Vorwort - Begegnungs-Raum und Eigen-Zeit

Autor:in - Josef Fragner
Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Schlagwörter: Gesellschaft, Kultur
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 2/98. Thema: Begegnungs-Raum und Eigen-Zeit Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (2/1998)
Copyright: © Josef Fragner 1998

Vorwort - Begegnungs-Raum und Eigen-Zeit

Alle vormodernen Kulturen besaßen Verfahren zur Berechnung der Zeit. Durch die Berechnungsweise der Zeit, die zumindest für die Mehrheit der Bevölkerung die Grundlage des Alltagsleben bildete, wurde stets eine Verbindung hergestellt zwischen Raum und Zeit. Die Erfindung der mechanischen Uhr brachte eine einheitliche Dimension "leerer" Zeit. Die "Entleerung der Zeit" ist in hohem Maße die Voraussetzung für die "Entleerung des Raumes" und hat daher kausalen Vorrang vor dieser. Denn die Zeit übergreifende Koordinierung ist die Grundlage der Kontrolle über den Raum. Der homogene Raum der Vorstellung und Messung entsteht erst im Zuge einer Dezentrierung, durch die das jeweils bevorzugte Hier zu einer beliebigen Raumstelle nivelliert wird. Erst mit Entleiblichung des Subjekts verwandelt sich der Leib in ein pures Körperding, das neben anderen Dingen im Raum verkommt. Ein Aufenthaltsort, der sich in ein gleichgültiges Hier verwandelt, gleicht am Ende einer Raumstelle, die uns in den Raum verbannt. Die Horizonte verarmen, weil sie an Bestimmtheit verlieren und schließlich auf alles oder nichts verweisen. Wird das Hier zum Irgendwo, so bin ich im Raum verloren. Wenn Raumstrukturen ihre Bewohner prägen, so schafft ein Raum ohne Eigenschaften Menschen ohne Eigenschaften und Eigenschaften ohne Menschen. "Erlebnisse ohne den, der sie erlebt" (Robert Musil), werden montiert wie Fertigteile. Die Kälteschauer der Langeweile, die uns aus sonntäglich stillgelegten Stadtmaschinen entgegenschlagen, geistern nicht umsonst durch die Literatur der letzten Jahrzehnte.

Die Anzahl der Nicht-Orte in unserer Zeit steigt. Die weißen Flecken auf der Landkarte sind zwar verschwunden, die tabuisierten Zonen werden zunehmend veröffentlicht, dennoch finden wir die Nicht-Orte auf Flughäfen, Bahnhöfen, bei den großen Hotelketten, den Freizeitparks, den Einkaufszentren und schließlich dem komplizierten Gewirr der verkabelten und drahtlosen Netze. Diese Räume sind nur noch Passagen, sie sind keine anthropologischen Räume mehr. Es sind keine Räume mit persönlichen Geschichten und Szenen, es sind keine Räume der Pluralität, es sind entleerte Räume.

Die Pädagogik ist tief in diesen gesellschaftlichen Entwicklungen verstrickt. Ein verantwortliches Verhältnis bestimmt sich im wesentlichen durch das Warten auf und das Ermöglichen von einer Antwort. Dabei geht es um die Suche nach gemeinsamen Bedeutungs-Räumen, ohne in erster Linie fördern und helfen zu wollen, denn darin birgt sich der Wille zur Norm, sondern gemeinsam die Intelligenz als "moralische Kategorie" (Theodor W. Adorno) auszuweiten, indem neue Bedeutungsräume entwickelt werden. Das Angebot einer Zukunft für den Menschen - das Angebot einer pädagogischen Utopie - muß so gestaltet sein, daß er zu diesem Angebot "Nein" sagen kann. Der Raum für die Antwort des anderen, ihm eine Stimme zu verleihen, geschieht erstens im Zuhören, zweitens im Versuch einer Antwort, die - weil sie den anderen eine Stimme (zurück) gibt - (fast) ohne Rhetorik auskommt (U. Greiner).

Die eigene Zeit wird erst durch die Zeit der anderen möglich.

Quelle:

Josef Fragner: Vorwort - Begegnungs-Raum und Eigen-Zeit

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 2/98; Reha Druck Graz

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 02.03.2005

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