Verschieden und gleich!

Als Leitprinzip für die Theorie und Praxis sozialer Arbeit mit Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen

Autor:in - Monika Schumann
Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr.5/2001 Thema: Bewegung statt Fitness Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (5/2001)
Copyright: © Monika Schumann 2001

Verschieden und gleich!

Seit der sich durchsetzenden Moderne bis heute (re-)produzieren und legitimieren Pädagogik und Rehabilitation Behinderung (zum Teil noch immer) als "Andersartigkeit", ein Ausdruck "dominanzkulturell" geprägten Denkens und Handelns. Auf der Basis der "Gleichheit in der Verschiedenheit" weist "inclusive Pädagogik" der sozialen Arbeit bei Behinderung Wege aus der Dominanzkultur.

Die Verteidigung des Lebensrechtes und der Würde jedes einzelnen Lebens wie auch die Gewährung des Selbstbestimmungsrechtes von Menschen mit Unterstützungs- bzw. Assistenzbedarf rücken dabei ins Zentrum des professionellen Handelns. Damit sind zugleich wichtige Grundlagen für Empowermentprozesse charakterisiert. Diese vollziehen sich aber nicht ohne Widersprüche ...

In den folgenden vier Thesen möchte ich diese Überlegungen nun weiter ausführen:

1. Bis heute ist die Geschichte der Pädagogik und Rehabilitation bei Behinderung eine Geschichte, die auf der "Andersartigkeit" bzw. auf Differenz basiert und diese selbst ständig neu reproduziert (hat). Damit trägt sie mit zur gesellschaftlichen Ausgrenzung von Menschen mit Beeinträchtigungen bei.

In seinem Aufsatz "Die institutionelle Umwandlung von Menschen in Sachen. Behinderte und Behinderung in der Moderne" (1999) beschreibt Klaus Dörner die Sozialgeschichte aus dem Blickwinkel der ausgegrenzten 10% sog. "Randständiger".

Einem "sozialen Urknall" gleich wurden mit der einsetzenden Industrialisierung die bis dahin im vormodernen Haushalt zusammenlebenden Menschen auseinander gesprengt. Die einheitlichen Lebenswelten spalteten sich. Während die organisierte Arbeiterbewegung politische Antworten auf die gesellschaftlichen Veränderungen fand, wurden auf der anderen Seite die damit verbundenen Problemlagen individualisiert und institutionalisiert (Waisenhäuser, Kindergärten, Zuchthäuser, "Krüppelhäuser", "Irrenanstalten", "Idiotenanstalten", usw.).

Heilpädagogik und Sozialpädagogik entwickelten sich zeitgleich. Die Konzentration auf den sog. "Schwachsinn" einerseits und auf die Jugendfürsorge und -hilfe andererseits führte jedoch zur Ausprägung eines unterschiedlichen fachlichen Selbstverständnisses. Die Gemeinsamkeit zwischen Heil- und Sozialpädagogik besteht nach Iben in dem Merkmal der Ausgrenzung ihrer jeweiligen Zielgruppen (2000, S.257). Im Hinblick auf meine Fragestellung werde ich mich nun aber nur noch auf das Behindertenbetreuungswesen konzentrieren. Dieses entwickelte sich in drei unterschiedlichen, z.T. aber parallel verlaufenden Strängen:

a.) der religiös-karitativen Linie (Droste 1999), die im Dienste der christlichen Nächstenliebe stand. In Reaktion auf die "Soziale Frage" gründeten sich nach 1848 die ersten karitativen Wohlfahrtsorganisationen (Innere Mission, Kolpingwerk, Caritas) und boten erste Formen institutionalisierter Hilfen. An die Rettungshausbewegung anknüpfend ging es den evangelischen philanthropischen und pietistischen Strömungen in der "Inneren Mission" vor allem um die "moralische Rettung" der sog. "schwachsinnigen" Kinder in den "Rettungs- und Unterrichtsanstalten", sowie um deren christliche Erziehung und Befähigung zu einfachen landwirtschaftlichen Arbeiten. "Schwachsinn" galt zunächst als unabänderliches Schicksal; später dann nach der übernommenen "Lehre der Kinderfehler" als medizinisch-biologisch nachweisbare Schädigung mit sekundären Folgen.

b.) Seit Beginn des 19.Jhdts. etablierte sich die heil- und hilfsschulpädagogische Linie (Jantzen 1982), der es um Hebung der unterentwickelten Geisteskräfte der sog. "Schwachsinnigen" ging. Überwogen zu Beginn Einzelversuche, kam es zwischen 1810 und 1840 zur Gründung kleiner privater "Idiotenanstalten", zwischen 1840 - 1870 zu öffentlichen Idiotenanstalten .Von der Aufklärung beeinflusste Reformer wie Pestalozzi (1778), insbesondere Georgens und Deinhardt, aber auch Guggenmoos, Guggenbühl und andere, gingen von der prinzipiellen Bildbarkeit der "Schwachsinnigen" aus und wollten sie mit Hilfe einer ganzheitlich orientierten Heilpädagogik "zu einer zufriedenstellenden Lebensführung" befähigen

(Droste, S.20 f). Aufgrund der für Arme nicht aufzubringenden Unterhaltskosten und fehlender Plätze stieg jedoch die Belegung in den kostenfreien öffentlichen psychiatrischen Anstalten bis 1880 sprunghaft an und stärkte die

c.) medizinisch - psychiatrische Entwicklungslinie, die den sog. "Schwachsinnigen" als unheilbar "Geisteskranken" zunächst Pflege und Aufsicht zukommen lassen wollte (Jantzen 1982, S.24). Nach 1890 setzte sich unter psychiatrischer Vorherrschaft der "Schwachsinn" als psychiatrisches Krankheitsbild allgemein durch und bewirkte eine Gleichsetzung von "Geistesschwäche" mit "Geisteskrankheit" (Irrsinn), damit zugleich auch von Idiotenanstalten und Psychiatrien.

Diese Entwicklungen unterstützten die Selektion sog. "Geistesschwacher", aber noch Bildungsfähiger, und "Blödsinniger" (Idioten), also nicht mehr Bildungsfähiger und regten eine verfeinerte Diagnostik zum gezielteren Erkennen der "Bildungsfähigkeit" an. Das Interesse an der sog. "Blödsinnigenpädagogik" erlahmte nach 1880 - nicht zuletzt mit der gesellschaftlichen Durchsetzung der kostengünstigeren Förderung in Hilfsschulen.

In der Folgezeit wurden Geisteskrankheiten schließlich als "Gehirnkrankheiten" erforscht (Griesinger, Koch, Lombroso). Als diese um die Jahrhundertwende auch noch als Erbkrankheiten" beschrieben wurden (Forel 1892), führte dies zur Biologisierung der genannten Zusammenhänge und bot dem zeitgleich erstarkenden Sozialdarwinismus mit seinen eugenischen und rassenhygienischen Bestrebungen einen geeigneten wissenschaftlichen Bezugsrahmen.(Jantzen 1982,S.62 f). Damit waren zugleich die ideologischen Grundlagen gelegt für die "Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens" (Binding und Hoche, 1920) und die im Nationalsozialismus schließlich durchgesetzten Sterilisations- und Tötungsprogramme.

Fazit dieser Entwicklungen:

Gesellschaftlich erzeugte Problemlagen wurden bzw. werden z.T. bis heute personalisiert, psychiatrisiert und biologisiert. Auf der Basis einer wissenschaftlich etablierten "Sonderanthropologie" und institutionell diagnostizierter "Defizite" wurde und wird die individuelle Differenz in Theorie und Praxis konstruiert und festgeschrieben. Durch die scheinbare individuelle "Andersartigkeit" wird die gesellschaftliche Differenz und Ausgrenzung legitimiert und reproduziert.

2. Die Festschreibung von Differenz ist ein Ausdruck von "Dominanzkultur", legitimiert soziale Ausgrenzung und dient der Aufrechterhaltung der ungleichen gesellschaftlichen Verhältnisse.

In gesellschaftlicher Ausgrenzung drückt sich soziale Ungleichheit - oder nach Johan Galtung "strukturelle Gewalt" - aus. Dass diese über lange Zeit hinweg nicht einmal von den Betroffenen selbst als solche wahrgenommen worden ist, widerspricht nicht ihrer Existenz, da sie durch "kulturelle Gewalt" überlagert wird. Diese umfasst die kulturellen Aspekte oder "moralischen Färbungen" , die die gewohnte Realität so selbstverständlich erscheinen lassen, dass Gewaltverhältnisse gar nicht mehr bewusst wahrgenommen werden (Galtung 1993, S. 106).

Die gängigen Normalitätsvorstellungen sind auch ein Ausdruck kultureller Gewalt. "Normalität" ist ein gesellschaftliches Konstrukt, kaum klar zu definieren, aber allgemein gültig. Sie fungiert als soziales Regulativ. Indem sie auf der Grundlage des fiktiven Durchschnittsmenschen - dem mittelschichtigen, weißen, nichtbehinderten Mann! (Ulrike Schildmann 2000, S.91) - das sog. "Normale" festlegt, definiert sie auch die Abweichungen bzw. Differenz.

Damit lässt sich das Konstrukt "Normalität" nach Birgit Rommelspacher auch als "Dominanzkultur" begreifen (1999). Diese ist immer Herrschaftskultur. Sie basiert auf dem Mechanismus der Konstruktion der Selbstidentität durch Abspaltung des scheinbar Andersartigen. Das "Andersartige" wird in der Dominanzkultur aber nicht nur als Differenz empfunden, sondern zugleich als "minderwertig". Dominanzkulturelles Denken spaltet nicht nur ab, sondern spaltet nach unten ab. Die Abspaltung, Verdrängung und Projektion von allem, was als nicht herrschaftsfähig gilt, bezieht sich sowohl auf Eigenschaften als auch auf Personen, die diese Eigenschaften verkörpern. Auf dieser Grundlage wird zugleich die Ungleichbehandlung der als randständig deklarierten Personengruppen gerechtfertigt.

Die höchste Zuspitzung erfahren die dominanzkulturellen Abspaltungen und Projektionen in der heute diskutierten Bereitschaft zur Aberkennung des Lebensrechtes von Menschen auf der Basis der Einstellung: "Behinderung ist Leid. Leid kann doch heute verhindert werden". Auf dieser Grundlage kann Peter Singer in seinem Buch "Praktische Ethik" z.B. behaupten: "Die Tötung eines behinderten Säuglings ist nicht moralisch gleichbedeutend mit der Tötung einer Person. Sehr oft ist sie überhaupt kein Unrecht." (1984, S.188).

Dominanzkulturelle Abspaltungen von vermeintlichem Leid stehen ebenfalls hinter der modernen Pränatalen Diagnostik, hinter der Präimplantationsdiagnostik und der Bereitschaft zur "neuen Euthanasie". Dadurch wird die Schraube der sog. Normalitätsstandards aber immer weiter angezogen. Obwohl es bis heute keinen einheitlichen Behinderungsbegriff gibt, gelten doch alle von diesem Mechanismus betroffenen Menschen als nicht herrschaftsfähig, bzw. als "hilfebedürftig". Damit werden sie zu Objekten hierarchischer und paternalistischer Fürsorge und Fremdbestimmung. Ihnen werden wichtige Rechte abgesprochen. Die so vollzogenen Ausgrenzungsprozesse, die über Gesetze und Institutionen genau so reproduziert werden wie über scheinbar individuelle Meinungen, "sind nicht nur der Boden für Gewalt, sondern sie sind selbst Gewalt" sagt Astrid Albrecht-Heide (1996). Über diesen Mechanismus dominanzkultureller Gewalt reproduziert sich auch die strukturelle Gewalt durch Institutionen.

Dominanzkulturell geprägte Denk- und Handlungsmuster werden aber nicht nur bei der gesellschaftlichen Konstruktion von Behinderung wirksam, sondern liegen auch dem patriarchalen Denken und rassistischen Ideologien zugrunde ...mit den gleichen diskriminierenden und herrschschaftsstabilisierenden Folgen. Welche Wege führen nun aus dem dominanzkulturell geprägten Denken und Handeln ?

3. Inclusive Pädagogik und Soziale Arbeit erkennt die Verschiedenheit von Menschen (mit Beeinträchtigungen) bei gleichzeitiger Betonung ihrer fundamentalen Gleichheit an.

Mit der Kritik an "totalen Institutionen" in Frankreich und den USA, mit der Durchsetzung des Normalisierungsprinzips in den skandinavischen Ländern und mit der konsequenten Gesundheits- und Schulreform in Italien rückten diese Mechanismen Ende der 60er Jahre zunehmend auch in Deutschland in das öffentliche Bewusstsein.

Seit den 70er Jahren fordert auch in Deutschland und kurze Zeit später in Österreich eine organisierte Elternbewegung das Recht auf gemeinsame Erziehung und Bildung für alle Kinder, unabhängig von ihren individuellen Fähigkeiten, ein. Seit der "Reha 81" (Messe) und dem "Dortmunder Krüppeltribunal 1981" kämpft die Selbsthilfebewegung für das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben. Seit den 90er Jahren formieren sich deutschlandweit "People first"-Gruppen bzw. Projekte "Wir vertreten uns selbst" von Menschen mit Lernschwierigkeiten, die sich nicht länger als "geistig behindert" bezeichnen lassen wollen.

Diese Teilbewegungen setzen sich auf der Basis der Menschenrechte für die Selbstbestimmung bei gleichzeitiger Anerkennung ihres "Rechts auf Anderssein" (Neuer-Miebach, Tarneden 1994) ein.

Ihre Forderungen werden in der "Pädagogik der Vielfalt" aufgegriffen und umgesetzt. In der Synthese von Interkultureller Pädagogik, Feministischer Pädagogik und Integrationspädagogik steht in ihrem Zentrum ein dialektisches Verständnis von "Gleichheit in der Differenz". Eine darauf basierende Pädagogik wendet sich gegen alle Erscheinungsformen von Hierarchien und trägt nach Annedore Prengel dazu bei, "dass unterschiedliche Lebensformen gleiches Existenzrecht haben, gleiches Recht, gesellschaftlich sichtbar, anerkannt und wirksam zu sein ... Gleichheit ist damit die Bedingung der Möglichkeit von Differenz ... Differenz ohne Gleichheit bedeutet gesellschaftlich Hierarchie, kulturelle Entwertung, ökonomische Ausbeutung. Gleichheit ohne Differenz bedeutet Assimilation, Anpassung, Gleichschaltung, Ausgrenzung von ‚Anderen' ..." (1995, S.184, bes. S.181ff).

Alle drei Wurzeln der "Pädagogik der Vielfalt" verbindet miteinander die Kritik an der Gleichheit im Sinne von Assimilation und die Forderung nach Gleichberechtigung durch Bekämpfung von Abwertung und Ausgrenzung (Prengel 1995, S.178). In "einer Schule für alle" wird Verschiedenheit erfahrbar, der Zugang zu den bisher ausgegrenzten Lebenserfahrungen eröffnet.

Damit verfolgt die "Pädagogik der Vielfalt" die Ziele und Orientierungen, die im internationalen Kontext unter "Inclusion" verstanden werden. Nach der UNESCO beim UNO-Komitee Kinderrechte ist diese "‚ein niemals endender Prozess', bei dem Kinder und Erwachsene mit Behinderung die Chance bekommen, in vollem Umfang an ALLEN Gemeinschaftsaktivitäten teilzunehmen, die auch den nichtbehinderten Menschen offen stehen" (Genf 1997. In: GL 6(1997)4, S.189). In der Salamanca-Erklärung von 1994 und in weiteren internationalen Dokumenten wurde Inclusion inzwischen weltweit zum Aktionsprogramm erhoben und durch Vorgehensweisen gemeindenaher Rehabilitation unterstützt.

Die international gültige Klassifizierung von Behinderung ICIDH-2 (1997/99) realisiert diese Forderungen, indem sie von Aktivität und Partizipation ausgeht und die Gesellschaften dazu verpflichtet, Hindernisse bei der Umsetzung auf allen Ebenen abzubauen.

Abschließend möchte ich nun einige Aspekte benennen, wie die dargestellten Leitprinzipien einer "inclusiven Pädagogik" in Handlungskonzepte der Sozialen Arbeit einfließen können.

4. Soziale Arbeit verteidigt das Lebensrecht und die Würde jedes einzelnen Menschen. Sie unterstützt Selbstbestimmung in gesicherten sozialen Beziehungen durch Empowermentprozesse.

Obwohl Verschiedenheit einen zentralen menschlichen Wert darstellt, steht ihre Anerkennung heute im Zentrum großer gesellschaftlicher Interessenskonflikte. Während einerseits das Demokratiebewusstsein wächst, verankert sich gleichzeitig - auf dem Hintergrund reduzierter öffentlicher Mittel - eine (neue) Behindertenfeindlichkeit mit durchaus eugenischem Charakter und neuen Tendenzen zur Euthanasie (vgl. Schumann 2000).

Zum Lebensrecht und zur Würde

Durch die Fortschritte in der Biomedizin und durch die bioethischen Legitimationsstrategien wird erneut ein biologistisch geprägtes Menschenbild geschürt, das Menschen zunehmend auf ihre genetische Beschaffenheit reduziert und die interaktiven, sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhänge des Lebens in der Gesellschaft mehr und mehr ausklammert.

Behinderung liegt aber nicht in, sondern zwischen Menschen und in ihren Verhältnissen. Vor diesem Hintergrund - und in Erinnerung an die Thesen Singers und anderer Bioethiker - beginnt die Anerkennung von Verschiedenheit im Zeitalter der Gentechnologie, der Präimplantationsdiagnostik und des Klonens bereits ganz basal mit der Verteidigung des Lebensrechts von Menschen, die die geforderte Rationalität und Autonomie angeblich noch nicht, nicht oder nicht mehr zeigen. Wobei Klaus Dörner, Georg Feuser und viele andere zu Recht darauf hinweisen, dass Bewusstsein nur aus der Binnenperspektive erlebt werden kann. Aus dem Eindruck heraus, jemand habe (noch) kein Bewusstsein oder kein Bewusstsein mehr, kann also nur meine eigene Unerreichbarkeit im Hinblick auf diesen Menschen erlebt werden und nicht seine Unerreichbarkeit für mich!

Außerdem gibt es kein Sein ohne Bewusstsein (Dörner 1994, S.13-15)!

Nach dem christlichen Weltbild kommt jedem Leben unabhängig von seinem aktuellen Zustand Würde zu. Die Würde schwerer beeinträchtigter Menschen wird aber durch die Bioethik-Konvention (Art.6,17, 20: Eingriffe, Forschung und Organentnahme bei Nichteinwilligungsfähigen) und weitere Dokumente nicht mehr hinreichend geschützt.

Der Eisinger-Würzburger Fall der heimlichen Blutentnahme bei BewohnerInnen des St.Josef-Stifts für sog. geistig Behinderte zu Zwecken humangenetischer Forschung machte entsprechende Übergriffe kürzlich öffentlich.

Noch stärker im Dunkeln gehalten wird sexistische und sexuelle Gewalt an körper- oder "geistig behinderten" Frauen in Wohneinrichtungen, sowie deren unfreiwillige Sterilisierung bis zur Änderung des deutschen Betreuungsgesetzes 1992.

Als Handlungsimpuls resultiert daraus die zwingende Notwendigkeit zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Menschenbild, den ethischen Grundlagen der eigenen professionellen Arbeit, Kenntnis aktueller Entwicklungen in Biomedizin und Bioethik und Einschätzung ihrer Folgen im Kontext Sozialer Arbeit, die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Formen von Gewalt, Bekämpfen von Menschenrechtsverletzungen und Verletzungen der Würde, solide Rechtskenntnisse, Bereitschaft zur Öffentlichkeitsarbeit und selbstreflexive Arbeitsweisen.

Zur Selbstbestimmung

Die Würde wird gewahrt, wenn trotz beeinträchtigender Lebensumstände das Recht auf Selbstbestimmung selbstverständlich respektiert wird. Das von der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung formulierte Paradigma bezieht sich sowohl auf individuelle alltägliche Verrichtungen, als auch auf weitreichende Entscheidungen selbständiger Lebensführung und -planung, sowie auf sozialpolitische Formen der alternativen Gestaltung der Behindertenhilfe.

Es knüpft an die Kompetenzen und die Möglichkeiten der selbständigen Alltagsbewältigung an, die jede Person hat, und richtet sich gegen alle Formen von Fremdbestimmung wegen des Empfangs von Hilfen (so wünschen beispielsweise Frauen persönliche Assistenz durch Frauen!). Es richtet sich ebenfalls gegen die durch andere definierten Therapie- bzw. Fördernotwendigkeiten und gegen Pädagogisierungen des Alltags (z.B. in Wohnheimen: "Selbständigkeitstraining" statt Anziehen).

Dabei ist Selbstbestimmung nicht mit Selbständigkeit zu verwechseln! Hilfen bzw. Assistenz können durchaus in großem Umfang angenommen werden, jedoch muss die empfangende Person in für sie befriedigender Weise darauf Einfluss nehmen können. So definiert die Deutsche Selbstbestimmt-Leben-Bewegung Selbstbestimmung als "Kontrolle über das eigene Leben, die auf der Wahl von akzeptablen Möglichkeiten basiert, die das Angewiesensein auf andere beim Treffen von Entscheidungen und der Ausübung von alltäglichen Tätigkeiten minimieren" (Miles-Paul 1992, S.122).

In der Weiterentwicklung münden diese Ansätze in alternative Assistenzmodelle ein, die sich auf Finanzkompetenz, Personalkompetenz (Arbeitgeberfunktion), Anleitungskompetenz (Information über Bedürfnisse und Formen der Befriedigung), Raumkompetenz und Sozialkompetenz (Teilhabe am gesellschaftlichen Leben) stützen (Niehoff 1997, S.58).

Kritisch anzumerken bleibt, dass dieses Konzept von Selbstbestimmung, das positive Wege zur Organisation, Art und Verwendung von Hilfen und Ressourcen aufzeigt, unbeabsichtigt leider auch als Vehikel zur Einsparung von "Sozialkosten" missbraucht wird.

Ein anderer Missbrauch besteht in der Herauslösung des Selbstbestimmungspostulats aus der dialektischen Balance zwischen den individuellen und sozialen Gegebenheiten. Wenn Selbstbestimmung sich nicht auf der Grundlage sicherer sozialer Beziehungen entfaltet, birgt sie die Gefahr der erneuten Ausgrenzung durch Isolation in sich. Wenn sie dagegen einseitig verabsolutiert wird - d.h. wenn Behinderung wie im Falle pränataler Entscheidungszwänge nur noch auf die scheinbar individuelle Verantwortung von Frauen abgewälzt wird - , dann wird der Selbstbestimmungsbegriff zur "neuen sozialen Waffe", wie Theresia Degener (1992) zu Recht kritisiert.

Wird das Recht auf Selbstbestimmung von den Fachleuten wirklich ernst genommen, dann verändert das ihre eigene Berufsrolle. Die Veränderungen werden im Empowerment-Ansatz zusammengefasst, der auch für die Soziale Arbeit bei Behinderung richtungsweisende Handlungsorientierungen bereitstellt.

Nach Keupp entwirft das Empowerment-Konzept eine "Rehabilitation neuer Art", die die Menschen zur Gewinnung oder Wiedergewinnung von Kontrolle über die eigenen Lebensbedingungen befähigt (Keupp, 1994, S.97), "indem sie ihre eigenen Stärken im Austausch mit anderen erkennen und sich gegenseitig ermutigen, ihr eigenes Leben und ihre soziale Umwelt zu gestalten" (Niehoff 1997,S.56). Im Zentrum steht die Arbeit von Selbsthilfegruppen, insbesondere Gleichbetroffener. Institutionelles Handeln wird dadurch aber nicht überflüssig, doch es muss nach Wacker lebensnäher, flexibler und bedarfsgerechter gestaltet werden und die NutzerInnen als ExpertInnen für die Gestaltungsaufgaben anerkennen (1995, S.75). Wenn Behinderung nicht mehr als Persönlichkeitsmerkmal, sondern als Bedarfslage verstanden wird, werden professionell Tätige zu UnterstützerInnen. Sie sollen nicht mehr bevormunden, gängeln, besondern, isolieren (Theunissen 1995, S.167), sondern sie sollen Entwicklungsprozesse zulassen und begleiten, anstatt Abhängige zu "betreuen". Damit werden z.T. "weibliche Kulturleistungen" reaktiviert, die schon bei Alice Salomon bedeutsam waren. Für die "Kultur des Begleitens" - wie sie heute benannt wird - werden Kriterien aufgestellt wie:

  • die Arbeit an den (kollektiven) Bildern in den Köpfen (der Verzicht auf Etikettierungen und Rollenzuweisungen)

  • biographisch verstehende Zugangsweisen und dialogische Formen der Begleitung

  • Offenheit in den fachlich-pädagogischen Methoden, aber keine Methoden wie Verhaltensmodifikation oder isolierte Trainings, die Objektcharakter verleihen

  • Erweiterung der Regiekompetenz der Begleiteten

  • Persönliche Eigenschaften wie Flexibilität, Sensibilität, Geduld, Selbstreflexivität.

Allerdings ist auch das Empowerment-Konzept von Widersprüchen betroffen, die innerhalb und mit Mitteln der Sozialen Arbeit nicht auflösbar sind. Dazu Rappaport: "Empowerment ist eine Denkweise, die mehr Klarheit über die divergente Natur sozialer Probleme bringt" (1985, S.269 nach Weiß 2000, S.255).

  1. Auf der individuellen Ebene kann ein hohes Maß an sozialer Abhängigkeit die Möglichkeiten zur Selbstbestimmung beeinträchtigen.

  2. Auf der institutionellen Ebene können sich massive Konfliktlinien zwischen Empowerment-orientierten Arbeitsweisen und Hierarchieebenen, Trägern von Einrichtungen sowie den Strukturen der Behindertenhilfe ergeben.

  3. Auf der sozialpolitischen Ebene ergibt sich die Gefahr, dieses Konzept für weitere Sozialkürzungen zu missbrauchen. Davor warnte bereits Rappaport selbst, denn: "Rechte ohne Ressourcen zu besitzen ist ein grausamer Scherz" (1985, S.268 nach Weiß 2000,S.252). Knappe Ressourcen können eine Rückkehr zur Armutsverwaltung bewirken.

Das verlangt von der Sozialen Arbeit die fachlich-politische Einmischung zur Sicherung von Qualitätsstandards und Ressourcen. Soziale Arbeit, die von "Verschiedenheit und Gleichheit" als zentralem Prinzip ausgeht, räumt Angehörigen abgewerteter Gruppen das Recht ein, sichtbar zu werden, teilzuhaben an gesellschaftlichen Macht- und Einflussmöglichkeiten und an der Verteilung materieller Ressourcen. Nur dann wird ein Prozess der Gleichberechtigung von Differenz eingeleitet (vgl. Prengel 1995, S.184).

Literatur

Albrecht-Heide, Astrid: Wege aus der Gewalt in der Dominanzkultur.1996

Binding, Karl, Hoche, Alfred: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Leipzig 1920

Degener, Theresia, Köbsell, Swantje: "Hauptsache, es ist gesund ?" Weibliche Selbstbestimmung unter humangenetischer Kontrolle. Hamburg 1992

Dörner, Klaus: Leben mit Be-wusst-sein. Eine Annäherung. In: Bienstein,Christel, Fröhlich, Andreas (Hrsg.): Bewußtlos. Düsseldorf 1994

Dörner, Klaus: Die institutionelle Umwandlung von Menschen in Sachen. Behinderte und Behinderung in der Moderne". In: Emmrich, Michael (Hrsg.): Im Zeitalter der Bio-Macht. Frankfurt 1999, S.15-44

Droste, Thomas: Die Historie der Geistigbehindertenversorgung unter dem Einfluss der Psychiatrie seit dem 19. Jahrhundert. Münster 1999

Feuser, Georg: Vom Bewusstsein und der Bewusstheit. In: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft 21 (1998) 6, S.41-55

Forel, August: Mensch und Ameise. Ein Beitrag zur Frage der Vererbung und Fortschrittsfähigkeit. Wien, Berlin, Leipzig 1922

Galtung, Johan: Kulturelle Gewalt. Zur direkten und strukturellen Gewalt tritt die kulturelle Gewalt. In: Der Bürger im Staat 43 (1993)2, S.106-112

Georgens, Jean Daniel, Deinhardt, Heinrich Marius: Die Heilpädagogik mit besonderer Berücksichtigung der Idiotie und der Idiotenanstalten.1.Band. Leipzig 1861

Iben, Gerd: Zum Verhältnis von Sozialpädagogik und Sonderpädagogik. In: Albrecht, Hinz, Moser (Hrsg.): Perspektiven der Sonderpädagogik. Neuwied, Kriftel, Berlin 2000, S. 249-260

ICIDH-2 Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit und Behinderung. Beta - 2 Entwurf. April 2000. Genf

Jantzen, Wolfgang: Sozialgeschichte des Behindertenbetreuungswesens. München 1982

Keupp, Heiner: Psychologisches Handeln in der Risikogesellschaft. München 1994

Koch, J.L.A.: Die psychopathischen Minderwertigkeiten. 3 Bd.. Ravensburg 1891/93

Miles-Paul, Ottmar: "Wir sind nicht mehr aufzuhalten". Beratung von Behinderten durch Behinderte. Vergleich zwischen den USA und der Bundesrepublik. München 1992

Neuer-Miebach, Therese, Tarneden, Rudi (Hrsg.): Vom Recht auf Anderssein. Marburg, Düsseldorf 1994

Prengel, Annedore: Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. Opladen 1993/1995

Rappaport, Julian: Ein Plädoyer für die Widersprüchlichkeit. Ein sozialpolitisches Konzept des "empowerment" anstelle präventiver Ansätze. In: Verhaltenstherapie und psycho-soziale Praxis 17 (1985), S. 257-278

Rommelspacher, Birgit: Behindertenfeindlichkeit. Ausgrenzungen und Vereinnahmungen. Göttingen 1999

Saal, Fredi: Behindertsein- Bedeutung und Würde aus eigenem Recht. Oder: Die Unantastbarkeit menschlichen Lebens als Postulat der Vernunft. In: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft 21 (1998) 6, S. 55-84

Schildmann, Ulrike: Forschungsfeld Normalität. Reflexionen vor dem Hintergrund von Geschlecht und Behinderung.ZfH (2000) 3, S. 90-94

Schumann, Monika: Zur Behindertenpädagogik im Zeitalter von Biomedizin und Bioethik. In: ZfH 51 (2000 ) 8, S. 310-320

Singer, Peter: Praktische Ethik. Stuttgart 1984

Strümpell, Ludwig von: Die Pädagogische Pathologie oder Die Lehre von den Fehlern der Kinder. Leipzig 1890

Theunissen, Georg: Selbstbestimmt leben. Annäherungen an ein Empowerment-Konzept für Menschen mit geistiger Behinderung. In: VHN 64 (1995) 2, S.167f

UNESCO Österreich: Pädagogik für besondere Bedürfnisse . Die Salamanca-Erklärung und der Aktionsrahmen zur Pädagogik für besondere Bedürfnisse. Linz 1996

Wacker, Elisabeth: Wege zur selbständigen Lebensführung als Konsequenz aus einem gewandelten Behinderungsbegriff. In: Neumann, Johannes (Hrsg): Behinderung. Tübingen 1995, S.75-88

Weiss, Hans: Selbstbestimmung und Empowerment - Kritische Anmerkungen zu ihrer oftmaligen Gleichsetzung im sonderpädagogischen Diskurs. BHP 39 (2000) 3, S. 245-260

Die Autorin

Prof. Dr. Monika Schumann, geb. 1952, Dipl.päd., Dipl.psych., Sonderschullehrerin, Dr.phil., seit 1986 Forschung und Lehre im Schwerpunkt "Nichtaussonderung von Menschen mit Beeinträchtigungen" an der Technischen Universität Berlin, an der Fakultät für Sonderpädagogik Reutlingen, Lehrstuhlvertretung "Lernbehindertenpädagogik" am Institut für Rehabilitationspädagogik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Lehrstuhlvertretung "Theorie der Rehabilitation und Pädagogik bei Behinderung" an der Universität Dortmund, seit 1.Oktober 2001 Professorin für "Heilpädagogik in der Sozialen Arbeit" an der Katholischen Fachhochschule Berlin.

Katholische Fachhochschule Berlin

Köpenicker Allee 39-57

10318 Berlin

Quelle:

Monika Schumann: Verschieden und gleich! Als Leitprinzip für die Theorie und Praxis sozialer Arbeit mit Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 5/01, Reha Druck Graz

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 01.06.2006

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