Medizin für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung - Editorial

Autor:in - Ernst Berger
Themenbereiche: Medizin
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: Med. f. Mensch. Behind. 2, 4-5, 2005
Copyright: © Ernst Berger 2005

Medizin für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung - Editorial.

Die gesellschaftliche Situation behinderter Menschen wird - so zeigt die sozialhistorische Analyse (z.B. JANTZEN 1982) - in erster Linie durch die sozioökonomische Entwicklung einer Gesellschaft bestimmt. In zweiter Linie sind Meinungen und Einstellungen (vgl. CLOERKES 1998) und in dritter Linie sind wissenschaftliche Konzepte maßgebende Bestimmungsfaktoren. Wenn wir von der Relevanz der Medizin für behinderte Menschen sprechen, so müssen wir berücksichtigen, dass

  • Gesellschaftliche Situationen, die in den Wissenschaften zur einseitigen Akzentuierung der biologischen Anteile menschlichen Lebens führen, zur biologistischen Verkürzung der Wissenschaften vom Menschen tendieren.

  • Die gesellschaftliche Dominanz eines biologistischen Menschenbildes die Integration behinderter Menschen gefährdet und tendenziell zur Behindertenfeindlichkeit führt.

  • Die wachsende Bedeutung molekularbiologischer Forschung als Wirtschaftsfaktor und als Wissenschaftskonzept die Gefahr der biologistischen Verzerrung unseres Menschenbildes vergrößert.

Die Kernpunkte eines Paradigmas, das für die Beziehung von Medizin und Behinderung maßgebend sein muss, lauten: Geistige Behinderung wird verstanden als

  • Produkt eines Entwicklungsprozesses

  • verankert in der biologischen Struktur

  • von Lebensbedingungen abhängig

Der Biologismus, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum dominierenden Paradigma wurde, führte dazu, dass der Mensch zu einem Objekt des Messens, des Zählens und des Vergleichens wurde. Die so geformte Rassenbiologie lieferte wenig später die Legitimation für die systematische Menschenvernichtung. Eine zur biologistischen Pseudowissenschaft pervertierte Medizin war Lieferant der Begründungen und Ausführungsorgan bei der mit industrieller Perfektion organisierten Tötung behinderter Menschen! Nach 1945 fand der Vernichtungsfeldzug sein Ende. Es kam aber zu keinem Paradigmenwechsel. Der Biologismus überlebte die Veränderung der politischen Verhältnisse; sein Kern: die Verabsolutierung biologischer Fakten einschließlich ihrer Überdehnung und Verfälschung. Besonders häufig trifft man auf die Erklärung psychischer und sozialer Aspekte aus biologischen. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn man der Annahme folgt, aus dem Faktum einer Veränderung der Genstruktur (z.B. bei Trisomie 21) oder einer Schädigung des Gehirns unmittelbar das Verhalten eines Menschen erklären zu können.

Ziehen wir auf diesem Hintergrund einige Stichproben aus der Fachliteratur:

b) Auf dem Deutschen Jugendpsychiatrie- Kongress wird 1977 auf dem Hintergrund einer ähnlichen "Diagnostischen Einteilung nach Leitsymptomen" (z.B.: "Oligophrenie + Cerebralparese" oder "Oligophrenie bei besonderen Syndromen") die Forderung nach Sterilisation geistig Behinderter ("Verminderung der Intelligenz unter das Niveau 80 nach HAWIE") erhoben - gegebenenfalls auch gegen den Willen der Eltern (RETT 1979). Mit keinem einzigen Wort werden die 300.000 Zwangsterilisationen der Nazizeit (BERGER, MICHEL 1997) erwähnt!

c) 10 Jahre später wird unter Betonung der Wichtigkeit der biologischen Fakten eine dringliche Warnung vor umfassenden Integrationsbestrebungen ausgesprochen und eine Beschränkung der schulischen Integration auf Einzelfälle gefordert: "Die Stellung des Arztes in der Behinderten-Szene verliert immer mehr an Bedeutung und zwar in jenem Maße, in dem sich eine nicht mehr kontrollierbare `Behinderten-Romantik`, getragen von fanatisierten Pädagogen und Psychologen in unserem Schulsystem mit dem Schlagwort der `vollen Integration` aller Behinderten in die Regelschule durchsetzt" (RETT 1987).

Der Paradigmenwechsel, dem wir uns verpflichtet fühlen, muss sich auf folgende Fakten stützen:

In der Psychiatrie wurden Kenntnisse gewonnen, die biologistischen Kausalitätsannahmen widersprechen; so stellt z.B. RESCH (1988) in einer kenntnisreichen, kritischen Sichtung der aktuellen Literatur fest, dass es keinerlei verlässliche Anhaltspunkte dafür gibt, dass biologische Befunde (hormonelle, morphologische etc.) psychische Störungen ausreichend erklären könnten.

Eine weitere wesentliche Voraussetzung für die Überwindung des biologistischen Paradigma stammt aus dem Bereich der Neurowissenschaften: Wir wissen heute, dass sich biologische Systeme - insbesondere das Nervensystem - nach dem Prinzip der Selbstorganisation in Abhängigkeit von ihrer Tätigkeit strukturieren. Daraus resultiert ihre Veränderbarkeit.

Die Relevanz dieser Erkenntnis für die Praxis lautet: Ein biologisches Defizit ist keine absolute Konstante, sondern eine unter anderen Bedingungen für das Leben, die relative Plastizität aufweisen.

Die wissenschaftliche Basis der Beziehung zwischen Medizin und Behinderung ist im Sinne einer Rehabilitationswissenschaft zu formulieren (BERGER 1993), die von einem bio-psycho-sozialen Menschenbild ausgeht. Es bedarf der Kooperation multidisziplinärer Teams in der Wissenschaft und in der Praxis der Betreuung behinderter Menschen; der Kompetenztransfer (vgl. FEUSER, MEYER 1987) hat hierbei einen zentralen Stellenwert.

LITERATUR:

BERGER E.: Neurophysiological and psychological aspects of rehabilitation, Activity Theorie 13/14, 45-47, 1993

BERGER E., MICHEL Barbara: Zwangssterilisation bei geistiger Behinderung Wr. Klin. Wochenschr. 109 / 23, 925-31, 1997

CLOERKES: Soziologie der Behinderung, 1998

FEUSER, G., MEYER H.: Integrativer Unterricht in der Grundschule; Jarick, Oberbiel 1987

JANTZEN W.: Sozialgeschichte des Behindertenbetreuungswesens Deutsches Jugendinstitut; München 1982

RESCH F.: Das Dilemma der psychobiologischen Forschung vom Standpunkt der Vulnerabilitätshypothese. Acta Paedopsychiat. 51, 51-55, 1988

RETT A.: Klinische, genetische, soziale und juridische Aspekte bei der Sterilisation geistig behinderter Jugendlicher. In: MÜLLER-KÜPPERS M., SPECHT F. (Hrsg.): Recht - Behörde - Kind. Probleme und Konflikte der Kinder- u. Jugendpsychiatrie Huber, Bern 1979

RETT A.: Die schulische Integration geistig behinderter Kinder; ein ärztliches - schulärztliches Problem. Mitt. Österr. Sanitätsverw. 88, 177-80, 1987

Quelle:

Ernst Berger: Medizin für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung - Editorial.

erschienen in: Med. f. Mensch. Behind. 2, 4-5, 2005

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 12.11.2007

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