten Sonderpädagogischen Zentren, stellen die geplante Einführung von "Norm-Budgets" für die Länder und für die Schulen sowie die pädagogische, organisatorische und budgetäre Standard-Vorgabe durch die Landes- und Bezirksschulräte eine weitere Gefahr dar, die schon bestehenden länder- und bezirksspezifischen Qualitäts- und Quantitätsunterschiede bei der schulischen Integration zu verfestigen. Denn wenn pädagogische Verbesserungen der Bundesgesetzgebung, die wie die schulische Integration zu einer finanziellen Mehrbelastung führen, künftighin nur mit Zustimmung der Länder in Geltung treten können, ist anzunehmen, daß Schulversuche und -reformen zugunsten sozial benachteiligter und behinderter Schülerinnen in Hinkunft schon aus Kostengründen kaum mehr Realisierungschancen haben werden.

Die Verschärfung des sozialen Klimas in Österreich insgesamt sowie der infrastrukturelle Verfall in wirtschaftlich benachteiligten Problemregionen läßt zudem bei der Wohnbevölkerung wenig Verständnis für pädagogisch-organisatorische und budgetäre Begünstigungen für SPZ und für Schülerinnen erwarten, die nicht oder noch nicht der landes- und regionenspezifisch novellierten "Euro-Norm" entsprechen können und/oder wollen.

Lebensweltbezogene Integrationsforschung

Angesichts diese gesellschafts-, sozial- und bildungspolitisch ungünstigen Gesamtszenarios, das nicht nur der Integration sichtbar behinderter Menschen entgegensteht, stellt sich die Frage, welche Position die Integrationsforschung einnehmen und welche Richtung sie künftig verfolgen soll, um nicht vollends zu einer empirisch verbrämten Rechtfertigungsforschung gegenüber Schulbehörden zu regredieren, deren universitäres Nischendasein vom betriebswirtschaftlichen Mainstream gerade noch gelitten wird.

Nach meinen bisherigen einschlägigen Forschungserfahrungen und in Kenntnis der trotz widriger Rahmenbedingungen wachsenden Zahl nicht nur jüngerer Integrationsbefürworterinnen im pädagogischen und sozialen Berufsfeld sehe ich, insbesondere in der Phase des Aufbaus und der Erprobung von SPZ durchaus Möglichkeiten der "Einmischung" in kommunale und regionale Planungs- und Entscheidungsabläufe.

Nun ist die Umwandlung bestimmter Sonderschulen in SPZ aus integrationspädagogischer Sicht durchaus positiv zu bewerten, da es in Österreich endlich auch gesetzlich möglich ist, bisher an die Sonderschule gebundene sonderpädagogische Ressourcen auch behinderten Kindern zugänglich zu machen, die in der wohnortnahen Schule unterrichtet werden.

Schulische Integration stellt jedoch nur ein Segment von sozialer Integration dar, obzwar sie für die angestrebte volle gesellschaftliche Teilhabe behinderter Menschen in allen Lebensbereichen zweifellos eine wichtige Voraussetzung ist. Diese müßte jedoch stärker als bisher sozial orientiert auf die vorschulischen und auf die nachschulischen Lebensphasen ausgeweitet werden. Unterstützungsleistungen können von der Integrationsforschung dann erfolgreich dafür eingefordert werden, wenn diese sich als gesellschaftstheoretisch begründete "Handlungs- und Veränderungsforschung" begreift, die soziale Benachteiligungen jener Menschen und Bevölkerungsteile im Fokus hat, die gemeinhin als "Behinderte" bezeichnet und demzufolge legistisch, institutionell und sozial ausgegrenzt werden. Eine solche lebenswelt- und alltagsbezogene Forschung kann sich nicht nur auf die "behindernden" Lebensumstände von Kindern und Jugendlichen mit besonderen Bedürfnissen beschränken. Sie erfordert vielmehr ein wirklichkeits- und bedarfsbezogenes Forschungssetting, das einen konkurrenzfreien Austausch von Fachkompetenz verschiedener Wissenschafts- und Berufsdisziplinen sowie der Betroffeneninteressen ermöglicht.

Möglichkeiten und Grenzen der "Einmischung"

Der sich anbahnende Fusionsprozeß von Sonderpädagogik, der sich immer nur an konkreten Orten und sozialen Umfeldern entwickeln kann, könnte insbesondere den SPZ die Entwicklung von hierarchie- und konkurrenzfreien Arbeitsstrukturen und Begegnungräumen ermöglichen, sofern diese Zentren bei der Entwicklung neuer berufsfeldübergreifender Aufgabenstellungen, Methoden und Organisationsformen wissenschaftlich unterstützt und begleitet werden.

Eine diesen Vorstellungen verpflichtete Forschungsstrategie fand 1993/94 in einer österreichweiten Untersuchung zu SPZ ihren Niederschlag, der ein intensiver handlungs- und veränderungsbetonter Fachdiskurs mit Schulleiterinnen und -lehrerinnen, mit Angehörigen behinderter Schülerinnen sowie mit schul-, sozial- und gesundheitspolitischen Behördenvertreterinnen und Institutionen zugrunde gelegt worden war.

Dem Endbericht des Forschungsprojektes "Sonderpädagogische Zentren als Kooperationsbeispiele netzwerkorientierter Gemeinwesenarbeit" konnte dadurch ein praxisbezogener "Umfeldorientierter Analyseraster" beigefügt werden. Dieser ist im Herbst 1994 von der Universität Klagenfurt gemeinsam mit dem BMUK als "Leitfaden für Sonderpädagogische Zentren - SPZ" veröffentlicht worden und findet über den Verteilerkreis der Sonderschulen und Landes- und Bezirksschulbehörden hinaus zunehmend auch bei Integrationspädagoginnen in Allgemeinen Schulen Befürwortung und Verwendung.

Die angesagte neokonservative "Strukturreform des österreichischen Schulwesens" blieb durch diese Forschungsarbeit selbstverständlich unbeeinflußt, doch konnte damit das sonderpädagogische Selbstverständnis über den beabsichtigten einseitigen Arbeitsauftrag von Sonderpädagogischen Zentren zumindest phasenweise irritiert werden.

René Schindler: Gerichte bestätigen: IntegrationslehrerInnen werden bei der Bezahlung rechtswidrig benachteiligt !

Abgeltung für Schulpartnerschaft und für administrative Belastung kann noch nachgefordert werden/Sofortige Änderung des Gehaltsgesetzes geboten

Seit je haben die in Integrationsklassen tätigen Lehrerinnen gefordert, ihren besonderen Einsatz auch finanziell anzuerkennen. Aber weit davon entfernt das zu tun, hat die Schulverwaltung - wie nun definitiv feststeht - nicht einmal jene Beträge bezahlt, die kraft geltenden Gesetzes zustanden !

Ganz kraß war (und ist) die Situation der in Integrationsklassen tätigen Sonderschullehrerinnen: Ihr Engagement brachte nicht nur mehr Arbeit, sondern auch noch weniger Gehalt ! Durchgehend wurde Ihnen die an Sonderschulen bezahlte Abteilungszulage (eine Zulage für binnendifferenzierten Unterricht) vorenthalten, und zusätzlich strich man - je nach Bundesland unterschiedlich - auch noch die Abgeltung für administrative Belastung, ja zum Teil sogar die Abgeltung für Schulpartnerschaft. Aber auch den VS-Lehrerinnen wurde die "Abteilungszulage" nicht bezahlt.

Obwohl die Integrationslehrerinnen und auch die Elterninitiativen immer wieder betonten, daß es nur um bestehende, gesetzliche Ansprüche gehe, rührte sich lange gar nichts. Auch die zuständige Gewerkschaft (GÖD) zeigte wenig Engagement. So blieb es der Zivilcourage einer jungen Lehrerin vorbehalten, in dieser Frage den Durchbruch zu schaffen: Sie brachte schlicht beim zuständigen Gericht Klage ein (wofür ihr dankenswerterweise gewerkschaftlicher Rechtschutz bewilligt wurde) - und erhielt in beiden Instanzen vollständig Recht ! Das Urteil der zweiten Instanz ist rechtskräftig, das Verfahren somit abgeschlossen !

Und das sind die zentralen Aussagen der Gerichte:

Das vom BMUKS herausgegebene "Rahmenkonzept für Schulversuche zum gemeinsamen Unterricht behinderter und nichtbehinderter Kinder" sah (und sieht) für I-Klassen den Unterricht durch zwei gleichberechtigte Lehrerinnen vor. Geht ein Schulversuch von diesem Konzept aus, sind faktisch und rechtlich beide Lehrerinnen "Klassenlehrer".

Dann aber steht I-Lehrerinnen, die in einer Klasse Schülerinnen verschiedener Lehrpläne bzw Schulstufen unterrichten, - wie jeder anderen Klassenlehrerin auch, die binnendifferenzierten Unterricht leistet - die Abteilungszulage (Zulage gem § 59a Gehaltsgesetz 56) zu.

Als Klassenlehrerin mußte auch die Sonderschullehrerin am Klassen-Elternabend teilnehmen, und hat daher auch die dafür vorgesehene "Abgeltung für Schulpartnerschaft" zu erhalten.

Als mit der VS-Lehrerin absolut gleichgestellte zweite Klassenlehrerin, mußte sie auch die "Abgeltung für administrative Belastung" erhalten.

Sieg auf der ganzen Linie also! Insbesondere die Abeilungszulage ist wichtig, denn sie steht auch den Volksschullehrerinnen in I-Klassen zu ! Aber die Schulverwaltung hat, schon während des Laufes des Prozesses "vorgesorgt":

Für alle I-Klassen die als Regelschulklassen (nicht mehr als Schulversuch) begonnen wurden (also dzt alle 1. und 2. VS-Integrationsklassen) gilt der Grundsatz zweier gleichberechtigter Klassenlehrerinnen nicht mehr. Theoretisch müßte der/die VS-Lehrerin alleine den Elternabend halten und auch Lehrbücher und Unterrichtsmaterialien - auch für die behinderten Kinder ! - allein auswählen und bestellen. Nur: Wie soll das gehen ?

Unauffällig versteckt in einer Gehaltsgesetz-Novelle vom 30.7.93 (BGBl 1993/519) wurde die Regelung der Abteilungszulage kalt geändert. Sie schließt nun mit dem (verfassungswidrigen?) Satz: "Diese Dienstzulage gebührt nicht aus Anlaß des Unterrichtes eines oder mehrerer Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der betreffenden Klasse." Unglaublich, daß die Gewerkschaft das übersehen oder zugelassen hat. Hier wird für eine absolut gleichartige Belastung willkürlich einer Gruppe von Lehrerinnen jene Abgeltung verweigert, die alle anderen erhalten !

Was also ist zu tun ?

Einerseits sollten alle Lehrerinnen ihre Nachzahlungsansprüche einfordern (s. Kasten). Das muß rasch geschehen, denn die Ansprüche verjähren jeweils in drei Jahren. Bis 15. Juni 1995 können zB Vertragslehrerinnen noch alle Ansprüche ab (einschließlich) Juni 1992 nachfordern. Am 16. Juni 95 ist der Anspruch für Juni 1992 verjährt. Danach kann nur mehr eine Nachzahlung ab Juli 92 durchgesetzt werden, usw. Die Ansprüche können bis heute reichen, weil ja auch jetzt noch I-Klassen als Schulversuch laufen (3. und 4. VS-Klassen).

Andererseits ist jetzt der richtige Zeitpunkt eine Änderung jener Gesetze zu erreichen, die I-

Lehrerinnen diskriminieren: Die Entscheidung der Gerichte untermauert den moralischen (und rechtlichen) Anspruch; im Herbst sind Personalvertretungswahlen; und gerade in Zeiten der Belastungspakete muß die Gewerkschaft beweisen, daß sie nicht (nur) aus der Defensive agiert.

Eine Unterschriftenliste liegt bei ! Wenn jetzt möglichst viele Schulen, möglichst vollständig unterschreiben, werden wir uns durchsetzen !

Behinderte in den Medien

Entnommen der Studie: "Die Darstellung behinderterMenschen im ORF"

Internationaler Vergleich der TV-Anstalten

Bei der Erhebung zur gerade fertiggestellten Studie "Die Darstellung behinderter Menschen im ORF" wurde die Medienberichterstattung der wichtigsten europäischen und amerikanischen Fernsehstationen miteinbezogen. Der schriftlichen Einladung sich an der Erhebung zu beteiligen folgten zahlreiche Briefe, in denen sich die einzelnen Fernsehstationen selbst darstellten. Die Antworten waren sehr ehrlich und sind auch sehr unterschiedlich ausgefallen. Vor allem differieren die Ansätze der einzelnen TV-Anstalten sehr. Folgende Fragen wurden gestellt:

1.-Inwieweit sind Behinderte derzeit in die inhaltliche und gestalterische Arbeit Ihrer Sendeanstalt eingebunden?

2.-In welchen Gremien arbeiten Behinderte in welcher Form mit?

Auf diese beiden Fragen antworteten die meisten Sendeanstalten, daß behinderte Menschen integriert sind. In vielen Ländern gibt es - wie in Österreich - eine Art "Behindertenquote" (analog der "Frauenquote"), die es zu erfüllen gilt. Auf die Programm- und Sendungsgestaltung können allerdings nur sehr wenige behinderte Beschäftigte Einfluß nehmen, da sie kaum entsprechende Posten einnehmen. Auch in entscheidenden Gremien finden sich kaum Behinderte. Gleichzeitig versichern die Anstaltsverantwortlichen jedoch, daß die Sendeanstalt keine Vorurteile gegen behinderte Menschen hegt. Der mangelhafte Beschäftigungsgrad wird von den meisten mit der schlechten Ausbildung der Behinderten begründet. Es wird jedoch kein eigenes Ausbildungsprogramm angeboten. Die große Ausnahme: BBC. Dort gibt es ein eigenes Aus- und Weiterbildungsprogramm für angestellte Behinderte. Es werden allerdings nicht nur die Behinderten weitergebildet sondern auch die nichtbehinderten Angestellten im Umgang mit ihren behinderten Kolleginnen.

Eine interessante Situation gibt es auch in Australien. Durch das dort eingeführte Antidiskriminierungsgesetz sind die dortigen Sendeanstalten gezwungen, Behinderte anzustellen. Dies geschieht in Zusammenarbeit mit den Behindertenvereinen und -verbänden. Da der Ausbildungsgrad oft nicht den Anforderungen entspricht, man aber dennoch gezwungen ist behinderte Menschen anzustellen, ist man von der TV-Anstalt dazu übergegangen, eigene Ausbildungsprogramme für behinderte Menschen durchzuführen.

3.-Welche Sendungen werden für Gehörlose untertitelt? Ist an eine Ausweitung gedacht?

Eine überwiegende Zahl der Sendeanstalten bietet ein Teletextservice an. Vor allem Skandinavische Länder offerieren dieses Service nicht speziell gehörlosen ZuseherIinnen, sondern untertiteln Sendungen anstatt sie zu synchronisieren. Ausnahmen bestätigen die Regel: Die Deutsche Welle beispielsweise meldet "keinen Bedarf" seitens der Gehörlosen an (während der WDR einen "großen Bedarf" ortet). Moldawien hat andere Probleme: Dort würde man zwar gerne untertiteln, hat aber dazu keine Spezialistinnen. Eine Zusammenarbeit mit anderen Sendern, etwa dem ORF wäre dringend erwünscht bzw. erhofft.

Norwegen denkt schon in anderen Dimensionen: Alle Programme seien untertitelt und man denkt im norwegischen Fernsehen bereits daran, ein System für aktuelle (= live) Sendungen zu erarbeiten. Dies ist ja bisher nicht möglich. Mit diesem System sollen dann auch Shows für gehörlose Menschen mitverfolgbar sein. Ähnlich gut geht es gehörlosen Menschen in Dänemark.

4.-Wie steht Ihre Sendeanstalt zu einem Magazin, in dem behinderte Menschen selbst mitgestalten und -präsentieren?

An den Antworten auf diese Frage waren die unterschiedlichen Einstellungen der Sendeanstalten ablesbar. Während vor allem die deutschen Sendeanstalten keinen Wert auf eine eigene, von behinderten Menschen mitgestaltete Sendung legen, ist sie in den meisten anderen Ländern bereits eine nicht mehr wegzudenkende "Einrichtung". Der ZDF beispielsweise lehnt ein eigenes "Behindertenprogramm" mit der Feststellung ab, daß Behinderung eine "Querschnittsmaterie" sei. Also sollen diese Themen in allen Programmen vorkommen. Das tun sie jedoch nur in einem sehr beschränkten Rahmen und im Vergleich zu anderen Ländern (mit eigenen Behindertensendungen) auf keinen Fall mehr. Beim ZDF setzt man den Behindertenschwerpunkt mit der "Aktion Sorgenkind". In dieser Sendung dürfen sich Künstlerinnen und andere Veranstalter (auch der ZDF) selbst darstellen, wenn sie für Behinderte Geld gesammelt haben. In der Sendung gibt es auch ein Preisrätsel - man kann gewinnen. Behinderte selbst kommen in diesen Sendungen nicht vor. Auch untertitelt werden die "Aktion Sorgenkind"-Sendungen "aus programmtechnischen Gründen" nicht. Eine ähnliche Situation gibt es beim israelischen Fernsehen: Spendenaktionen, aber keine Sendungen, in denen Behinderte ihre Situation selbst präsentieren können. Auch im belgischen Fernsehen wird gesammelt - immerhin aber nur alle zwei Jahre und man gesteht den behinderten Redakteuren eine eigene Sendung zu, die monatlich ausgestrahlt wird.

Zahlreiche Sender haben eigene "Gehörlosenmagazine", das von Gehörlosen selbst produziert wird. Im Deutschen und Schweizer Fernsehen heißt die Sendung "Sehen statt hören". Irland sendet "Sign of the Times", ein sehr modernes und gutes Magazin, das offenbar ganz stark von der Geldfrage abhängt. Das Schweizer Fernsehen gibt zu, daß die Sendung "Sehen statt hören" sehr schwach finanziell dotiert ist, da die Reichweiten sehr gering sind. Irland hat mit seinem Magazin jedoch sehr gute Erfahrungen und durch die gute Aufmachung auch genug Zuseherinnen.

Vorreiter sind wieder die skandinavischen Länder: Norwegen besitzt eine Gehörlosensendung, eine Sendung für gehörlose Kinder, eine tägliche Infosendung in Gebärdensprache (und das neben den Untertitelungen). Auch Tschechien bringt zweimal am Tag Nachrichten für Gehörlose. Und es gibt ebenfalls ein TV-Magazin für Kinder in der Gebärdensprache. Wichtige Parlamentsreden werden grundsätzlich in der Gebärdensprache übertragen.

Die BBC zeigt auch bei der Frage nach "Behindertenmagazinen", wo es langgehen sollte: Es gibt eigene Sendungen für gehörlose Erwachsene, eigene Sendungen für gehörlose Kinder. Und man bietet Sendungen für anders behinderte Menschen an. Die englische TV-Anstalt ITV produziert das "Link Program", in dem behinderte Menschen ihre Anliegen selbst darstellen können. Diese Sendung hat einen derart großen Erfolg, daß sogar gesetzliche Veränderungen durch die Ausstrahlung dieser Sendung erzielt werden konnten. Die in Deutschland produzierten Magazine "normal" (Deutsches Sportfernsehen) und "Selbstbestimmt" (Mitteldeutscherrundfunk) nehmen sich hingegen sehr sanft und mild aus.

Erstaunlicherweise hat sogar die TV-Anstalt in Moldawien ein eigenes Magazin für behinderte Kinder. Dort ist diese Sendungsart ebenso selbstverständlich wie in der Slowakei, wo man sich zur Präsentation von Sendungen durch behinderte Menschen bekennt. Solche Sendungen, heißt es von der dortigen TV-Anstalt, "erzeugen Authentizität" und sind zweckmäßig.

5.-Welche Sendungen sind für 1994 zu dieser Thematik geplant?

6.-Welche Überlegungen gibt es, die Situation von behinderten Menschen in der zukünftigen Programmgestaltung zu berücksichtigen. Gibt es dafür schon Konzepte?

Zwei Sender, nämlich ITV (England) und der ZDF, planen Versuche in der Ausstrahlung für blinde Menschen. Diese sollen durch einen individuell zu schaltbaren Tonkanal Bilderklärungen mit ins Haus geliefert bekommen. ITV nennt sein System "Audetel". Der ZDF versucht es über den Stereokanal.

Ansonsten gibt es in naher Zukunft wohl nicht viel Neues: Algerien hat mit Behinderten nach wie vor keine Erfahrungen. Und der Bayrische Rundfunk versucht in seiner medizinischen Sendung "Lebenslinien" weiterhin Verständnis zwischen Behinderten und Nichtbehinderten zu erzeugen.

Ohne Kommentar

Die selbst behinderten Autoren Erwin Riess und Eduard Riha reichten beim ORF ein Treatment für eine Filmserie ein, in der Behinderte eine Hauptrolle spielen sollen. Vom ORF erhielten sie folgenden Brief:

Sehr geehrter Herr Riess!

Sehr geehrter Herr Riha!

Ich danke Ihnen herzlich für Ihr Angebot, insbesonders für die amüsante Lektüre.

Allerdings ist es uns aus einer Reihe von Gründen nicht möglich, diese Serie zu machen. Zunächst gibt es keine Sendeplätze. Die Termine, für die wir produzieren können, sind als psychologischer Krimi (Donnerstag Hauptabend), als romantische Familienserie (Sonntag) und als österreichische Lindenstraße (Wochenend-Vorabend) definiert.

Zum anderen ist es so, daß der ORF gelegentlich zwar gern seine Unterhaltungsmittel in den Dienst besonderer Anliegen stellt, daß er aber generell die Unterhaltung an sich nicht als den geeigneten Ort dafür ansieht. Eine Unterhaltungsserie mit vier behinderten Helden, so unbefangen und lustig sie aus Ihrer Feder auch entspringen mag, würde ein Anliegen -, also ein Minderheitenprogramm sein oder als solches aufgefaßt werden. Für jemanden, der seit Jahrzehnten Fernsehen macht, ist das Ergebnis berechenbar. Der größere Teil unserer Zuschauer würde sich ausgeschlossen fühlen; dasselbe Publikum, das etwa an "Licht ins Dunkel" so lebendig teilnimmt, würde Ihnen und uns die Enttäuschung bereiten, daß es "Rolls Rolls" nicht akzeptiert.

Für den ORF ergäbe sich daraus eine Quoten-Niederlage, die er sich auch wirtschaftlich nicht leisten kann, deren Wiederholung er möglicherweise sogar dulden müßte, weil dann auch andere Interessenten dieselben Rechte für sich beanspruchen würden.

Ich gebe Ihnen Ihr Manuskript anbei zurück und bitte Sie um Verständnis für eine Entscheidung, der sicher auch aus Ihrer Perspektive die Plausibilität des Grundsätzlichen zukommt. Für andere Programmvorschläge, die die Wünsche des großen Publikums berücksichtigen, sind wir jederzeit offen.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Gottfried Schwarz

Unterhaltung / Dramaturgie und Serie

Daniel Kapp: Mit Kommentar

Reaktion auf den ORF-Brief an Erwin Riess, die in der "Presse" als Leserbrief abgedruckt wurde:

Darf man über Behinderte gar lachen?

Wir alle haben es geahnt. Nun wissen wir es schwarz auf weiß:

Der Österreicher ist bereits durch die ORF Sendung "Licht ins Dunkel" geprägt. Angesichts des festlich präsentierten Elends wird fleißig gespendet und der Österreicher lehnt sich des schlechten Gewissens entledigt bequem in seinem Wohnzimmersessel zurück.

Nun kommt ein Behinderter und will gar eine Unterhaltungssendung mit vier rollstuhlfahrenden Helden ins Bild setzen. Die ORF Redakteure finden es wohl "amüsant", trauen dem "Licht ins Dunkel"-Publikum eine solche Darstellung aber nicht zu. Viele, so vermutet man, würden die Welt nicht mehr verstehen und abschalten. Andere - noch viel schlimmer - würden sich aber sogar über das Thema "Behinderung" erheitern! So sei nichts anderes als eine "Quotenniederlage" zu erwarten.

Wozu viele ORF-Redakteure offenbar nicht in der Lage sind, können Behinderte schon lange: Über sich selbst lachen. Und es erscheint mir mehr als traurig, wenn eine offenere und nicht verklemmte Darstellung von behinderten Menschen mit dem Argument des dummen und vertrottelten Publikums abgelehnt wird.

So werden im ORF wohl auch weiterhin arme, bemitleidenswerte Schicksale vor die Kamera gezerrt werden, denen man live die Tränen aus den Augen wischt. Das bringt Quoten und damit dem ORF Werbegelder, die dann wiederum für Sendungen ausgegeben werden, in denen Behinderte ...

Die ORF Verantwortlichen unterschätzen ihr Publikum bei weitem. Man kann Behindertenthemen auch präsentieren ohne gleich Quoten zu verlieren. Das unvorbereitete Publikum muß nicht verändert werden, sondern vielmehr eine verkrampfte ORF-Führung. Dann wäre es auch möglich, daß behinderte Menschen Sendungen gestalten und präsentieren. Das Publikum würde solche Veränderungen sicherlich zu schätzen wissen.

Behindert, was ist das?

Schreibwerkstatt für Kinder im Volksschulalter

1.-Projekthintergrund:

Zehn Jahre lang gab es die Integration behinderter Kinder im Volksschulbereich im Schulversuchstatus. Durch die 15. SchOG-Novelle wurde die Integration behinderter Kinder ins Regelschulwesen übernommen.

Der Unterricht in Integrationsklassen erfordert einen Paradigmawechsel in der Unterrichtsmethodik: Die Lehrer haben in den offenen Unterrichtsformen mehr Möglichkeiten, auf die Bedürfnisse der einzelnen Kinder einzugehen. Theoretisches Wissen muß anders (= erfahr- und erlebbarer) vermittelt werden.

Auch wird in Integrationsklassen sozial gelernt. Behinderte und nichtbehinderte Kinder lernen miteinander zu leben. Vorurteile werden abgebaut bzw. entstehen erst gar nicht. In Österreich gibt es derzeit über 500 Integrationsklassen. Damit hat Österreich in Europa eine gewisse Vorbildwirkung.

2.-Projektbeschreibung:

In dem Projekt "Behindert, was ist das?" geht es darum, ein Bild davon zu machen, was in Integrationsklassen passiert. Es soll versucht werden, die Stimmung in den Integrationsklassen, das Verhalten der Schülerinnen, ihr Denken und ihre Gefühle zu dokumentieren.

Das Projekt teilt sich in mehrere Abschnitte:

Arbeitsschritt 1: Schreibwerkstätten

Der Autor Franz-Joseph Huainigg leitet diese Schreibwerkstätten mit Kindern. Franz-Joseph Huainigg ist selbst behindert und sitzt im Rollstuhl. Mit seinem Kinderbuch "Meine Füße sind der Rollstuhl" (Verlag Ellermann) hat der Autor bereits zahlreiche Workshops mit Kindern im Volksschulalter durchgeführt. Dabei liest Huainigg aus seinem Buch vor und diskutiert mit den Kindern. Durch seine eigene Behinderung haben die Kinder mehr Anstöße bei den Diskussionen und es ergeben sich offene Gespräche, die auch in dem Buch "Was hat´n der? Kinder über Behinderte" (Eigenverlag des Autors) dokumentiert sind. Auch bei den Schreibwerkstätten sollen Lesungen aus dem Buch "Meine Füße sind der Rollstuhl" und Diskussionen mit Franz-Joseph Huainigg vorangehen. Diese Erfahrungen sind dann Ansatzpunkte für die Schreibwerkstätten (in denen natürlich auch gemalt werden kann und soll - besonders bei Erstklasslern).

Organisation der Schreibwerkstätten:

  • Ort: In den Schulen selbst Teilnehmerzahl: Eine Integrationsklasse (maximal zwei)

  • Zeit: 2 x 2 Stunden: Ersten beiden Stunden: Lesung, Disk., Schreiben.

  • Zweiten beiden Stunden: Vorlesen, Disk., Schreiben bzw. zeichnen (zwischen beiden Einheiten soll mind. eine Woche sein).

  • Schulenanzahl: Ca. 10 Integrationsklassen (im Raum Wien)

  • Finanzierung: ÖKS (mit Beiträgen vom Elternverein bzw. Schülern)

Arbeitsschritt 2: Recherchieren und Aufarbeiten

Das umfangreiche Material an Aufsätzen, Mitschriften der Diskussionen und Zeichnungen muß gesichtet und aussortiert werden. Auch sollen während den Lesungen Fotos gemacht werden, welche einen Einblick in die Schul- und Lernsituation geben.

Für die geplante Ausstellung sollen auch Interviews mit Kindern gemacht werden, die an den Schreibwerkstätten teilnehmen bzw. teilgenommen haben. Diese Interviews sollen professionell auf einem Tonband aufgenommen werden. Auszüge müssen herauskopiert und derart aufbereitet werden, daß man sie in den "Hörecken" akustisch abrufen kann.

Für das Buch "Behindert, was ist das?" müssen alle diese recherchierten Materialen gesichtet und sortiert werden. Daraus ist dann das Manuskript zu erstellen.

Schreibwerkstatt aus der Sicht einer Mutter

Die meisten Kinder sitzen mit großen Augen da und wirken für mich ein wenig verlegen. F. J. beginnt über sich zu erzählen, liest sein Buch vor und beginnt dann sehr geschickt Fragen über seine Behinderung an die Kinder zu stellen: "Tu ich euch leid, wie kam ich zu euch hierher, kann ich Sport betreiben etc.?"

Fast einstimmig waren sich die Kinder einig, daß F. J. ihnen leid tat. Andererseits hörte man auch ein wenig "Neid" heraus, denn Auto fahren kann er, mit dem Rollstuhl Wettrennen veranstalten ... das alles ist ja wieder lustig. Nach der ersten Stunde setzten wir uns alle gemütlich in einen Kreis und die Kinder geben ihre Eindrücke über ihre behinderten Klassenkameraden wieder.

Einige finden nichts dabei, "anders zu sein". Andere hingegen, und das kränkte mich ein bißchen, meinten, daß ihre "Rauferei und schlimm sein" nicht so arg ist, wie z. B. Julianes Wutausbrüche oder ihre Aggression anderen gegenüber. Daraus schließe ich, daß sie ihre eigenen "Untaten" keinesfalls so hoch einstufen, wie die der Juliane. Ein behinderter Bub meinte sogar, nur er habe eine Berechtigung in der Klasse zu sein, da Juliane ja im Kopf krank ist und er nichts hat. Im großen und ganzen finden die Kinder es aber sehr gut, daß Behinderte und Nichtbehinderte in eine Klasse gehen können. Bei seinem zweiten Besuch geht F. J. mit den Kindern einkaufen. Er wartet im Auto auf die Kinder. Sie helfen ihm heraus. Die Einkaufstüre öffnet sich Gott sei Dank noch alleine, doch gleich dahinter das erste Hindernis: das Drehkreuz! Zuerst Ratlosigkeit, doch dann schieben die Kinder F. J. einfach durch das Einkaufswagerlfach durch ...

Friederike Genser

Schülerinnen- und Schüleraufsätze:

In einigen Schulen fand die Schreibwerkstatt bereits statt. Schülerinnen und Schüler der Klasse 2c in der Volksschule Dietmayrstraße schrieben unter anderem: Es war einmal eine Klasse, die war 2.c. Zum ersten mal habe ich keine Freunde gehabt. Zum zweiten mal habe ich schon Freunde gehabt. Mir hat gut gefallen, daß ich Freunde gefunden habe. Mir hat nicht gefallen, daß ich und die anderen manchmal zuviele Aufgaben machen mußten. Unsere Lehrerin ist Karin halb Uschi. Uschi ist für die behinderten Kinder. Karin ist für uns.

Pepi

Mir gefällt in der Klasse die Juliane, weil sie lieb ist. Ich habe mir von der Integrationsklasse gemerkt, wie wir von unserer Klasse geredet haben. Mir gefällt an der Juliane weil sie so lustig ist. Mir gefällt an der Juliane, daß sie mit anderen Kindern aus unserer Klasse spielt. Mir gefällt an der Juliane, daß sie jetzt nicht mehr Haare reißt. Mir gefällt an der Juliane, daß sie jetzt nicht mehr jemanden haut.

Julia

Mir gefällt es hier gut.

Patrik

Es ist sehr schön mit der Juliane oder Daniel zusammen zu sein. Weil ich mich bei ihnen wohl fühle. Ich kann mit ihnen sprechen und sie verraten gar nichts. Und spotten mich nicht aus auch nicht weil ich braun bin. Ich finde es ganz gut, daß es Integrationsklassen gibt. Weil man voneinander lernen kann. Ich frage mich manchmal, warum es nicht mehr solche Klassen gibt. Was mir nicht gefällt ist, daß manche Behinderte nicht mögen. Aber die meisten in unserer Klasse mögen alle. Sie sind ja auch nur Menschen. Aber ich bin froh, daß ich in so einer schönen Klasse bin.

Mona

Kommt Zeit, kommt Rat und Tat - hoffentlich!

Der Rechtsunsicherheit bei Schulbehörden und in der Elternschaft bezüglich der seit zwei Jahren gültigen gesetzlichen Regelung zum gemeinsamen Unterricht behinderter und nichtbehinderter Kinder wirksam zu begegnen, ist die redliche Intuition zweier neuer Ratgeber.

Dort, wo hinter den Umsetzungsproblemen nicht mangelnde Information, sondern der fehlende Wille von Schulbehörden erkennbar wird, der neuen Rechtslage zu entsprechen, will die von der Lebenshilfe Wien und Steiermark getragene "Arbeitsgemeinschaft Menschenrechte" Eltern mit der Broschüre "Liebe Mutter, lieber Vater: Sie haben die Wahl" das nötige Rüstzeug zur Hand geben, dieser Behördenwillkür erfolgreich zu begegnen.

Die "Behördenfibel" wurde vom Landesschulrat für Steiermark über Anregung von Präsident Univ.Prof.Dr. Bernd Schilcher herausgegeben, um dem Geist der 15. SchOG-Novelle auch in der schulbehördlichen Praxis zum Durchbruch zu verhelfen. Sie stellt eine Anleitung zur Handhabung der 15. SchOG-Novelle und der korrespondierenden Gesetze für Schulaufsicht, -erhalter und -leiterinnen dar.

"Ein Recht haben und sein Recht bekommen, sind zweierlei. Jeder, der mit Behördenalltag vertraut ist, weiß das, kennt die zähe Beharrlichkeit, mit der die bequem-vertraute Gewohnheit gegen neue, individuelle Rechtsansprüche verteidigt wird. Eine Personengruppe, die diese Beamtenhaltung immer wieder ganz besonders schmerzlich zu spüren bekommt, sind die Eltern behinderter Kinder. Fordern sie für ihre Kinder das 1993 vom Nationalrat beschlossene Recht auf gemeinsamen Schulbesuch in einer integrativ geführten Volksschule ein, so erleben sie allzu oft, daß die Realität weniger von Gesetzen als von Beamtenwillkür und Behördenstarrheit bestimmt wird." Diesen Auszügen aus einer Presseinformation der "Arbeitsgemeinschaft Menschenrechte für Staatsbürger mit geistiger Behinderung" kann man nur zustimmen und hoffen, daß der vorliegende Elternratgeber große Verbreitung findet, denn die praktische Umsetzung der Gesetzesnovelle läßt neben erheblichen Informationslücken ein hohes Maß an - ungewollten oder absichtlichen - Fehlinterpretationen erkennen.

Eigentlich zur Untermauerung der Notwendigkeit einer Broschüre für Eltern behinderter Kinder gedacht, trägt die Beilage zur Presseaussendung mit dem Titel "Melanie - Chronik einer vergebenen Chance" zur Verwirrung bei. Die ARGE Menschenrechte, getragen von der Lebenshilfe Wien und Steiermark, beschreibt darin, wie der Wunsch nach integrativer Beschulung von Schulbehördenseite ignoriert bzw. sogar verhindert wurde. Verwirrung deshalb, weil die Darstellung den Eindruck erweckt, als hätten viele über die Gesetzeslage Informierte passiv zugesehen und sich nicht tatkräftig hinter die Familie gestellt. Da die Eltern durch die Schikanen der Schulbehörde ausreichend zermürbt wurden, besucht ihre Tochter nun eine Sonderschule dreißig (30 !) Kilometer vom Wohnort entfernt.

Der "Fall Melanie" löst nicht nur Verwirrung aus sondern macht auch eindeutig und unverhohlen klar, daß mit Ratgebern allein nichts getan ist. Ohne tatkräftige, aktive und wachsame Mithilfe und Unterstützung vorort, wird es weitere "Melanies" geben.

Es bleibt zu hoffen, daß die Herausgeberinnen der zwei vorliegenden Ratgeber auch die dringend notwendigen Taten rund um die (schulische) Integration behinderter Kinder folgen lassen. Und nicht nur sie.

Bestelladressse für beide kostenfreien Broschüren: ARGE-Menschenrechte, c/o Lebenshilfe Steiermark, Münzgrabenstraße 71, 8010 Graz, Tel.: 0316/812575

"ENT-HINDERUNG - neue Wege beruflicher Integration für Menschen mit besonderen Bedürfnissen"

"Behinderte Menschen müssen ihr Menschenrecht auf selbstbestimmtes Leben, und das heißt auch ihr Recht auf Integration in ALLEN Lebensbereichen gesetzlich einfordern. Dazu gehört auch das Recht auf Arbeit am offenen Arbeitsmarkt.", so eröffnete die Behindertensprecherin der Grünen, Theresia Haidlmayr, die Enquete "ENT-HINDERUNG", welche am 19. Mai im Parlament stattfand. Eingeladen hatten der Verein "Gemeinsam Leben - Gemeinsam Lernen", "BIZEPS-Zentrum für Selbstbestimmtes Leben" und die "Grünen" im Parlament. "Mit einem Antidiskriminierungsgesetz, indem diese Forderungen in hohem Maß abgesichert werden", so Haidlmayr, "wären wir ein gutes Stück weiter."

Arbeit ist ein Mittel zur wirtschaftlichen Sicherstellung in unserer Gesellschaft, erläuterte Maria Pfaffenbichler (Arbeitsassistentin der Caritas in Lanzendorf, NÖ). Um einem behinderten Menschen zu einer erfüllenden Arbeit zu verhelfen, müssen wir ihn von seinen Stärken und nicht von seinen Schwächen her begreifen. Je mehr der behinderte Mensch seine Stärken in die Arbeit einbringen kann, desto eher ist ein Gelingen möglich.

"Wie steht es um integrative Angebote im außerschulischen Bereich?" fragten Birgit Schlichtherle und Brigitte Husinsky. Es gibt im Außerfern keine Angebote, mit Ausnahme einer Behindertenwerkstätte, in der Behindertenarbeit im klassischen Sinne stattfindet.Der in der Schule bereits gelebte Integrationsgedanke würde allerdings ad absurdum geführt werden, wenn behinderte Jugendliche nach der Schule lediglich folgende Wahlmöglichkeiten haben: eine Geschützte Werkstätte, die ihnen zwar Arbeit gibt, sie aber aus dem natürlichen Lebenszusammenhang ausgrenzt, oder als reine Freizeitmenschen ein Leben in der eigenen Familie wählen zu müssen, um so möglicherweise als Sozialschmarotzerinnen abgestempelt zu werden.

Ihre Aufgabe im Projekt OASE (Ohne Ausgrenzung Selbst Erleben) verstehen sie in der Erstellung eines integrativen Angebotes in den Bereichen Arbeit, Bildung und Freizeit. Behinderte Menschen werden behindert und sollen ENT-HINDERT werden. Sie wollen Arbeitsassistenz und Persönliche Assistenz durchsetzen, wo sie benötigt wird. Legt man den Betreuungsschlüssel der Hamburger Arbeitsassistenz von 1 : 4 zugrunde, dann braucht der Bezirk Außerfern zwei Arbeitsassistenzposten jährlich.

Die Besonderheit des Projektes liegt darin, daß den besonderen Bedürfnissen des Bezirkes auf Nichtaussonderung Rechnung getragen wird. Das ist was völlig anderes, als einem bestehenden aussondernden System jetzt ein neues Element, nämlich die Arbeitsassistenz, hinzuzufügen. Arbeitsassistenz ist eine Alternative, KEINE Ergänzung zu den Geschützten Werkstätten

Elisabeth Löffler, Mitarbeiterin der beruflichen Integration des Vereins "Gemeinsam Leben - Gemeinsam Lernen": "In meiner Arbeit in einer städtischen Bücherei wurde mir zum erstenmal bewußt, daß mir eine Arbeitsassistenz fehlt". Sie mochte ihre Arbeit, sie schätzte ihre Kollginnen, es gab aber viele Arbeitsschritte, die sie gerne unabhängig von ihnen gemacht hätte. Die ständig verschwimmenden Beziehungsgrenzen sind sehr anstrengend. Bei der Arbeitsassistenz geht es vor allem um gute Rahmenbedingungen. Damit der Begriff "Arbeitsassistenz" nicht nur als neues Modewort jongliert wird, zeigten die Veranstalter einen Film über die Hamburger Arbeitsassistenz. Sie hat vor allem die Aufgabe, sich entweder überflüssig zu machen, oder so zu tun als wäre sie es. Das ist viel verlangt.

Durchschnittlich können bei diesem Projekt in Hamburg 20 bis 40 % der arbeitssuchenden Menschen vermittelt werden. Geschützte Werkstätten, die aufgrund des Gesetzes behinderte Menschen auf den 1. Arbeitsmarkt zu ermitteln haben, kommen dieser Verpflichtung kaum nach: Ihre Vermittlungsquote liegt bei einem (!) Prozent.

"Der Traum einer Gesellschaft ohne behinderte Menschen wird wieder laut geträumt. Dieses ist der reale Traum der Gen- und Reproduktionsindustrie", warnt Dr. Volker Schönwiese, Universitätsdozent der Erziehungswissenschaft, Innsbruck. Das wichtigste Gegengewicht zu diesen Tendenzen der Funktionalisierung, Verwahrung und letztendlich der Vernichtung ist der Kampf um Integration! Alles was sich Arbeitsassistenz nennt, ist nicht schon diese. Was z. B. das Arbeitsmarktservice (AMS) in diesem Bereich tut, ist Etikettenschwindel. Integration ist auch eine Frage des Qualitätsstandards. Das Behinderteneinstellungsgesetz und die Geschützten Werkstätten sind politische Instrumente zur Aufrechterhaltung der nicht erfüllbaren Pflicht zur Arbeit. Bürgernahe Systeme gehören als Erstes gefördert und nicht zuerst Geschützte Werkstätten. Das jetzige System gehört auf die Füße gestellt, denn jetzt steht es noch auf dem Kopf, weil die aussondernden Systeme gefördert werden und nicht die bürgernahen!

Eine Zusammenfassung der Enquete kann bei BIZEPS-Zentrum für Selbstbestimmtes Leben, Kaiserstraße 55/3/4a, 1070 Wien zum Selbstkostenbeitrag von 30 Schilling bezogen werden.

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Die Blattlinie ergibt sich aus der Zielsetzung von I:Ö, nämlich einerseits die Öffentlichkeit über die Anliegen und Forderungen von Eltern behinderter Kinder/ Jugendlicher und behinderter Menschen zu informieren, andererseits die Zusammenarbeit zwischen öffentlichen und privaten Einrichtungen, den einzelnen Initiativen von Eltern und darüber hinaus zu den Selbstvertretungsorganisationen behinderter Menschen zu fördern.

Jede Ausgabe beinhaltet einen thematischen Schwerpunkt, in dem Anliegen und Forderungen für ein gemeinsames Leben und Lernen und die dazu notwendigen sozial- und bildungspolitischen Überlegungen vorgestellt werden.

Grundlegende Richtung nach §25/2 Mediengesetz:

Information und Kommentar zu Fragen gesellschaftlicher Integration, insbesondere behinderter und nichtbehinderter Menschen.

betrifft:integration ist der UN-Erklärung der Menschenrechte und der Rechte des Kindes und den UN-Erklärungen über Rechte behinderter und geistig behinderter Menschen verpflichtet.

betrifft:integration ist unabhängig von politischen Parteien und Kirchen und erscheint mindestens viermal jährlich.

Namentlich gekennzeichnete Artikel müssen sich nicht mit der Meinung der Redaktion decken.

Verleger und Medieninhaber:

INTEGRATION:ÖSTERREICH, Elterninitiativen für gemeinsames Leben behinderter und nicht behinderter Menschen

Vorstand von I:Ö: Brandl Maria

Vorsitzende; Pröglhöf Ingeborg

Vorsitzende Stellvertreterin; Riegler Kurt

Kassier; Dr. Franz-Joseph Huainigg

Schriftführer; Wita Bernhard

Sitz:Tannhäuserplatz 2/1. Stock, 1150 Wien

Tel.: 01/7891747, Fax: 01/7891746

e-mail: info@ioe.at

http://www.ioe.at/

Bankverbindung: Erste BankKtonr.: 038-47934 BLZ 20 111

Herausgeber:

INTEGRATION:ÖSTERREICH,

Tannhäuserplatz 2/1. Stock, 1150 Wien

Redaktion:

Brigitta Aubrecht, e-mail: brigitta.aubrecht@ioe.at, Tel. 01-7891747-26, Fax. 01-7891746, Tannhäuserplatz 2/1. Stock, 1150 Wien

Layout: pablo graphics vienna

Druck: Herold Druck- und Verlagsges.m.b.H., Faradayg. 6, 1032 Wien

DVR: 0803936

GZ-Nr.: 02Z032371

Wir freuen uns über Briefe, Informationen, Beiträge und Hinweise auf Veranstaltungen. In dieser Zeitung wird im Zweifelsfall feminin geschrieben! Nicht gekennzeichnete Fotos stammen aus dem Archiv von I:Ö.

Anmerkung zur Internet-Ausgabe

Betrifft: Integration ist der Rundbrief von Integration : Österreich der Zusammenschluß der Elterninitiativen für gemeinsames Leben behinderter und nichtbehinderter Menschen. BIDOK übernimmt diese Zeitschrift mit geringen Anpassungen. Die Anpassungen sind erforderlich aufgrund von technischen, ressourcemäßigen und terminlichen Einschränkungen (z. B. keine Verarbeitung von Photographien, geringe Layout-Gestaltung). Die Erfahrungen mit dieser Form der Veröffentlichung werden kontinuierlich gesammelt, überprüft und adaptiert für die Bedürfnisse unserer Benützerinnen und Benützer.

Die Internet-Ausgabe soll nicht mit der gedruckten Form konkurieren, sondern lediglich dem Internet-Publikum ergänzend zur Verfügung stehen. Wenn Sie als Benützer/Benützerin am Rundbrief interessiert sind, empfiehlt BIDOK die Bestellung von Betrifft : Integration unter folgender Adresse: Integration:Österreich, Tannhäuserplatz 2/1. Stock, 1150 Wien

Quelle:

Integration: Österreich / Verein Gemeinsam leben - Gemeinsam lernen (Hrsg.): betrifft: integration Nr. 2/1995, Herold Druck- und Verlagsges.m.b.H., Wien

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 22.08.2006

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