Gewaltprävention in der Schule

Dem Dämon in die Augen schauen

Autor:in - Allan Guggenbühl
Themenbereiche: Schule
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 3/2000. Thema: Über die Grenzen schauen Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (3/2000)
Copyright: © Allan Guggenbühl 2000

Gewaltprävention in der Schule

Kinder einer fünften Primarschulklasse lauern einer türkischen Mitschülerin auf, beschimpfen sie auf gröbste und schlagen auf sie ein. Die Lehrerin ist schockiert. Sofort organisiert sie ein Klassengespräch und fordert die Kinder ultimativ auf, die Mitschülerin in Ruhe zu lassen. Sie will wissen, wieso es zu diesem Übergriff kam und was die Klasse fortan dagegen unternehmen will. Die Knaben und Mädchen sind betroffen und verwirrt. Auch die Täter betonen vehement, dass niemals wieder so etwas in ihrer Klasse geschehen darf. Feierlich wird ein Vertrag aufgesetzt. Die Kinder schwören, nicht auf Kollegen oder Kolleginnen loszugehen. Die Lehrerin ist beeindruckt von dieser Stunde und der Einsichtsfähigkeit ihrer Kinder. Zu ihrem maßlosen Entsetzen skandiert jedoch ein Großteil ihrer Schüler und Schülerinnen ein wenig im Korridor: "Werft die Türkensau heraus!"

Gewalt in der Schule ist eine Chimäre. Sie ist schwierig psychologisch zu erfassen und im Schulalltag zu verhindern. Wenn wir Präventionsarbeit in Schulen betreiben, dann müssen wir das Bizarre und Widersprüchliche der Gewalt im Auge behalten. Einfache Antworten helfen nicht weiter. Ziel der Prävention von Gewalt und Aggression in der Schule ist, solche hässlichen Attacken, ob körperlich oder verbal, rassistisch oder sexistisch, zu verhindern. Die Schule gilt es als Lebensraum zu erhalten, wo Kinder und Jugendliche lernen, sich entfalten und sich soziale Kompetenzen aneignen. Kinder sollen sich in der Schule wohl und sicher fühlen. Wir müssen alles daran setzen, dass das Erlebnis Schule nicht durch hässliche Gewaltvorfälle gestört wird. Gewaltprävention ist darum für Lehrerschaft, Elternschaft sowie die Behörde eine Notwendigkeit.

Kunterbunte Mittel

Verschiedenste Aktivitäten und Programme für Schüler- und Lehrerschaft werden als Mittel gegen Gewalt angeboten: Massagenachmittage, Mandala-Zeichnungen, Tanzen, Verteidigungskurse, Boxkurse, Theaterspiel, Sensibilisierungswochen oder spezielle Beratungsstunden für Lehrer und Lehrerinnen. Oft scheint es, dass das Thema Gewalt jede schulische oder fortbildnerische Aktivität legitimiert. Wir müssen uns jedoch genau überlegen, welche Programme wirklich Gewalt verhindern. Folgende Leitgedanken sollen beim Thema Gewaltprävention in der Schule weiterhelfen.

Das schulische Gewaltsprofil

Wirksame Gewaltprävention beginnt beim Erscheinungsbild der Gewalt in der Schule. Um Beliebigkeit zu verhindern, müssen wir genau wissen, wie Kinder und Lehrpersonen mit Gewalt und Aggression konfrontiert werden könnten. Gewalt in der Schule hat unzählige Facetten, Bedeutungen und unterscheidet sich von Schulhaus zu Schulhaus. In einem Schulhaus werden Kinder durch Banden erpresst, in einem anderen tobt der Geschlechterkampf, Kleiderterror oder verbale Kleinkrieg. Ein Dorf wird durch rassistische Jugendbanden heimgesucht, in einem anderen werden einzelne Schüler und Schülerinnen wegen guter Schulleistungen von Kollegen unterdrückt und bedroht. Das potentielle oder aktuelle Gewaltprofil der Schule muss bekannt sein, bevor präventive Maßnahmen implementiert werden. Wir müssen wissen, was wir verhindern wollen, bevor Programme zusammengestellt werden. Seriöse Gewaltprävention beginnt darum bei einer Diagnose des Umfeldes, der Stimmung, der Zusammensetzung der Kinder, der Schulhauskultur und den Hauptthemen der Schule. Neuralgische Konfliktpunkte müssen erkannt werden. Wo könnte es zu Schlägereien kommen? Welche dunklen Ecken ziehen Auseinandersetzungen an? Maßnahmen oder Präventionsprogramme, die nicht an das Profil des Schulhauses oder Dorfes angepasst sind, drohen ein Schlag ins Wasser zu werden. Sie beruhigen vielleicht unser Gewissen, bleiben jedoch meist ohne konkrete Auswirkungen auf den Schulalltag.

Kinder als Gefangene des Systems

"Dieser gewalttätige Junge muss raus!" fordert eine Elterngruppe vehement. Bei Gewalt in der Schule denken wir rasch in Persönlichkeitskategorien. Wir vergessen, dass die Situation, aus der heraus es zu Gewalt kommt, ebenso wichtig ist. Das ruchlose Zücken eines Messers entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als Verzweiflungstat eines Knaben, der monatelang von Mitschülern gequält wurde oder das Mädchen, das von der Lehrerin wegen ihrem kooperativen Verhalten gelobt wird, als Hauptintrigantin bei der Anstiftung von Überfällen. Die psychologischen Hintergründe eines Vorfalls sind meistens komplex. Die ersten spontanen Erklärungen und Beschuldigungen treffen selten: der Lehrer, der die permissiven Eltern beschuldigt oder die Eltern, die in einer Ausländergruppe den Grund des Übels erkannt haben wollen. Als Psychologen müssen wir uns auch hüten, unbesonnen juristische Kategorien zu übernehmen, von 'Täter', 'Opfer', 'Schuld' oder Tatbestand zu sprechen. Präventionsarbeit heißt zu versuchen, auch mit einem psychologischen Vokabular die schulische Wirklichkeit zu erfassen.

Wir sind alle Opfer

Nicht, was ein Kind, Jugendlicher oder eine Lehrperson über Gewalt sagt, ist entscheidend, sondern wie er oder sie sich verhält. Die überwiegende Mehrzahl der Schüler und Schülerinnen beteuert, dass sie Gewalt als Konfliktmittel ablehnt. Nehmen wir diese Stellungnahmen als bare Münze, so müsste das Problem Gewalt in der Schule eigentlich schon längst gelöst sein. Leider beweist die Praxis, dass zwischen diesen Verbaldeklarationen und der schulischen Realität eine große Kluft besteht. Die bewusste Einstellung deckt sich selten mit dem effektiven Verhalten. Dies führt dazu, dass es bei Gewalt gemäß subjektiver Wahrnehmung nur Opfer gibt. Nicht ich verhielt mich gewalttätig, sondern der andere hat mich angegriffen, beleidigt, provoziert, gequält, gestresst, gestört, erpresst oder bestohlen. Die eigene Gewalttätigkeit wird abgespalten, verharmlost oder verdrängt dank retrograder Amnesie.

Auch wir Erwachsene unterliegen diesem Selbstentlastungsmechanimus. Ein Lehrer bezichtigt einseitig einen Schüler der Gewalt, ohne zu erkennen, dass sein Intrigenspiel sich gewaltfördernd auswirkte oder Eltern bezeichnen den Lehrer als inkompetent, um so von ihrem mangelndem Durchsetzungswillen abzulenken. Damit wir unser Selbstbild nicht revidieren und dem hässlichen Gesicht der eigenen Gewalt in die Augen blicken müssen, lenken wir ab.

Eigenanteil erkennen

Da die Hintergründe der Gewalt in der Schule vielschichtig sind und wir als Lehrperson, Elternteil oder sogar Psychologe auch involviert sein könnten, dürfen wir den Eigenanteil nicht ausklammern. Präventionsprogramme, die nur auf der bewussten Ebene ansetzen, drohen Rhetorik zu werden. Natürlich sind wir alle gegen Rassismus, Mobbing und körperlicher Gewalt, schwieriger wird es, wenn wir den eigenen, inneren Rassisten, Gewalttäter oder Fiesling erkennen müssen. Wenn der eigene Schatten ausgeklammert wird, könnte ein Gewaltpräventionsprogramm sogar kontraproduktiv wirken. Es dient der moralischen Reinwaschung, da man sich auf diese Weise glaubt außerhalb der Gewaltszene stellen zu können. Auf die gleiche Schwierigkeit stoßen wir bei Beratungen von Lehrpersonen zwecks Früherfassung von sogenannt 'schwierigen Schülern": der Aggressor ist erkannt, der Lehrer hat seine Pflicht getan und kann getrost weiterwursteln. Dem eigentlichen Ziel, Prävention von Gewalt in der Schule, ist man damit jedoch nicht nähergekommen.

Gefahr der Verideologisierung

Die Abwehr des Eigenanteils drückt sich oft in einer Verideologisierung der Gewaltursachen aus. Da uns Gewaltvorfälle unter Kindern oder Jugendlichen verständlicherweise innerlich aufwühlen, reagieren wir emotional. Wir sehnen uns nach identifizierbaren Ursachen und klar erkennbaren Hintergründen. Im erregten Zustand fällt es uns schwer, bei der Banalität des Gewaltaktes zu bleiben. Wir halten Ausschau nach globalen Zusammenhängen oder wollen im Vorfall gesellschaftliche Tendenzen erkennen. Gewalt wird zu einem Symptom unserer kranken Gesellschaft, Folge der unwirtlichen Städte, des Schulklimas, des Lehrerverhaltens, der Gewalt in den Medien, des antiautoritären Erziehungsstils der Eltern oder der ethnischen Durchmischung unserer Gesellschaft. Im emotionalisierten Zustand verengt sich unsere Optik und es fällt uns schwerer, nüchtern die Hintergründe und Zusammenhänge der Vorfälle auszuloten. Ideologische Laster befreien uns von der Notwendigkeit, den möglichen und konkreten Vorfällen nachzugehen. Bei der Präventionsarbeit müssen wir uns hüten, eine mögliche Ursache als Grundlage einer Ideologie zu missbrauchen.

Ressourcen aktivieren

In jeder größeren Kinder- oder Jugendlichengruppe herrscht ein Aggressionspotential. Bei einer Klasse von 20 Schülern und Schülerinnen müssen wir davon ausgehen, dass ein bis drei bereit sind, unter bestimmten Umständen Gewalt als Machtmittel einzusetzen oder in der Klasse eine Dynamik zu entfesseln, die in Gewalt ausartet. Schlägereien, Quälereien, Intrigen, verbale Gemeinheiten oder Erpressungen sind subakute Themen bei fast allen Gruppen von jungen Menschen. Die völlig friedliche Schulklasse ist eine Fiktion. Wenn wir Gewalt von der Schule fernhalten wollen, dann müssen wir verhindern, dass diese aggressionsbereiteren Kinder und Jugendlichen sich durchsetzen. Bei der Präventionsarbeit geht es nicht primär darum, diese Jugendlichen zu identifizieren, relegieren oder zu therapieren, sondern wir müssen die Gruppe und das Schulsystem stärken, damit diese Jugendlichen nicht das Sagen haben. Da die Persönlichkeit und das Milieu dieser Kinder und Jugendlichen leider oft schwer zu beeinflussen sind, müssen sich unsere Anstrengungen auf das Machbare konzentrieren. Es gilt beim Klassenklima und der Schulhauskultur anzusetzen, damit Gewalt nicht zur Norm wird. Wir müssen die positiven Kräfte der Schule stärken, damit Gewalt abgewehrt wird und die aggressiveren Kinder nicht ihre grausamen Spiele treiben. Schlägereien, Waffen und grobe Verbalinjurien sollen von den Kindern selber aus ihren subkulturellen Verhaltensrepertoires gestrichen werden. Ein gewaltbereiteres Kind kann sich nicht mehr durchzusetzen, weil es eine Peer-Norm durchbrechen müsste.

In einer Schulklasse drückten Kinder Kollegen oder Kolleginnen auf den Boden, holten Anlauf, um sich mit Wucht auf ihren oder seinen Brustkasten fallen zu lassen. Vor allem zwei Schüler stachen als Leithammel bei diesem brutalen Spiel hervor. Nach Arbeit mit der Klasse im Rahmen einer Krisenintervention distanzierte sich die Mehrheit von diesem brutalen Spiel. Das unmittelbare Milieu hatte sich verändert, sodass es für diese zwei Jungen unmöglich war, ihr 'Spiel' zu inszenieren.

Gewaltprävention sollte darum weniger auf die Elimination der Vorfälle, die Beruhigung der Szene und Veränderung der schwierigen Kinder und Jugendlichem abzielen, sondern die Mobilisierung der Eigenkräfte der Lehrer- und Schülerschaft anvisieren.

Mitarbeit der Kinder und Jugendlichen

Wirksame Gewaltprävention ist nur unter aktiver Mithilfe der Schülerschaft möglich. Wenn wir Gewalt und Aggression verhindern wollen, dann müssen wir in die Subwelt der Kinder hinein hören. Woran leiden die Kinder? Wie sehen ihre Szenen aus? Welche Hierarchien und Territorien sind erkennbar? Es gilt das spezifische Erscheinungsbild des jeweiligen Schulhauses zu erfassen, damit die präventiven Maßnahmen darauf angepasst werden. Die Schülerschaft kann wertvolle Hinweise geben, wie Gewalt in ihrer Schule entsteht und wie das potentielle Gewaltprofil der Schule und Gemeinde aussieht. Durch die Kinder und Jugendlichen erfahren wir, was, wo, wie und warum läuft. Sie sind meistens besser informiert als die Lehrerschaft und Behörde. Dank ihrer Information ist es möglich, neuralgische Konfliktpunkte und typische Probleme zu erkennen. Kinder und Jugendliche bringen auch interessante Vorschläge, wie Gewalt verhindert werden kann. Da die Schüler und Schülerinnen meist nicht direkt auf Fragen der Gewalt antworten, braucht es spezielle Methoden, um an sie heranzukommen und zum Mitmachen zu gewinnen.

In einem Primarschulhaus schlug die Klasse in einer gemeinsamen Lehrer-Schüler-Fortbildung vor, dass sie fortan alle auf dem Pausenplatz laut zu schreien beginnen, wenn ein Mitschüler oder eine Mitschülerin angegriffen wird. Dank diesem originellen Vorschlag setzte sich eine latent spürbare Gewalt auf dem Pausenplatz nicht durch.

Gewaltprävention sollte nicht nur über die Lehrerschaft erfolgen. Präventionsarbeit, die sich auf Beratung der Lehrer für "schwierige Kinder" oder Fortbildungskurse reduziert, droht am Kernproblem vorbeizugehen. Die Schüler fühlen sich als potentielle Täter kategorisiert. Die Gefahr der Kluft zwischen Lehrerschaft und Schülerschaft droht. Statt sich gemeinsam dem Problem Gewalt zu stellen, munitionieren sich die Lehrer aus Schülersicht durch eine Fachberatung auf, um gezielter gegen "identifizierte Täter" vorzugehen. Aus der Sicht vieler Eltern versucht die Lehrerschaft, sich von herausfordernden Kindern abzugrenzen. Da wir alle beim Thema Gewalt zu verzerrten Wahrnehmungen neigen, ist Präventionsarbeit, die ausschließlich die Lehrerschaft im Visier hat, problematisch.

Auseinandersetzungen statt Lösungen

Gewalt in der Schule verhindern wir nicht durch Verbote, mehr Regeln oder harte Sanktionen, sondern wir müssen die aggressiven Auseinandersetzungen innerhalb der Schülerschaft und zwischen Lehrpersonen und Kindern zivilisieren. Es braucht eine Akzeptanz der Aggressionen und des oft mühsamen, zum Teil zerstörerischen Verhaltens der Kinder, damit es nicht zu Gewalt kommt. Schulhäuser sollen keine Tempel der Ordnung und Disziplin sein, sondern Räume, in denen es brodelt und kracht, jedoch nicht explodiert. Sie brauchen eine Streitkultur, durch die Spannungen ausgetragen werden, ohne dass sie in Gewalt ausarten. Auseinandersetzungen prägen das Verhältnis zwischen den Generationen. Die Jugend erblickt in den Erwachsenen den natürlichen Gegenpol, damit Grenzen erlebt und Autoritäten provoziert werden können. An den Reaktionen der Lehrerpersonen misst sie ab, wie weit sie es mit der Autonomie treiben kann. Es hängt von der Schulhauskultur ab, dem Verständnis der Lehrerschaft für die psychologischen Hintergründe der Provokationen und dem oft demonstrativen Unabhängigkeitsschritt, ob es bei Konfrontationen bleibt, oder Gewalt entsteht. Wenn die Lehrerschaft sich als Team den Auseinandersetzungen mit Kindern und Jugendlichen stellt, ohne despektierlich, zynisch oder herablassend zu werden, dann wird schulische Gewaltprävention betrieben. Wie diese Auseinandersetzungen stattfinden, welche Territorien und Mittel dazu eingesetzt werden, muss schon von der Lehrerschaft durchdacht und Thema von Schulhauskulturveranstaltungen sein. Es gilt herauszufinden, in welchen Grauzonen die Konfrontation zwischen den Generationen und den Jugendlichen stattfinden.

In vielen Mittelschulen ist die Absenzenordnung oder das Geschirr in der Mensa ein solch schulhausinternes Kampffeld, das halbzivilisierte Auseinandersetzung und gegenseitigen Ärger ermöglicht: die Lehrerpersonen regen sich wegen der Unordnung auf den Tischen oder nicht entschuldigter Lektionen auf. In Primarschulhäusern werden die Velostandordnung, das Verhalten in den Gängen, der Gebrauch der Rollbretter auf dem Pausenplatz oder die Sprache Möglichkeiten der ritualisierten Auseinandersetzung. Die Schülerschaft fordert die Lehrerschaft zu ultimativen Antworten heraus, damit das Erlebnis einer Grenze möglich wird. Es ist wichtig, dass sich die Lehrerschaft solcher Auseinandersetzung stellt und vorher überlegt, wie sie bei Übertritten reagieren soll.

Bei der Präventionsarbeit in der Schule geht es darum, das Niveau dieser Auseinandersetzungen zu definieren. Die Lehrerschaft einigt sich auf Werte und Strategien, um bei Konflikten aus einer gemeinsamen Haltung heraus zu reagieren. Sie versucht auch die Themen der Auseinandersetzung zu identifizieren. Auf der Grundlage des schulischen Gewaltprofils können mögliche Konflikte schon vorher durchdacht und Reaktionen mental durchexerziert werden. Welche Konsequenzen haben gewalttätige Auseinandersetzungen, das Tragen von Waffen oder Erpressungen in unserem Schulhaus? Wie werden die Eltern miteinbezogen? Es ist Aufgabe des Lehrerteams oder der Schulleitung, sich schon vor Ausbruch der Konflikte Gedanken über das spezifische Erscheinungsbild, Zusammenhänge und Möglichkeiten der Lehrerschaft zu machen. Kommt es zu Vorfällen, dann sind den Lehrpersonen oft wegen der starken Emotionalisierung des Klimas die Hände gebunden.

Besinnung auf gemeinsame Grundwerte

Die Grundwerte, die die Lehrerschaft Gewalt gegenüberstellt, müssen zusammen mit der Schülerschaft entwickelt werden. Es ist wichtig, dass sich alle im Schulhaus mit den entsprechenden Leitsätzen identifizieren. Wegen der polaren Qualität des Verhältnisses zwischen Lehrer- und Schülerschaft und weil sich Schüler bei solchen Themen vor Lehrpersonen oft wehren, braucht es Außenpersonen, um den gemeinsamen Weg zu finden. Die Chance ist auch größer, dass nicht abstrakte Formeln entworfen werden, sondern Begriffe , die auch den Schülern und Schülerinnen etwas bedeuten.

In einem Schulhaus im Berner Oberland veranstalteten die Lehrpersonen zusammen mit der Schülerschaft zwei Fortbildungstage zum Thema Gewaltprävention. Ziel dieser Veranstaltung war, schulhausinterne Maßnahmen zu erarbeiten, damit das Schulhausklima verbessert und Gewalt verhindert wird. Die Schülerschaft arbeitete mit einem Kinder- und Jugendpsychologen, während das Lehrerteam von einem Erwachsenenbildner begleitet wurde. Am Nachmittag des zweiten Tages präsentierten die Schüler und Schülerinnen der Lehrerschaft ihre Resultate: sie waren dermaßen überzeugend, dass sie tel quel übernommen wurden. Unter anderem schlugen die Kinder vor, auf dem Pausenplatz einen Spielkasten einzurichten. Sie wollten jedoch auch, dass gemeinsam festgelegt wird, welche Waffen im Schulhausareal nicht toleriert sind. Die Kinder verlangten von der Lehrerschaft, dass sie Sanktionen ergreift, sollte sich jemand nicht an das Waffenverbot halten.

Den Schatten mit-tragen

Gewalt in der Schule lässt sich nicht alleine durch Lernprogramme oder Gespräche mit oder über Schüler verhindern. Appelle an die Ratio verhallen wirkungslos, wenn wir nicht auch die unbewussten Kräfte berücksichtigen, denen Kinder oft hilflos ausgeliefert sind. Im Eingangsbeispiel waren alle Kinder gegen Gewalt, doch die Beschimpfung 'geschah plötzlich, ohne dass es jemand wollte'. Wunderbare Verträge werden rasch zur Makulatur, wenn wir nicht auch die tieferen Emotionen der Kinder im Auge behalten.

Für die Lehrerschaft heißt das, dass sie selber mit der unbewussten, gewalttätigen Dimension des Menschen im Kontakt bleiben muss. Im Unterricht gilt es nicht nur, die hehren Ziele anzupeilen und die großartigen Seiten des Menschen darzustellen, sondern es gilt auch über seine Schattenkräfte nachzudenken. Das Schreckliche muss auch thematisiert werden. Übernimmt eine Lehrperson eine Klasse, so gilt es auch über mögliche Gewalt und destruktive Entwicklungen zu fantasieren. Was könnte alles schiefgehen? Die Lehrperson soll Katastrophen-Szenarien über die Klasse entwickeln, ohne dass sie die Grundlage des Unterrichts bilden. Auf diese Weise signalisiert sie den Kindern, dass auch sie bereit ist, den Schatten mit zu tragen und es nicht den Kindern überlässt, ihn auszuleben. Psychologisch wirkt dies auf Kinder entlastend: nicht nur sie kämpfen mit den Dämonen in ihnen und um sie herum, sondern die da vorn weiß auch von diesen Kräften. Die Lehrperson hat die Dämonen zu erkennen, damit sie nicht die Schüler und Schülerinnen beherrschen.

Leitpunkte zur Prävention von Gewalt an Schulen

  1. Schulhausprofil zu Gewalt und Aggression erfassen

  2. Auseinandersetzung mit Schülerschaft aufgrund von Werten

  3. Verantwortungsbereiche klären

  4. Toleranzschwelle definieren

  5. Sanktionen vereinheitlichen

  6. Zur eigenen Doppelrolle stehen

  7. Symbolhandlungen beachten

  8. Kinder & Jugendliche miteinbeziehen

  9. Informationsfluss innerhalb und außerhalb der Schule

  10. Krisenmanagement festlegen

  11. Schulhauskultur entwickeln

Der Autor

Literatur

X. Bühler: System Erziehung. Bern 1994

K. Gebauer: "Ich habe sie ja nur leicht gewürgt": Mit Schülern über Gewalt reden. Stuttgart 1996

A. Guggenbühl: Die unheimliche Faszination der Gewalt, Zürich 1994

A. Guggenbühl: Dem Dämon in die Augen schauen: Gewaltprävention in der Schule. Zürich 1996

A. Guggenbühl: Gewalt und Aggression in der Schule. Schulhauskultur als Antwort. (Handordner), Zürich 1998

A. Guggenbühl: Die Vogelbande. (Kinderbuch zur Gewaltprävention im Kindergarten und in der Unterstufe, mit Anleitung für Lehrpersonen), Zürich, 1998

J. Korte: Lernziel Friedfertigkeit. Vorschläge zur Gewaltreduktion in der Schule. Weinheim/Basel 1994

D. Olweus: Gewalt in der Schule. Bern 1995

G. und A.Preuschoff: Gewalt an Schulen: was dagegen zu tun ist. Köln 1993

M. Spreiter (Hrsg.): Waffenstillstand im Klassenzimmer. Vorschläge, Hilfestellungen, Prävention. Weinheim/Basel 1993

U. Mehlin: Gewalt, Schrecken und Faszination des Bösen. In: Gewalt unter Jugendlichen. Heft 2, Schriftenreihe des Szondi-Instituts, Zürich 1994. S. 30-40

R. Winkel: Der gestörte Unterricht. Diagnostische und therapeutische Möglichkeiten. Bochum 1988

Der Autor

Allan Guggenbühl, Dr. phil., Psychologe FSP und dipl. analyt. Psychotherapeut, Leiter der Abteilung für Gruppenpsychotherapie für Kinder und Jugendliche an der kantonalen Erziehungsberatung Bern und des Instituts für Konfliktmanagement und Mythodrama (IKM) in Zürich und Bern. Er unterrichtet zudem als Seminarlehrer für Psychologie und Pädagogik am Kindergarten- und Hortseminar des Kantons Zürich sowie als Dozent am C.G. Jung Institut und am IAP in Zürich, kantonaler Schulberater, Autor verschiedener Bücher und Artikel.

Institut für Konfliktmanagement und Mythodrama (IKM)

Untere Zäune 1

CH-8001 Zürich

Tel. 031 381 1770

ikm@swissonline.ch

Quelle:

Allan Guggenbühl: Gewaltprävention in der Schule - Dem Dämon in die Augen schauen

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 3/2000; Reha Druck Graz

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Stand: 23.08.2002

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