Auf der Suche nach einem veränderten Bildungsbegriff

Autor:in - Ursula Stinkes
Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 3/99. Thema: Zumutungen im pädagogischen Feld Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (3/1999)
Copyright: © Ursula Stinkes 1999

Auf der Suche nach einem veränderten Bildungsbegriff

Nachfolgende Überlegungen sind einem Bildungsbegriff auf der Spur, der eine "Bildung für alle" grundlegen möchte. Ausgehend von der "postmodernen" Kritik am "modernen" (auch neuhumanistisch tradierten), überforderten Bildungssubjekt, das sich selbst als ausschließliches, einer Welt gegenüberstehendes Denkwesen konzipiert, wird ein veränderter Bildungsbegriff skizziert. Der hier skizzierte Einbezug der Leiblichkeit des Menschen in das Nachdenken über das Bildungssubjekt ist folgenreich. Bildung als Selbstgestaltung kann nicht länger einen Akt der Selbstreflexion meinen, sondern versteht darunter einen gemeinsam-geteilten, inter-subjektiven Lebenszusammenhang. Eine erste Annäherung an diese Gedanken wird durch ein Praxisbeispiel versucht.

"Das Erwachen des Subjekts wird erkauft durch die Anerkennung der Macht als Prinzip aller Beziehungen. Gegenüber der Einheit solcher Vernunft sinkt die Scheidung von Gott und Mensch zu jener Irrelevanz herab, auf welche unbeirrbar Vernunft gerade seit der ältesten Homerkritik schon hinwies. Als Gebieter über Natur gleichen sich der schaffende Gott und der ordnende Geist. Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen besteht in der Souveränität übers Dasein, im Blick des Herrn, im Kommando." (Adorno, Horkheimer 1969,12)

In den 60er Jahren etablierte sich die Geistigbehindertenpädagogik als wissenschaftliche Disziplin. Seither bewegt sie sich in einem merkwürdig schmalen, paradoxen Feld zwischen der Not und Nötigung zur Autonomie gegenüber und dem ständigen Rückgriff und Verweis auf theoretische Hilfsanleihen aus der Regelpädagogik. Außerdem war und bleibt sie in Theorie und Praxis belastet durch das historisch verbürgte und über geistigbehinderte Menschen ausgesprochene Verdikt ihrer Bildungsunfähigkeit und ihrem Lebensunwert. Will sie Bildung nicht nur proklamieren, hat sie sich mit den Techniken und Praktiken des Umgangs von Menschen mit geistiger Behinderung auseinanderzusetzen: mit der Ortung ihrer Verbannung auf eigenartig trunkene Narrenschiffe im 15. Jahrhundert, ihrer Einsperrung in niedrige Orte, den ehemaligen Leprosorien vor den Toren der Städte, ihrer systematischen Internierung und damit objektivierenden[1] Betrachtung im ausgehenden 18. Jahrhundert, bei der sie - geordnet in einem Tableau[2] und dadurch ihrer Lebensgrundlage beraubt - als das kontextlose Besondere auftauchen, bis hin zu ihrem Massenmord im 3. Reich.

Das Verdikt der Bildungsunfähigkeit von Menschen mit geistiger Behinderung und die nur ansatzweise verdeutlichte Legitimation ihrer Bildungsfähigkeit innerhalb der Geistigbehindertenpädagogik rührt vom latent wirkenden, neuhumanistisch tradierten Erbe eines Menschenbildes her.

Das Menschenbild des Neuhumanismus bleibt bis heute ein Erbe, das in der Folge zur Ausgrenzung von Menschen mit geistiger Behinderung führt, zur Diskussion um ihre Bildungsfähigkeit und ihren Lebenswert. Denn der hierin grundgelegte Maßstab überfordert den Menschen, weil er seine leiblich-sinnliche Existenz ignoriert und stattdessen seine Vernünftigkeit stilisiert. Eine ‚Bildung für alle' ohne Ausschluß erfordert einen Bildungsbegriff, der ein menschenmögliches Bildungsideal präferiert.

Nachfolgend möchte ich in einem Dreischritt zunächst auf die (moderne) neuhumanistische Traditionslinie in ihren wesentlichen Konturen eingehen, welche den Menschen völlig überfordert und in der Folge scheitern läßt (1). In einem zweiten Schritt soll skizzenhaft aufgezeigt werden, wie der theoretische Suchprozess der Geistigbehindertenpädagogik um den Nachweis der Bildungsfähigkeit von Menschen mit geistiger Behinderung (2) an diesem Erbe scheitern mußte. In einem dritten Schritt wird anhand eines Beispiels ein veränderter Bildungsbegriff skizziert (3).



[1] Der Sturz des Wahnsinns in die Objektivität, seine Beschreibung, beherrscht ihn tiefer und besser als seine alte Versklavung durch die Unvernunft bis zur Renaissance: Der Wahnsinn wird zum Objekt forschender und beschreibender Anschauung im Zusammenhang der Paradigmen der Analyse und Repräsentation.

[2] Das Anlegen von sogenannten ‚Tableaus' meint das Hobby des aufgeklärten Bürgers: die Sammlung und Ordnung von gepreßten und getrockneten Pflanzen und Tieren. Das Tableau symbolisiert für Foucault den Charakter der Wissenschaften im 18. Jahrhundert. "...Anlegung der Pflanzen- und Tiergärten und gleichzeitig der rationalen Klassifizierung der Lebewesen; Beobachtung, Kontrolle und Regulierung des Kreislaufs der Waren und des Geldes und damit auch die Konstruktion eines ökonomischen Tableaus als Grundlage der Bereicherung; Inspektion der Menschen, Feststellung ihrer Anwesenheit und Abwesenheit und Aufstellung eines allgemeinen und beständigen Registers der bewaffneten Kräfte; Aufteilung der Kranken und ihre Absonderung voneinander, sorgfältige Abdichtung des Spitalraumes und systematische Klassifizierung der Krankheiten: bei allen diesen Doppeloperationen hängen beide Elemente eng zusammen: die Aufteilung und die Analyse, die Kontrolle und das Verständis. Das Tableaus ist im 18. Jahrhundert zugleich eine Machttechnik und ein Wissensverfahren." (Foucault (8)1989, 190).

1. Das überforderte Subjekt

Dem tradierten, neuhumanistischen Erbe liegt ein Menschenbild zugrunde, welches für den Menschen mit geistiger Behinderung nicht zu erreichen ist. Das Menschenbild des - aus der Auseinandersetzung mit dem philanthropinistisch-utilitaristischen erwachsenen - tradierten Neuhumanismus beinhaltet, als Bildungsideal eingesetzt, einen Maßstab, an welchem Menschen scheitern müssen. Thesenhaft seien wesentliche Kennzeichen dieses Menschenbildes, an das was heute noch so gerne glauben und welches die Regel[3]- und Heilpädagogik bestimmt, benannt:

  • Universale Höherbildung durch Stilisierung der Vernünftigkeit des Menschen

  • Selbstbildung über den Umweg der Fremdbildung[4]

  • Stilisierung des Subjekts als empirisch-transzendentale Dublette

Gerade die Stilisierung des Subjekts als empirisch-transzendentale Dublette ist jene geschichtlich gewordene Figur, welche erst in der sogenannten "Postmoderne-Diskussion" (Foucault, Baudrillard, Lyotard) als solche skizziert und als Verblendung verworfen wird.

Um nachzuvollziehen wie sich jene Figur, die das Subjekt völlig überfordert, auf die Bildungsdiskussion innerhalb der Geistigbehindertenpädagogik auswirkt, ist es notwendig, der Signatur dieser Figur nachzugehen.

Wie bereits an anderer Stelle[5] aufgewiesen, bestand Kants Antwort auf den Charakter des Menschen in der Vorstellung der Selbsterschaffung mit dem Ziel zunehmender Perfektionierung[6]. Käte Meyer-Drawe[7] arbeitet differenziert heraus, wie sich die Auffassung eines Subjekts als ‚Ich-denke' im Anschluß an Descartes herausbildete und seine deutlichere Gestalt durch Kant erhielt. Das Subjekt muß nach Kant alle meine Vorstellungen begleiten können. Meyer-Drawe arbeitet heraus, daß mit Kant gerade in dem Moment "...wo das Ich auf dem Feld der Vernunft auftaucht..." (Meyer-Drawe 1993,198) es sich der Erkenntnis entzieht. Diese Zwiespältigkeit des Ich, also ein Ich-denke und damit Garant für Erkenntnis zu sein und zugleich Teil der empirischen Wirklichkeit, also zu existieren wie die anderen Dinge auch, belegt Foucault mit dem Begriff des Subjekts als "empirisch-transzendentalen Dublette" (vgl. Foucault 21978, 384). Meyer-Drawe führt dazu aus, daß diese Entdeckung des Subjekts auch die Entdeckung seiner Zerrissenheit sei und gerade dies wäre entscheidend für das Verständnis der Moderne. Denn innerhalb der Moderne werden große Hoffnungen auf die Selbstbestimmungsmöglichkeiten dieses Subjekts gelegt, soll es doch dazu beitragen, gesellschaftliche Verhältnisse zu verbessern. Allerdings würde gleichsam ‚vergessen', daß es dem Subjekt nicht möglich sei, "...durch sich selbst auf sich selbst zurückkommen zu können..." (Meyer-Drawe 1993, 199). Der Mensch ist nicht nur ein ‚Ich-denke', ein reines Wissen, ein Souverän, sondern - da er ein leiblich-sinnliches Wesen ist - verflochten mit der Welt, er vernimmt, empfängt, ist verstrikt mit der Welt und daher zugleich dieser Welt ‚unterlegen'.

Ein wirklich ‚starkes' Ich weiß sich nicht nur als Souverän , sondern auch als Untertan, was die Not beinhaltet, innerhalb dieses ‚Widerspruchs' sich zu bilden, sein Leben führen zu müssen.

In der Aufklärung erscheint Bildung als Prozeß, in dem sich der Mensch mit seinen Vernunftmöglichkeiten als selbstbestimmter Bürger entfalten kann. Aufklärungspädagogen wie Basedow oder Campe sahen als Ziel der Bildung einen kompetenteren Bürger, der jeweils mit seinem Wissen zu gesellschaftlichem Glück geführt werden könne. Dies geschah über die Ausbildung der Kräfte und der Idee, daß jeder optimale Leistungen für das Wirtschafts- und Wohlfahrtssystem erbringen könne: Bildung hatte die Aufgabe, auf den Beruf vorzubereiten, wodurch Schule zur Vorschule für die künftigen Lehrlinge hin reduziert wurde. Teilweise ‚gegen' diese philanthropinistische Position (Evers) nimmt Niethammer (1808) eine mittlere Position zwischen Philanthropinismus und Humanismus ein. Mit ihm ist die Wendung zum (bildungstheoretischen) ‚Neuhumanismus' verbunden. Erst jetzt erhielt der Bildungsbegriff die Gestalt, die wir heute aus der modernen Pädagogik kennen: Bildung als Selbstgestaltung. Damit ist ein Selbstgestaltungsprozeß (mittels Fremdbildung !) gemeint, in welchem der freie Mensch seiner Selbstbestimmung Ausdruck verleihen kann. Es soll das Edle, Zweckfreie, Unverwechselbare, das Unbedingte sein, zu dem der Mensch durch Bildung finden könne.

Wichtig für unseren Zusammenhang ist, daß sich hier ein Verständnis vom Menschen ausdrückt, welches den Menschen als Wesen betrachtet, dem es möglich ist, die Dinge und sich selbst zu ‚wissen'. Dementsprechend wird das Erziehen und Aufwachsen des Menschen als Zunahme von Wissen, Kenntnissen, Fähigkeiten aufgefaßt. Der Lebenssinn des einzelnen Menschen ergibt sich aus seinem angehäuften Wissen. Mit Forneck[8] könnte man von der ‚Geburtsstunde des Subjekts' reden (vgl. Forneck 1992, 68), d.h. die Moderne wird dem Menschen von nun an zumuten, einerseits Gegenstand der Erkenntnis (empirisches Wesen) und andererseits Garant dieser Erkenntnis (transzendentales Wesen) zu sein. Das heißt: alles Erkennen geht vom Subjekt aus, so daß die Dinge, die mein Leben umgeben oder bevölkern ausschließlich und nur das sind, was ich von ihnen denke[9]. Ich selbst wähne mich als Handlungszentrum, stecke mir selbstbewußt meine Ziele und Zwecke und richte meine Verhältnisse ein. Der Mensch wird unhintergehbares Wesen, autonom. Fortan ist Bildungstheorie immer Theorie der Selbstwerdung des Kindes. Wohlgemerkt eines Kindes, das der Welt ausschließlich gegenübersteht.

Kritisch könnte man beispielsweise mit Foucault[10] anfragen, wie der Mensch diese unendliche Aufgabe des Denkens seiner eigenen undenkbaren Grundlagen widerspruchsfrei bewältigen soll? Die unendliche und ihn überfordernde Aufgabe besteht im Bildungsprozeß nun darin, daß der Mensch sich in seiner Begrenztheit, Hinfälligkeit, Widersprüchlichkeit selbst als Voraussetzung und Garant für widerspruchsfreie, einheits- und identitätsstiftende Erkenntnis ‚setzt' bzw. sich ‚bildet'.

Das Menschenbild, das mit dem Neuhumanismus seine ausdrückliche Gestalt erhielt und in der Neuzeit leitend bleibt - und dies ist schicksalhaft für die Bildungsdiskussion der Geistigbehindertenpädagogik und damit für den latenten Bestand des Verdiktes der Bildungsunfähigkeit von Menschen mit (schwerer geistiger Behinderung) - begreift den Menschen primär von seinem Denken her. Der Mensch ist ein überfordertes Denkwesen, das die Landschaften seines Lebens ordnet und alle ‚querstehenden' Elemente als Störvariable eliminiert. Er wähnt sich als Wesen, das wahr-nimmt, ergreift, bemächtigt und begreift und dabei den Charakter des Vernehmens einer Welt vergessen hat. Dieser Mensch ‚macht' Erfahrungen anstatt sie mitzumachen und zu durchleiden[11]. Der andere Mensch wird in dieser Perspektive eine ‚undenkbare Rätselfigur'[12], die Dinge unseres Lebens sind ausschließlich das, was wir über sie denken und der bedeutsame und alles entscheidende Mittelpunkt der Erkenntnis ist unser Kopf, dessen konstruktive Fähigkeit alle Überschüsse und Differenzen ins Vertraute und Vereinheitlichende überführt und systematisiert. Aber der Mensch steht nicht nur der Welt gegenüber, er ist Teil der Welt, die ihn umgibt, er ist mit der Welt verwoben, verstrickt und ihr auch unterlegen.



[3] Vgl. Meyer-Drawe, K.: Tod des Subjekts - Ende der Erziehung? Zur Bedeutung "postmoderner" Kritik für Theorien der Erziehung. In: Pädagogik 7-8, 1996, 48-57.

[4] Vgl. hierzu den aufschlußreichen Artikel von Lippitz ,W.: Das Recht des anderen Menschen. Die Ungleichheit des Anderen vor dem Hintergrund universaler Gleichheit. In: Vierteljahresschrift f. wiss. Päd., 1994, 70, 172-185.

[5] zur Veröffentlichung in Vorbereitung befindlicher Vortrag an der Uni Köln.

[6] vgl. hierzu die Ausführungen von Moser, V.: Die Ordnung des Schicksals. F.a.M. 1995.

[7] Vgl. Meyer-Drawe, K.: Das Ich im Spiegel des Nicht-Ich. In: BuE 46 (1993) 2, 195-205.

[8] Wesentliche Gedanken, die hier vorgetragen werden, verdanken sich der Arbeit von Forneck (vgl. Forneck, H.J.: Moderne und Bildung. Weinheim 1992), welcher differenziert den Diskurs der Moderne in Bezug auf die Bildungsdiskussion aufweist. Gleichwohl teile ich seinen Rückgriff auf ein verständigungstheoretisches Paradigma im Anschluß an Habermas nicht.

[9] Vgl. zur Veröffentlichung vorbereiteter Vortrag (Reutlingen 1998)

[10] Vgl. auch Dreyfus, Rabinow (2)1994, 61ff.

[11] vgl. den Aufsatz von Lippitz in diesem Heft

[12] vgl. Meyer-Drawe, K.: Herausforderung durch die Dinge. Das Andere im Bildungsprozeß. In: ZfP, H.3, 1999, 45 Jg., 229-336.

2. Die Diskussion um "Bildung" von Menschen mit geistiger Behinderung

Nach dem 2. Weltkrieg versuchten Mühl (1969), Vetter (1966), Bernart (1970), Begemann (1968) u.a. eine kritische Auseinandersetzung mit der Irrlehre der Bildungsunfähigkeit, zumal es der Geistigbehindertenpädagogik darum zu tun war, die praktisch bereits erwiesene, jedoch theoretisch noch nicht bewiesene Bildungsfähigkeit von geistigbehinderten Menschen aufzuzeigen. Die ersten Auseinandersetzungen (vgl. Hartschen 1962) waren geprägt von diesem Willen zur Legitimation der Bildungsfähigkeit, gleichwohl sie ‚scheitern' mußten, da sie die Legitimation der Bildungsfähigkeit aus dem Theoriegebäude der Regelpädagogik zogen und damit deren tradiertes, neuhumanistisches Erbe übernahmen. Denn an dem Bild vom Menschen als reinem Vernunftwesen, das der Welt erkennend, konstituierend gegenübersteht ‚brach' sich gleichsam die konkrete Erfahrung mit Menschen mit schwerer geistiger Behinderung. In der Folge wurde und wird permanent versucht, den Menschen mit geistiger Behinderung in dieses Bild einzupassen, ihn an Menschenunmöglichem zu messen. Wohl verstanden: dieses menschenunmögliche Maß hat nichts zu tun mit individualspezifisch (!) gedeuteten ‚eingeschränkten' Fähigkeiten des geistigbehinderten Menschen, sondern mit einem alle Menschen betreffenden, überfordernden Maßstab.

Dieser dilemmatischen Situation sollte durch eine Vertiefung des Bildungsbegriffs entgegengearbeitet werden[13]. Moor (vgl. Moor 1964, 59) suchte eine Vertiefung des Bildungsbegriffs anzustreben durch eine geistigbehindertenspezifische Art von Bildung. Bach (vgl. 1968, 6) stellt die Bildbarkeit in den Mittelpunkt seiner Überlegungen und spricht von ‚praktischer Bildung' als "...Möglichkeiten des ‚anschaulich-vollziehenden Lernens gegenüber einem ‚unanschaulich-begrifflichen' ..." (17) Lernen. In seinem Gefolge wird nicht die reflexive, sondern die inhaltlich-transitive Dimension der Bildung bevorzugt (vgl. Bernart 1970), so daß man von einer kognitivistisch-funktionalen Verengung statt Vertiefung des Bildungsbegriffs sprechen könnte. Auch hierin zeigt sich erneut der Versuch der Anpassung an das überhöhte und überfordernde Menschenbild: indem neben der praktischen Bildung (Bach) eine geistige Bildung (Bernart) im Sinne eines Funktionstrainings gefordert wird, erkennt man den Grundgedanken eines Gegenüberstehens von Mensch und Welt. Dem Kind wird etwas antrainiert, eingeübt, abverlangt. Hier wird ‚geistige Bildung' als Funktionstraining aufgefaßt, so daß die Bewegung des Bezuges (ein stets an-archischer Bezug) zwischen Kind und den Dingen seines Lebens vergessen wird[14]. In ähnlicher Weise geschieht dies zeitlich später in dem Schulversuch von Begemann, Fröhlich und Penner (vgl. Zwischenbericht 1979), welche auf der Basis eines neurophysiologischen Bezugsrahmens die "Basale Stimulation" (Fröhlich 1991) entwickelten[15].

Fast zeitgleich versucht Vetter (1966) anhand des Dialogkonzeptes von Buber "Kommunikation" als Kriterium für Bildungsfähigkeit auszuweisen, wobei er jedoch die ‚pflegebedürftigen Schwachsinnsformen' ausschließt: "Die Schwere der Behinderung macht diese Kinder transparent. Es ist, als könne man hindurchgreifen in den Grund dessen, was Menschsein bedeutet. Eine pädagogische Aufgabe ist nicht mehr formulierbar, psychologische Einsichten sind störend, Erklärbarkeiten sind nicht mehr gefragt. Das Bestimmende und zugleich einzig Wesentliche bleibt die absichtslose Zuwendung...." (Vetter 1966, 114). Er stellt im weiteren Verlauf seiner Erörterungen in Frage, ob bei pflegebedürftigen Schwachsinnsformen überhaupt pädagogische Übung und Handeln, absichtsvolles Tun angestrebt werden könne und nicht nurmehr eine absichtslose Zuwendung möglich wäre.

Daß ‚Bildung' zunehmend aus dem Diskurs der Geistigbehindertenpädagogik verschwindet und durch den Begriff der Kommunikation gleichsam ersetzt wird, hat vermutlich mit der sog. "realistischen Wende in der pädagogischen Forschung" (Roth 1962) zu tun, in der bis dahin gebräuchliche geisteswissenschaftliche Kategorien weitgehend durch sozialwissenschaftliche bzw. empirische Begriffe abgelöst wurden. Daher betraf die Krise der geisteswissenschaftlichen Pädagogik und die zunehmende Auffassung der Pädagogik als Sozialwissenschaft die Auseinandersetzung um den Begriff der Bildung innerhalb der Geistigbehindertenpädagogik.

Statt von Bildung ist nun von Lernen, Kommunikation usw. die Rede. Die Diskussion um die Bildung von Menschen mit (schwerer) geistiger Behinderung versiegte und Erziehung, Förderung bzw. Kommunikation wurden thematisiert.

In den 80er Jahren entstand mit Pfeffer (1985) der Versuch einer phänomenologischen Begründung der Erziehung von Menschen mit schwerer Behinderung. In seinem Gefolge entstanden Arbeiten von Fornefeld (1989, 1995), Kleinbach (1994)[16], welche implizit und explizit eine phänomenologisch orientierte Revision einer kommunikationstheoretischen Perspektive unter den Leitbegriffen der ‚Beziehung' und ‚Nähe' versuchten. Dies geschah wohl auch unter der Einsicht eines in der theoretischen und praktischen Geistigbehindertenpädagogik bevorzugten, funktionalistischen Konzeptes der Erziehung von schwer geistigbehinderten Menschen. Die latente Gefahr besteht jedoch hier in der Überhöhung ästhetischer Kategorien zu ungunsten der transitiven, inhaltlichen Dimension der Bildung und ihres technischen Aspektes. Deutlich hervorgehoben werden muß, daß diese Arbeiten jedoch Ansätze einer Ent-Subjektivierung tragen[17]. Damit wird innerhalb der Geistigbehindertenpädagogik der Versuch unternommen - zwar nicht expressis verbis, jedoch implizit - den Menschen mit (schwerer) geistiger Behinderung nicht an einem menschenunmöglichen Maßstab und Menschenbild zu messen.

Damit stellt sich erneut die Frage, wie eine ‚Bildung für alle' ein menschenmögliches Ereignis[18] andeuten könnte.



[13] Vgl. die Ausführungen von Ackermann, welche für die hier erörterte Problematik wegweisende Spuren legte: Ackermann, K.-E.: Zum Verständnis von "Bildung" in der Geistigbehindertenpädagogik. In: Dreher, W. (Hg): Geistigbehindertenpädagogik vom Menschen aus. Köln 1990,65-84.

[14] Die reflexive Dimension der Bildung geht mit der transitiven Dimension ein inniges, ereignishaftes Verhältnis ein. Im Bildungsereignis geht es um Diskontinuitäten, an-archischen Bezüge (Levinas, Waldenfels), Asymmetrien, Widersprüche, Differenzen (vgl. Meyer-Drawe 1999, 329-336).

[15] Eine Erweiterung und vor allem Fundierung der ‚Basalen Stimulation' zur einer ‚Konzeption' versucht Fröhlich in seiner neuesten Veröffentlichung, wobei unklar bleibt, worin diese Fundierung bestehen soll (vgl. Fröhlich, A.: Basale Stimulation. Das Konzept. Düsseldorf 1998.) Ergänzend sei hierzu auf die Veröffentlichung von Pickenhain, L.: Basale Stimulation. Neurowissenshaftliche Grundlagen. Düsseldorf 1998, verwiesen.

[16] vgl. auch Stinkes 1993

[17] vgl. hierzu die äußerst differenzierten Ausführungen von Waldenfels, B. Antwortregister. F.a.M. 1994. Hier schließen sich Ausführungen zur Heterosomatik an, welche unter einer phänomenologischen Perspektive eine Revision der cartesianischen Annahme, subjektive Erlebnisse könnten nur als Subjektives geäußert werden und ständen nur dem priviligierten Erlebnissubjekt zur Verfügung, anstrebt. Er zeigt u.a. eine Entsubjektivierung des Ausdrucks auf.

[18] Waldenfels (vgl. 1994, 198f) spricht hier von Ereignissen, von denen sich nicht sagen läßt, "...was sie sind, aber auch nicht, was sie bedeuten, da der Horizont, in dem über Ereignisse geredet werden könnte, sich selbst ereignishaft verschiebt...".

3. Der Einbezug der Leiblichkeit in den Bildungsbegriff

"Frau L. trägt Anne, 7,3 Jahre alt und auf Hilfe in vielen Bereichen ihres Lebens angewiesen, behutsam in die teilweise mit Wasser gefüllte Badewanne. Sie begleitet ihr Tun sprachlich, sie hält Anne fest in den Armen, beide Körper berühren sich, ihre Blicke treffen sich bis Frau L. Anne in die Badewanne gleiten läßt. Anne lacht. Frau L. summt leise, ‚platscht' ein wenig mit den Händen im Wasser und läßt Wassertropfen auf Annes Körper fallen. "Heute baden wir wieder und rieche einmal an das Shampoo, magst du es?" fragt sie, während sie Anne das Shampoo vorsichtig unter die Nase hält. Anne lacht, Frau L. berührt ihren Kopf und wäscht ihr Haar sehr sanft und langsam. "Jetzt hast du einen Schaumhut" sagt sie lachend. Annes Hände wäscht sie vorsichtig mit einem Waschlappen, ihre Arme, ihren Bauch und ihre Beine. Anne entspannt sich zunehmend, ihr Spasmus läßt nach und sie versucht, gezielt den Waschlappen oder Schwamm zu ergreifen. Ein kleines Spiel zwischen Frau L. und Anne entsteht, wobei Anne ihre kleinen Hände bis zum Kopf führt. Frau L. ist begeistert von diesem Tun und ‚steckt Anne mit ihrer Begeisterung geradezu an', so daß diese auch ihre Beine und Füße zu bewegen beginnt. Als Frau L. Anne sanft den Schwamm in die Hand drückt, hält diese inne, denn ohne Handführung hat sie selbst noch keine Aktivitäten mit dem Schwamm gezeigt. Sie hält den Schwamm einige Zeit und man sieht förmlich ihre Verwunderung ob dieses Gefühls. Nach kurzer Zeit läßt Anne den Schwamm wieder los. Frau L. gibt ihr ihn wieder, Anne läßt los - ein ‚Spiel' entsteht, das seine Fortsetzung sucht. Fast ausgelassen ergreift Frau L. den Schwamm und sagt zu Anne "jetzt platscht er auf deinen Kopf, er platscht auf deinen Kopf, paß auf...." und Anne lacht, schließt die Augen und indem Frau L. laut ‚jetzt' sagt, platscht der Schwamm auf Annes Kopf. "Du bist toll", sagt Frau L. und zu mir gewandt "das ist schon ein Ritual zwischen uns". [19]

In diesem Beispiel treffen sich unerwartet Blicke, Berührungen, so sehr sie von der Lehrerin als ‚sachgebundene, gezielte und inszenierte Erziehungssituationen' pädagogisch geplant wurden. Der zugrundegelegte Stundenentwurf dieser erzieherischen Situation der Pflege läßt jede ihrer Handlungen - sei es das sprachbegleitende Tun, das Platschen mit den Händen im Wasser, das Handführen des Kindes beim Ergreifen des Schwammes etc. - als intentionale und sachgebundene Erziehungssituation begreifen. Hier zeigt sich deutlich die inhaltlich-transitive Dimension der Bildung: über das Tun mit dem Schwamm erfahren, welcher Sinngehalt dem Gegenstand und Begriff ‚Schwamm' innewohnt.

Über den von ihr bestimmten Unterrichtsinhalt "Erweiterung der Erfahrungsmöglichkeiten des eigenen Körpers über unterschiedliche Materialien" ereignet sich im gemeinsamen Tun eine Nötigung für Anne, zu sich und der Welt in ein Verhältnis zu treten. Wie sie dies tut, bezeugt ihren einzigartigen "Stil" und das ihr "Stil" nicht eine Unfaßlichkeit ist, sondern verstrickt ist mit Frau Ls. unverwechselbarem Stil mit den Dingen und Anne "umzugehen" bzw. auf diese zu antworten, wird deutlich. Es trifft hier zu, das jeder "Stil" mit sich und der umgebenden Welt umzugehen eine Spielart einer gemeinsam - geteilten Welt darstellt. Dies verweist auf einen "anonymen gemeinsamen Grund" unseres Lebens, den Merleau-Ponty so treffend umschreibt mit dem Begriff ‚fleischliche Erfahrung': meine Gedanken, mein Tun und die Gedanken des Anderen, sein Tun, verkörpern einen je eigenen Stil. All dies wird weniger begriffen als liebevoll aufgegriffen oder mit Abscheu verworfen. Im Beispiel erscheint es, als "stecke die Begeisterung" der Lehrerin Anne an und umgekehrt und damit ist weit mehr als eine "pädagogische Ermutigung" gemeint. Hier ist ein Verständnis, ein Antworten gemeint, das über das Sagen und Tun hinausgeht, das auswandert und Zugänge verschafft, zu denen beide sich nicht fähig wissen und nicht fähig waren. Es ist ein gegenseitiges Folgen auf Wegen, die jedem unbekannt sind und den ihr gestisches, mimisches, sprachliches Tun, angefeuert durch den Anderen, gerade erst füreinander bahnt. Anne und Frau L. sprengen je füreinander Ordnungsmuster, Erwartungen, Erfahrungsstrukturen indem sie mit Überschüssen und Mangel konfrontiert werden, die sich nicht in eine Erwartung fügen lassen. Was ihr gemeinsames Tun ein Drama sein läßt, ist diese Differenz, die unaufhebbar jeder sozialen Beziehung zugrundeliegt. Beide führen kein Schauspiel füreinander auf, sondern sind in einem Drama verwoben, das ihr Handeln zu "Zwischenereignissen" (Waldenfels 1994) werden läßt. Es entsteht ein außerordentliches (= anarchisches) ‚Neues', ein ‚Drittes', ein schöpferisches Ereignis, das sich einem intersubjektiv -geteilten, präreflexiven Lebenszusammenhang verdankt. Pädagogisches Handeln trägt diese Züge und steht in der widersprüchlichen Situation, etwas initiieren zu müssen, das im Grunde unmöglich zu initiieren ist und erst in der gemeinsam geteilten Situation als ‚Drittes' im Sinne der Bildung entsteht. Frau L's pädagogisches Ziel, ihr geplanter Stundenverlauf ist für sie "bestens" aufgegangen. Aber war das Ergebnis der gemeinsamen Handlung feststehend, vorhersehbar? Ist dieser Stundenverlauf tatsächlich ihrer Initiative zu verdanken oder ‚bildete' sich dieser Verlauf durch eine Interaktion, in der weder die Rollen noch die Handlungen eindeutig von ihr her bestimmt waren, sondern vielmehr von Anne und ihr? Und wären die Rollen bestimmt gewesen und eindeutig rückführbar auf Frau L., wäre dann nicht jedweder Spielraum, jede Nötigung für Anne zu handeln verschlossen?

Wir leben aus diesen Anleihen aus der Welt, wir leben von den Möglichkeiten, die wir von dem Anderen und das Andere her erhalten; und haben es gleichwohl vergessen. Wenn also Anne ihre Augen schließt, um der Gefahr des platschenden Schwammes auszuweichen, um dieser Gefahr nicht in die Augen zu schauen, dann bedeutet dies, daß sie daran glaubt, das ihr Sehen selbst auf die Dinge zugeht und das sie mit ihrem Leib mitten in der Welt wohnt. Umgeben von Dingen, die provozieren, auffordern, erschrecken, erreichbar oder unerreichbar sind: Gut riechendes Shampoo, das sie aufgrund ihrer Spastik nicht in Verbindung mit ihrem Haar fühlen kann, ein Schwamm, der sich vielleicht merkwürdig anfühlt, Wassertropfen, die auf ihren Bauch lustvoll prasseln und vieles mehr.

Auch diese Ausführung lebt von Anleihen aus der Welt, sie lebt von Gedanken, die von anderen herkommen, mich provozierten, zum Nach-denken, Nach-schreiben anregten. Die Arbeit von Forneck (1992) versucht, postmoderne Kritik im Zusammenhang mit dem Bildungsbegriff zu thematisieren, um dann innerhalb eines verständigungstheoretischen Paradigmas (Habermas) einen veränderten Bildungsbegriff vorzuschlagen. Mich fasziniert der in dieser Arbeit geäußerte Gedanke, daß nicht mehr das überforderte Subjekt der Ausgangspunkt des Bildungsprozesses ist, sondern am Beginn der Bildung Intersubjektivität als ein gemeinsam geteilter Lebenszusammenhang steht. Damit verlöre das Bildungssubjekt seinen transzendentalen Status, da es nicht mehr unhintergehbarer Garant von Erkenntnis ist. Es hat nicht mehr allein für die Konstitutionsleistungen aufzukommen und wird ersetzt durch eine Bildungsgemeinschaft. Diese Bildungsgemeinschaft konstitutiert sich nicht durch einen Akt der Selbstreflexion, sondern in - und hier ziehe ich entgegen Forneck eine phänomenologische Perspektive hinzu - Akten der Rekonstitution: Sinn geschieht aus der pädagogischen Situation auf der Basis der Differenz der Partner - und dies schließt mithin eine Selbstveränderung des Pädagogen mit ein. Nun treffen im pädagogischen Sinn Ansprüche aufeinander, die sich nicht nur ergänzen oder steigern lassen im Sinne progressiver Bildung, sondern aneinander abgeschliffen werden, sich brechen. Wir haben es plötzlich zu tun mit Diskontinuitäten, Brüchen und mit Umwegen.

Das Bildungssubjekt steht damit nicht einer Welt gegenüber[20], sondern lebt, agiert, antwortet in einem intersubjektiv geteilten Lebenszusammenhang, der Drittes, Neues sich bilden läßt.

Auf der Suche nach einem veränderten Bildungsbegriff kann die Geistigbehindertenpädgogik von der Postmoderne-Diskussion profitieren, ohne gleichsam in einem Reflex den Menschen mit (schwerer) geistiger Behinderung stets in das von der Regelpädagogik vorgegebene Bild eines Bildungssubjekts mit transzendentalem Status einpassen zu wollen. Oder anders: Bildung als Selbstgestaltung kann nicht länger einen Akt der Selbstreflexion meinen. Unter Einbezug der Leiblichkeit menschlicher Existenz versteht sie darunter einen gemeinsam-geteilten, intersubjektiven Lebenszusammenhang.

Wie bereits angedeutet, ist das Denken ein vernehmendes, verdanktes und verwiesenes Denken, das vom Anderen herrührt, angestiftet, provoziert wird. Käte Meyer-Drawe hat in einem noch unveröffentlichten Skript zur Würdigung von Klaus Mollenhauer[21] und in vielen Gesprächen eine Spur gelegt, welche ich aufgreifen und verfolgen möchte. Ihr Versuch, die Leiblichkeit menschlicher Existenz mit der Diskussion um den Bildungsbegriff zu verweben, ist für mich höchst aufschlußreich. Sie stellt im Anschluß an Foucault, Plessner u.a. Bildung als Stilisierung von Selbst- und Welt- oder Lebensverhältnissen vor. Mit Foucault wird dem überforderten, im Akt der Selbstreflexion sich konstituierenden Subjekt die ‚erlösende Figur' der Selbstsorge anheimgegeben. Sich um sich selbst sorgen meint hier die Not und Nötigung unseres Lebens, sich nach Außen wenden zu müssen. Die Konfrontation mit den Erfahrungen des Anderen, die Irritation seiner Nähe, der Widerstand seiner Fremdheit, bringt mich von mir ab. Krisen, Abhängigkeit von Hilfen, die Belastung, die Grenze meines Leibes, welcher im Falle der schweren Behinderung vielleicht kleinste Bewegungen ohne Hilfe unmöglich werden läßt, die Trauer und Einsamkeit über versagte Möglichkeiten, der unentwegte Versuch, sich dem anderen leiblich, sprachlich verständlich zu machen, sind Ausdruck der Not und Nötigung der Selbstsorge oder Lebenskunst. Bildung als Gestaltung exzentrischer (Plessner) Selbst- und Lebensverhältnisse geschieht in sozialer Interaktion, in einem gemeinsam geteilten Lebenszusammenhang, in welchem das Scheitern aneinander nicht die Ausnahme, sondern Regelfall bleibt. Seinem Leben durch Bildung Gestalt verleihen meint die Not der Sorge um sich, meint die Nötigung sein Leben führen zu müssen[22].

Das Beispiel der erzieherischen Situation der Pflege stellt aus dieser Perspektive eine Bildungssituation dar, in der sich innerhalb eines gemeinsam-geteilten Lebenszusammenhangs Annes unverwechselbarer Stil ihres Verhältnisses zu sich und den Dingen wie auch zur Lehrerin herausbildet. Das Allgemeine der Bildung wäre die Einzigkeit dieses Stils - eine unaufhebbare ethische Aussage, die die Würde des Menschen verbürgt. Aber dies ist ein weiterführendes Thema, das an anderer Stelle thematisiert werden könnte.



[19] Tagebuchnotiz vom Mai 1997 (Ort: Blindeninstitut Würzburg)

[20] Das Konzept des Gegenüberstehens von Welt machte ja gerade die transzendentale Bestimmung des Subjekts notwendig.

[21] an dieser Stelle sei mein ausdrücklicher Dank an Käte Meyer-Drawe positioniert, welche mein Denken stets kritisch-konstruktiv und freundschaftlich begleitet und ohne deren stete Ermutigung und Unterstützung vieles nicht entstanden wäre.

[22] Eine notwendige Erweiterung dieses Gedankens könnte durch den Hinweis von Früchtl (vgl. 1994, 288) geschehen, der dem Konzept der Sorge um sich einen latent asozialen Charakter vorhält. Vielleicht hilft hier Levinas Verweis auf die existentielle Bestimmung des Menschen als ‚für-den-anderen' weiter. Dies meint eine Sorge um ihn, eine Substitution, Stellvertretung im Sinne einer Geiselschaft, die nicht einklagbar ist und fern von einem Verständnis als ‚Engagement' anzusiedeln ist (vgl. Levinas 1992, 300-308). Der Begriff der Wahl könnte ‚Fürsorge' sein, wie Baier (vgl.1994) ihn im Anschluß an die Kohlberg-Gilligan-Debatte einführt. Innerhalb der Geistigbehindertenpädagogik besteht jedoch eine historische Belastung durch die Motive der Entstehung des Fürsorgewesens. Andererseits verweist eine weitere Belastung auf den Begriff der Fürsorge durch Heidegger hin. Nach Heidegger ist das Dasein ein Mitsein mit Anderen und wesenhaft um Willen Anderer. Indem jedoch der Andere ganz vom Dasein aufgefaßt wird, ist er ein Moment des Seinsverständnisses des Daseins, nicht jedoch der, der dieses Seinsverständnis stört, es unterbricht, wie bei Levinas. Die Fürsorge bleibt bei Heidegger eine Selbst- und Seinssorge (vgl. Heidegger § 26, Sein und Zeit). Diesem Verständnis schließe ich mich nicht an, gleichwohl könnte der Begriff Fürsorge als Hilfe zum Verständnis des Begriffs der ‚Geiselschaft' bei Levinas dienen - eingedenk der angedeuteten Belastungen.

Literatur

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Die Autorin

Prof. Dr. Ursula Stinkes, Sonderschullehrerin, Promotion über "Spuren eines Fremden in der Nähe - Das ‚geistigbehinderte' Kind aus phänomenologischer Sicht". Zur Zeit Arbeit an der Habilitation. Tätigkeit an Sonderschulen für Geistigbehinderte sowie einer integrativ arbeitenden Grundschule. Lehrtätigkeit an verschiedenen deutschen Hochschulen (Köln, Dortmund, Würzburg). Arbeitsschwerpunkte: Pädagogische Ethik und schwere Behinderung.

Pädagogische Hochschule Ludwigsburg

Außenstelle Reutlingen

Abteilung Geistigbehindertenpädagogik

Pestalozzistraße 53

D-72762 Reutlingen

Quelle:

Ursula Stinkes: Auf der Suche nach einem veränderten Bildungsbegriff

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 3/99; Reha Druck Graz

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 18.01.2006

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