Professionelles Handeln in der Arbeit mit geistig behinderten Erwachsenen unter der Leitidee der Selbstbestimmung

Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 4/5/2002. Thema: Achtung und Anerkennung Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (4/5/2002)
Copyright: © Bettina Lindmeier, Christian Lindmeier 2002

Professionelles Handeln in der Arbeit mit geistig behinderten Erwachsenen unter der Leitidee der Selbstbestimmung

Es gehört heute zu den wichtigsten Zielen beruflichen Handelns im Interesse von Menschen mit geistiger Behinderung, ihnen Selbstbestimmung zu ermöglichen. Viele Professionelle fühlen sich allerdings durch dies neue Leitbild verunsichert, weil sie nicht genau wissen, wie sie es in ihr tägliches Handeln umsetzen können (vgl. auch Rock 2001).

Wir beziehen uns in diesem Beitrag vor allem auf die amerikanische Diskussion, weil sie uns weiter vorangeschritten zu sein scheint als die deutsche Diskussion. Außerdem haben die Amerikaner auch die Personenkreise der schwer geistig und mehrfach behinderten und der alten Menschen mit geistiger Behinderung im Blick, was für die deutsche Diskussion insgesamt nur von Vorteil sein kann. Die von uns hauptsächlich rezipierte Literatur weist deutliche Querverbindungen mit dem Handlungskonzept des "supported living" auf (vgl. Krüger 2000, Lindmeier 2000a, 2000b; 2001).

Grundlinien des angloamerikanischen Selbstbestimmungsdiskurses[1]

In aktuellen amerikanischen Publikationen wird immer wieder betont, dass bereits Bengt Nirje das Orientierungsprinzip der Selbstbestimmung als einen bedeutenden Aspekt des Normalisierungsprinzips herausgestellt habe (vgl. Wehmeyer 1998, Wehmeyer/Schwartz 1998; Hughes/Agran 1998): "Eine wesentliche Facette des Normalisierungsprinzips ist es, Bedingungen zu schaffen, durch die ein behinderter Mensch den normalen Respekt erfährt, auf den jedes menschliche Wesen Anspruch hat. Daher müssen die Entscheidungen, Wünsche und Hoffnungen des behinderten Menschen bei allen Handlungen, die ihn betreffen, so weit wie möglich beachtetet werden. Sich gegenüber Familienmitgliedern, Freunden, Nachbarn, Arbeitskollegen, anderen Leuten oder gegenüber Institutionen durchzusetzen, ist für viele Menschen schwierig. Es ist besonders schwierig für jemanden mit einer Behinderung oder für eine andere sozial abgewertete Person. Aber schließlich muss auch der behinderte Mensch seine individuelle Existenz "managen", denn auch er bestimmt seine Identität für sich und für andere durch die Umstände und Bedingungen seiner Existenz. Deshalb ist der Weg zur Selbstbestimmung gleichermaßen schwierig und von zentraler Bedeutung für einen behinderten Menschen" (Nirje 1972, 177; Übersetzung d. Verf.).

Die Leitidee der Selbstbestimmung wird also in den USA als ein Teil der Normalisierungsbewegung betrachtet und dieser nicht - wie in der deutschsprachigen Diskussion gelegentlich zu finden - als neue Leitidee gegenübergestellt. Gegenwärtig wird Selbstbestimmung in den Vereinigten Staaten unter fünf Gesichtspunkten diskutiert (vgl. Hughes/Agran 1998):

  1. Selbstbestimmung als Bündel von Fähigkeiten und Fertigkeiten bzw. Kompetenzen, die gelernt werden können - und gelehrt werden müssen;

  2. Selbstbestimmung als innerer Antrieb zu autonomem, selbstgesteuerten und selbstbewusstem Verhalten (im Sinne von "Empowerment" und "sich seiner selbst bewusst sein");

  3. Selbstbestimmung als Form menschlicher Selbstgestaltung, die sich nur im Rahmen kommunikativer und sozialer Beziehungen vollzieht;

  4. Selbstbestimmung als ein politisches Recht, als Bürgerrecht, das jedem Menschen unabhängig vom Grad seiner Behinderung zusteht;

  5. Selbstbestimmung als Aufforderung zur Veränderung des Systems der Hilfen für Menschen mit geistiger Behinderung.

Diese Gesichtspunkte sollen im Folgenden kurz erläutert werden. Anschließend werden wir uns mit der Frage beschäftigen, welche Konsequenzen sich daraus für die Berufsrolle von Geistigbehindertenpädagog/-innen ergeben. Im dritten Teil dieses Beitrags wollen wir diese eher theoretischen Reflexionen an Hand eines Beispiels noch einmal veranschaulichen.

(1) Selbstbestimmung als Bündel von Fähigkeiten und Fertigkeiten bzw. Kompetenzen, die gelernt werden können und gelehrt werden müssen.

Der Gedanke, dass Selbstbestimmungskompetenzen erlernt und vielleicht sogar regelrecht trainiert werden müssen, ist im deutschsprachigen Raum noch recht "neu", dennoch finden sich einige Ansätze zur Umsetzung.

Ein Beispiel sind die vielerorts durchgeführten Mobilitätstrainings, die es Menschen mit Behinderung und bisher begrenztem Aktivitätsradius ermöglichen sollen, Orte ihrer Wahl im Gemeinwesen zu erreichen, um Freunde zu besuchen, ins Schwimmbad zu gehen oder an kulturellen Veranstaltungen teilzunehmen.

Havemann hat diesen Aspekt ebenfalls aufgegriffen und ein us-amerikanisches Kursprogramm zur Vorbereitung auf Alter und Ruhestand adaptiert (vgl. Havemann/Michalek 1998). Dieses Erwachsenenbildungsangebot unter dem Motto "Selbstbestimmt älter werden" bietet in mehrteiligen Lehrgängen ein Fähigkeitstraining für Menschen mit geistiger Behinderung und für ihre Begleiterinnen und Begleiter. Auch das Buch "So möchte ich wohnen!" (1998) von Susanne Göbel stellt eine Adaption eines amerikanischen Programms zum Training von Selbstbestimmungsfähigkeiten dar.

(2) Selbstbestimmung als innerer Antrieb zu autonomem, selbstgesteuerten und selbstbewusstem Verhalten (im Sinne von "Empowerment" und "sich seiner selbst bewusst sein")

In der deutschsprachigen Diskussion hat allerdings bislang ein anderer Gesichtspunkt der Selbstbestimmung, über den selbstverständlich auch in den USA diskutiert wird, eine herausragende Rolle gespielt. Selbstbestimmung wird dabei als ein innerer Antrieb zu autonomem Verhalten, zur Selbstregulierung, zu individuellem (psychischem) "Empowerment" und zur Selbstverwirklichung aufgefasst. Mit dieser psychologischen Konzeptualisierung der Selbstbestimmung geht meist die Auffassung einher, dass Selbstbestimmung eher als persönliches Charakteristikum denn als zu entwickelnde Kompetenz aufzufassen ist. "Ich weiß doch selbst, was ich will!" - das Motto der Duisburger Selbstbestimmungstagung (1994) - bringt auf den Punkt, dass hier auf bereits vorhandene Bedürfnisse und Entscheidungskompetenzen Bezug genommen wird. Dass auch Bedürfnisse größtenteils erst entwickelt werden müssen und dass Bedürfnisse auch manipulierbar sind, gerät dabei in der Regel weniger in den Blick (vgl. Lindmeier 1999).

(3) Selbstbestimmung als Form menschlicher Selbstgestaltung, die sich nur im Rahmen kommunikativer und sozialer Beziehungen vollzieht

Dass sich Selbstbestimmung drittens nur im Rahmen kommunikativer und sozialer Beziehungen vollziehen kann, wird im deutschsprachigen Raum erst seit kurzer Zeit thematisiert. In diesem Punkt könnten wir von der us-amerikanischen Diskussion besonders viel lernen, weil man dort insbesondere in der Schwerstbehindertenpädagogik plausibel herausgearbeitet hat, dass jede Form der intentionalen Kommunikation eine basale Form der Selbstbestimmung darstellt. Für Menschen mit schweren geistigen und mehrfachen Behinderungen wird diese intentionale Kommunikation allerdings erst bedeutungsvoll, wenn die Umwelt diese Kommunikationsangebote in adäquater Form beantwortet. Unter diesem Gesichtspunkt wird mittlerweile auch in Deutschland diskutiert, ob Verhaltensauffälligkeiten von Menschen mit geistiger Behinderung als Ausdruck von Selbstbestimmung interpretiert werden können (vgl. Theunissen 2001). Problemverhalten wäre dann als Kommunikationsversuch zu deuten, der zur Kontrolle der Umwelt dient.

Die soziale Komponente der Selbstbestimmung richtet das Augenmerk auf die Beziehungen der betroffenen Person: Sowohl der Aufbau von Vertrauen und partnerschaftlicher Kommunikation im Verhältnis zu professionellen Helfern als auch die Schaffung von Gelegenheiten zum Aufbau weiterer sozialer Beziehungen wird zur Aufgabe Professioneller, die die Realisierung von Selbstbestimmung unterstützen wollen.

(4) Selbstbestimmung als ein politisches Recht, als Bürgerrecht, das jedem Menschen unabhängig vom Grad seiner Behinderung zusteht

An der us-amerikanischen Fachdiskussion über ein selbstbestimmtes Leben von Menschen mit geistiger Behinderung fällt außerdem immer wieder auf, dass Selbstbestimmung als ein politisches Recht, als Bürgerrecht aufgefasst wird, das jedem Menschen unabhängig vom Grad seiner Behinderung zusteht. Durch die People-First-Initiativen, die in den letzen Jahren entstanden sind, hat diese Auslegung der Selbstbestimmung unter den Schlagworten Selbstvertretung und Selbstorganisation auch in Deutschland Verbreitung gefunden (vgl. Göbel 1997; Windisch/Kniel 2000; Kniel/Windisch 2001; Rock 2001). Durch das bundesweite Modellprojekt "Wir vertreten uns selbst!", das vom Bundesministerium für Gesundheit gefördert wurde, ist die Förderung der Selbstorganisation und -vertretung von Menschen mit Lernschwierigkeiten in den letzten drei Jahren auch politisch unterstützt worden (vgl. Engelmeyer/Kniel/Windisch 2000). Schwer beeinträchtigte und alte Menschen mit geistiger Behinderung profitieren allerdings bislang kaum von dieser Entwicklung. Außerdem wird die politische Auslegung der Selbstbestimmung in Deutschland häufig in einen Gegensatz zu ihrer psychologischen und pädagogischen Konzeptualisierung gebracht. So warnen beispielsweise führende Aktivisten der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung, der vor allem körperlich beeinträchtigte Menschen angehören, immer wieder eindringlich vor einer Pädagogisierung ihrer politischen Ziele (vgl. Steiner 1999). Diese Ideologisierung der Diskussion schadet unseres Erachtens den schwer beeinträchtigten und alten Menschen mit geistiger Behinderung mehr, als sie den übrigen Menschen mit geistiger Behinderung nützt.

(5) Selbstbestimmung als Aufforderung zur Veränderung des Systems der Hilfen für Menschen mit geistiger Behinderung

Soll Selbstbestimmung zur Leitidee des Hilfesystems erhoben werden, brauchen wir eine Veränderung im Denken, hinsichtlich unserer Werte und unserer Kultur, und eine Form der Unterstützung, die die Stimme der betroffenen Person in den Vordergrund rückt. Diese Veränderung muss in den Strukturen des Hilfesys-tems ausgedrückt sein. Beispielsweise muss die Hilfeplanung unter maßgeblicher Beteiligung des betroffenen Menschen durchgeführt werden. Seine Wünsche und Vorstellungen dürfen nicht den vorhandenen Möglichgkeiten angepasst werden, sondern es müssen Hilfen konzipiert werden, die seinen Wünschen entsprechen. Mit der Verankerung des persönlichen Budgets im SGB IX ist die gesetzliche Grundlage in der Bundesrepublik Deutschland diesbezüglich stark verbessert worden, eine wirkliche Umorientierung des Hilfesystems steht aber noch aus. Eine fundamentale Voraussetzung der Selbstbestimmung ist also unter diesem Gesichtspunkt, dass alle Erwachsenen mit geistiger Behinderung Kontrolle über ihr eigenes Leben erlangen, und dass nicht die Professionellen entscheiden, was für Menschen mit geistiger Behinderung und ihre Angehörigen das Beste ist (vgl. hierzu Metzler 1998; Drolshagen 1998).

Der nebenstehende Cartoon, auf den wir bei einer Reise nach Schottland gestoßen sind, illustriert die Bedeutung dieses fünften Gesichtspunktes und führt eine ausschließlich pädagogisch-psychologische Konzeptualisierung der Selbstbestimmung ad absurdum.

Abb.1: Cartoon

Beschreibung des Bildes für Braillezeilenleser: Die Zeichnung stellt eine Frau im Gespräch mit einem Mann dar. Nachfolgend der Inhalt des Gespräches:

Mann: "Wahlmöglichkeiten? Jeder, der hier herkommt, hat Wahlmöglichkeiten. Ich kann nicht sehen, was daran besonderes sein soll."

Frau: "Ich glaube, sie meinen wirkliche Wahlmöglichkeiten."

Mann: "Was meinst du damit - wirkliche Wahlmöglichkeiten?"

Frau: "Na ja, Wahlmöglichkeiten, die eine Bedeutung haben."

Mann: " Ach so, wie Erbsen oder Karotten oder Kaffe oder Marmelade?"

Frau: "Nein, Wahlmöglichkeiten, die eine Bedeutung haben."

Mann: "Wie einen Kunstkurs machen oder keinen machen?"

Frau: "Na ja, das ist eigentlich keine Wahlmöglichkeit. Es müsste eine Wahlmöglichkeit zwischen zwei Dingen sein, die okay sind, nicht zwischen etwas und nichts."

Mann: "So etwa, einen Kunstkurs oder einen Theaterkurs machen?"

Frau: "Ja, das ist schon besser, aber noch besser wäre es so: Zur Tagesstätte mit dem Fahrdienst oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder Kunst- oder Theaterkurs an der Volkshochschule oder Kunstkurs in der Tagesstätte oder ein bezahlter Arbeitsplatz."

Mann: "Oder zuhause bei deiner Familie zu wohnen oder auszuziehen und mit einem Freund zusammen zu leben."

Frau: "Genau, oder in der Fabrik oder im Büro zu arbeiten."

Mann: "Ich hab's begriffen. Es geht um die Art von Wahl, die Leute treffen würden, die nicht in die Tagesstätte kommen."

Frau: "Exakt."



[1] Der in den USA gebräuchliche Begriff der "developmental disabilities" (Entwicklungsbehinderungen) umfasst auch geringe kognitive Beeinträchtigungen, die im deutschsprachigen Raum als "Lernbehinderung" bezeichnet werden.

Umsetzung der Selbstbestimmungsaspekte in der Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung

Wie lässt sich nun Selbstbestimmung unter Berücksichtigung der aufgezeigten Gesichtspunkte in die Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung übertragen?

In der us-amerikanischen Literatur wird bei den Überlegungen zur Umsetzung der Leitidee der Selbstbestimmung die Betreuung von Menschen mit gravierenden intellektuellen Beeinträchtigungen oder intellektuell beeinträchtigten Menschen mit herausforderndem Verhalten (challenging behavior) besonders berücksichtigt, denn sie ist eine Bewährungsprobe für die Tragfähigkeit der Leitidee der Selbstbestimmung.

Nach Bambera et al. (1998) sind bei allen Bemühungen um die Verbesserung der Selbstbestimmungsmöglichkeiten vier Komponenten der Ausrichtung professionellen Handelns zu beachten (vgl. Tabelle 1):[2]

  • die genaue Kenntnis der Person und ihrer Vorlieben und Abneigungen,

  • die Erarbeitung eines Lebensstils, der Entscheidungsmöglichkeiten einschließt,

  • die Vermittlung von Kompetenzen, und

  • die Schaffung eines unterstützenden Kontextes.

Komponenten der Realisierung von Selbstbestimmung (nach Bambera et al. 1998)

Tabelle 1: Komponenten der Realisierung von Selbstbestimmung (nach Banbera et al. 1998)

1. Bestandteil der Unterstützung

2. Zweck

3. Vorgehensweise

(1) Kennen lernen der Person

(1) Kennen lernen des unterstützten Menschen: Vorlieben / Abneigungen; Ziele, Werte, Träume für die Zukunft Kommunikation, kognitiver Stil, Fähigkeiten und Fertigkeiten; derzeitige Möglichkeiten und Einschränkungen bei der Entwicklung des bevorzugten Lebensstils.

(1) Mit dem Menschen Zeit verbringen, zuhören und zusehen; Sie / ihn nach ihren / seinen Vorlieben und Zielen fragen; Formelle und informelle "assessements" von Fähigkeiten, Interessen und Vorlieben durchführen; Freunde und Angehörige befragen; Lebensstil-Planungstreffen durchführen (ähnlich "Zukunftskonferenzen", persönlicher Zukunftsplanung)

(2) Erarbeitung eines Lebensstils, der viele Wahlmöglichkeiten einschließt

(2) Entwicklung eines Lebensstils, der den Präferenzen der / des Bestreffenden entspricht, langfristig und dauerhaft Entscheidungsoptionen, Lernchancen und persönliche Autonomie ermöglicht

(2) Nutzung eines Aktionsplans zur Etablierung des bevorzugten Lebensstils; Sicherstellen von Möglichkeiten täglicher Entscheidungen bei allen Aktivitäten; Einführen neuer Erfahrungen und Aktivitäten sowie verständlicher Entscheidungsmöglichkeiten; Anpassung der physischen Umgebung zur Vergrößerung des Handlungsspielraums.

(3) Vermittlung von Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Selbstbestimmung

(3) Förderung von Fähigkeiten und Fertigkeiten, die für eine größere Kontrolle über das eigene Leben nötig sind

(3) Förderung von Fähigkeiten in den Bereichen:

- Kommunikation;

- Treffen von Entscheidungen;

- Problemlösung;

- Vertretung der eigenen Interessen;

- Persönliche Autonomie

(4) Schaffung eines verlässlichen und unterstützenden sozialen Kontextes

(4) Gewährung dauerhafter Unterstützung und Ermutigung zu selbstbestimmten Handlungen

(4) Aufbau von Vertrauen, u. a. durch das Zuhören und die Berücksichtigung der geäußerten Wünsche; Stellvertretendes Handeln durch Interpretation und Neustrukturierung von Situationen, Anbieten von Alternativen oder Lösungen für Probleme; Emotionale Unterstützung und Ermutigung, Rückmeldung und Hilfe bei der Erfassung von Konsequenzen des eigenen Handelns, Stellvertretendes Handeln im Sinne der unterstützten Person; Förderung von Beziehungen zu anderen Personen.

Die genaue Kenntnis der Person und ihrer Vorlieben und Abneigungen

Das Kennenlernen der Person erhält einen zentralen Stellenwert, da es nicht darum geht zu entscheiden, welches Konzept, welcher Arbeitsbereich am besten passt, sondern um die individuelle Entwicklung einer Tagesstrukturierung, oder besser: eines Lebensstils. Teil des Kennenlernens können auch formelle Tests zur Feststellung von Fähigkeiten und Fertigkeiten sein, aber ebenso teilnehmende Beobachtung in verschiedenen sozialen Bezügen, informelle Planungstreffen, die durch die Person selbst, einen Assistenten oder Familienmitglieder strukturiert werden. Hierzu sind verschiedene Planungsmethoden entwickelt worden, die Freiraum für die Ziele und Wünsche der betroffenen Person schaffen sollen, auf die wir aber an dieser Stelle aber nicht näher eingehen können (vgl. z. B. Boban/Hinz 1999; van Kan/Doose 2000). Im anglo-amerikanischen Raum werden sie unter dem Oberbegriff "person centred planing" - personzentrierte Planung - zusammengefasst.

Die Erarbeitung eines Lebensstils, der Entscheidungsmöglichkeiten einschließt

Bei der Entwicklung eines Lebensstils, der reich an Entscheidungs- und Wahlmöglichkeiten ist, sollte vermieden werden, dass es - wie im Cartoon - nur um "Erbsen oder Karotten" geht. Hierbei ist es von zentraler Bedeutung, den einzelnen Menschen im Blick zu behalten und nicht, bedingt durch gruppengegliedertes Wohnen und ebensolche tagesstrukturierenden Angebote, gruppenbezogene Planung für den Einzelnen lediglich passend zu machen. Beide Komponenten können nur realisiert werden, wenn es gelingt, sich von der Vorstellung freizumachen, Selbstbestimmung sei für diesen Personenkreis nicht möglich, zumindest nicht hinsichtlich wichtiger Entscheidungen. Beide Komponenten stehen in Beziehung zu mehreren der oben genannten Selbstbestimmungs-aspekte, nämlich der Annahme von Selbstbestimmung als innerem Antrieb und der Bedeutung kommunikativer und sozialer Fähigkeiten für die Realisierung von Selbstbestimmung.

Die Vermittlung von Kompetenzen

Die Vermittlung von Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Selbstbestimmung war hierzulande längere Zeit mit ambivalenten Gefühlen auf Seiten der Professionellen verbunden: einerseits die Erfahrung, dass Selbstbestimmung auf bestimmte Kompetenzen angewiesen ist (des Ausdrucks von Präferenzen, der Einschätzung von Situationen), andererseits die Sorge, hier wieder fördernd, fordernd und letztlich bevormundend zu agieren. Eine Lösung kann in der konsequenten Anwendung der Prinzipien der allgemeinen Erwachsenenbildung liegen, die in Einrichtungen der Behindertenhilfe noch immer nur teilweise berücksichtigt werden: Freiwilligkeit, Mitbestimmung, Wahlfreiheit und eine durchgehende Teilnehmerorientierung. Die Konsequenzen auch für tagesstrukturierende Angebote wären weitreichend. In Situationen, die den Mangel bestimmter Kompetenzen für den Betroffenen spürbar werden lassen, ist zudem zu erwarten, dass sich in vielen Fällen das Interesse an einem Erwerb von Kompetenzen entwickelt. In Bezug auf komplexe Fähigkeiten wie das Treffen situationsadäquater Entscheidungen ist aber zu erwarten, dass sehr schwer behinderte Menschen dauerhaft auf die gleich folgende vierte Komponente angewiesen bleiben. In dieser dritten Komponente lässt sich klar der zuvor am Anfang genannte Gesichtspunkt von Selbstbestimmung als einem Bündel von Fähigkeiten und Fertigkeiten, die auch gelernt werden müssen und gelehrt werden dürfen, erkennen.

Die Schaffung eines unterstützenden Kontextes

Die vierte Komponente muss die dritte ergänzen: Wir alle sind auf einen verlässlichen sozialen Kontext angewiesen, auch wenn wir seine Bedeutung häufig nur in Krisensituationen tatsächlich wahrnehmen. Schwer behinderte und von Kompetenzverlust betroffene alte Menschen mit geistiger Behinderung haben in weit geringerem Maß einen verlässlichen sozialen Kontext erlebt: Klinikaufenthalte, früher Heimaufenthalt oder häufiger Heimwechsel, die meist unzureichende Betreuung der heute alten Generation in den 50er und 60er Jahren haben sie ein unsicheres, gefährdetes Leben führen lassen. Sie sind in besonderer Weise auf emotionale Unterstützung und auf Unterstützung bei der Strukturierung neuartiger Situationen angewiesen. In dem Maß, in dem Kompetenzen zur Selbstbestimmung (noch) nicht aufgebaut wurden oder auch dauerhaft nicht erreichbar scheinen, ist Unterstützung bis hin zum stellvertretenden Handeln notwendig. Es muss aber rückgebunden sein an die zuvor beschriebenen Komponenten: das dauerhafte Bemühen, den betroffenen Menschen besser kennenzulernen, Standardlösungen zu vermeiden und Kompetenzen weiter aufzubauen, um das allmähliche "Sicheinschleichen" von unangemessener Fremdbestimmung verhindern zu helfen.

Diese vierte Komponente steht wieder in Beziehung zum dritten Aspekt der Selbstbestimmung, der Einbindung in soziale und kommunikative Bezüge.

Der vierte und fünfte Aspekt der Selbstbestimmung, nämlich Selbstbestimmung als Bürgerrecht und als Aufforderung zur Veränderung des Hilfesystems, werden von Bambera und ihren Kolleg/innen nicht in einzelnen Komponenten dargestellt, sondern in die Ausrichtung der gesamten Tabelle aufgenommen. Die Arbeit mit Einzelnen ist so verstanden auch immer Lobbyarbeit, politische Arbeit, und viele von uns verstehen ihr berufliches Handeln auch dementsprechend. Unseres Erachtens ist es günstig, mit den konkreten, sichtbaren Dingen anzufangen, die übergeordneten Gesichtspunkte aber mitzubedenken und durch kontinuierliche konzeptionelle Arbeit und Verbandsarbeit zu begleiten und günstigenfalls abzusichern.



[2] Diese Überlegungen sind leichter verständlich im Kontext des "Supported living" ("unterstütztes Leben"), wir möchten daher auf unseren Beitrag zu diesem Thema in dieser Zeitschrift verweisen (Jg. 2001), da wir das Konzept aus Platzgründen nicht weiter ausführen können.

Ein Fallbeispiel

(aus Bambera et al. 1998)

Denise ist eine Frau, bei der eine mittelgradige geistige Behinderung diagnostiziert wurde. Sie zog mit 38 Jahren in ihre erste eigene Wohnung, wo sie bei Aktivitäten des täglichen Lebens und bei Aktivitäten außerhalb ihrer Wohnung ("community participation") durch ihre Mitbewohnerin Jenny und zwei Assistent(inn)en unterstützt wurde. Die Assistent(inn)en waren in Teilzeit beschäftigt. Vor dem Umzug hatte Denise in einem kleinen Wohnheim mit fünf anderen Erwachsenen gelebt und in einer Putzkolonne gearbeitet, die Büros und Häuser reinigte. Während der letzten Jahre im Wohnheim war Denise zunehmend unzufrieden mit ihrer Wohn- und Arbeitssituation geworden, was sich durch häufiges selbstverletzendes Verhalten und die Zerstörung von Gegenständen äußerte. In der Vergangenheit war das herausfordernde Verhalten von Denise mit dem Umzug in ein anderes Wohnheim oder dem Verlust der Arbeit oder des Tagesstättenplatzes beantwortet worden. Denise hatte bereits in mehr als zehn Wohnheimen gelebt.

Ausgehend von Denise' Unzufriedenheit erarbeiteten mehrere Mitarbeiter(inn)en des Wohnheims und der "agency"[3] neue Wohnbedingungen für Denise. Während der Planungsphase versuchten sie durch häufige Treffen eine Balance von Denises präferiertem Lebensstil (zum Beispiel Wohnort, Aussehen der Wohnung, Mitbewohner(inn)en), ihrem Unterstützungsbedarf und den vorhandenen Möglichkeiten zu finden. Denises Präferenzen wurden durch Gespräche über Vorlieben und Abneigungen, die Besichtigung von Wohnungen und das Kennenlernen mehrerer potentieller Mitbewohner(inn)en herausgefunden, die sich auf Zeitungsannoncen gemeldet hatten. Denise weigerte sich allerdings, an Planungstreffen teilzunehmen. Vielleicht assoziierte sie sie mit negativen Ereignissen in ihrem Leben, jedenfalls machten sie ihr Sorgen und schlechte Laune.

Im Gegensatz zu allen Erwartungen waren Denise' erste zehn Monate in der neuen Wohnung extrem schwierig. In der ersten Woche zerbrach sie jede Fensterscheibe der Wohnung, wollte zurück ins Wohnheim und "schmiss" ihren Job. Das selbstverletzende Verhalten dauerte über Monate an. Abgesehen von Essengehen in "Fast-Food-Restaurants" hatte sie kein Interesse, die Wohnung zu verlassen. In Auseinandersetzung mit diesen Herausforderungen versuchten die Mitarbeiter(inn)en, Denise besser kennenzulernen und zu verstehen, um im Idealfall ihre Frustrationen und Ängste voraussehen zu können, ihr Kontrolle über ihr tägliches Leben zu vermitteln und ihr zu helfen, sich in ihrer Wohnung sicher und wohl zu fühlen.

Das Verständnis von Denise' Verhalten erforderte die genaue Beobachtung ihres non-verbalen Verhaltens vor problematischen Ereignissen. Denise konnte zwar in einfachen Sätzen sprechen, aber nur schwer Gefühle wie Ärger oder Angst artikulieren. Ein aussagekräftiges Ereignis geschah an einem Abend, an dem Denise geplant hatte, Hackbraten zu Abend zu essen, dann aber plötzlich das noch rohe Hackfleisch aus dem Ofen riss und durch die Wohnung warf. Es war klar, dass Denise keinen Hackbraten mehr essen wollte. Anscheinend wusste sie nicht, wie sie diesen Sinneswandel kommunizieren sollte, oder sie hatte Angst, ihre Assistentin zu enttäuschen. Es würde Zeit brauchen, die langjährige Erfahrung beschränkter Kontrolle über das eigene Leben zu überwinden.

Die Assistenten arbeiteten lange daran, Denise deutlich zu machen, dass es ihre Aufgabe sei, Denise Entscheidungen zu ermöglichen. Sie erklärten ihr, dass Denise ihre Beschäftigung wieder aufnehmen könne, wenn sie soweit sei, und dass sie ins Wohnheim zurückziehen könne, wenn sie wolle (nach einigen Besuchen entschied sie, in der Wohnung zu bleiben). Um ihre Entscheidungen greifbarer zu machen, wurde die Nutzung eines Tages- und Wochenplanes mit Bildern mit ihr erarbeitet. Aktivitäten, die Denise mochte (wie im Restaurant essen, mit Freunden telefonieren, ins Einkaufszentrum gehen), und die sie tun musste (wie Wäsche waschen und zur Bank gehen) wurden mit Bildern dargestellt. Zur Unterstützung bei der Planung und Entscheidung zeigten die Assistenten verschiedene Möglichkeiten, Einschränkungen und Konsequenzen auf (z. B.: "Wenn Sie Montag zur Bank gehen, haben Sie vielleicht nicht mehr genug Geld für das Wochenende, daher sind vielleicht Donnerstag oder Freitag bessere Tage!"). Einmal aufgestellt, erhöhte der Kalender die Vorhersagbarkeit der Ereignisse für Denise und diente als "Unterstützungsvertrag" zwischen ihr und den Assistenten. Während des gesamten Tages wurden weitere Möglichkeiten zur Entscheidung, einschließlich des Rechts, den Plan umzuwerfen, Aktivitäten zu beenden oder zu verändern, für Denise deutlich gemacht. Dies geschah auf der Grundlage der sich entwickelnden Interessen und Wünsche von Denise, soweit sie für die Mitarbeiter/innen sichtbar waren.

Weitere Lernziele für Denise betrafen die Kommunikation bezüglich ihrer Wünsche und Befürchtungen und ihre größere Unabhängigkeit in den Bereichen, die ihr besonders wichtig waren. Die Förderung der Kommunikation geschah situativ durch die genaue Beobachtung von Denise' verbalen und nonverbalen Ausdrucksformen von Besorgnis (a), der Ergründung möglicher Auslöser (b) und, wenn diese festgestellt werden konnten, ihrer Benennung (c). Zum Beispiel sagte ihre Mitbewohnerin, wenn Denise angespannt wirkte: "Du wirkst besorgt. Macht dir etwas Sorgen? Könnte es ... sein?" Die Suche nach Ursachen konnte manchmal mehrere Stunden oder sogar Tage dauern, aber wenn sie richtig benannt wurden, bestätigte Denise die Interpretation durch Wiederholung ("Ich mache mir Sorgen! Jenny geht weg!"). Durch die durchgehende Artikulation, Benennung und Reaktion auf Denise' Sorgen konnte sie sie zunehmend selbst artikulieren.

Zur Vergrößerung ihrer Unabhängigkeit lernte Denise, mit Hilfe von Bildern Freunde und Assistenten selbst anzurufen, einfache Mahlzeiten zu kochen und ohne Hilfe in örtlichen Restaurants zu essen. Seit sie Bildkarten zur Bezeichnung ihrer Ziele und Wünsche benutzen konnte, nahm sie sehr aufmerksam an ihren Planungstreffen teil.

Mit der Zeit wurden ihre Assistent(inn)en immer mehr zur wirklichen Unterstützung für Denise, indem sie ihr schwierige Lebenssituationen zu interpretieren und zu lösen halfen. Denise zerkratzte ihr Gesicht sehr stark, als sie die ärztliche Mitteilung erhielt, sie sei an Diabetes erkrankt und müsse Diät halten. Sie meinte, sie könne ihre Lieblingsessen nicht mehr essen und werde, wie ein Freund aus dem Wohnheim, sterben. Das von den Assistent(inn)en angebotene Treffen mit einem Diätberater ergab, dass keine Lebensgefahr für Denise vorlag. Außerdem wurde für jedes "verbotene" Nahrungsmittel eine Alternative gefunden, die Denise ausprobieren konnte (beispielsweise Diätcola oder Eistee statt normaler Cola), und Denise wurde bei der Entscheidung für gesunde Lebensmittel ermutigt. Da viele Freizeitaktivitäten von Denise in Zusammenhang mit Essen standen, wurde das Ausprobieren von weiteren Aktivitäten wie Kino, ins Einkaufszentrum bummeln gehen oder Kursen im kreativen Bereich unterstützt. Denise war eher bereit, neue Aktivitäten auszuprobieren, sobald sie sicher war, dass sie jederzeit aufhören konnte ("Ich muss aber nicht, wenn ich nicht will, oder?").

Der Umzug von Denise in ihre Wohnung liegt jetzt drei Jahre zurück. Es gab einige Personalwechsel bei den Assistenten, aber Denise lebt noch immer mit ihrer Mitbewohnerin Jenny zusammen, die inzwischen eine gute Freundin ist. Denise arbeitet jetzt ehrenamtlich bei "Essen auf Rädern" und hat eine Teilzeitbeschäftigung als Bürokraft. Denise bat um Hilfe bei der Suche nach einer Beschäftigung, als das Herumhängen in der Wohnung sie zu langweilen begann. Denise hat mehr Eigeninitiative entwickelt, nimmt an verschiedenen Aktivitäten in der Gemeinde teil und entwickelt Freundschaften zu weiteren Personen als den bezahlten Unterstützungspersonen. Auf Vorschlag eines Freundes nimmt sie an einer Selbstvertretungsgruppe teil, die sie bei der Wiederaufnahme von Kontakten zu ihrer Familie und alten Freunden unterstützt, die sie durch ihre häufigen Umzüge verloren hat. Seit die Verbindung zwischen dem Verlust von Kontrolle und frustrierenden Kommunikationssituationen einerseits und selbstverletzendem Verhalten und dem Zerschlagen von Fensterscheiben andererseits geklärt worden ist, sind diese Ereignisse in Denise' Leben sehr selten geworden. Wenn sie geschehen, sind sie ein dringendes Signal für die Assistent(inn)en, dass sie möglicherweise Denise' Signale missverstanden oder sie bevormundend und anmaßend behandelt haben.



[3] Es handelt sich wahrscheinlich um die Institution, die für die Planung bzw. das case management für Denise zuständig ist.

Konsequenzen für das professionelle Handeln

Bereits einleitend wurde darauf hingewiesen, dass viele Professionelle durch das Leitbild der Selbstbestimmung verunsichert sind: viele von ihnen halten es für wichtig, wissen aber nicht genau, wie es umgesetzt werden kann, insbesondere vor dem Hintergrund institutioneller Vorgaben. Wir hoffen, einige Anregungen zur weiteren Diskussion gegeben zu haben, wobei uns besonders die folgenden Punkte wichtig sind:

Teilung von Verantwortung: Selbstbestimmung bedeutet die Übernahme von mehr Verantwortung und die Zumutung der Selbständigkeit für alle Beteiligten. Erfahrungen wie diejenigen von Denise nach ihrem Umzug sollten durch eine gute gemeinsame Planung so weit wie möglich vermieden werden. Ihr Beispiel zeigt aber, dass sie nicht immer vermeidbar sind. Solche Ereignisse dürfen nicht als "Schuld" der Professionellen angesehen werden, denn wir alle - Menschen mit Behinderung, Professionelle, Angehörige und Freunde - sind in diesem Feld Lernende, die nach neuen Umgangsformen und Kommunikationsformen suchen. Missverständnisse sind auf diesem Weg manchmal unvermeidbar und müssen, wie im Beispiel von Denise, als Chance zu lernen begriffen werden. Die Aufgabe von Denise bestand u. a. darin, neues Vertrauen in ihre Assistenten zu entwickeln und aushalten zu lernen, dass ihre Entscheidungen und Wünsche nicht immer konform waren mit den Vorstellungen der Assistenten. Die Aufgabe ihrer Mitbewohnerin und der Assistenten bestand darin, ihr dies zu vermitteln, ihr bei der Antizipation von Entscheidungen und der Kommunikation darüber zu helfen und selbst Phantasie, Neugier und Einfühlungsvermögen weiterzuentwickeln, um ihre Signale zu verstehen.

Den Menschen kennenlernen: Ein weiterer wichtiger Punkt betrifft die Veränderung dessen, was wir als "wichtige Arbeit" ansehen. Noch immer steht das konkrete Handeln im Mittelpunkt des professionellen Selbstverständnisses: weil es "sichtbar" ist, weil es konkret ist, aber auch durch die Vorgaben der Kostenträger.

In allen Veröffentlichungen zur personenzentrierten Planung hat das "Kennenlernen der Person", das "Zeitverbringen mit dem Menschen" einen sehr hohen Stellenwert, da es die Grundlage für den weiteren gemeinsamen Arbeitsprozess darstellt.

Eine Veränderung unseres Selbstverständnisses ist hier dringend erforderlich, allerdings kann dies nicht jeder Professionelle für sich leisten: Viele Betreuer/innen setzen sich heute mit dem Thema Selbstbestimmung auseinander (vgl. Rock 2001). Ihre individuelle Auseinandersetzung muss aber stärker als bisher begleitet werden durch einen Prozess der Auseinandersetzung auf der Ebene des Teams, und die strukturellen Vorgaben müssen dabei ebenfalls bedacht werden.

Veränderungen des Hilfesystems: Der fünfte der oben ausgeführten Punkte thematisiert explizit Veränderungsbedarf auf einer übergeordneten Ebene: Gesetze, Rahmenverträge, informelle Regelungen und Absprachen zwischen Kostenträgern und Trägern von Angeboten müssen ebenfalls darauf hin geprüft werden, ob sie ein Leben in Selbstbestimmung erleichtern oder erschweren - und wir müssen darauf hin arbeiten, dass sie dementsprechend geändert werden. Es ist zu erwarten, dass mehr Menschen ein Leben in kleinen, einer Wohngemeinschaft ähnlichen Gruppen, allein bzw. mit Partner/in oder mit nicht behinderten Mitbewohner/innen leben möchten, als heute realisiert ist: Mehr Selbstbestimmung bedeutet in diesem Zusammenhang, dass künftige Planungen von diesen Wünschen ausgehen müssen und beispielsweise keine Mindestplatzzahlen von Wohnheimen festgelegt werden dürfen, die diesen Wünschen deutlich widersprechen.

Literatur

Bambara, L. M; Cole, C. L.; Koger, F.: Translating Self-Determination Concepts into Support for Adults With Severe Disabilities. In: JASH 23 (1998) 1, 27-37

Boban, I.; Hinz, A.: Persönliche Zukunftskonferenzen. Unterstützung für individuelle Lebenswege. In: Behinderte (1999) 4/5, 13-23

Brown, F. et al: Self-Determination for Individuals With the Most Severe Disabilities: Moving Beyond Chimera. In: JASH 23 (1998) 1, 17-26

Kan, P. van; Doose, S.: Peer Counseling & Persönliche Zukunftsplanung. Kassel 2000 (= Schriftenreihe zum selbstbestimmten Leben Behinderter, Bifos e. V. Bd. 11)

Drolshagen, B.: Selbstbestimmung und Hilfebedarf. Ein unlösbarer Widerspruch oder eine alternative Lebensform? In: Soziale Arbeit (1998), 10-16

Engelmeyer, E.; Kniel, A.; Windisch, M: Zwischenbericht der Begleitforschung zum bundesweiten Projekt "Förderung der Selbstorganisation und Selbstvertretung von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen". Kassel: Universität-Gesamthochschule Kassel, Fachbereich Sozialwesen 2000

Evangelische Stiftung Alsterdorf; Bundesverband evangelische Behindertenhilfe e.V. (Hrsg.): Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung. Hamburg 2001

Göbel, S.: "Wir vertreten uns selbst!" Ein Arbeitsbuch. Kassel 21997 (=Schriftenreihe zum selbstbestimmten Leben Behinderter, Bifos e. V. Bd. 5)

Göbel, S.: So möchte ich wohnen! Wie ich selbst bestimmen kann, dass ich mich in meinen vier Wänden wohlfühle. Marburg 1998

Havemann, M. J.; Michalek, S.: Selbstbestimmt älter werden - ein Lehrgang für Menschen mit geistiger Behinderung. Dortmund: Universität Dortmund, Fachbereich Sondererziehung und Rehabilitation 1998

Hughes, C.; Agran, M.: Introduction to the Special Section: Self-Determination: Signaling a Systems Change? In: JASH 23 (1998) 1, 1-4

Kniel, .; Windisch, M. (Hrsg.): "Wir vertreten uns selbst!" Entwicklung und Unterstützung von People-first-Gruppen in Deutschland. Kassel 2001

Krüger, C.: Supported Living: "Ich bin über 40 Jahre alt. Dies ist mein eigener Schlüssel. Zum allerersten Mal habe ich einen eigenen Schlüssel". In: Geistige Behinderung 39 (2000), 112-124

Lindmeier, C.: Selbstbestimmung als Orientierungsprinzip der Erziehung und Bildung von Menschen mit geistiger Behinderung - kritische Bestandsaufnahme und Perspektiven. In: Die neue Sonderschule 44 (1999), 209-224

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Die Autorin

Dr. Bettina Lindmeier, geb. 1967, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sonderpädagogik, Prävention und Rehabilitation an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.

Postfach 2501

D-26111 Oldenburg

Der Autor

Prof. Dr. Christian Lindmeier, geb. 1961, Diplompädagoge; Professor für Allgemeine Sonderpädagogik am Institut für Sonderpädagogik der Universität Koblenz, Abt. Landau.

Xylandstr. 1

D-76829 Landau

Quelle

Bettina Lindmeier, Christian Lindmeier: Professionelles Handeln in der Arbeit mit geistig behinderten Erwachsenen unter der Leitidee der Selbstbestimmung

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft. Nr. 4/5/2002; Reha Druck Graz, S.63-74

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 29.03.2006

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