Disability Studies und Integration

Autor:in - Markus Dederich
Themenbereiche: Disability Studies
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: Behinderte Menschen, Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten, Nr. 3/4/2007, Thema: Disability Studies Behinderte Menschen (3/4/2007)
Copyright: © Behinderte Menschen 2007

Information

BEHINDERTE MENSCHEN, die Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten ist das Fachmagazin im deutschsprachigen Raum. Alle zwei Monate bringt es Fachwissen zu einem Schwerpunktthema. Dazu gibt es Reportagen, Meldungen, Buchbesprechungen, Fortbildungstipps und Kommentare. Produziert wird die Zeitschrift von der Reha-Druck, einer Druckerei in Graz, in der behinderte Menschen Ausbildung und Arbeit finden. Probeexemplare, Geschenkabos und Schnupperabos können auch online angefordert werden: www.behindertemenschen.at

Disability Studies und Integration

In den vergangenen Jahren beginnt die Sonderpädagogik, auf die Disability Studies aufmerksam zu werden. Dies gilt zumindest dort, wo Grundlagenfragen diskutiert werden und mehr oder weniger kritische Haltungen zu bestimmten tradierten und immer noch weit verbreiteten sonderpädagogischen Basisvorstellungen und -überzeugungen anzutreffen sind. Die Disability Studies werden auch im Kontext von Fragestellungen und Problemen rezipiert, die soziologische, kulturelle und politische Themen fokussieren. Am häufigsten werden Theorien von Vertreterinnen und Vertretern der Disability Studies im Kontext von Diskussionen über die Kategorie der Behinderung sowie mit Blick auf Inklusion und Exklusion aufgegriffen. Insofern sind die Disability Studies auch für die Integrationspädagogik und den Inklusionsgedanken von besonderem Interesse. Einen weiteren Grund für dieses zunehmende Interesse könnte darin liegen, dass Vertreterinnen und Vertreter der Disability Studies insbesondere bei Kritikern der Sonderpädagogik als separierter und separierender Disziplin als in der Sache Verbündete angesehen werden, die aus anderen Wissenschaftsbereichen kommen und zudem überwiegend selbst behindert sind. Deren Theorien scheinen die Vertreterinnen und Vertreter der Integration und des Inklusionsgedankens in ihren Ansichten und Überzeugungen zu bestätigen und nähren vielleicht auch die Hoffnung, dass der Zustand einer gewissen Isolation aufgebrochen werden könnte.

In den nachfolgenden Überlegungen werde ich versuchen, eine Position der Disability Studies zu Fragen der Integration und Inklusion herausarbeiten. Darüber hinaus soll es aber auch darum gehen, das durchaus prekäre Verhältnis der Disability Studies zur (Sonder-)Pädagogik und Rehabilitation herauszuarbeiten. Zunächst möchte ich, nach einer kurzen Einführung in die Disability Studies, nach dem Verhältnis von Disability Studies und Pädagogik unter besonderer Berücksichtigung der Sonderpädagogik fragen. Dabei werde ich vor allem die deutliche Kritik der Disability Studies fokussieren. In einem weiteren Schritt wird dann skizziert, welche Positionen zu Fragen der Integration und Inklusion sich in den Disability Studies ausmachen lassen. Dabei werden sich nicht nur beträchtliche Übereinstimmungen bezüglich bestimmter Positionen zeigen, sondern auch deutliche Reibungspunkte und Diskrepanzen. In einem knapp gehaltenen Ausblick werde ich dann nach möglichen Grenzen der Inklusion fragen.

Disability Studies - eine kurze Einführung

Das Forschungsfeld der Disability Studies existiert in den USA und England seit weit über einem Jahrzehnt. Seine Anfänge reichen in die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zurück. Inzwischen sind die Disability Studies dort an einer Reihe von Universitäten etabliert und haben einen beträchtlichen, kaum noch überblickbaren Korpus an wissenschaftlicher Literatur hervorgebracht. Dabei handelt es sich Seit einigen Jahren beginnt dieses Forschungsfeld langsam, auch in Deutschland fuß zu fassen. Gegenüber der Dominanz einer sozialwissenschaftlichen Perspektive in England überwiegen in den USA geistes- und kulturwissenschaftliche Zugänge. Eine solche kulturwissenschaftliche Fundierung der Disability Studies wird auch hier in Deutschland favorisiert.

Wie Theresia Degener (2003) betont, sind die Disability Studies zunächst eine politische Wissenschaft, die sich aus der politischen Behindertenbewegung entwickelt hat. Deren primäres Anliegen war und ist der Kampf gegen Unterdrückung, Aussonderung und Diskriminierung behinderter Menschen in der Gesellschaft.

Der erste große Themenkomplex, mit dem sich die Disability Studies befasst haben, war eine Analyse und Kritik des medizinischen Modells von Behinderung. Mark Priestley, ein englischer Wissenschaftler, dessen Arbeiten von einem sozialen Modell von Behinderung ausgehen, nennt folgende Schlüsselfragen und -themen der Disability Studies: "Was ist Behinderung? Was verursacht Behinderung? Warum untersuchen wir Behinderung? Was ist der Gegenstand unserer Untersuchung? Wie können wir den Gegenstand untersuchen?" (Priestley 2003, 23).

Entsprechend formuliert Waldschmidt (2003) sehr bündig, die Kategorie "Behinderung" sei der eigentliche Gegenstand der Disability Studies. Von dieser Zentralperspektive aus werden kulturelle, historische und gesellschaftliche Prozesse untersucht, die unsere Wahrnehmung, unser Denken und Handeln formen, regulieren und kontrollieren (vgl. Waldschmidt 2003). Ziel dieser Forschungsausrichtung ist erstens eine Aufdeckung und Rekonstruktion von gesellschaftlichen und kulturellen Modellen, Theorien, "Bildern" von Behinderung, von Sinnzuschreibungen, wissenschaftlichem und Alltagswissen, die in unsere Vorstellungen, unser Denken, unser Wissen über Behinderung eingehen und diese formen. Zweitens widmen sich die Disability Studies der Analyse, wie diese hervorgebracht, produziert, gesellschaftlich implementiert und tradiert werden.

Das Besondere und Spezifische der Forschungsausrichtung der Disability Studies ist eine radikale Umkehrung der Perspektive. Nicht die Abweichung, die Pathologie, die Andersartigkeit, die Störung des reibungslosen Betriebes, das Irritationen Auslösende wird betrachtet; vielmehr wird die Kategorie "Behinderung" verwendet, um die "Mehrheitsgesellschaft" (Waldschmidt 2003, 16) zu analysieren. Es erfolgt also gegenüber der üblichen Fokussierung von Behinderung eine radikale Umkehr der Perspektive, die beispielsweise erforscht, "wie kulturelles Wissen über Körperlichkeit produziert wird, wie Normalitäten und Abweichungen konstruiert werden, wie Differenzierungskategorien entlang körperlicher Merkmale etabliert werden, wie gesellschaftliche Praktiken der Ein- und Ausschließung gestaltet sind, wie personale und soziale Identitäten geformt werden und neue Körperbilder und Subjektbegriffe gestaltet werden" (S. 16 f.). Auf einer noch abstrakteren Ebene kann man sagen, dass der theoretische Zugang der kulturwissenschaftlich ausgerichteten Disability Studies im Kern ein differenztheoretischer ist, in dem Behinderung strikt als Relation gefasst ist: Behinderung kann nur vor dem Hintergrund von Nichtbehinderung gedacht, bezeichnet und problematisiert werden.

Die wohl wichtigste paradigmatische Grundlage des soeben skizzierten theoretischen Zugangs ist die Annahme, dass Behinderung keine ontologische Tatsache ist, sondern in den verschiedensten alltäglichen, kulturell und wissenschaftlichen Diskursen hergestellt wird. Von besonderem Interesse dabei sind u.a. die Herausbildung gesellschaftlicher Deutungsmuster und Institutionen, spezifischer Praktiken, die Sprache (etwa Metaphern und Redewendungen), kulturelle Symboliken, Formen medialer Repräsentation in Bildern, Texten und Filmen u.a.m. Behinderung wird hier nicht nur konsequent historisiert, sondern auch als Zeichen und Symbol behandelt, als kulturelle Repräsentation. Als Beispiel für diese kulturwissenschaftliche Annäherung können die Arbeiten von David Mitchell und Sharon Snyder (2000) angeführt werden oder die Studie von Rosemarie Garland Thomson (1997). Diese entwickelt eine körpertheoretische Perspektive mit einer klar erkennbaren politischen Unterfütterung. In der Einleitung zu ihrem Buch "Extraordinary Bodies" schreibt sie: Die Disability Studies untersuchen, "wie die ‚körperlich Behinderten' in juristischen, medizinischen, politischen, kulturellen und literarischen Berichten, die einen ausschließenden Diskurs enthalten, produziert werden. Konstruiert als Darstellung körperlicher Unzulänglichkeit und Abweichung, wird der physisch behinderte Körper zu einer Quelle sozialer Ängste vor solch beunruhigenden Angelegenheiten wie Verletzlichkeit, Kontrolle und Identität. Anders ausgedrückt möchte ich Behinderung aus dem Bereich der Medizin in denjenigen politischer Minderheiten verlegen, um sie von einer Form der Pathologie in eine Form ethnischer Zugehörigkeit umzugestalten. Indem ich behaupte, dass Behinderung eine Deutung körperlicher Besonderheiten im Kontext gesellschaftlicher Machtbeziehungen ist, werde ich der allgemein anerkannten Vorstellung von Behinderung als einem absoluten, minderwertigen Zustand und persönlichen Unglück widersprechen. Stattdessen zeige ich, dass Behinderung eine Repräsentation, eine kulturelle Interpretation körperlicher Verwandlung oder Gestaltung und ein Vergleich von Körpern ist, der soziale Beziehungen und Institutionen strukturiert" (S. 5).

Betrachtet man insbesondere die kulturwissenschaftliche Ausrichtung der Disability Studies, so fällt auf, dass die Arbeiten Michel Foucaults zu den wichtigsten Stichwortgebern zahlreicher Arbeiten gehören. Dies gilt auch für die soeben zitierte Arbeit von Garland Thomson. Dies ist im Kontext der Sonderpädagogik insofern von Interesse, als zwar "konstruktivistische" Thesen Eingang in die Theoriebildung des Fachs gefunden haben, die mögliche Bedeutung von Foucault für die Historiographie und Theorie der Sonderpädagogik bisher nur vereinzelt gewürdigt wurde, ohne im Fach nennenswerte Spuren zu hinterlassen.

Kritik der Sonderpädagogik und Rehabilitation

Im Kern geht es den Disability Studies in ihrem mittlerweile weit verzweigten Diskurs darum, der traditionellen und in vielen Köpfen und Theorien noch festverankerten individualisierenden, defekt-, defizit- oder schädigungsbezogen Sichtweise von Behinderung ganz anders gelagerte Modelle entgegenzusetzen. Obwohl diese Modelle teilweise ein beträchtliches Abstraktionsniveau aufweisen, wird der Diskurs der Disability Studies nicht primär um der Theorie Willen geführt. Er hat vielmehr die Funktion, fundierte und tragfähige Instrumente der Analyse und Kritik zu entwickeln, die nach Ansicht der meisten VertreterInnen der Disability Studies im Dienste konkreter gesellschaftlicher und politischer Veränderungen stehen sollten.

Von hier aus wird auch die gelegentlich sehr pointiert vorgetragene Kritik an der Medizin, Psychologie und Pädagogik deutlich. Anders als der Medizin oder der Pädagogik geht es in den Disability Studies nicht primär um eine bessere medizinische Behandlung von Behinderung oder eine Optimierung pädagogischer Förderung, die beide traditionell auf je eigene Weise das Ziel möglichst weitgehender Diagnostik, "Heilung", "Rehabilitation" oder "Kompensation" verfolgen. Um es nochmals zu betonen: Im Zentrum der Disability Studies steht demgegenüber die Aufdeckung und Kritik gesellschaftlich- kultureller Verhältnissen, die offen oder latent behindertenfeindliche, abwertende oder unterdrückende Lebensumstände und Handlungsweisen hervorbringen. Diese Kritik erstreckt sich auch auf die Wissenschaften und ihre epistemologischen Grundlagen, denn diese sind an der Hervorbringung von behinderungsbezogenen Denk- und Wissensformen aktiv beteiligt. Insofern kann man auch sagen, dass die Disability Studies nicht nur Gesellschafts-, sondern auch Wissenschaftskritik üben.

Hierzu einige Beispiele: Aus der Pädagogik stammt die tief verwurzelte Idee, dass Behinderte und Nichtbehinderte getrennte Gruppen sind, die am besten in getrennten Klassen unterrichtet werden von Lehrern, die getrennt ausgebildet sind. Die in der klinischen Psychologie lange Zeit dominierenden Modelle sind analog zu verstehen: "Die Bedürfnisse und Probleme behinderter Menschen sind hinreichend anders als diejenigen nichtbehinderter, so dass Spezialisten, Rehabilitationspsychologen und psychologische Betreuer genannt, benötigt werden, um sie zu behandeln. Die Soziologie fabriziert ein Zentrum, um dann das Konzept der Abweichung zu produzieren, um die Zentralität nichtbehinderter Menschen zu bekräftigen. Die Medizin erzählt Lügen, wenn sie Verschiedenartigkeit auf Defizite, Mängel oder Pathologien reduziert" (Linton 1998, 182 f.).

Kritisiert wird vor allem der "klinische Blick" dieser Disziplinen, die ihren Behinderungsdiskurs um die Zentralvorstellung herum aufbauen, Behinderung sei ein Problem, um das in der Folge Problemanalyse-, Problemzuständigkeits-, Problemexperten- und Problemversorgungssysteme gebildet werden. Prävention, Kompensation und Heilung, Rehabilitation, Förderung, Therapie, spezielle Erziehung, Abbau von Abweichungen und vornehmlich auf die Individuen abzielende Normalisierung stehen im Mittelpunkt dieser ausdifferenzierten Systeme. Insofern sind sie auch ein Hauptfokus der Kritik der Disability Studies.

Kenner der Diskussionen in der deutschsprachigen Behindertenpädagogik werden eine nicht geringe Schnittmenge von Themen, Fragen und Positionen bemerken, die die Disability Studies und zumindest diejenigen Fachvertreter gemeinsam haben, die ihre Arbeit historisch, soziologisch, erkenntnistheoretisch oder ethisch ausrichten. Der vielleicht entscheidende Unterschied zwischen den Disability Studies und der Pädagogik besteht darin, dass die Pädagogik historisch - gewollt oder ungewollt - zu den Instanzen und Institutionen zu rechnen ist, die Marginalisierung und Ausgrenzung, zumindest aber Verbesonderung von Behinderten mit betrieben haben und dieses System bis in die Gegenwart hinein aufrechterhalten. Insofern auch sieht sich die Pädagogik der Kritik und mitunter sehr deutlich formulierten Abgrenzungen durch die Disability Studies ausgesetzt. Entsprechend plädiert Linton (1998) dafür, die interventionsorientierten Fächer nicht als Disability Studies zu bezeichnen.

Die Grenze zwischen den Disability Studies und den "Not-Disability-Studies" (Linton 1998, 136) verläuft also zwischen jenen Disziplinen, die Behinderung als soziales, politisches, historisches und kulturelles Phänomen erforschen und den angewandten Wissenschaften, die ihrem Selbstverständnis und ihrem gesellschaftlichen Auftrag nach auf Erziehung, Bildung, Intervention, Heilung, Förderung, Kompensation usw. hin angelegt sind, also vor allem die Medizin, Pädagogik, Psychologie und Sozialarbeit. Das Bedürfnis nach Abgrenzung resultiert aber auch daher, dass sich die Disability Studies nicht bloß als Korrektiv verstehen, sondern als Instanz radikaler Kritik. Sie liefern ihrem Selbstverständnis zufolge die epistemologische Basis für Forschung und sozialpolitische Aktivitäten, die im Rahmen der traditionell sich um Behinderung kümmernden Wissenschaften niemals hätten entwickelt werden können (vgl. Linton 1998, 133). Die Sicherung der Grenze zwischen Disability Studies und Not-Disability-Studies dient auch als "Kontrastmittel", das das Bewusstsein dafür wach halten und weiter schärfen soll, dass Behinderte aufgrund von (bestimmten gesellschaftliche Ziele und Zwecke verfolgenden) Marginalisierungs- und Abwertungsprozessen zu einer Minderheit gemacht werden. Während die angewandten Disziplinen Produkt der gesellschaftlichen Reaktionen auf menschliches Behindertsein sind, verstehen sich die Disability Studies in erster Linie als Unternehmung, die die Prozesse der gesellschaftlichen und historischen Konstruktion von Behinderung offen legen, rekonstruieren, einer radikalen Kritik unterziehen und neue Perspektiven eröffnen will.

Nun ist aber, allen Abgrenzungen zum Trotz, die Kritik der Disability Studies am Behinderungsbegriff der auf Intervention abzielenden Disziplinen derjenigen, wie sie beispielsweise aus der Integrationspädagogik heraus formuliert worden ist, sehr ähnlich.

Hierzu einige Beispiele:

  • Die Individualisierung und Entkontextualisierung von Behinderung, d.h. die Konzentration auf Individuen, die spezifische und als Problem angesehene Zustände aufweisen, wird scharf kritisiert. "Die Konstruktion von Behinderung als Problem stößt sich notwendig von der Sichtweise ab, sie sei eine Streitfrage, eine Idee, eine Metapher, ein Phänomen, eine Kultur, eine Konstruktion" (Linton 1998, 135).

  • Die "essentialistischen und deterministischen Erklärungen von Behinderung" (ebd.), die in angewandten Disziplinen dominieren, werden als historische Konstrukte dargestellt.

  • Die Pathologisierung der Differenz und die aufgezwungene Rolle als Patient, Klient oder Kunde werden zurückgewiesen.

  • Es wird eine Abkehr von der Überbetonung der Intervention auf individueller Ebene verlangt, einer Ausrichtung, die "Menschenreparatur statt Kontextveränderung" (ebd.) betreibt.

Linton (1998) nennt zwei weitere Punkte, die gegenüber den vorab genannten bisher in der Integrations- bzw. Inklusionsdiskussion wenig Beachtung gefunden haben, obwohl auch sie Forderungen enthalten, die keineswegs neu sind. Sie kritisiert

  • die fehlende "Aufmerksamkeit für die Interventionen und die medizinischen und erzieherischen Lösungen, die die Gemeinschaft der behinderten eingefordert hat" (S. 135);

  • das Fehlen einer "Epistemologie der Inklusion (...). Es existiert kein weit gefächerter Wissenskörper, eine intellektuelle Grundlage für die Eingliederung behinderter Menschen als vollwertige und gleiche Mitglieder in die Gesellschaft" (ebd.).

So gesehen bietet die Theorie der Disability Studies wenig, was in der neueren Sonderpädagogik nicht bereits bekannt sein dürfte oder zumindest könnte - unabhängig von der Frage, ob die pädagogische Praxis diesem Wissen bereits folgt, denn dies ist nachweislich vielerorts nicht der Fall. Der entscheidende Unterschied zwischen Disability Studies liegt insofern nicht so sehr darin, dass ein neues Wissen im Entstehen ist, sondern eine neue soziale Konstellation. Nach Weisser (2004) sind die "Orte und Prioritäten des Wissens von Sonderpädagogik und Disability Studies (...) für sich wechselseitig unbekannt" (S. 28). Man könnte auch sagen: Beide Disziplinen artikulieren sich vor dem Horizont höchst unterschiedlicher historischer Erfahrungen und gesellschaftlicher Positionen. Neben zahlreichen Spannungen und Momenten der Abwehr liegt hierin vielleicht auch die Chance, "die gesellschaftliche, wissenschaftliche und praktische Thematisierung von Behinderung miteinander in Beziehung zu setzen und wechselseitig zu öffnen" (S. 28). Ein Dialog über die Perspektivität und Relativität der jeweiligen Zugänge und Positionen könnte dann zu neuen Sichtweisen und fruchtbaren Verbindungen führen.

Disability Studies - Ein Plädoyer für Inklusion?

Trotz der Abgrenzung aber wird die Hoffnung artikuliert, dass die geistes- und kulturwissenschaftlich fundierten Disability Studies auf die traditionell anwendungsorientierten Fächer und Disziplinen Einfluss haben und zur Veränderung ihrer mehr oder weniger eingeengten und begrenzten Theorien und Konzepte sowie ihrer Curricula, d.h. der durch sie vertretenen Themen und Inhalte sowie deren Einkleidung in Lehrpläne, beitragen. Inklusion ist ein Leitziel der Disability Studies, und dies gilt selbstverständlich auch für ein inklusives Schul- und Bildungswesen.

Nach Linton (1998) ist dann von inklusiven Schulen zu reden, wenn alle die Schule ihres Viertels oder Wohngebietes besuchen und den Klassen "aufgrund ihres Alters und nicht von Testergebnissen, Bewertung, Diagnose und vorangehenden Leistungen zugewiesen" (S. 55) werden. "Inklusion ist kein Erziehungskonzept zum Nutzen behinderter Kinder. Sie ist ein Modell der gerechten Erziehung aller Kinder" (S. 61).

Eine Annäherung an dieses Ziel erfordert aber eine deutliche und differenzierte Kritik bestehender Verhältnisse auch im Erziehungs- und Bildungswesen. Dieser Kritik wird auch das amerikanische Mainstreaming unterzogen, das in etwa der in der BRD real praktizierten Integration entspricht. Linton zufolge handelt es sich beim Mainstreaming um Scheinprogramme, die diejenigen Kinder aus der Sondererziehung herausfiltern, "die dem Mainstream am ähnlichsten sind" ( 59). In diesem Sinne wäre Mainstreaming Normalisierung und Anpassung und würde insofern auch die Grenze zwischen behinderten und nichtbehinderten Kindern, zwischen akzeptabel und nichtakzeptabel höchstens ein wenig verschieben, nicht jedoch auflösen.

Auch bei der Kritik der Disability Studies am Schul- und Bildungssystem stehen gesellschaftliche Voraussetzungen und Rahmenbedingungen häufig im Vordergrund. Die Kritik an der Pädagogik tritt vielleicht am deutlichsten hervor, wenn man sich aus soziologischer Perspektive die Funktion von Schule klarmacht. Im Luhmannschen Sinne organisiert sich die Pädagogik als angewandte Wissenschaft um die Leitdifferenz von guten und schlechten Leistungen und hat nicht nur die gesellschaftliche Funktion, Erziehung und Bildung zu gewährleisten, sondern letztlich auch die der Selektion. Hinzu kommt: Intervention und Förderung zielen unweigerlich auf eine Veränderung des Individuums ab. Wenn behinderungsspezifische Eigenschaften oder Dispositionen eines Individuums zum Thema oder Gegenstand der Intervention werden, tut sich die Diskrepanz auf, dass dem gesellschaftlichen Auftrag gemäß verändert werden soll, was dem pädagogischen Anspruch nach eigentlich akzeptiert werden soll. Dies ist aus meiner Sicht ein Grunddilem ma der Pädagogik überhaupt, das sich in der Sonderpädagogik nur in besonders klarer Form zeigt.

Das zentrale Problem der gesellschaftlichen Aufgabe von Schule ist ihre Allokations- und Selektionsfunktion, die alles in allem weltweit weitgehend ungebrochen erscheint. Nach Barton und Armstrong (2001) hat die formale Beschulung in den meisten Ländern eine Türhüterfunktion, indem sie den Zugang zur Elite, zu höherer Erziehung und prestigereichen Jobs kontrolliert. Die Schule "legitimiert die unvermeidbaren Ungleichheiten in einer Gesellschaft, indem sie den niedrigen Beschäftigungsstatus einer Person auf ein vorangehendes schulisches Leistungsversagen zurückführt" (S. 694). Ebenso aber wird die Praxis der Auswahl von Schülern durch US-amerikanische Schulen kritisiert. So werden begabte, engagierte, motivierte, fähige Schüler von den meisten Schulen deutlich bevorzugt, während weniger fähige Schüler und solche mit emotionalen oder Verhaltensproblemen am unattraktivsten sind. Barton und Armstrong diagnostizieren für die Gegenwart eine Entwicklung, der zufolge Schulen nicht inklusiver, sondern umgekehrt selektiver werden. Sie schreiben: "Schüler erfahren Ausschluss innerhalb schulischer Praktiken und Interaktionen und in Folge ihres Entferntwerdens von Schulen. Andere schließen sich selbst aus, indem sie sich weigern, zur Schule zu gehen. Exklusion trifft auch für jene zu, denen niemals der Zugang zu integrierenden Schulen gewährt wurde. Daher spielt segregierte Sondererziehung (...) eine bedeutende Rolle beim Sortieren und ist in zunehmendem Maße ein Mittel geworden, durch das das geschmeidige Funktionieren des Systems gewährleistet wird" (Barton, Armstrong 2001, 706).

Neben dieser systemtheoretisch orientierten Problemanalyse werden weitere gewichtige soziologische Gründe dafür angeführt, warum der Inklusionsgedanke gegenwärtig kaum gegen das "stahlharte Gehäuse" gesellschaftlicher Realitäten ankommt: "Soziales Kapital in Form elterlicher Bildung, materieller und kultureller Ressourcen ist ein machtvoller Faktor, der den Zugang von Kindern zu bestimmten Schulen, ihre Erfahrungen in diesen Schulen und ihre Resultate beeinflusst. Innerhalb vieler Gesellschaften ist es ein bedeutsames Mittel, durch die bestehende Ungleichheiten innerhalb der Gesellschaft im Allgemeinen bestätigt und ausgeweitet werden. Die Selektion von Kindern (...) ist ein machtvolles Organisationsprinzip bei der Gestaltung von Erziehungssystemen gewesen. Je stärker der Wettbewerb zwischen Schulen um bestimmte Schüler (auf der Grundlage von Verhalten und geistigen Fähigkeiten) betont wird, umso wahrscheinlicher werden Schulen solche Schüler ausschließen, die die Verbesserung von Schulleistungen behindern" (S. 699).

Was bedeutet all dies für die Integrationspädagogik bzw. eine Inklusive Pädagogik? Wenn Schule eine Institution der Selektion und Segregation ist, und wenn der Schulbesuch und -erfolg, wie PISA eindrücklich gezeigt hat, von der familiären bzw. sozialen Herkunft (sowie dem dort vorhandenen Kapitel) abhängig ist, dann ist es ein naiver Glaube zu meinen, die Schule sei ein zentraler Ort des Abbaus von Ungleichheit. Sie kann dies nur, wenn die Politik die notwendigen Rahmenbedingungen schafft - Rahmenbedingungen, die gesellschaftlich bedingte ungleiche Voraussetzungen der Kinder und Jugendlichen nicht reproduzieren und verewigen, sondern einen wirksamen Ausgleich schaffen.

Daher betonen Barton und Armstrong (2001) in ihren Reflexionen die grundlegende politische Dimension der Inklusion und verweisen auf die unlösbare Verknüpfung von Inklusion und Demokratie sowie von Partizipation und Chancengleichheit. "Die Entkoppelung zwischen Prinzipien der Demokratie und Gleichheit und der Kontrolle, die mächtige gesellschaftliche Gruppen über die Entscheidungsfreiheit und Chancen der Menschen ausüben, eröffnet einen weiten Raum, indem Teile der Gemeinschaft benachteiligt und marginalisiert werden. (...) Es hat ein systematisches Versagen gegeben, das demokratische Projekt umfänglicher und gleichberechtigter Teilhabe am sozialen Leben mit der Behandlung behinderter Menschen zu koppeln" (S. 700).

Dies hat auch für die Verfechter einer inklusiven Pädagogik bedeutende Konsequenzen. Wenn die Politik die zentrale Instanz der angestrebten Veränderung ist, dann erfahren die Möglichkeiten der Erziehung, Ungleichheiten zu verringern, eine erhebliche Einschränkung insofern, weil diese an Voraussetzungen gebunden ist, die die Pädagogik selbst nicht schaffen kann. Dies kann man als Warnung vor der manchmal deutlich spürbaren Tendenz der Selbstüberschätzung der Pädagogik verstehen. Auch wenn die Pädagogik bei diesem Prozess unverzichtbar ist: Die Verwirklichung von Inklusion kann nicht primär als pädagogische Aufgabe gesehen werden. Vielmehr sind Bildung und Erziehung nur ein Aspekt eines viel umfassenderen und komplexeren Prozesses.

Grenzen der Inklusion?

Inklusion ist ohne Frage ein Leitziel der meisten Vertreter der Disability Studies. Aber auch innerhalb der sehr heterogenen Gruppe von Menschen, die wir unter dem Globaletikett ‚behindert' subsumieren, gibt es ablehnende Stimmen gegenüber der Inklusion. Eine besondere Herausforderung für den Inklusionsgedanken stellen die sog. "Deaf" dar, eine Gruppe emanzipationsorientierter Gehörloser, die sich als Teil einer eigenständigen Kultur sehen. Diese strebt sicherlich nach gesellschaftlicher Anerkennung und rechtlicher Gleichstellung, träumt aber eher von Separation als von Inklusion.

"Viele gehörlose Menschen verstehen sich als sprachliche und kulturelle Minderheit und stellen eine Analogie zu ethnischen Minderheiten, die auf ähnliche Weise ausgeschlossen werden, weil sie die dominierende Sprache nicht fließend beherrschen" (Barnes und Mercer 2001, 527). Dieses Selbstverständnis hat nicht nur zu einer deutlichen Ablehnung der Identifikation mit anderen Behinderten, von Cochlea-Implantaten sowie der Durchführung genetischer Screenings geführt, die mittels der Diagnose von Gehörlosigkeit dem Zweck vorgeburtlicher Selektion dienen.

"In ihren Bestrebungen, nicht in eine Kultur der ‚Hörenden' assimiliert zu werden und ihre eigene kulturelle Identität zu bewahren, haben sich gehörlose Menschen gegen größere Kampagnen von Behindertenorganisationen für inklusive Schulen gestellt" (ebd.). Umgekehrt werden eigene Schulen für gehörlose Kinder als wesentliches Instrument zur Wahrung der Gehörlosenidentität und -kultur gesehen, während Integration eher als Bedrohung wahrgenommen wird.

In diesem Zusammenhang tauchen tief greifende ethische und politische Fragestellungen und Probleme auf, wie sie im Kontext der Multikulturalismusdebatte geführt werden und die auch für eine inklusive Pädagogik von großer Bedeutung sind. Sehr pointiert formuliert: Wir neigen dazu zu meinen, Inklusion sei ethisch grundsätzlich besser als Separierung und Abgrenzung. Wie aber ist damit umzugehen, wenn sich ethnische oder kulturelle Minderheiten abwenden und sich gegen eine Inklusion aussprechen? Soweit ich sehen kann, ist dieses Problem in der Integrationspädagogik/ Inklusiven Pädagogik bisher noch nicht einmal wahrgenommen werden.

Literatur

Barton, Len/ Armstrong, Feli city (2001): Disability, Education, and Inclusion - Crosscultural Issues and Dilemmas. In: Albrecht, Gary L./ Seelman, Katherine D./ Bury, Michael (Hg.): Handbook of Disability Studies. Thousand Oaks (Sage)

Barnes, Coli n/ Mercer, Geoff : Disability Culture (2001): Assimilation or Inclusion? In: Albrecht, Gary L./ Seelman, Katherine D./ Bury, Michael (Hg.): Handbook of Disability Studies. Thousand Oaks (Sage)

Degener, Theresia (2003): Einführungsvortrag: Disability Studies in Deutschland. URL: www.sommeruni2003.de/dokumentation/eroeff_degener.html (18.7.2003)

Garland Thomson, Rosema rie (1997): Extraordinary Bodies. Figuring Physical Disability in American Culture and Literature. New York, Chichester: Columbia University Press Linton, Simi (1998): Claiming Disability. Knowledge and Identity. New York, London: New York University Press

Mitchell, David T./ Snyde r, Sharon L. (2000): Narrative Prosthesis. Disability and the Dependencies of Discourse. Ann Arbor: University of Michigan Press

Priestley, Mark (2003): Worum geht es bei den Disability Studies? Eine britische Sichtweise. In: Waldschmidt, Anne (Hg.): Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies. Tagungsdokumentation. Kassel: bifos

Waldschmid t, Anne (2003): "Behinderung" neu denken: Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies. In: Waldschmidt, Anne (Hg.): Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies. Tagungsdokumentation. Kassel: bifos

Weisser, Jan (2004): Disability Studies und die Sonderpädagogik. In: Weisser, Jan/ Renggli, Cornelia (Hg.): Disability Studies. Ein Lesebuch. Luzern: SZH

Der Autor

Prof. Dr. Markus Dederich

Geb. 1960. Lehrstuhl für Theorie der Rehabilitation und Pädagogik bei Behinderung an der Universität Dortmund.

Arbeitsschwerpunkte: Bioethik und Behinderung, Ökonomisierung des Sozialen, Exklusionsdynamiken der Gegenwart, Gewalt gegen Menschen mit Behinderung

in Institutionen der Behindertenhilfe, Disability Studies.

Neueste Publikationen:

"Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies". Bielefeld 2007. "Inklusion versus Integration? Heilpädagogik als Kulturtechnik", Giessen 2006 (hg. mit Heinrich Greving, Christian Mürner und Peter Rödler),

"Herausforderungen: Mit schwerer Behinderung leben" (Hg. mit Katrin Grüber), Frankfurt 2007 (in Vorbereitung)

markus.dederich@uni-dortmund.de

Quelle:

Markus Dederich: Disability Studies und Integration

Erschienen in: Behinderte Menschen, Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten, Nr. 3/4/2007, Thema: Disability Studies

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 11.11.2010

zum Textanfang | zum Seitenanfang | zur Navigation