Das spontan Bewegte ist also das Lebendige!

Thesen und Gedanken zum Thema Bewegung, Spiel und Sport mit Menschen mit Behinderungen

Autor:in - Beatrix Eder-Gregor
Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 5/01. Thema: Bewegung statt Fitness Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (5/2001)
Copyright: © Beatrix Eder-Gregor 2001

Das Wesen des Lebendigen - Bewegung als menschliches Grundphänomen

Inhaltsverzeichnis

THESE 1:

Der Mensch ist ein Individuum, das die grundlegende Fähigkeit und Neigung hat, sich vorwärts auf psychische Reife hin zu entwickeln, sich auszuweiten. Jeder Mensch hat eine angeborene Tendenz zur vollständigen Selbstentfaltung.

Ich verstehe den Menschen als weltoffenes, zum Handeln gezwungenes Wesen (in Anlehnung an Gehlen 1976), das sich durch Bewegung und selbständiges Handeln seine Welt erobern muss; das Dasein des Menschen ist Leben in Bewegung im Sinne von Veränderung, Entwicklung und vor allem Tätigkeit (Grupe 1984, Jantzen 1986, Meinberg 1981, Rogers 1986, 1990, Seifert 1979, Weinberg 1986, Wilber 1985).

Menschliche Wesen sind immer in Entwicklung und nie festgelegt, statisch. Das Lebendige antwortet auf Reize mit Bewegung oder Motion - Emotion. Emotionen kommen nur in bewegter Materie vor.

THESE 2:

Bewegung wird als grundlegende Seinsweise des Menschen verstanden. Bewegung und Tätigkeit sind Grundvoraussetzungen der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen (Denken, Wahrnehmen, Emotionen) und daher fundamentale, lebensnotwendige Prozesse. Über Bewegung erst kann sich der Mensch Umwelt aneignen und zu seiner Mitwelt Kontakt aufnehmen.

Bewegung hat immer zumindest zwei Aspekte: die äußere, sichtbare, raumnehmende Bewegung des Menschen und seine innere, seelische Bewegung. Beide Aspekte sind nur in inniger Verbindung miteinander zu denken. Bewegung stellt auch die ausdrucksstärkste Ebene unseres Seins dar.

Innere und äußere Bewegung sind das Vehikel, die Welt handelnd zu erfahren, zu erkennen, zu lernen, zu begreifen. Unter der Prämisse, dass Leben ohne Bewegung unmöglich ist, haben sport- und spielbezogene Handlungen herausragende Bedeutung. Bewegungsangebote haben zwar den Leib des Menschen als Ansatzpunkt, als Ziel aber den ganzen Menschen, also auch seine kognitiven, psychischen und sozialen Ausprägungen (Grupe 1984).

Die UNESCO hat dies 1978 in folgendem Artikel deutlich gemacht:

"Every human being has a fundamental right of access to physical education and sport, which are essential for the full development of his personality. The freedom to develop physical, intellectual and moral powers through physical education and sport must be guaranteed both within the educational system and in other aspects of life" - Jeder Mensch hat ein Grundrecht auf Teilhabe an Bewegungserziehung und Sport, beides ist unentbehrlich für die volle Entwicklung der Persönlichkeit. Die Freiheit, körperliche, geistige und charakterliche Kräfte durch Bewegungserziehung und Sport auszubilden, muss sowohl im Erziehungssystem wie auch in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens garantiert sein (Sherill 1990, S 23).

Menschen mit geistiger Behinderung und ihre Bewegungs(un)möglichkeiten

THESE 3:

Der behinderte Mensch wird nicht als Ausnahmeerscheinung betrachtet, sondern als vollwertiger Mensch, für den dieselben Lebensprozesse, dieselben psychologischen, pädagogischen und sozialen Überlegungen grundlegend sind wie für alle Menschen.

Bewegungsintelligenz und Handeln

Nach dem amerikanischen Psychologen Howard Gardner (Harvard University) gibt es nicht die eine, rein intellektuelle Intelligenz (Bachmann 1999, S 23). Gardner behauptet, dass jeder Mensch auch ein motorisches Talent entwickeln kann, das unabhängig von jenen Fähigkeiten existiert, die wir in der westlichen Welt als Intelligenz verehren. Jeder Mensch verfügt über ein eigenes Bewegungsgedächtnis. Jeder, der ungewohnte Bewegungen trainiert, aktiviert große Teile der Großhirnrinde. Wenn Bewegungen beherrscht werden, zieht sich das Bewusstsein zurück: es sind dann nur mehr Teile der Basalganglien, der primäre motorische Cortex und das Kleinhirn aktiv. Wie und wo häufig geübte Bewegungsmuster abgespeichert werden, ist allerdings noch immer Gegenstand heftiger Debatten.

Bewegung und vielfältigste Bewegungsmöglichkeiten bilden auch für Menschen mit geistiger Behinderung die Grundlage zur Weiterentwicklung und fördern damit Lebensqualität. Die Fähigkeiten des Bewegungslernens korrelieren nicht notwendigerweise mit der Höhe der kognitiven Intelligenz.

THESE 4:

Einschränkungen in der Bewegung, Bewegungsbeschränkungen des Leibes, bedeuten allerdings immer auch Beschränkungen in der Lebensbewältigung, in der Meisterung sozialer Situationen.

Alle Behinderungen und Krankheiten, auch alle Alterungsprozesse werden primär körperlich konkret.

Die Einschränkung von Handlungsfähigkeit und Tätigkeit bedeuten auch Probleme der Schaffung von amodalen Abbildern der Umwelt. Daraus folgen, nimmt die Gesellschaft und das Erziehungssystem hierauf keine Rücksicht und werden Lernsituationen nicht adäquat angepasst, Überforderung und scheinbar nicht effizientes Handeln des behinderten Menschen. Genau dies macht aber die eigentliche Behinderung aus - Isolation (vgl. auch Jantzen 1980).

Die allgemeinen Zielebenen von Bewegung und Sport, nämlich die gesundheitsfördernde, sozial integrative, persönlichkeitsbildende und kognitive Ebene, gelten natürlich auch für die Bewegung/ den Sport mit behinderten und schwerstbehinderten Menschen. Gerade geistig behinderten Menschen werden die Bereiche von Bewegung, Spiel und Sport meist nur sehr rudimentär erschlossen.

Es ist unsere Aufgabe, dazu beizutragen, dass sich Menschen mit geistiger Behinderung in ihrem Körper zunehmend wohl fühlen und sich über Bewegung ausdrücken lernen.

Höchstleistungen?

THESE 5:

Es geht um den bewegten, sich bewegenden Menschen, nicht um Vervollkommnung von Bewegungsabläufen. Es gibt immer weniger Menschen, die ihre Bewegungsfähigkeiten, ihre Bewegungsmöglichkeiten frei genießen.

Oft bleiben 2 Extreme: der passive Bewegungskonsum oder die spezielle, durch hartes Training angestrebte Höchstleistung.

Für behinderte Menschen - vor allem für Menschen mit schwerer geistiger Behinderung - sind motorische Grundfertigkeiten eine - wie Dieter Fischer es nennt - Hochform persönlichen Selbstseins (Fischer 1992, S 336). Wir "Nichtbehinderte" erkennen dies oft nicht an, ja wir bemerken dies meist gar nicht; wir messen diese Menschen nicht mit Maßstäben ihres Lebens, sondern mit Maßstäben, die unserem "Nichtbehinderten" Leben entspringen. Das heißt, dass es für den schwer geistig behinderten Menschen nicht um Leistung geht, die man in Bewegungsqualität, Bewegungsschnelligkeit, Bewegungshöhe, -weite und -kraft messen und vergleichen kann, sondern um die Möglichkeit der Hilfestellungen, um die individuelle Bewegungsausführung zu finden, zu erfahren und zu erleben.

Bewegung bietet sich als Zugang zu Menschen mit schweren Behinderungen an, da die verbale Ebene meist wenig erschlossen ist. Nonverbale Möglichkeiten der Kontaktaufnahme, der Schulung von sozialen und motorischen Fertigkeiten und die Förderung von Fähigkeiten haben sich sehr bewährt (vgl. Fröhlich 1991).

Als wesentlich sehe ich die Frage an, wie Bedeutung, Sinn für den Menschen in seiner Bewegung, im Spiel, im Sport entsteht. Und diesen Sinn gewinnt jeder für sich selbst, in seinem Tun. Es geht nicht um richtig - falsch, können - nicht können, gewinnen - verlieren, sondern um die Erweiterung der Bewegungsräume und damit der Handlungsfelder jedes einzelnen Menschen.

Generell sind zwei Bedeutungen von Bewegung, Spiel und Sport zu unterscheiden:

  1. Bildung/Erziehung durch Bewegung, Spiel und Sport - der pädagogische Bereich

  2. Die Erziehung zu Bewegung, Spiel und Sport - der Freizeitbereich

  3. Bildung und Erziehung durch Bewegung

THESE 6:

Pädagogische Aufgabe ist nicht nur die Förderung des einzelnen Menschen als sich entwickelnde Persönlichkeit, sondern auch die Gestaltung der Alltagswirklichkeit als eines ihm entsprechenden und ihn fördernden Lebensraumes. Bewegungsangebote können die Fähigkeit zum Erfahren der eigenen Person und den Aufbau eines Lebenszutrauens, sowie die Fähigkeit, sich in der Gesellschaft zu orientieren, sie mitzugestalten, sich einzuordnen, fördern.

Oberste Ziele von Pädagogik und Bildung sollten Identität (Hahn 1981, Haeberlin 1985, Heissenberger 1987), Emanzipation (Jantzen 1980) und Selbstbestimmung (Hahn 19 , Niehoff u.a. 1995) sein. Primär notwendig für den geistig behinderten Menschen ist es - so wie für alle Menschen - sich selbst zu entwickeln, zu entdecken, zu entfalten und sich seines Menschseins bewusst zu werden. "Jede Inanspruchnahme des Leibes in Bewegung, Spiel und Sport, jedes sportliche Erleben und jede leibbezogene Erfahrung können Spuren im Bildungsprozess hinterlassen, weil Bildung eben in ihnen besteht und nicht - gleichsam wie ein Etikett - aufgeklebt wird." (Grupe 1975, S 112).

Bewegungsförderung und reichhaltige Bewegungsangebote stellen daher eine Möglichkeit dar, um alle Fähigkeiten, alle psychischen Funktionen des Menschen auf das höchstmögliche Niveau zu bringen (vgl. auch Frostig 1984, Kiphard 1979, 1989). Es ist unsere Aufgabe, dazu beizutragen, dass sich Menschen mit geistiger Behinderung in ihrem Körper zunehmend wohlfühlen und sich über Bewegung ausdrücken lernen.

Vielfältiger Handlungsspielraum und unzählige, variierbare Bewegungssituationen eröffnen weite, aber auch sehr fein abstimmbare und strukturierbare Lernfelder.

Die Bewegungserfahrungen können beglückende Erfolgserlebnisse und innere Freuden schenken, die dem behinderten Menschen - der sich oft im Vergleich mit den sogenannten nichtbehinderten Menschen unterlegen fühlt - das Gefühl der Gleichwertigkeit geben, das er zu seiner Selbstbestätigung dringend braucht. Hier ist aber mehr nötig: nicht automatisch wird dies durch Sportausübung transferiert; Körpererfahrung, Bewusst machen von Erlebnissen, Gefühlen und deren Verarbeitung ist hier wesentlich - das erfordert aber auch eine andere Praxis von Sport und vor allem eine sehr individuelle Arbeit. Hier liegt wahrscheinlich auch das Problem der Praxis: es können Ziele und Methoden nicht ganz so konkret und operationalisierbar gemacht werden, wie bei motorischen Zielen. Rezepte und konkrete Anleitungen sind schwer möglich - Übungssammlungen ebenfalls nur bedingt zielführend, weil hier vor allem das "Wie" im Mittelpunkt steht, nicht primär das "Was". Bewegungsangebote als Möglichkeit der Erfahrungssammlung haben eine Reihe weiterer Vorteile:

  • Bewegung beansprucht den Menschen ganzkörperlich, sie vermittelt Eindrücke, Erlebnisse, Erfahrungen bezüglich des eigenen Körpers und der eigenen Person

  • Bewegungserziehung stellt Aufgaben, die zu einer Handlungsfähigkeit beitragen, die unmittelbar zur Kontaktaufnahme mit anderen anregen

  • Bewegungserziehung ermöglicht nonverbale Gruppenkontakte

  • Menschen mit verbalen Ausdrucksschwierigkeiten bekommen hier Gelegenheit, ihren Körper als elementares Ausdrucksmittel zu erfahren und zu gebrauchen

  • die räumliche Nähe gibt unwillkürlich Berührungspunkte, fordert zum gemeinsamen Tun auf

  • Partner- und Gruppenübungen lehren aufeinander einzugehen, auf den anderen Rücksicht zu nehmen, Hilfe zu geben, andere zu gemeinsamem Tun aufzufordern, sich abzugrenzen, seine eigenen Grenzen und die der anderen zu erfahren, gestaute Energien freizulassen, Gefühle auszudrücken.

  • Inhalte können individuell an das Können und die Fähigkeiten der Teilnehmer optimal angepasst werden, unzählige Variationen sind möglich.

  • Im spielerischen Tun lassen sich soziale Ziele freudvoll anstreben.

Der bewegungspädagogische Prozess - Methoden im Sinne pädagogischerLeitvorstellungen

Inhaltsverzeichnis

THESE 7:

Um oben dargestellte Ziele zu erreichen, ist die Art des pädagogischen Prozesses grundlegend. Dieser wird durch Achtung, Wertschätzung, Empathie, Rücksichtnahme, Kongruenz, Kooperation, Selbsttätigkeit der TeilnehmerInnen unterstützt und gefördert.

THESE 8:

Ziele und Inhalte müssen ganz konkret nach den individuellen Fähigkeiten und Schwächen der einzelnen TeilnehmerInnen und der Gruppe als Ganzes bestimmt werden. Grundlegend hierfür ist die genaue Kenntnis der TeilnehmerInnen. Der Unterricht, soll er nicht Dressurakt bleiben, lebt in ausgeprägtem Maße von Spontaneität und Situativität. Der behinderte Mensch selbst ist Mittelpunkt des Bewegungserziehungsprozesses.

Um Inhalte der Bewegungsangebote festlegen zu können, sind neben den Zielen auch pädagogische Forderungen, didaktische und methodische Grundsätze, räumliche Gegebenheiten, individuelle Fähigkeiten, Interessen und Wünsche der TeilnehmerInnen und Beziehungsstrukturen innerhalb der Gruppe zu beachten.

Pädagogische Ziele sind u.a. der Aufbau eines Lebenszutrauens, der eigenen Individualität, der Fähigkeiten, sich in der Gemeinschaft zu orientieren, sich zu behaupten, einzuordnen, das Leben zu gestalten.

Ohne konkrete Ziele und Inhalte ist die Gefahr groß, einen orientierungslosen, unreflektierten Unterricht zu gestalten.

Das "Was" muss in diesem Fall ganz konkret nach den individuellen Fähigkeiten und Schwächen der einzelnen Teilnehmer bestimmt werden. Wenn individuelle Verbesserungen angestrebt werden, dann können keine allgemeingültigen Aussagen über Inhalte im Vorhinein getroffen werden. Grundlegend für die Zielfestlegung ist das genaue Kennen der einzelnen Behinderten, der Kleingruppe und der Interaktionsmuster, die sich in dieser Gruppe ergeben.

THESE 9:

Der Personwert des Menschen wird als grundlegend erachtet. Aufgabe aller Menschen ist es, durch Kooperation (Schönberger 1986) bzw. Nächstenliebe (Haeberlin 1985) oder Gemeinsamkeit (Speck o.J.) die isolierenden Bedingungen, denen gerade behinderte Menschen ausgesetzt sind, zu überwinden und diese Menschen an allen Umweltprozessen teilhaben zu lassen. Bewegung kann u.a. solch ein Handlungsfeld sein.

Die Grundeinstellungen und das Verhalten des Leiters sind von den didaktisch-pädagogischen Forderungen nicht zu trennen:

  • Zentrum jeder pädagogischen Aktion sollte immer die Entscheidung des Teilnehmers sein (vgl. Rogers 1990, S 18).

  • Teilnehmer und Leiter entwickeln gemeinsam Inhalte, bearbeiten auftretende Probleme mit gegenseitiger Unterstützung.

  • Achtung, Wärme, Rücksichtnahme, Kongruenz, Wertschätzung und Akzeptieren jedes Einzelnen und einfühlendes Verstehen sind die grundlegenden Dimensionen des gemeinsamen Tuns von Leiter und Teilnehmer

  • Die gemeinsame Verantwortung für den Lernprozess ist auch in der Arbeit mit geistig behinderten Menschen wesentlich.

  • Sowohl LeiterIn als auch die Teilnehmer sehen den pädagogischen Prozess als gemeinsame Arbeit, als Lehr- und Lernprozess für alle an.

  • Die Selbsttätigkeit der TeilnehmerInnen wird gefördert

  • Entdecken, Erproben und Verändern sind wesentliche Merkmale des gemeinsamen Tun

  • Auf externe Leistungskriterien wird weitgehend verzichtet

  • Konflikte, Probleme etc. werden verbalisiert und gemeinsam erörtert

  • Die Kommunikationsfähigkeit steht im Mittelpunkt. Die inhaltliche Seite des pädagogischen Prozesses ist gemeinsam zu entwickeln und nur im kooperativen Prozess stellt sich die optimale Struktur dieses Prozesses heraus.

Bildung und Erziehung zu Bewegung

Inhaltsverzeichnis

THESE 10:

Wesentlich scheinen hier die Bedeutung der Bewegung, des Sports an sich, als zweckloses, sinnfreies Tun, ohne pädagogische und therapeutische Hintergedanken und Ziele. Bewegung kann als sinnvolle Freizeitgestaltung, als Erholungsmöglichkeit, als freud- und lustvolles Tun nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Ein weiterer Bildungsauftrag muss die Erziehung, die Anleitung und Hinführung zur Bewegung sein. Jeder, der "spielerisches, aber auch sportliches mit-, neben- und gegeneinander-Bewegen" je gesehen oder selbst erlebt hat, wird sich dem Phänomen Bewegung nicht mehr entziehen können. Damit diese Erlebnisse aber nicht dem Zufall überlassen werden, ist eine gezielte Hinführung zum Bereich Bewegung, Spiel und Sport nötig. Was Kinder von sich aus tun und genießen, ist uns Erwachsenen (egal ob oder in welcher Art behindert) schon wieder lange fremd. Der behinderte Mensch hat auch oft als Kind keine solchen Lernsituationen erfahren, nie die Möglichkeit zu für ihn adäquater Bewegung bekommen. Gerade hier sehe ich einen sehr bedeutenden Bildungsauftrag. Je nach Schweregrad der Behinderung können spezielle Angebote ausgewählt werden. Allgemeine Bewegungsschulung hat beim schwerstbehinderten Menschen Vorrang (Koordination, Gleichgewicht, Feinmotorik, räumliche Wahrnehmung etc.). Spielerisches Miteinander in der Bewegung ist keine Frage des Schweregrads der Behinderung, sondern eine des Engagements und des Einfallsreichtums, des Wissens und der Erfahrung des Übungsleiters.

Sinnvolle, d.h. auch aktive Freizeitgestaltung im Sinne von Bewegung, Spiel und Sport haben aus mehreren Gründen hohen Wert:

  • Bewegung hält auch im zunehmenden Alter fit; sie hilft, die körperliche und seelische Mobilität lange zu erhalten (gesundheitlicher Aspekt). Dem alten Menschen bietet die enorme Vielfalt von Bewegungs-, Spiel- und Sportmöglichkeiten eine seinem Gesundheitszustand angepasste, sinnvolle aktive Betätigungsmöglichkeit.

  • In unserer Freizeitgesellschaft gewinnen Bewegung, Spiel und Sport immer größere Bedeutung (Fitness Center, Sportvereine, aktive Sporturlaube, etc.). Integration und Normalisierung sind nur möglich, wenn auch diese Bereiche dem geistig behinderten Menschen eröffnet werden.

  • Soziale Integration könnte gerade in diesem Freizeitbereich (Familienveranstaltungen, Sport- und Spielfeste etc) durch die Handlungs- und Situationsvielfalt, die Bewegung, Spiel und Sport in sich tragen, initiiert werden.

  • Wettkampf im Sinne des Leistungsvergleiches ist unserem gesellschaftlichen Denken inhärent, daher auch ein wichtiger Lebensbereich (die Gefahren, die hier verborgen sind, sollten allerdings nicht unerwähnt bleiben).

Interaktive, kommunikative und integrative Aspekte von Bewegung - ein Ausflug in die Praxis

THESE 11:

Erfahrungen der eigenen Bewegungsmöglichkeiten, Erleben der Bewegung, der Gefühle und das Umsetzen von Gefühlen in motorische Aktivitäten -- das heißt ein klares Ich-Bewusstsein - sind wichtige Voraussetzungen für das offene Begegnen der Mitmenschen, für die Erfahrung des "Du".

Ausgehend von der Annahme, dass - um andere zu erfahren - Selbst- und Körpererfahrung einen grundlegenden Bereich darstellen, sollte diesem auch genügend Platz eingeräumt werden.

Über Bewegung lassen sich viele langdauernde Kommunikations- und Interaktionsstrukturen anbahnen. Gruppenkontakte, Verständigungsmöglichkeiten und interaktive Handlungen zwischen geistig behinderten Menschen (ohne die dauernde Zwischenschaltung von Betreuungspersonen) lassen sich gezielt fördern (vgl. Gregor 1986, 1991, 1992).

Die Bedeutung von Bewegung und Förderung von Bewegungsmöglichkeiten möchte ich mit den Worten Grupes nochmals verdeutlichen :

"Wir brauchen die soziale Erfahrung, die uns unsere Bewegung vermittelt: das Eingehen auf den anderen und die Entwicklung körperlicher Sensibilität, die Darstellungsfähigkeit und das Ausdrucksvermögen, die Zurückhaltung und Kontrolle; aber auch das Gespür für das Eigene, für das gesellschaftlich Geregelte wie für das individuell zu Bewahrende." (Grupe 1984, S 18).

Die Bewegung hat für uns also auch fundamentale soziale Bedeutung. Sie ist unser Mittel zur Kommunikation, zur Kontaktaufnahme, wir drücken unser Fühlen - unser Selbst - in der Bewegung aus.

Wertvolle Spiele

Vor einigen Jahren in einer Spielgruppe entwickelt, hat sich der Einsatz der "Wertvollen Spiele" (Gregor/ Roithinger/ Schwarz 1997, 1998) mittlerweile vor allem in Integrationsklassen sehr bewährt.

Diese Spiele wurden mit dem Ziel entwickelt, verschieden großen Gruppen unterschiedlichen Alters und unterschiedlichen motorischen Könnens Spiel- und Bewegungserlebnisse in freudvoller Form mit geringem Leistungsdruck, wenig Konkurrenz und einer Minimierung der physischen Verletzungsgefahr anzubieten.

Ein Großteil der gegenwärtigen Sportkultur zeigt all jene Merkmale, die auch für unsere Wohlstandsgesellschaft charakteristisch sind: ein hoher Aufwand von Energie, Zeit, Material, Ressourcen. Die Wertvollen Spiele besinnen sich wieder auf die Einfachheit: auf die Einfachheit der Bewegungsspiele, der Materialien, der räumlichen Bedingungen. Neben dem freudvollen, gesundheitsfördernden Bewegen liegt der Schwerpunkt im integrativen, gemeinsamen Erleben.

Ein wenig Bewegung zum Schluss

Koalabären:

Kreisaufstellung, mehrere Paare in der Mitte des Kreises. Der/die Hintere des Paares ist das Koalababy (entweder nur dicht anklammern, oder am Rücken der/des Vorderen sitzen). Im Kreis werden ein oder mehrere Softbälle hin- und hergespielt und es wird versucht, ein Koalababy zu treffen. Ist ein Koalababy getroffen, fällt es von Mutter/Vater herunter und wechselt mit dem Jäger. Der Jäger wird nun Mutter/Vater, der vormalige Elternteil zum neuen Koalababy.

Gerade durch das Angewiesensein erfährt man sehr deutlich das Du, das klar abgegrenzt ist vom Ich, indem es die eigene Aktion erschwert bzw. sogar gegen die eigene Intention handelt. Für alle im Kreis Stehenden ergibt sich auch die Notwendigkeit, miteinander zu kommunizieren, da sich dadurch die Trefferchancen erhöhen können.

Literatur

BACHMANN, K.(1999): das motorische Wunder, In: Geo1999/8, 23-34

DOLL-TEPPER, G. (Hrsg.) (1990): Adapted Physical Activity. An Interdisciplinary Approach. Berlin

FISCHER, D. (1992): Ich setzte meinen Fuß in die Luft und sie trug, Bd1, 335-358. Bentheim Würzburg

FROSTIG, M. (1984): Der humanistische Gesichtspunkt in der Bewegungserziehung. In: Motorik 1, 20-26

GEHLEN, A. (1976): Der Mensch. Wiesbaden

GREGOR, B. (1986): Bewegungserziehung und Bewegungshandeln - Möglichkeiten der sozialen Interaktionsförderung geistig behinderter Menschen. Diss., Wien

GREGOR,B. (1991): Ein pädagogisch-didaktisches Konzept der Bewegungserziehung mit geistig behinderten Menschen. unveröff. Forschungsarbeit, Wien

Dies. (1992): Bewegung mit geistig behinderten Erwachsenen - ein sportpädagogischer Konzeptentwurf mit dem Schwerpunkt der Förderung sozialer Interaktionen und motorischer Koordinationsfähigkeit. Spektrum der Sportwissenschaften 1992/1, 54-80, Wien.

GREGOR, B./ROITHINGER, S./SCHWARZ, H.(1997): Wertvolle Spiele für Kinder, Pichler

GREGOR, B./ROITHINGER, S./SCHWARZ,H.(1999): Wertvolle Spiele für Kinder II, Pichler

GRUPE, O. (1976): Was ist und bedeutet Bewegung ? In : HAHN,E.(Hrsg.), a.a.O., Schorndorf, 3-19

GRUPE, O.(1984): Grundlagen der Sportpädagogik. Schorndorf

HAEBERLIN,U. (1985): Das Menschenbild für die Heilpädagogik. Bern

HAHN,E. (Hrsg.) (1976): Die menschliche Bewegung. Schorndorf

HAHN, M. (1981): Behinderung als soziale Abhängigkeit. München

HEISSENBERGER, M. (1987): Erziehung und Identität. Frankfurt/M.

JANTZEN, W. (1980): Geistig behinderte Menschen und gesellschaftliche Integration. Bern/Stuttgart/Wien

JANTZEN, W. (1986): Abbild und Tätigkeit. Solms

KIPHARD, E.J.(1979): Motopädagogik. Dortmund

KIPHARD, E.J. (1989): Psychomotorik in Praxis und Theorie. Dortmund

MEINBERG,E.(1981), Sportpädagogik. Stuttgart

ROGERS, C.R. (1986): Die Kraft des Guten. München

ROGERS, C.R. (1987): Der neue Mensch. Stuttgart

ROGERS, C.R. (1990): Die Kraft des Guten. Frankfurt

SEIFERT, J. (1979): Das Leib-Seele-Problem in der gegenwärtigen philosophischen Diskussion. Darmstadt

SHERRILL, C. (1990): Interdisciplinary perspectives in adapted physical activity. In: DOLL-TEPPER,G. (Hrsg.), a.a.O., Berlin, 23-30

SPECK, O. (o.J.), Sozialethische Grundlagen der Behindertenarbeit. Skriptum

WALSH, R.W./VAUGHAN, F. (Hrsg.) (1985): Psychologie in der Wende. Bern/Stuttgart/Wien

WEINBERG, P. (1976): Lehren und Lernen im Sport. Köln

WILBER, K. (1985): Psychologie Perennis und das Spektrum des Bewusstseins. In : WALSH,R.W./VAUGHAN,F. (Hrsg.), a.a.O., Bern/Stuttgart/Wien, 83-99

Die Autorin

Mag. Dr. Beatrix Eder-Gregor, Sportpädagogin, Psychologin, Universitätslektorin, Lehrerin an der Lehranstalt für heilpädagogische Berufe Wien, seit 1984 Leiterin verschiedener Bewegungs-, Spiel- und Entspannungsangebote für Menschen mit Behinderungen und integrative Gruppen, seit 1992 intensive Arbeit als Erwachsenenbildnerin mit Menschen mit geistiger Behinderung und integrative Gruppen, div. Projektleitungen, seit 1997 Leitung des Integrativen Bildungsvereins für Menschen mit (mehr oder weniger) Behinderung.

biv integrativ

Längenfeldgasse 13-15

1120 Wien

Tel. 0676 / 319 96 06, Fax 01 / 892 15 04

http://www.biv-integrativ.at/index2.html

Quelle:

Beatrix Eder-Gregor: Das spontan Bewegte ist also das Lebendige!Thesen und Gedanken zum Thema Bewegung, Spiel und Sport mit Menschen mit Behinderungen

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 5/01, Reha Druck Graz

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 11.07.2005

zum Textanfang | zum Seitenanfang | zur Navigation