Das K.R.E.I.S.-Verfahren

Autor:in - Klaus Hasemann
Themenbereiche: Psychosoziale Arbeit
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 4/5/99. Thema: Modelle der Kooperation Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (4/5/1999)
Copyright: © Klaus Hasemann 1999

Ausgangsüberlegungen

Es ist eine altbekannte Erfahrung, daß die Kooperation zwischen Menschen nicht immer und nicht ohne weiteres gelingt. Je größer die Anzahl der Personen, die zusammenarbeiten sollen, je vielfältiger ihre Zusammensetzung, um so komplizierter wird es. In dieser Hinsicht stehen Fachleute medizinischer, pädagogischer und sozialer Berufe, die um das Wohl eines Kindes bemüht sind, vor einer besonders schwierigen Aufgabe, handelt es sich doch dabei zum einen um eine - meist - größere Anzahl von Fachpersonen unterschiedlichster Profession, zum anderen aber um die Eltern des Kindes. Den Fachpersonen ist es aufgegeben, Wege zu überlegen und zu gehen, die der Entwicklung des Kindes förderlich sind, und zwar miteinander - und darüber hinaus mit den Eltern. Es handelt sich also zweifellos um eine Kooperationsbeziehung besonderer Art.

Wo immer der Erfolg einer Tätigkeit vom Funktionieren der Zusammenarbeit abhängt, bedarf es zumindest einiger grundlegender Überlegungen bezüglich ihrer Organisation. Überall dort, wo man auf derartige Überlegungen verzichtet und es jedem einzelnen der Beteiligten überläßt, wie er sich zu den anderen verhält, besteht die Gefahr, daß die je individuellen Bemühungen nebeneinander her- oder sogar gegeneinander laufen. Während jedoch im Wirtschaftsleben ökonomische Gesichtspunkte mehr oder weniger zwangsläufig entsprechende Korrekturen auslösen, wird die Notwendigkeit dazu in anderen Bereichen oft nicht ohne weiteres erkannt oder lassen sich Konsequenzen wegen der damit verbundenen Schwierigkeiten nicht ohne weiteres ziehen. Da sich aber in Frühförderung/ Früherziehung schlecht gelungene Kooperation gravierend zum Nachteil der Schwächsten, der Kinder, auswirkt, bedurfte es dort zur Überwindung der erkannten Schwierigkeiten besonders dringend eines innovativen Impulses.

Anknüpfend an eine von Andersen (1990) beschriebene Methode für die Durchführung von Fachgesprächen unter Einbezug der Familien, genannt "das reflektierende Team", wurde erstmals 1993 von Dr. Ines Schlienger vom Heilpädagogischen Seminar Zürich für die Frühförderung/Früherziehung ein Verfahren vorgestellt, das es ermöglicht, mit wesentlichen Problemen der Kooperation zwischen Fachpersonen aus verschiedenen Systemen untereinander sowie der Kooperation mit den Eltern konstruktiv umzugehen. Die positiven Effekte für das Kind liegen auf der Hand.

Diese "kooperative Reflexion zwischen Eltern und interdisziplinären Systemen" (K.R.E.I.S.) wurde von Ines Schlienger zusammen mit Hedi Jantsch, Kassel, und Klaus Hasemann, Bonn, in einer dreijährigen Pilotphase in der Schweiz und in Deutschland erprobt. Über die Ergebnisse wurde in mehreren Veröffentlichungen berichtet (z.B. in Peterander&Speck Frühförderung in Europa, 1996; in Frühförderung interdisziplinär,1997).

Struktur und Prinzipien

Inhaltsverzeichnis

Alle Personen, die um die Betreuung und Förderung eines behinderten Kindes und die Begleitung und Unterstützung seiner Eltern besorgt sind, werden mit den Eltern zusammen zum gemeinsamen Gespräch eingeladen. Die Anwesenheit aller relevanten Personen - also z.B. immer auch des Vaters des Kindes - muß gewährleistet sein, sonst können Konflikte (Bewertungen, Ausgrenzungen, Machtprobleme) entstehen, die dem Förderprozeß abträglich sind.

Geleitet wird das Gespräch von einer Moderatorin oder einem Moderator, denen die Fachlichkeit der Frühförderung geläufig ist, die jedoch nicht in den spezifischen Zusammenhang eingebunden sind, der die Gesprächsteilnehmerinnen und Gesprächsteilnehmer zusammenführt, also Anlaß für das Gespräch ist.

Von zentraler Bedeutung sind drei strukturelle Elemente des Verfahrens:

  • die Anwesenheit aller in die Arbeit mit dem Kind einbezogenen Personen,

  • die Gleichzeitigkeit von Offenheit und Strukturiertheit der Gesprächssituation,

  • die neutrale, aber anteilnehmende Moderation.

Moderation

Die Aufgaben der Moderation beschränken sich auf einige wenige, aber sehr wesentliche Aspekte der Gesprächsführung. Im Gegensatz zu der sonst meist üblichen Art und Weise darf die Moderation keine eigene Stellungnahme einbringen, Voten nicht unterbrechen, soll hingegen Langredende sanft ermahnen und Schweigende ermuntern. So wird der Freiraum der Gesprächsteilnehmer zwar einerseits begrenzt, aber andererseits wird ihnen auch die Sicherheit gegeben, auf jeden Fall äußern zu können, was sie möchten, ohne von einem anderen daran gehindert oder dabei unterbrochen zu werden. Auf diese Weise stellen die Regeln der Gesprächsführung im K.R.E.I.S.-Verfahren die Vermeidung herkömmlicher Gesprächsmängel sicher. Jeder Teilnehmende erlebt, daß alle anderen, ihm oder ihr aufmerksam zuhören und zu gegebener Zeit auf ihre Äußerungen reagieren. Eine Zeitbegrenzung auf ca. 1 1/2 Stunden hat sich als nützlich erwiesen, erlaubt sie doch der Moderation, nachhaltige Unterbrechungen und ein Ausufern von Einzelbeiträgen zu verhindern.

Gesprächsablauf

Der Gesprächsablauf ist genau festgelegt. Zunächst sitzen alle Teilnehmer in einem Kreis. Danach werden zwei Sitzgruppen gebildet - einerseits die Eltern, andererseits die Fachleute - und zwar so, daß die eine Gruppe der anderen gut zuhören kann. Die Moderatorin verändert ihre Position je nachdem, welcher Gruppe sie sich zuwendet, was im Wechsel zwischen den beiden Gruppen erfolgt. Die jeweils andere Gruppe befindet sich strikt in der Position der Zuhörer.

Für die Moderation ergibt sich daraus ein ganz bestimmter Stil der Gesprächsführung. Er ist einerseits "autokratisch" (direktiv), weil der Gesprächsablauf vorgegeben und kontrolliert wird, er ist andererseits "demokratisch" (integrativ), weil Thematik und inhaltliche Ziele des Gespräches allein von den Teilnehmern bestimmt werden und die Moderation sich jeder persönlichen Stellungnahme, individuellen Gewichtung und fachlichen Äußerung enthält. Sie greift die formulierten Themen lediglich in einer strukturierenden Weise auf.

Es haben bisher zahlreiche K.R.E.I.S.-Gespräche stattgefunden; pro Jahr zu jedem Kind etwa 2 - 5 Gespräche. Eine Gesprächsdauer von etwa 11/2 Stunden hat sich als optimal erwiesen. Bei den Gesprächen waren, außer den Eltern, zwischen 4 und 10 Fachpersonen aus insgesamt 16 verschiedenen Professionen anwesend.

Die Erfahrungen aus der Entwicklung und Erprobung des K.R.E.I.S.-Verfahrens verdichten sich inzwischen zu einigen ersten Erkenntnissen.

Praxiserfahrungen

Natürlich findet eine Menge von dem, was sich bei K.R.E.I.S. ereignet, anderweitig auch ohne K.R.E.I.S. statt. Das Besondere an diesem Verfahren ist aber, daß in den K.R.E.I.S.-Gesprächen

  • alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer - Fachpersonen und Eltern - veranlaßt werden sich zu äußern,

  • alle gemeinsam hören, was jeder zu sagen hat,

  • jedem die Gelegenheit geboten wird, seine eigene Sichtweise allen Anwesenden mitzuteilen,

  • Eltern und Fachpersonen in ihren unterschiedlichen Rollen gewürdigt werden, indem ihnen ihre je eigene Position zuerkannt wird, die sie daraufhin gegenseitig, kooperativ reflektieren.

Dadurch wird - über das Reden - Klärung der eigenen Position und Verständnis für die des anderen bewirkt.

Entwicklung und Vertiefung der Kommunikation

Die Fachleute werden durch die Anwesenheit der anderen Fachleute dazu angeregt, ihre Sichtweise auf dem Hintergrund des jeweils anderen Fachgebietes vor allen Beteiligten zu begründen und zu reflektieren. Die eigene fachliche Zuständigkeit wird stets im Kontext der Fachlichkeit der anderen gesehen, die Rückmeldung durch diese führt allmählich zu einem Gefühl der Sicherheit. Die Beiträge der anderen Fachleute treffen in der Regel auf großes Interesse und stimulieren die eigene Initiative. Die Eltern erleben in der einen oder anderen sie besonders bewegenden Frage eine Rückenstärkung durch die ihnen sonst nicht gebotene Zusammenschau aller für die Entwicklung ihres Kindes wichtigen Gesichtspunkte.

Die Kommunikation in den Gesprächen verteilt sich auf vier Hauptformen:

  • Fragen - der Fachleute an die Eltern, der Eltern an die Fachleute, der Fachleute

untereinander,

  • Mitteilungen - der Fachleute an die Eltern, der Eltern an die Fachleute,

  • gemeinsames Erörtern eines Themas im eigenen Kreis,

  • Verabredungen mit Aufgabenverteilung.

Gesprächssituation

Für die Teilnehmer ist es im ersten K.R.E.I.S.-Gespräch, an dem sie teilnehmen, ein Novum, in Gegenwart aller Fachpersonen und der Eltern Aussagen über ihre Arbeit mit dem Kind zu machen, und gleichzeitig die Äußerungen aller anderen aufzunehmen und zu reflektieren. Die Sprechordnung - der Wechsel von Zuhören-Müssen ohne unterbrechen zu können und Sprechen-Dürfen ohne unterbrochen zu werden - bietet den Teilnehmern etwas, was sie aus anderen Gesprächssituationen so nicht kennen. Für viele Fachpersonen ist es ungewohnt, nicht selbst das Gespräch leiten zu können. Ist jedoch die durch die Sprechordnung gebotene Beschränkung einmal akzeptiert, wird sie als entlastend und unterstützend erlebt.

Das gemeinsame Nachdenken und Sprechen über alles, was mit der Lebenssituation des Kindes zu tun hat, bewirkt eine Transparenz, die durch die Kontinuität der Gespräche zur Stimulierung der Motivation führt. Fachpersonen und Eltern fühlen sich mehr und mehr verbunden in dem Bewußtsein, miteinander einer Aufgabe verpflichtet zu sein.

Rolle der Moderation

Wesentliche Effekte ergeben sich aus der Funktion der Moderation als "Katalysator". Sie bewirkt einerseits den Abbau möglicher Dominanz und verhilft andererseits zur Freisetzung und Beachtung der Beiträge anderer. Die behutsame, aber bestimmte Leitung durch die Moderation trägt wesentlich zur Entschärfung bei, wenn im Gespräch Konflikte aufbrechen. Die von ihr gegebene Rückmeldung durch Zusammenfassung wesentlicher Punkte hat sich als wichtiges Element der Klärung und Orientierung erwiesen. Das verständnisgeleitete Verhalten der Moderation erleichtert allen Teilnehmern die Identifikation mit den gemeinsamen Intentionen.

Ihr unbewußt und unausgesprochen zugeschriebene Rollen resultieren vor allem aus den unterschiedlichen Erwartungen der Gesprächsteilnehmer, orientiert u.a. an Status, Profession und persönlichem Eindruck der Moderatorin oder des Moderators. Zweifellos ist es der Moderation unmöglich, es gleichzeitig allen recht zu machen, ja, zuweilen versprechen sich Teilnehmer von der Moderation etwas, was sie im K.R.E.I.S.-Verfahren gar nicht erfüllen darf. Eine Haltung der "Allparteilichkeit" anzustreben, dürfte geeignet sein, naheliegende Probleme zu vermeiden.

Schlußfolgerungen

Inhaltsverzeichnis

Die wesentlichen Merkmale der Wirksamkeit des K.R.E.I.S.-Verfahrens lassen sich am ehesten mit "Verständnis" und "Identifikation" bezeichnen. Die Moderatorin/der Moderator eröffnet durch verläßliches Eingehen auf die Äußerungen jedes Teilnehmers wachsendes Verständnis für die Position des anderen und Relativierung der eigenen Sichtweise. Weil man sich verstanden fühlt, ist man bereit, sich auf neue Perspektiven einzulassen und sich mit den anderen zum Wohle des Kindes zu solidarisieren. Nach und nach bewirken die Gespräche deutliche Veränderungen im Förderprozeß, die zwischen den Gesprächen kontinuierlich zunehmen.

Die Abstimmung untereinander wird erheblich erleichtert und ermöglicht flexible Anpassung an veränderte Situationen; Abläufe werden beschleunigt, vollziehen sich reibungsloser. Fachpersonen erfahren eine deutliche Entlastung beim Vermitteln fachlicher Einsichten an die Eltern. Deren Vertrauen in die Bemühungen um ihr Kind wächst, weil sie diese erstmals höchst anschaulich als verbindendes Interesse aller Beteiligten erleben.

Gerade in Übergangssituationen (z.B. Wechsel vom Kindergarten in die Schule) ist K.R.E.I.S. ganz besonders geeignet, Klärungsprozesse einzuleiten, Entscheidungsfindung zu erleichtern. Der Informationstransfer der Fachleute der abgebenden Institutionen an die der aufnehmenden trägt wesentlich zur Vermeidung von Schwierigkeiten bei.

Implementation

Für jeden, der etwas in einer Erprobungsphase Entwickeltes und in dieser Bewährtes als Innovation einführen möchte, ist eine der spannendsten Fragen: Wird sich das Neue so in die Praxis umsetzen lassen, daß es dort einmal zum gängigen Inventar gehört? Wovon ist es abhängig, ob das Neue eingeführt wird, was ist zu seiner Implementation erforderlich?

Zur Beantwortung dieser Fragen lassen sich einige erste Antworten formulieren. Zweifellos bedarf es vor allem intensiver Überzeugungsarbeit, um den Fachleuten in Früherziehung/Frühförderung klarzumachen, daß es dem Wohle des Kindes nur abträglich sein kann, wenn die Zusammenarbeit der Fachleute untereinander und mit den Eltern nicht so gut wie nur irgendmöglich funktioniert, und daß ihnen mit K.R.E.I.S. ein Verfahren zur Verfügung steht, das eine optimale Kooperation ermöglicht. Es ist nachdrücklich herauszustellen, daß die zusätzliche, insbesondere zeitliche Belastung durch die Teilnahme an den Gesprächen durch die entlastenden Momente des Verfahrens mehr als ausgeglichen wird. Gerade die Möglichkeit, die Last der Verantwortung in den Gesprächen auf mehrere Schultern zu verteilen, ist für viele Fachpersonen Anlaß, Gespräche nach dem K.RE.I.S.-Verfahren führen zu wollen.

Aus den bisher gewonnenen Erkenntnissen ergibt sich deutlich, daß K.R.E.I.S. in der Lage ist, einen wesentlichen Beitrag zur Qualitätssicherung von Frühförderung/Früherziehung zu leisten, finden sich doch in K.R.E.I.S. Merkmale des Qualitätsmanagements, wie sie auch für den Schulbereich als charakteristisch beschrieben werden:

  • verbindliche Prinzipien und Regeln,

  • gemeinsame Klärung und Vereinbarung von Zielen,

  • gemeinsame Planung und Abstimmung von Abläufen und methodischem Vorgehen

  • Zusammengehörigkeitsgefühl.

Hinzu kommt bei K.R.E.I.S. eine weitere, neue Qualität durch den Einbezug der Eltern in die kooperative Gemeinschaft der Fachpersonen.

Ausblick

In der dreijährigen Erprobungsphase hat sich gezeigt, daß das Verfahren in der Lage ist, die Qualität von Früherziehung/Frühförderung zu steigern. Inzwischen wurden erste Schritte zur Implementation getan. Seither arbeiten geschulte Moderatorinnen und Moderatoren in Deutschland und in der Schweiz damit in der Alltagspraxis. Um verschiedenen Ansprüchen und Situationen entsprechen zu können, werden Varianten einzelner Komponenten des Verfahrens konzipiert und erprobt. Die Anwendung in anderen Bereichen pädagogischer Förderung ist vorgesehen und wünschenswert.

Der Autor

Dr. phil. Klaus Hasemann

Professor für Psychologie an der Universität Bonn. Von 1970 bis 1993 Referatsleiter im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft in Bonn. Arbeitsschwerpunkte: Pädagogische Psychologie, Sonderpädagogik, Medienpädagogik, Bildungsberatung.

Auf dem Köllenhof 32

D-53343 Wachtberg

Quelle:

Klaus Hasemann: Das K.R.E.I.S.-Verfahren

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 4/5/99; Reha Druck Graz

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 11.09.2006

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